Keiner sagt die Wahrheit - Caleb Roehrig - E-Book

Keiner sagt die Wahrheit E-Book

Caleb Roehrig

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Beschreibung

Sein Ex hat ihm das Herz gebrochen, seine Schwester braucht seine Hilfe und ein Mörder ist auf freiem Fuß

Rufus erlebt die schlimmste Nacht seines Lebens. Erst taucht sein Ex-Freund Sebastian auf, der ihm das Herz gebrochen hat, und will reden. Und dann ruft seine Schwester April an, dass sie seine Hilfe braucht. Sebastian und Rufus finden sie blutverschmiert mit einem Messer in der Hand, neben ihr liegt ihr toter Freund. April schwört, dass sie es nicht war, und fleht ihn an, ihr zu helfen. Rufus hat eine Nacht, ihre Unschuld zu beweisen, und gerät dabei selbst in tödliche Gefahr …

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Seitenzahl: 565

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DER AUTOR

© Uldis Baldolis

Caleb Roehrig ist Autor und TV-Producer. An chronischem Fernweh leidend, hat er bereits in Chicago, Los Angeles und Helsinki gelebt. Er hat über dreißig Länder bereist und kann Empfehlungen abgeben, wie man trotz eines bescheidenen Budgets die schönsten Orte zu sehen bekommt. Heute lebt er mit seinem Mann in Los Angeles.

Von Caleb Roehrig ist bei cbj bereits erschienen:

Niemand wird sie finden

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

CALEB ROEHRIG

Aus dem amerikanischen Englisch

von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Quellennachweis:

Mottozitat S. 4 aus Arthur Conan Doyle, Die Abenteuer des Sherlock Holmes, S. 98, neu übersetzt von Henning Ahrens, Fischer Taschenbuch 2016.

Die Zitate aus den Scott-Pilgrim-Comics von Bryan Lee O’Malley sind aus folgenden Ausgaben zitiert: S. 311 aus Scott Pilgrim (3), Drama ohne Ende, S. 66 und 163, Stuttgart, Panini Verlag, 2011, S. 312 aus Scott Pilgrim, Scott Pilgrim (2), Gegen den Rest der Welt, S. 37, Stuttgart, Panini Verlag, Scott Pilgrim (3), Drama ohne Ende, S. 49, Stuttgart, Panini Verlag, 2011, und Scott Pilgrim (4) … hat’s voll drauf, S. 19, Stuttgart, Panini Verlag, 2011, alle übersetzt von Sandra Kentopf.

© 2018 by Caleb Roehrig

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »White Rabbit« bei Feiwel and Friends, einem Imprint der Macmillan Publishing Group, LLC, 175 Fifth Avenue, New York, NY 10010

© 2019 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Aus dem amerikanischen Englisch von Heide Horn und Christa Prummer-Lehmair

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Arcangel Images/Lee Avison

kk · Herstellung: SeS

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-23490-4V002

www.cbj-verlag.de

Für meine Mutter, Kay Nichols.

Du hast einmal gesagt: »Ein Buch macht nur Spaß,

wenn dauernd jemand stirbt.«

Ich hoffe, die Zahl der Todesopfer genügt deinen Ansprüchen.

Und

in Erinnerung an meine Tante Holly und meinen Onkel Andy,

die zu früh von uns gegangen, aber für immer vereint sind.

Danke, dass ihr an mich geglaubt habt.

Nichts ist irreführender als

eindeutige Tatsachen.

Arthur Conan Doyle

1

DIE LEITUNGISTTOT. Die plötzliche Stille in meinem Ohr ist so absolut, so unheilvoll, dass mir ein kalter Adrenalinstoß trotz der stickigen, schwülen Nachtluft Gänsehaut verursacht. »Hallo?«, sage ich idiotischerweise und merke, wie aufgewühlt ich klinge. »Bist du noch da?« Ein kurzer, sinnloser Blick auf das Display bestätigt mir, dass die Antwort natürlich »Nein« lautet.

»Was ist?«, fragt der Junge hinter mir, er scharrt mit seinen uralten Chucks auf dem rauen Straßenpflaster. Sebastians »Glücksschuhe« sind so zerfleddert, dass sie buchstäblich auseinanderfallen, durch die ausgefransten Löcher in dem grau gewordenen Segeltuch sieht man seine dunklen Socken. Früher fand ich das süß. »Wer war das?«

Ich wedle gereizt in seine Richtung, um ihn zum Schweigen zu bringen, während ich die Nummer mit meinem Handy zurückrufe. Es klingelt mehrmals, aber niemand nimmt ab. »Komm schon«, bettle ich laut. »Geh schon ran, verdammt noch mal.«

»Rufus, wer war das?«, wiederholt Sebastian, als ich es frustriert aufgebe, das Handy wieder in meine Hosentasche stecke und mich zu ihm umdrehe. Seine weit aufgerissenen, dunklen Augen sind voller Sorge und das macht mich wütend. Er hat kein Recht, sich um mich zu sorgen – nicht jetzt, nicht nach allem, was er getan hat –, aber auf einmal bin ich zu beunruhigt und verunsichert, um, wie noch vor ein paar Minuten, berechtigten Zorn zu empfinden.

»April«, antworte ich steif und ärgere mich kurz über mich selbst, weil ich auf seine Frage reagiere. Warum antworte ich ihm eigentlich? Mein Leben geht ihn nichts an. Nicht mehr.

»Deine Schwester?« Fassungslos zieht er die Nase kraus und die Augenbrauen zusammen. Es ist ein vertrauter Anblick, und auch das fand ich früher süß an ihm – früher, bevor er mir das Herz gebrochen hat.

»Eine andere April kenne ich nicht.«

»Warum hat sie dich angerufen?« Er will keine Zusammenfassung unseres Gesprächs. Ihn verblüfft die bloße Tatsache, dass mich meine Schwester überhaupt angerufen hat – und ich bin genauso überrascht wie er.

April ist gerade mal zehn Monate jünger als ich, sie fünfzehn, ich sechzehn, trotzdem kennen wir uns kaum. Ich bin nur rein formal ihr Bruder und man kann uns nicht einmal als Freunde bezeichnen; Freundschaft ist etwas, was unser Vater Peter Covington II, ein kontrollsüchtiger, aufgeblasener Wichtigtuer, niemals zwischen uns dulden würde. Und auch wenn es mir persönlich scheißegal ist, was der heuchlerische Arsch duldet und was nicht, will ich mit keinem der Covingtons auch nur das Geringste zu tun haben.

April jedoch hat so eine Art, sich einem ins Herz zu schleichen, egal wie viele Hindernisse man ihr in den Weg legt. Sie ist geht auf andere zu, ist immer gut drauf und traut sich was, und bisher hat es noch keine Regel gegeben, bei der April Covington nicht ein Schlupfloch gefunden hätte. Sie hat etwas Liebenswertes an sich, was ihr nicht einmal ihre gefühlskalten Eltern austreiben konnten – und garantiert haben sie sich nach Kräften bemüht. Allerdings ist es Peter und seiner Frau Isabel gelungen, ihr ein paar schlechte Eigenschaften mitzugeben; und daher ist April, so liebenswert sie auch sein mag, zuweilen durchaus berechnend, manipulativ und verzogen. Mit ihr zusammen zu sein, hat meistens seinen Preis, und ich bin ziemlich sicher, dass sie gerade angerufen hat, weil ich ihr noch was schuldig bin.

»Sie ist in Schwierigkeiten«, höre ich mich zu Sebastian sagen. Es klingt absurd distanziert, meine Gedanken überschlagen sich bereits, während ich mir zu überlegen versuche, was ich jetzt tun soll. »Sie – sie braucht meine Hilfe.«

»April braucht deine Hilfe.« Er wiederholt die Worte, um sie abzuwägen, kann sich jedoch genauso wenig einen Reim darauf machen wie ich. Und dennoch hat sie das vor nicht einmal zwei Minuten zu mir gesagt.

»Hallo?« Mein Ton war verärgert, meine Geduld schon recht strapaziert, als ich den Anruf annahm. Kaum hatte ich es getan, bereute ich es bereits – wünschte mir, ich hätte einfach zu der wütenden Tirade angesetzt, mit der ich Sebastian gerade überziehen wollte.

Es folgte eine seltsam geräuschvolle Stille, ein raschelndes Nichts in der Leitung, das langsam von flachen, angestrengten Atemzügen abgelöst wurde. Schließlich, als ich das Ganze schon für einen Streich hielt: »Rufus?«

Ihre Stimme zitterte, klang wie von weit weg, mein Name rutschte in ihrem Mund herum wie ein Eiswürfel, und im Nu war mein Ärger verflogen. »Ja, ich bin dran. Was … Was ist denn?«

»Rufus«, wiederholte sie quengelig. Wieder hörte ich ihren Atem – gepresst und unnatürlich – und dann ihre wie von weit weg klingende Stimme. »Ich brauche … ich brauche Hilfe, Rufus.«

»Wovon redest du? Was ist los?«

»Ich bin … in Fox’ Cottage«, machte sie weiter, die Worte kamen unzusammenhängend, stockend heraus, als kostete es sie eine enorme Anstrengung, sie aneinanderzufügen. »Im Cottage von Fox’ Eltern. Du musst mir helfen. Bitte.«

»Was ist passiert?«, fragte ich. Mein angeborener Argwohn gegen alles, was mit den Covingtons zu tun hat, machte es mir schwer, den Anruf meiner Halbschwester für bare Münze zu nehmen. »Sag mir, was …«

»Du bist der Einzige, dem ich vertrauen kann!«, platzte sie schrill heulend heraus und wimmerte: »Du musst kommen, Rufus. Du musst! Bitte versprich es … versprich es mir.« Darauf folgte wirres Gefasel, eine Aneinanderreihung von Unsinn, als würde sie rückwärts sprechen, und schließlich: »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe solche Angst. Ich glaube, ich … HILF MIR!«

Und dann war die Leitung tot.

Ich gebe Sebastian eine grobe Zusammenfassung, eigentlich will ich es ihm nicht erzählen, bin aber zu aufgeregt, um es nicht zu tun. Wir stehen vor seinem Auto, die bernsteinfarbene Straßenlampe taucht sein unverschämt schönes Gesicht in Sepiatöne und in der schweren, stehenden Luft um uns herum riecht es nach Schwarzpulver. Einen Häuserblock weiter veranstaltet meine beste Freundin, Lucy Kim, ihre Party zum 4. Juli mit Feuerwerk und allem Drum und Dran; das ist unser jämmerlicher Versuch, all den kultigen Hollywood-Teenagerfilmen gerecht zu werden, in denen abwesende Eltern und eine Menge Bier genügen, um einer Handvoll quirliger, liebenswerter Underdogs eine unvergessliche, alles verändernde Nacht zu bescheren. Wir haben es allerdings bisher nur geschafft, eimerweise Kotze und ein paar Brandflecken auf dem Sofa zu produzieren, für die sich Lucy eine gute Erklärung überlegen muss, wenn Mr und Mrs Kim am 6. Juli aus Boston zurückkehren.

»Was willst du tun?«, fragt Sebastian besorgt. Er kommt näher, als wollte er mich berühren, und ich trete einen Schritt zurück. Er nimmt die Abfuhr zur Kenntnis und hält inne, doch seine Augen sind weiter auf meine gerichtet, und in seinem Blick liegt genug Gefühl, um etwas in meinem Innern zu wecken, dem ich eigentlich längst einen Pfahl ins Herz getrieben hatte.

»Ich weiß es nicht«, murmle ich und sehe zu Lucys Haus hinauf, um seinem Blick auszuweichen. Ich höre Rufe, Musik und Lachen, und von irgendwo am See knallen immer noch gelegentlich Feuerwerkskörper. Es ist fast zehn … Gibt es auf der Party überhaupt noch jemanden, der nüchtern ist? »Ich weiß es ni… vielleicht sollte ich Peter anrufen.«

»Euren Dad?« Dieser Vorschlag verwirrt ihn noch mehr als Aprils Hilferuf an mich. »Ist das eine gute Idee?«

»Nein«, gebe ich zu und merke, wie ich rot werde. »Aber was soll ich sonst machen? Ich habe kein Auto, alle meine Freunde sind stockbesoffen, und ich habe keinen Schimmer, wo April eigentlich ist. Dieses Cottage von Fox’ Eltern, wo zum Teufel soll das sein? Es könnte überall sein!«

»South Hero Island«, antwortet Sebastian prompt. Klar, er weiß es natürlich. »Ich war ein paarmal dort. Von hier ist es nur so eine halbe Stunde – ich fahre.«

»Nein, danke«, sage ich kühl, mit dem Rest Würde, den ich zusammenkratzen kann, auch wenn ich mir offensichtlich gerade ins eigene Fleisch schneide – ein stillschweigendes und peinliches Eingeständnis, dass es mir immer noch wehtut. Dass ich nicht darüber hinweg bin.

»Wie kommst du dann hin?«

»Ich lasse mir was einfallen.«

»Ach ja?«, fragt er herausfordernd, und endlich macht sich ein Anflug von Ärger unter seiner ewig coolen Fassade bemerkbar. »Willst du zu Fuß raus auf die Insel laufen? Und bei jedem Haus an die Tür klopfen, bis du April findest?« Er tritt einen Schritt zurück und zeigt auf seinen anderthalb Meter entfernt geparkten Jeep. »Mein Auto steht da und ich kenne den Weg. Wenn du mich anbrüllen willst, und das seh ich dir an, kannst du es unterwegs tun, dann schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Diesen Vorschlag unterstreicht er mit einem verwegenen Lächeln – jenem verschlagenen Wolfsgrinsen, das in allen vier Jahrgangsstufen der Ethan Allen High die Herzen zum Schmelzen bringt und für erotische Fantasien sorgt –, und ich wappne mich gegen seine beängstigende Macht, indem ich mein Herz mit einem dicken Eispanzer überziehe. Ein ängstlicher Blick auf mein Handy sagt mir jedoch, dass die Uhr bereits tickt; ich habe keine Ahnung, welche Art von Hilfe April braucht, wie ernst ihre Lage ist, und ob ich mir die Zeit nehmen kann, noch mal auf Lucys Party zu gehen und dort nach jemandem zu suchen, der nüchtern genug ist, um mit mir einen halbstündigen Ausflug zum Lake Champlain zu unternehmen.

Ganz abgesehen davon könnte es trotz meiner Abneigung gegen Sebastian Williams ganz vorteilhaft sein, ihn dabei zu haben. Aprils Clique ist auch seine Clique, und wenn sich herausstellt, dass es doch eine Falle ist, könnte seine Anwesenheit ihre Pläne durchkreuzen. Könnte.

Innerlich zittriger, als ich mir anmerken lasse, und trotz all meiner Bedenken allmählich doch in Sorge um meine Schwester nicke ich kurz und wortlos und gehe zur Beifahrertür. Sebastians Lächeln wird breiter, als er das Auto aufsperrt, aber ich tue so, als bemerkte ich es nicht, und beschäftige mich damit, mir eine Erklärung für Lucy zu überlegen. Ich habe das Haus noch keine zehn Minuten verlassen, und schon hat sie mir eine (reichlich betrunkene) Nachricht geschrieben, in der sie sich nach meinem Verbleib erkundigt: WO BIST DU, RUFUS HOLT?? ZEIT FÜR TEQUILA SHOTS UND ICH BRAUCHE MEINEN BESTEN FREUND!!!

Vor drei Jahren, als ich tief im Sumpf eines wirklich grauenvollen Coming-outs steckte, war Lucy Kim die erste Freundin, die sich auf meine Seite schlug und ihre Loyalität in einer Reihe überschwänglicher Textnachrichten zum Ausdruck brachte. Zuerst: HAB GERADE RAUSGEFUNDEN DASS MEIN ALLERBESTER FREUND SCHWUL IST OMFG SUPERCOOL WOW LASS UNS SCHUHE KAUFEN GEHEN, gefolgt von: jkjkjk du weißt, dass ich dich über alles liebe, Rufus, und ich bin zu 110 % auf deiner Seite, egal was kommt mwah xoxo. Und: Wenns sein muss, kämpfe ich wie eine Löwin für dich, du musst nur was sagen. Und schließlich: Im Ernst, ich brauch wirklich neue Schuhe, also wie siehts aus?

Lucy ist total energiegeladen und total aufmerksamkeitssüchtig und manchmal einfach nur total high, aber ich liebe sie heiß und innig. Während ich in Sebastians Jeep klettere, feuere ich mit den Daumen eine Nachricht ab: Musste los. Irgendwas mit April?!? Melde mich morgen bae. Bis morgen früh schickt sie mir bestimmt noch siebzig Nachrichten.

❊ ❊ ❊

Während wir nach Norden Richtung Winooski und Malletts Bay fahren, sausen die Straßen von Burlington in einem Wirbel aus Laub und Sternenlicht an uns vorbei. Unser Ziel ist die schmale Dammstraße, die das Ufer mit der Kette von Inseln inmitten des gewundenen Sees an der Grenze zwischen den Bundesstaaten Vermont und New York verbindet. Sebastian hatte vollkommen recht – ich hätte ihn am liebsten angebrüllt, aber ich bin viel zu besorgt wegen Aprils Anruf, um mein Hirn auf all die angestauten Vorwürfe an den Typen zurückzuschalten, der sich bereitwillig als mein Chauffeur angeboten hat. Und der vor nicht allzu langer Zeit mein erster richtiger Freund war.

Mit Sebastian Williams zusammen zu sein, war das Beste und das Schlimmste, was mir je passiert ist. In vielerlei Hinsicht gab mir die Zeit mit ihm das Gefühl, als hätte ich vorher gar nicht richtig gelebt. Ich war wie eine Geige – ein Gegenstand, der keinen rechten Zweck hat, bis jemand ihn berührt, ihn zum Klingen bringt, Dinge aus ihm herausholt, die er allein nie hervorbringen könnte. Sebastian war derjenige gewesen, der mir die Musik entlockt hatte, und deswegen war das Ende auch so schlimm; vor ihm war mir nie bewusst gewesen, wie schmerzhaft die Stille ist.

Doch das Schwierigste an unserer Trennung war zugleich das Schwierigste an unserer gesamten Beziehung: Wir mussten es vor allen, die wir kennen, geheim halten.

Ich sehe zu ihm rüber, als wir uns in einen Kreisverkehr einfädeln, das Licht streicht auf eine Art über sein Gesicht, wie ich es tausendmal erfolglos auf ein Foto zu bannen versucht habe. Er ist so verdammt attraktiv, dass es mir immer noch den Atem verschlägt, auch wenn ich wünschte, ich hätte ihn nie kennengelernt. Mit seiner dunklen Haut, den flirtenden Augen und dem rotzfrechen Lächeln sieht er besser aus, als gut für ihn ist – und da ist sein langbeiniger, schmalhüftiger und durch und durch straffer Körper noch gar nicht miteinberechnet.

Fuck.

Es ist erst sechs Wochen her, dass er urplötzlich und ohne Erklärung aufgehört hat, meine Nachrichten zu beantworten; fünf Wochen, dass er ganz offiziell auf unfassbar schmerzhafte Art mein Herz zertrampelt hat, als würde er eine Kippe austreten; und erst eine Woche, dass ich aufgehört habe, die sinnlose Illusion zu hegen, er könnte eines Tages zu mir zurückkehren – oder würde mir zumindest die Gelegenheit geben, ihm ins Gesicht zu sagen, was ich von ihm halte. Man kann sich meine Überraschung vorstellen, als er dann aus heiterem Himmel auf Lucys Party auftauchte und mich sprechen wollte, sofort. Aber wir waren kaum zum Thema gekommen, als mein Handy in meiner Hosentasche klingelte und April mit ihrem rätselhaften Notfall anrief, und jetzt sind wir hier, sitzen einen halben Meter voneinander entfernt in unbehaglichem Schweigen, während die Nacht um uns herum immer merkwürdiger wird.

Was auch immer er auf dem Herzen hat, es muss etwas Wichtiges sein – wichtig genug für ihn jedenfalls, um herauszufinden, wo Lucy wohnt. In den vier Monaten unserer Beziehung hat er nämlich immer tunlichst darauf geachtet, meinen Freunden aus dem Weg zu gehen. Trotzdem bin ich entschlossen, ihm zuerst meine Meinung zu sagen, mich von all den giftigen, ätzenden Gefühlen zu befreien, die sich im Lauf von sechs langen Wochen bis in mein Knochenmark gefressen haben. Ich habe diese Szene so oft im Kopf durchgespielt, dass es mir nicht schwerfallen sollte, meine berechtigten Vorhaltungen loszuwerden … nur dass ich mich inzwischen sieben Tage lang darin geübt habe, nicht mehr daran zu denken, aus der idiotischen, dem Selbstschutz dienenden Auffassung heraus, dass mir all die negativen Gefühle nicht guttaten. Und so sind meine kristallklaren Beschuldigungen und Argumente hoffnungslos durcheinandergeraten. Aprils Anruf anzunehmen, war zum Teil auch der Versuch gewesen, Zeit zu gewinnen, um meine Gedanken zu sortieren.

»Hin und zurück dauert es eine Stunde«, bemerkt Sebastian im Konversationston, seine Stimme durchschneidet die Stille. »Du kannst mich nicht die ganze Zeit ignorieren.«

»Herausforderung angenommen«, gebe ich frostig zurück. Auf diese Weise muss ich wegen meiner eigenen perversen Sturheit meine Rachegelüste noch weiter zügeln. Es ist wirklich bescheuert; so gern ich ihm den Kopf waschen würde: Wenn er darauf wartet, werde ich den Teufel tun und ihm die Genugtuung gönnen. Ich habe einmal aus purem Groll auf Tickets für ein Konzert von Death Cab for Cutie verzichtet, weil sie ein Friedensangebot meines Freundes Brent waren. Damals befand ich mich mitten in einer blutigen Fehde mit ihm und wollte nicht, dass er sich besser fühlte, was immer er mir auch angetan hatte.

Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, was Sebastian mir nach all der Zeit zu sagen hat – was ihn dazu veranlasst haben mag, sich spätabends auf die Suche nach mir zu machen, wo er doch eigentlich mit seinen coolen Freunden Party machen sollte – und ich gebe zu, dass es mich brennend interessieren würde. Auch wenn ich wollte, es wäre nicht so. Und ebenso wenig kann ich mir im Entferntesten vorstellen, wie April darauf gekommen ist, ausgerechnet mich anzurufen und zu behaupten, ich sei der Einzige, dem sie vertrauen könne. Nichts davon ergibt irgendeinen Sinn; der ganze Abend ist innerhalb kürzester Zeit so bizarr geworden, dass ich mir in den Oberschenkel kneife, bis es wehtut, nur um mich zu vergewissern, dass ich wirklich wach bin.

»Das ist aber nicht irgendein Trick, oder?«, frage ich schließlich mit eingerosteter Stimme, als Sebastian den Jeep auf die zweispurige Dammstraße lenkt. Der Himmel ist mit Sternen übersät, und links und rechts von uns glänzt der See wie geriffeltes schwarzes Metall.

»Was meinst du damit?« Wieder zieht er die Nase kraus.

»Ich meine damit, ich werde doch nicht in irgendeinen Hinterhalt gelockt, oder?«

»Das würde April nicht mit dir machen«, entgegnet Sebastian überzeugt.

»Doch. Das hat sie schon mal gemacht.«

In der fünften Klasse, als ich noch nicht wusste, dass man den Covingtons auf keinen Fall trauen darf, kam April eines Tages nach der Schule zu mir. Ich hatte gerade mein Rad aufgeschlossen, da stand sie plötzlich am Ende des langen Metallständers, nervös, aber aufgekratzt.

»Rufus, ich muss mit dir reden!«, zischte sie mir in drängendem Ton zu und sah sich mit ihren riesigen blaugrünen Augen um. Wir sollten eigentlich nicht miteinander reden, und ich nahm an, sie machte sich Sorgen, dass man uns sehen könnte. »Es ist echt wichtig. Es geht … um meinen Dad und deine Mom?«

»Ähm, okay«, sagte ich, nur leicht argwöhnisch. Sie benahm sich komisch, ihre Worte klangen irgendwie unnatürlich, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. »Was ist mit ihnen?«

»Nicht hier – unter vier Augen!« Sie zog sich zurück. »Komm hinter die Turnhalle, ja? Ich will nicht, dass jemand davon erfährt.«

»April, was …«, fing ich an, doch sie lief schon quer über den Spielplatz zu dem großen Backsteinanbau, der Turnhalle unserer Grundschule. Nach einer kurzen Bestandsaufnahme meiner Zweifel schloss ich mein Rad wieder ab und trottete ihr nach.

Ich bog um die Ecke und lief direkt in eine Falle. April stand an die Mauer gelehnt, ihre blauen Augen ernst und feierlich, und sah mit stummer Faszination zu, wie unser älterer Bruder, Hayden, und zwei seiner Freunde die nächsten vier Minuten damit verbrachten, mich zusammenzuschlagen und in ein zitterndes, blutendes Häufchen zu verwandeln.

»Damals wart ihr noch Kinder«, meint Sebastian, der die Geschichte kennt und so tut, als wäre es nichts Besonderes – als wäre es nicht Teil einer riesengroßen Hölle, aus der es für mich buchstäblich kein Entkommen gibt.

»Manche Menschen ändern sich nicht«, beharre ich fest. Wie kann ich ihm deutlich machen, wie gefährlich April trotz ihrer einnehmenden Art ist? Dass sie in einer Blase aufgewachsen ist, was sie zugleich hilflos und skrupellos hat werden lassen, geschützt vor den Konsequenzen ihrer Handlungen durch eine Familie, die sich weigert wahrzunehmen, was sie tut?

»Das wäre eine idiotische Falle. Ich meine, sie weiß doch, dass du kein Auto hast, wie könnte sie also sicher sein, dass du …«

Er verstummt, als ihm das ganze Ausmaß meiner Unterstellung klar wird, und seine Stimme wird abweisend, was unendlich viel angenehmer ist als seine vorherigen Versuche, freundlich zu sein. »Du denkst, dass ich da vielleicht mit drinstecke.« Ich quittiere seinen Vorwurf mit Schweigen, und er bemerkt schroff: »So was würde ich nicht machen, Rufe. Das würde ich dir nicht antun. Das weißt du.«

»Ich habe keine Ahnung, wozu du fähig bist«, gifte ich zurück, und sechs Wochen Schmerz und Zweifel und rohe Wut durchbrechen wie eine Unterwasserexplosion die Oberfläche, das Gift verätzt meine Kehle und sticht in meinen Augenlidern. Beschämt drehe ich mein Gesicht zum Fenster.

Wir verlassen die Dammstraße und fahren landeinwärts auf dem Highway Number Two, rollen an den Apfelgärten und Landhäusern von South Hero Island vorbei, die Stille der Nacht noch immer durchbrochen vom Knallen der Feuerwerke. Gerade biegt Sebastian von der Hauptstraße auf einen schmalen Weg ab und fährt durch einen Korridor üppig wuchernder Bäume auf das Westufer zu. Es herrscht absolute Dunkelheit, man fühlt sich wie abgeschnitten und auf einmal kommt mir die Insel schrecklich abgelegen vor. Meine Hände wandern zum Sicherheitsgurt, nesteln mit rhythmischen Bewegungen daran herum, während unter den Reifen des Jeeps die geteerte Straße in einen Feldweg übergeht. Wo zum Teufel fahren wir hin?

Schließlich teilen sich die Bäume und Sebastians Scheinwerfer fallen auf die mondbeschienene Leere des Lake Champlain. Er wendet sich parallel zum See Richtung Norden. Wir passieren einige Cottages – hauptsächlich Ferienhäuser –, bevor wir endlich unser Ziel erreichen und der Jeep langsamer wird.

Zu unserer Linken schlängelt sich eine Kiesauffahrt durch ein Wäldchen aus Espen und Kiefern und führt zu einem dekorativen Holzhaus, dessen Dachgeschoss mit Spitzgauben ausgebaut ist. Dichte Büsche drängen sich unter einer umlaufenden Veranda, und in einem separaten Carport parkt ein schwarzer Range Rover. Sebastians Scheinwerfer beleuchten den Aufkleber eines Playboy-Häschens auf der imposanten Stoßstange des Rover, und als ich ihn erkenne, rutsche ich auf meinem Sitz herum. Der SUV gehört Aprils superbescheuertem Freund, Fox Whitney.

Fox ist siebzehn, angehender Zwölftklässler an der Ethan Allen und so widerlich und überflüssig wie ein Mastdarmvorfall. Außerdem ist er der jüngste von drei Söhnen eines Wirtschaftsanwalts und einer Dermatologin und somit fast genauso verzogen wie meine Schwester. Verwirrt blinzelnd betrachte ich sein Auto, wobei sich mein Unbehagen noch mehr steigert; wenn Fox hier ist, wozu braucht April dann mich? Und warum ausgerechnet mich und nicht den Bruder, mit dem sie sich abgeben darf – oder einen ihrer vielen angesagten Freunde?

»Hier ist es«, sagt Sebastian leicht unsicher, als er die Tür des Jeeps aufstößt und hinausspringt. Ich folge seinem Beispiel und bin sofort von einem Mückenschwarm umgeben, was mich fast bereuen lässt, dass ich zu Lucys Party ein Muskelshirt angezogen habe. »Fast« aus zwei einfachen Gründen: 1) Meine Arme und Beine sind ohnehin schon mit Stichen übersät, was machen da ein paar mehr aus?, und 2) Fest entschlossen, bei meiner nächsten Begegnung mit Sebastian superheiß zu sein, habe ich in den letzten sechs Wochen hart trainiert, und meine Arme sehen ziemlich gut aus.

Mein Ex-Freund geht voran zu einer Holztreppe, die zur Veranda führt, und ich ignoriere nach Kräften, wie gut seine Arme aussehen – wie seine Wadenmuskeln direkt vor meinen Augen spielen, wie der Duft seines blöden Rasierwassers mich auch nach all der Zeit noch trügerisch betört –, und konzentriere mich darauf, was mich da drin womöglich erwartet. Im Cottage brennt Licht, jedes Fenster ist hell erleuchtet, und ich höre Musik wummern.

Als Sebastian an die Haustür klopft und durch die rautenförmigen Scheiben späht, würde ich ihm am liebsten sagen, dass das Zeitverschwendung ist; ich habe April auf der Fahrt hierher immer wieder Nachrichten geschickt und versucht sie anzurufen, ohne irgendeine Reaktion. Wenn sie da drin ist, wird sie nicht aufmachen. Ich greife an ihm vorbei zum Türknauf, drehe versuchsweise und die Tür öffnet sich.

»April«, rufe ich besorgt. Ein holzgetäfelter Eingangsbereich geht in ein Wohnzimmer über, eingerichtet in einem Stil, den obszön reiche Menschen als »rustikal« bezeichnen würden. Es ist jene Art von bodenständigem Landhaus-Charme, zu dem Kissenbezüge aus Rohseide und aus der Provence importiertes Kunsthandwerk gehören. Der Zustand des Zimmers lässt jedoch zu wünschen übrig; die Möbel wurden von ihrem Platz gerückt, überall stehen rote Plastikbecher und herrenlose Flaschen herum, und der Boden ist mit Glas- und Keramikscherben übersät wie mit Killer-Konfetti. Von meiner Schwester keine Spur.

Vorsichtig trete ich über die Schwelle und meine Sorge wächst. Dennoch nehme ich Sebastians Gegenwart hinter mir überdeutlich wahr und frage mich – nicht zum ersten Mal –, wie er seine Anwesenheit hier zu erklären beabsichtigt. Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass das Ganze ein Trick ist, dass er mich in eine Falle gelockt hat, um seinen Arschlochfreunden, die uns vermutlich ohnehin auf die Schliche gekommen sind, etwas zu beweisen. Vielleicht besteht er bei seiner Clique gerade irgendeine unbarmherzige soziale Mutprobe auf meine Kosten. »April, ich bin’s, Rufus. Bist du da?«

Rechts von mir befindet sich eine auf Hochglanz polierte Treppe, die, wie ich vermute, zu einem loftartigen Schlafzimmer oder Arbeitszimmer führt, und ich spitze die Ohren in Richtung Obergeschoss. Das schwache Geräusch, das ich vernehme – eine Mischung aus Seufzen und Flüstern – kommt allerdings nicht von oben, sondern von irgendwo im Erdgeschoss.

Beim Betreten des Wohnzimmers sehe ich, dass es links weitergeht in einen Essbereich – und von dort aus wiederum in die Küche. Dort entdecke ich April endlich, als ich die Kücheninsel umrunde und auf den Boden blicken kann.

Meine Schwester kauert zusammengesunken vor dem Schränkchen unter dem Spülbecken, ihre Haut ist wachsweiß im Kontrast zu ihrem purpurroten Bikini; Fox liegt zusammengekrümmt neben ihr auf dem Fliesenboden, fast wie ein Kind im Mutterleib, sein Gesicht albtraumhaft schlaff.

Beide sind blutüberströmt und in den Fingern von Aprils rechter Hand liegt der Griff eines großen Fleischermessers.

2

»APRIL!« Ich packe sie an den Schultern, ihre Haut fühlt sich erschreckend kalt und klebrig an, und ziehe sie hoch, richte sie auf. Das Messer fällt ihr aus der rechten Hand, als mein Knie an ein links von ihr liegendes Smartphone stößt, und ihr Kopf baumelt schwer wie ein Sandsack hin und her. Verzweifelt schüttle ich sie. »April!«

»Verdammte Scheiße, Alter.« Die Augen vor Panik weit aufgerissen, tastet Sebastian Fox’ Körper ab und sucht einen Puls. »Verdammt noch mal, Rufus, ich glaube, er ist tot!«

Ich zwinge mich, nicht durchzudrehen, und drücke meine Finger mit angehaltenem Atem auf Aprils Halsschlagader. Sobald ich das schwache, unregelmäßige Pulsieren von Blut unter ihrer bleichen Haut spüre, stoße ich einen urtümlichen Laut der Erleichterung aus und kneife fest die Augen zu. »Sie lebt.«

»Was zum Teufel ist hier passiert, Mann?«, fragt mich Sebastian todernst. Erschüttert weicht er von Fox’ Leiche zurück. Der Lieblingssohn der Whitneys liegt ausgestreckt auf dem Schieferboden, sein T-Shirt ist so blutgetränkt, dass man die ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen kann. »Was zum Teufel ist hier passiert?«

Er springt auf die Füße und stolpert ein bisschen, seine Augen weiten sich noch mehr. Seine Angst wirkt so echt, dass mir nun endgültig klar ist: Wenn es sich hier tatsächlich um einen perversen Streich handelt, ist er mit Sicherheit nicht daran beteiligt. Ich untersuche meine Schwester nach offenen Wunden oder irgendwelchen anderen Verletzungen, finde jedoch nichts. Das Blut scheint nicht von ihr zu stammen.

»April, wach auf!«, rufe ich in harschem Befehlston, streiche ihr das kastanienbraune Haar aus dem Gesicht und hebe ihr Kinn ans Licht. Sie murmelt etwas Unverständliches und ich ziehe eines ihrer Augenlider nach oben. Die Pupille ist ein winziger Punkt in einem aquamarinblauen Teich, und sie verdreht die Augen, bis man nur noch das Weiße sieht. »Sie hat was eingeworfen.«

»Scheiße, Mann!« Sebastian tigert aufgeregt hin und her, zwanghaft auf Fox’ Leiche starrend. »Wir müssen jemanden anrufen.«

»Noch nicht«, sage ich bestimmt und schüttle April noch einmal fest. Mit schlechtem Gewissen gebe ich ihr eine leichte Ohrfeige. Sie schnaubt auf und hebt flatternd die Augenlider. »April! April, kannst du mich hören?«

»… Rufus?«, haucht sie.

»Ja, ich bin’s.«

Dicke Tränen rollen ihr über die Wangen und dann wirft sie zu meiner absoluten Überraschung kraftlos und verzweifelt die Arme um mich. Ihre Stirn sackt gegen meine Schulter und sie fängt leise zu wimmern an. Ich lasse sie kurz gewähren, aber dann löse ich ihre Arme von mir und richte sie wieder auf, weil ich zu hektisch bin. »April, was ist passiert?«

»Ich – ich weiß es nicht …« Als ihr Blick zu Fox’ Leiche wandert, packe ich sie erneut am Kinn und zwinge sie, mich anzusehen. Sie darf jetzt nicht den Fokus verlieren.

»Bleib bei mir, April. Sag mir, was passiert ist.«

Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen, kurz trübt sich ihr Blick, bevor sie sich wieder fasst, doch ihre Stimme ist nur ein mattes, abgehacktes Flüstern, als sie jammert: »Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß nicht … da war … das viele Blut.«

Mit Sebastians Hilfe ziehe ich sie auf die Beine, dann nehmen wir sie in unsere Mitte und marschieren mit ihr durch den Essbereich und das Wohnzimmer, während aus unsichtbaren Lautsprechern Hip-Hop-Musik dröhnt. April erinnert mich an ein neugeborenes Fohlen, wie sie auf gummiartigen, unsicheren Beinen umherstakst, und immer wieder sackt ihr das Kinn auf die Brust. Ich frage sie, was sie genommen hat, aber ihre Antworten sind unverständlich, und ich spüre vor Ungeduld ein heißes Kribbeln unter der Haut. Um mich zu beruhigen, rufe ich mir den Rat meines Therapeuten ins Gedächtnis: Tief durchatmen und einen Schritt zurücktreten. Über Aprils Kopf hinweg frage ich Sebastian: »Gibt es hier eine Dusche? Vielleicht kriegen wir sie damit wach.«

»Dort geht’s zu einem Schlafzimmer«, antwortet er nach einem Moment, seine Miene ist beängstigend fahl, und er deutet zu einer Tür in einem kleinen Vorraum neben dem steingefassten Kamin. »Es hat ein Bad. Zwar ohne Badewanne, glaube ich, aber …«

»Bringen wir sie hin.«

Das Hauptschlafzimmer der Whitneys ist großzügig dimensioniert und luxuriös ausgestattet – Laken aus ägyptischer Baumwolle, ein Bett mit handgeschnitztem Kopfteil, kostbare antike Schränke –, doch ein offener Durchgang führt zu einem überraschend spartanischen Badezimmer mit Duschkabine.

Ich schiebe April in Sebastians Arme, streife meine Schuhe ab, ziehe mein Muskelshirt aus und drehe das kalte Wasser voll auf. Anschließend trete ich mit meiner blutüberströmten, halb toten Halbschwester unter den Duschstrahl und halte sie aufrecht, während sie sich windet und vor sich hin brabbelt. Rotes Wasser strömt an ihr herab und verschwindet langsam im Ausguss. Ihre nackte Haut wird glitschig, als sich das verkrustete Blut löst, und ich muss meinen Griff verstärken. Schließlich zappelt und wehrt sie sich immer heftiger und ich drehe das Wasser ab.

Sobald der Großteil des Blutes abgewaschen ist, sieht man ganz deutlich, dass sie nicht verwundet ist. An ihrem schlanken, blassen Leib sind noch rötliche Spuren zu sehen, wo das Blut heruntergelaufen ist, und sie hat Gänsehaut, aber sonst fehlt ihr nichts. Ich setze sie auf den Toilettendeckel und sie starrt mit leerem Blick und zitternd auf den weißen Fliesenboden. Schwer atmend von der Anstrengung, sie zu halten, frage ich sie: »Fühlst du dich besser?«

Ein paar Sekunden lang sieht sie mich nur an, dann nickt sie schwach. »Ja.«

»Wo sind deine Kleider?«

Sie hebt den Arm, als wäre er zweihundert Pfund schwer, und deutet vage in Richtung Schlafzimmer. »Da drin. Ist … ist Fox …«

»Wasch dich ganz ab, zieh dich an, und dann musst du uns erzählen, was heute Abend passiert ist, ja?« Ich bemühe mich, es nicht wie einen Befehl klingen zu lassen, imitiere Mom, wenn sie mich bittet, Haushaltspflichten zu erledigen, und es scheinbar als Frage formuliert – Du musst für mich den Rasen mähen, ja? –, aber meine Stimme zittert. Ich kämpfe energisch gegen meine Angst an. Ich darf nicht die Kontrolle verlieren. Einen Schritt zurücktreten. »Kriegst du das hin?«

Wieder nickt April und murmelt: »Ja.«

Als ich Sebastian zurück in das chaotische Wohnzimmer scheuche und die Tür hinter uns schließe, höre ich, wie die Dusche erneut angestellt wird. Mein Ex-Freund sieht mich ungläubig an und seine schönen weichen Lippen kräuseln sich wie ein Katzenhintern. »Mann, du lässt sie eine verdammte Dusche nehmen? An ihr klebt Beweismaterial!«

»Hier klebt überall Beweismaterial«, blaffe ich zurück und wedle mit der Hand zu den angeschlossenen Räumen. Wir haben Abdrücke von Fox’ Blut auf den Kieferndielen hinterlassen, und Spuren davon befinden sich auch an Sebastians Kleidung, an seinen Armen und an seinem Gesicht. Während ich dastehe und versuche, meine Gedanken zu sortieren, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen, merke ich, dass seine Augen an meinem Oberkörper auf und ab wandern, und mir wird bewusst, dass ich kein Shirt trage. Mitten in all dem Durcheinander und Schock erfüllt mich vollkommen unangebrachte Genugtuung darüber, dass mein Ex-Freund sieht, wie definiert meine Brust- und Bauchmuskeln in den Wochen, seitdem er mich abserviert hat, geworden sind.

Ich hatte den Plan, mich über den Sommer in einen superheißen Sexgott zu verwandeln, mir Muskeln wie ein Unterwäschemodel zuzulegen und dann Lucy ein paar Schnappschüsse von mir machen zu lassen. Die Fotos wollte ich auf Facebook und Instagram und überall sonst posten, damit Sebastian sie sieht und merkt, wie wunderbar es mir auch ohne ihn geht – damit er den neuen, heißen Rufus Holt sieht und sich nach ihm verzehrt. Meine biologischen Voraussetzungen machten mir jedoch einen Strich durch die Rechnung; mein Oberkörper wurde zwar ein wenig straffer, aber nach genau zwei Pfund zusätzlicher Muskelmasse hat mein schmalschultriger Körper wohl aufgegeben. Was ich auch mache, ich bin offenbar auf schmächtig abonniert. Trotzdem, ich habe deutlich mehr Bauchmuskeln als das letzte Mal, als mich Sebastian ohne Hemd gesehen hat, und das ist ja wohl die Hauptsache.

»Wir müssen die Polizei rufen«, sagt er jetzt eindringlich.

Ich schüttle den Kopf. »Noch nicht.«

»Was zum Teufel meinst du mit noch nicht?«, will Sebastian wissen, seine Stimme wird hysterisch. »Warum nicht? Verflucht noch mal, Rufus, Fox ist tot!«

»Erst wenn wir gehört haben, was April zu sagen hat! Wir müssen wissen …« Wir müssen wissen, wo wir da hineingeraten sind. »Wir müssen erst wissen, was passiert ist.«

Irgendetwas stimmt hier nicht. Oberflächlich wirkt es eindeutig so, als hätte April ihren Freund mit einem großen alten Messer umgebracht … aber warum? Und warum hat sie ausgerechnet mich um Hilfe gebeten? Auch wenn sich das jetzt egoistisch anhört, ist dies der eigentliche Grund, warum ich die Polizei noch nicht einschalten möchte. Sie hat nicht ihre sie liebenden Eltern oder ihre besten Freunde oder gar unseren herrschsüchtigen Arsch von einem Bruder da reingezogen, sondern mich, und ich will genau wissen, wo ich stehe, bevor ich die Cops einweihe. Meine jüngsten Erfahrungen mit dem Gesetz sind nämlich nicht die besten und ich kann mir keine Missverständnisse erlauben.

»Warte einfach, bis sie es uns erzählt hat, okay? Warte einfach.« Ich bemühe mich, Nachdruck in meine Stimme zu legen, als ich mich umdrehe und Richtung Haustür gehe. Dabei arbeitet mein Verstand fieberhaft, und ich unterbinde jeden Gedankengang, der uns nicht weiterbringt.

»Wo willst du hin?«, fragt Sebastian aufgebracht.

»Ich will mich nur mal draußen umsehen. Ich glaube – Versuchen wir einfach, so viel wie möglich darüber herauszufinden, was hier los ist, okay? Bevor wir irgendjemanden rufen.«

Sebastian schweigt einen Augenblick, die Lippen fest aufeinandergepresst. Er wirkt mehr als nur leicht beunruhigt, aber er nickt mir kurz zu. »Okay. Okay.«

Kaum ist die Tür hinter mir zugefallen, stürze ich zum Geländer der Veranda, schaffe kaum die drei Schritte, bevor sich mein Magen umdreht. Es kommt nichts heraus außer einem schauerlichen, würgenden Geräusch, mein Magen krampft sich zusammen, Speichel läuft mir über die Unterlippe, während ich mich bemühe, tief durchzuatmen und meine Übelkeit zu unterdrücken. Die Luft draußen ist immer noch schwer und warm, doch erst als ich sie mit tiefen Zügen einatme, merke ich, wie gut sie riecht. Im Innern des luxuriös eingerichteten Hauses dagegen herrscht ein metallischer Blutgeruch.

Ich zwinge meinen Magen, sich zu beruhigen, und kämpfe gegen den Aufruhr in meinem Kopf. Als ich schließlich wieder gleichmäßig atme, trete ich vom Geländer zurück und beginne eine methodische Umrundung des Hauses, meine Augen wandern nach links und rechts, während ich nach etwas Ausschau halte, von dem ich nicht weiß, was es sein könnte. Aber mir fällt nichts Besonderes auf – nur noch mehr Plastikbecher und Zigarettenkippen – und bald bin ich an einer der Verandatreppen angekommen. Sie führt nach rechts hinunter in den Garten, während links von mir eine Glastür vollen Blick in Farbe auf die Küche und Fox’ Leiche bietet, der immer noch in einer riesigen Lache seines eigenen Bluts liegt.

Schaudernd mache ich kehrt und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Es ist feucht von der Dusche, scheint dem vollen Wasserstrahl jedoch entkommen zu sein, und es funktioniert noch. Ich bin definitiv nicht bereit, mit den Cops zu reden, aber ich habe auch nicht völlig den Verstand verloren; ich weiß, dass bei diesem Splatterfilm-Albtraum ein Erwachsener hinzugezogen werden muss. Allerdings einer, dem ich vertraue.

Meine Mom geht nach dem vierten Klingeln ran, ihre Stimme ist benommen und belegt. Ich stelle mir vor, wie sie auf dem Bett liegt, ein aufgeschlagenes Taschenbuch auf der Brust, und nach ihrer Brille auf dem Nachttisch tastet. »Hey, Rufus, was gibt’s?«

»H-Hey, Mom, ich …« Meine Stimme erstirbt, mir wird schlagartig bewusst, was ich ihr gleich sagen muss. April hat vielleicht ihren Freund umgebracht.

»Was ist? Stimmt was nicht?« Sie ist sofort hellwach, mein Zögern hat sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt. »Hast du dich mit Lucy gestritten? Soll ich dich abholen?«

»Nein, das ist es nicht«, beeile ich mich ihr zu versichern, taste mich vorsichtig an das heran, was ich zu sagen habe. »Es geht … es geht um, ähm … April.«

»Die schon wieder.« Moms Ton wird so hart und scharf wie ein abgebrochener Zahn. »Was hat sie diesmal angestellt? Ist sie uneingeladen zu eurer Party gekommen? Hör mal, wenn sie etwas erzählt hat … wenn sie etwas über meinen Anruf bei Peter erzählt hat …«

»Nein Mom, das ist es nicht …« Ich verstumme, als ihre Worte bei mir ankommen. »Moment mal, was meinst du mit ›deinem Anruf bei Peter‹? Hast du mit ihm gesprochen?« Sie schweigt, und ich merke, wie sich meine Nackenhaare sträuben. »Mom?«

»Schon möglich, dass ich heute deinen Erzeuger angerufen habe«, gibt sie schließlich mit einem gekränkten Schnauben zu. »Ich hatte einen schwachen Moment und bin nicht stolz darauf.«

»Warum?«, frage ich überrascht. Kaum zu glauben, aber dieser Abend kann tatsächlich noch schlimmer werden. Mit einer Ausnahme – nämlich mir – ist noch nie etwas Gutes dabei herausgekommen, wenn Peter Covington und Genevieve Holt miteinander Kontakt hatten.

Vor sechzehn Jahren war meine Mutter eine aufgeweckte fünfundzwanzigjährige Innenarchitektin und Kunstberaterin, gerade frisch nach Burlington, Vermont, gezogen, und stolze Besitzerin einer kleinen Firma mit ihrem Namen. Sie hatte drei Jahre lang die Kunstakademie besucht, aber aufgehört, als man ihr nach einem Praktikum bei einem großen Innenausstatter in New York eine Festanstellung anbot, die sie nicht ablehnen konnte, und folgte schließlich ihrem Herzen nach Neuengland. Dank einer bescheidenen Erbschaft von meinen Großeltern – dem Vernehmen nach zwei schrullige, liebenswerte Leute, die in einem kleinen Ort in Maine einen Dorfladen betrieben und ihren Kindern mit auf den Weg gaben, dass sie ihren Träumen folgen sollten, leider jedoch schon vor meiner Geburt starben – konnte sie sich ein Büro mieten, ihr Schild raushängen und für Privatkunden arbeiten.

Es war nicht immer leicht. Wenn die Wirtschaft brummte, hatte sie Arbeit, aber bei Flaute stagnierten die Aufträge, und sie musste zusehen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen konnte. Als ihr dann die Anwaltskanzlei Pembroke, Landau und Wells einen großen Batzen Geld dafür anbot, bei der Auswahl unschätzbar teurer Kunstwerke für ihre Büroräume beratend tätig zu sein, nahm sie überglücklich an. Der Juniorpartner der Kanzlei, ein Harvard-Absolvent in zweiter Generation namens Peter Covington II, eroberte bereits bei ihrer ersten Begegnung ihr Herz im Sturm. Er war groß und attraktiv, hatte blondes Haar und graue Augen, und er war bezaubert von der unkonventionellen Genevieve mit ihrer Unberechenbarkeit und ihrer freien Art zu denken. Sie passten überhaupt nicht zusammen, er der steife Bürohengst, sie die unangepasste Künstlerin, die vor Leben nur so sprühte, doch zumindest in den Augen meiner Mutter wurde ihre Romanze gerade durch die Funken, die ihre Unterschiede schlugen, befeuert.

Die Funken versprühten ihren Zauber ungefähr zwei Wochen lang, bis meine Mom herausfand, dass Peter Covington verheiratet war und ein kleines Kind hatte – den kleinen Hayden – und dass das meiste von dem, was er ihr in intimen Momenten erzählt hatte, ein Haufen Lügen war. Sie machte sofort Schluss, mit einer flammenden Rede, die sie heute noch gern wortwörtlich wiedergibt, wenn sie ein bisschen zu viel Weißwein intus hat, und erwog danach einige Monate, ihn bei seiner Frau zu verpfeifen. Zu allem Überfluss stellte sie dann auch noch fest, dass sie schwanger war.

Ich wurde in einen hässlichen Krieg hineingeboren, der bis zum heutigen Tag anhält. Immer wieder kommt es zu offenen Scharmützeln, bei denen Peter Covington versucht, das Leben und die Karriere meiner Mutter zu ruinieren, und sie ihn wegen übler Nachrede und ausstehender Alimente verklagt. Peters Frau Isabel hat auf wundersame Weise während des ganzen langen Martyriums zu ihm gehalten; vermutlich wurde April geboren, um ihre Ehe zu retten, aber ich glaube, dass ihr Ehevertrag der eigentliche Kitt ihrer Beziehung ist.

Mit mir wollte Peter nichts zu tun haben; in sechzehn Jahren habe ich nie auch nur eine Geburtstagskarte von ihm bekommen. Als ich noch ein Kind war, faszinierte er mich – mein wohlhabender und unerreichbarer Vater, der in einem wunderschönen Haus wohnte und ein ausgefallenes Auto fuhr –, aber ich beging nur ein einziges Mal den Fehler, ihn Dad zu nennen. Ich war damals fünf, und er kam bei uns vorbei, um meiner Mom eine persönliche Mitteilung zu machen; seine Reaktion war unvermittelt, heftig und furchterregend und heilte mich dauerhaft von meiner fehlgeleiteten Zuneigung. Selbst in einem Notfall hätte sich meine Mutter eher an das Cloverfield-Monster gewandt als an Peter Covington – und wenn sie ihn jetzt angerufen hatte, konnte das nur eins bedeuten.

»Wie pleite sind wir?«, frage ich rundheraus, als ihr Schweigen unerträglich wird. Die Gedanken in meinem Kopf zerfallen in Bruchstücke. Fox’ Leiche späht sozusagen drohend über meine Schulter, aber die Armut, gegen die meine Mom und ich ankämpfen, ist ein schwarzes Loch, das uns unausweichlich anzieht. Es gibt kein Entrinnen, also kann ich mich genauso gut mitten hineinstürzen, damit erkaufe ich mir noch ein bisschen mehr Zeit, um zu überlegen, wie ich den Toten, den ich gerade entdeckt habe, zur Sprache bringen soll.

Sie holt zögernd Luft. »Darüber musst du dir keine Sorgen machen, mein Junge.«

»Mom.«

»Ich hab’s im Griff, Rufus.«

Die Lüge ist so fadenscheinig, dass ich ihr das nicht durchgehen lassen kann. »Du hast gesagt, du würdest lieber zusammen mit einem Rasenmäher ein Bad nehmen als den Arsch noch einmal um Geld bitten! Du hättest ihn niemals angerufen, wenn es nicht richtig ernst wäre.« Wieder folgt Schweigen, und ich kaue auf der Innenseite meiner Backe herum, während sich das mulmige Gefühl in meinem Bauch verstärkt. Wie schlimm wird dieser Abend denn noch? »Wie schlimm ist es?«

»Ruf-«

»Bitte Mom … sag es mir einfach.« Inzwischen stehe ich an der Rückseite des Hauses und lehne mich müde ans Geländer, das Zirpen der Grillen unterstreicht den täuschend friedlichen Anblick des schwarzen Wassers, das sich weit bis ans gegenüberliegende Ufer erstreckt. Der Mond scheint hell auf das Cottage der Whitneys wie der Suchscheinwerfer eines Polizeihubschraubers und ich ziehe den Kopf ein. »Was immer es ist, meine Fantasie macht es nur noch schlimmer.«

»Wir schulden der Bank ungefähr achttausend«, beichtet meine Mutter kläglich, »und naja, es ist irgendwie … dringend.« Wir haben erst den vierten des Monats und sie ist bereits so in Panik, dass sie sich an meinen Vater wendet; das heißt, es sind alte Schulden, die sich immer weiter angehäuft haben, und sie ist wirklich am Rand der Verzweiflung. »Ungefähr ein Viertel kann ich zusammenkratzen, wenn ich deinen Onkel Connor dazu bringen kann, mir das Geld zurückzuzahlen, das ich ihm an Weihnachten geliehen habe. Aber …«

Sie verstummt, wieder hebt sich mein Magen, und auf einmal spüre ich den Phantomgriff von Fox’ kalten Fingern an meinem Hals. Ich wollte meiner Mutter von einem Mord erzählen, und jetzt reden wir davon, dass wir vielleicht unser Haus verlieren? Der Boden scheint unter mir wegzukippen, ich spüre einen Druck auf meiner Brust und ringe nach Luft.

Meine Mutter ist alles, was ich habe; mein ganzes Leben lang gab es immer nur uns beide, Hand in Hand trotzten wir dem Sturm; allzu oft war ich der Sturm. Irgendwo in mir drin lauert ein Mr Hyde, mein Alter Ego, das jederzeit hervorbrechen kann, befeuert durch leicht entflammbaren Zorn, den ich erst seit Kurzem unter Kontrolle habe. Mitgerissen vom Hurrikan meiner Wut habe ich geschrien und getobt, Geschirr und Knochen zerbrochen, meine Lehrer terrorisiert – und meinen Vater mit Munition gegen uns versorgt. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie oft meine Mutter von der Schule angerufen wurde, weil ich durchgedreht war und eine Glasvitrine mit Pokalen zertrümmert oder jemanden aus meiner Klasse attackiert hatte.

Und sie hat immer zu mir gehalten. Ich verdanke ihr so viel. Ich verdanke ihr alles. Wie viel mehr kann sie noch ertragen? Mein Mund ist ausgetrocknet und gibt ein schnalzendes Geräusch von sich, meine freie Hand verstärkt den Griff um das Holzgeländer. »Ich habe das ganze Jahr gearbeitet, Mom. Ich kann dir helfen …«

»Nein. Auf keinen Fall!« Sie sagt es so vehement, dass ich förmlich hören kann, wie sie auf Karateart mit der Hand durch die Luft fährt. »Ich werde nicht zulassen, dass du dein Geld dafür verwendest, Rufus Holt. Hörst du mich? Das sind meine Fehler, nicht deine, und wenn … wenn …«

Sie bricht ab und wieder sehe ich sie vor mir: die Brille auf dem Schoß, die Finger fest gegen die Lippen gepresst, der Mund zitternd von der Anstrengung, nicht zu weinen. Der See verschwimmt vor meinen Augen, Schwarz und Grau und Blau laufen ineinander und ich blinzle heftig. Wie unfair das alles ist. »Es ist auch meine Sache, Mom. Es ist auch mein Haus.«

»Ich kümmer mich drum. Und wenn ich meine Organe auf dem Schwarzmarkt verkaufen muss, ich krieg das hin. Okay?« Ihr Ton wird stählern. »Wenn mir dein Scheißkerl von einem Erzeuger alles bezahlen würde, was er mir schuldet, wäre das hier längst mein Haus.«

»Da kannst du lange warten«, murmle ich schwach.

»Tut mir leid, Rufus. Das alles … vergessen wir das Ganze und fangen noch mal von vorn an. Was hat April nun schon wieder angestellt?«

Reflexhaft drehe ich mich um und spähe durch die breite Glastür des Wohnzimmers in das Cottage. Im vorderen Teil des Hauses funkeln kalt die Küchenarmaturen, Sebastian steht neben dem Kamin und beobachtet mich mit glänzenden, nervösen Augen; alles an ihm strahlt sein Entsetzen darüber aus, dass er allein da drin mit einer Leiche ist. Ich weiß, ich sollte ihr erzählen, was wir gefunden haben … aber kann ich ihr das wirklich antun? Ihr geht es jetzt schon hundsmiserabel; sie würde als Erstes die Polizei anrufen – oder, noch schlimmer, Peter –, und damit hätte ich keine Chance mehr, meine Rolle in alldem zu kontrollieren.

Ich gehöre eigentlich nicht zu den bösen Jungs, aber ich bin durch meine Wutausbrüche immer wieder auffällig geworden, und die Cops interessieren sich nicht für deine Durchschnittsnote, wenn sie sich noch daran erinnern, wie du in der achten Klasse durchgedreht bist und einem tyrannischen Mitschüler mit der Stuhllehne einen Zahn ausgeschlagen hast. Besonders dann nicht, wenn dein eigener Vater daraufhin für besagten Mitschüler das Schulamt verklagt und dich in aller Öffentlichkeit als »gefährliches Tier« bezeichnet hat. Dank einem guten Therapeuten und der richtigen Medikation habe ich mich inzwischen besser im Griff, aber die Vorsitzende des Schulausschusses wartet nur auf einen Vorwand, um mich rauswerfen zu können – und da ich dieses Jahr schon einmal vom Unterricht ausgeschlossen wurde, ist meine Lage prekär.

Wie ich jetzt merke, habe ich das Ganze nicht richtig durchdacht; sobald meine Mom erfährt, was passiert ist, gibt es kein Zurück. Ich muss mehr herausfinden. Ich brauche noch ein bisschen mehr Zeit.

»Nichts«, murmle ich schließlich. »Mach dir keine Sorgen.«

Als ich die Verbindung unterbreche, habe ich allerdings das ausgeprägte Gefühl, dass die Covingtons es irgendwie schon wieder geschafft haben, mein Leben zu ruinieren.

3

»MITWEMHASTDUGESPROCHEN?«, will Sebastian sofort wissen, als ich durch die Verandatür zurück ins Wohnzimmer komme, wobei ich sorgfältig den Glassplittern auf dem glänzenden Parkett ausweiche. Die Musik ist inzwischen abgestellt, ebenso wie das Wasser im Badezimmer. April hat fertig geduscht. »Hast du nicht gesagt, wir sollen nicht die Polizei rufen?«

»Vor fünf Minuten wolltest du sie selbst noch holen«, halte ich dagegen, verblüfft über seine Kehrtwende. Jetzt, da ich mitten im Wohnzimmer stehe, wirkt die Unordnung auf mich, als hätte hier ein Kampf stattgefunden; die Stühle wurden nicht zur Seite geschoben, sondern gestoßen, und der Glaseinsatz des Couchtischs ist von Sprüngen durchzogen.

»Vor fünf Minuten hatte ich noch keine Gelegenheit, mich hier umzusehen«, kontert Sebastian ruhig, aber eindringlich. Er tritt näher, sieht mich mit seinen sanften, dunklen Augen unverwandt an, und da durchzuckt mich eine schmerzhaft glückliche Erinnerung wie ein Elektroschock. »Rufus, mit wem hast du gesprochen?«

»Mit meiner Mom, in Ordnung?«

»Du hast es deiner Mom erzählt?« Entsetzen malt sich auf seinem Gesicht, er wird aschfahl.

»Nein, hab ich nicht. Es war nur … vergiss es, ist nicht wichtig. Was meinst du damit, du hattest Gelegenheit, dich umzusehen? Was hast du gefunden?«

Wortlos führt er mich in die Essecke. An der Wand hängen Gemälde von Segelbooten und Häfen. Darunter steht ein Sideboard mit allerlei Krimskrams und schmiedeeisernen Kerzenhaltern, und auf einem klobigen Holztisch finden sich alle möglichen Sachen, von denen man besser die Finger lassen sollte. Krüge mit billigem Wein, ein offener Karton mit noch billigerem Bier und ungefähr ein halbes Dutzend fast leere Schnapsflaschen; ein Aschenbecher ist mit Zigarettenkippen gespickt wie ein Stachelschwein; und ein breiter Handspiegel weist unmissverständliche Spuren eines weißen Pulvers auf, daneben eine fest zusammengerollte Dollarnote.

Schon will sich Mr Hyde in mir Bahn brechen, eine heiße, dunkle Emotion wütet wie Sodbrennen in meiner Brust, als Sebastian meine Aufmerksamkeit auf die kleinen weißen Pillen lenkt, die überall auf dem Boden verstreut liegen wie Reis bei einer Hochzeit; es sind so viele, dass man sie nicht zählen kann. Mit zitternden Fingern drehe ich eine um und sehe den verräterischen Stempel, der auf die Vorderseite der Tablette eingeprägt ist: die Umrisse eines Kaninchens.

»White Rabbits, Mann«, bemerkt Sebastian überflüssigerweise. »In Massen.«

Die Wut überkommt mich so schnell, dass ich buchstäblich Lichtblitze sehe. Es fühlt sich an, als würde sich mein Gehirn im Kreis drehen, explodieren, schmelzen, alles gleichzeitig, und die Hitze, die mein Gesicht und meinen Hals erfasst, macht mich schwindelig. Wo zum Teufel hat April mich da reingeritten?

Die Designerdroge »White Rabbit« hat es aus der New Yorker Clubszene bis zu uns geschafft und soll Euphorie, eine erhöhte sensorische Wahrnehmung und Halluzinationen hervorrufen. Die Pillen werden vor allem auch mit extremen Gewaltakten in Verbindung gebracht – die Art von extrem, dass man versucht, seinem Nachbarn die Haut mit der Bandschleifmaschine abzuziehen –, und Eltern weit und breit haben eine Riesenangst davor. Allein in diesem Frühjahr gab es an der Ethan Allen zwei Schulversammlungen zum Thema Drogenmissbrauch, nachdem man bei mehreren Festnahmen auf dem Campus der Universität White Rabbits gefunden hatte. Wenn man dich dabei erwischt, wie du einen Joint rauchst oder ein paar Adderall von deinem besten Freund einwirfst, bist du in Schwierigkeiten; wenn man dich mit White Rabbits erwischt, bist du geliefert. Sie haben Badesalzdrogen als gefährlichste Substanzen in der Geschichte der Menschheit abgelöst, und die lokalen Polizeibehörden machen jeden, den sie beim Kauf, Verkauf oder Konsum dieser Dinger erwischen, einen Kopf kürzer.

An der Ethan Allen hört man ständig Gerüchte über die diversen Loser und Burnout-Opfer, die harte Drogen nehmen, weil sie die trostlose Aussicht auf eine ungewisse Zukunft mit einem chemischen Hilfsmittel ausblenden wollen. Und die gelangweilten reichen Kids sind bekannt dafür, ihr gigantisches Taschengeld in Partydrogen zu investieren, wobei sie darauf zählen, dass ihr Treuhandvermögen und ihre einflussreichen Eltern sie im Fall »rechtlicher Komplikationen« schon vor Schaden bewahren. Aber was Sebastian und ich da vor uns sehen, hat ein ganz anderes Kaliber.

Lucy und ich haben uns irgendwann einmal feierlich geschworen, von White Rabbits auf jeden Fall die Finger zu lassen. Zum einen ist meine Neurochemie unberechenbar genug, ohne sie mit halluzinogenen Albträumen zusätzlich durcheinanderzubringen, und zum anderen kann ich mir die Probleme absolut nicht leisten, die ich bekommen würde, sollte man mich mit White Rabbits erwischen. Meine Mom und ich haben weder Geld noch Prestige. Mein Leben wäre ruiniert.

Und nun hat April mich zum Schauplatz eines Mordes gelotst, der mit so vielen Pillen dekoriert ist, dass es als Füllung für einen verdammten Sitzsack reichen würde.

»Hey – hey, Rufus? Tief durchatmen, Kumpel, okay? Tief durchatmen. Schau, wie ich. Mach es genauso wie ich.« Sebastians Stimme durchdringt den Nebel meiner Wut, er hält meinen Blick fest, meine Hand fest in seiner. »Einen Schritt zurücktreten. Sag es.«

»Einen Schritt … zurücktreten«, wiederhole ich und zwinge mich, meine Gedanken zu fokussieren – auf sein Gesicht, seine Berührung. Ich bemühe mich, meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen, und er führt meine freie Hand zu seiner Brust und hält sie dort fest. Das hat er auch früher schon gemacht, wenn die Wut von mir Besitz ergriff, hat mich durch Reden wieder runtergebracht, wenn ich kurz vor dem Durchdrehen war, und diese Routine ist mir schmerzlich vertraut. Es fühlte sich enorm wichtig an, bedeutsam, eine so schrecklichen Seite von mir mit ihm zu teilen – aus dem Gleichgewicht zu sein und darauf vertrauen zu können, dass er mein Gegengewicht war.

Er sieht mich an, sieht in mich hinein, und seine Augen sind warm, dunkle Teiche, angefüllt mit unserer gemeinsamen Geschichte – Fenster in eine Vergangenheit, die immer noch zu schmerzhaft ist, um sie zu berühren.

Meine erste Begegnung mit Sebastian »Bash« Williams fand bei einem Treffen von Front Line statt, unserer armseligen Schülerzeitung. Jeder wusste natürlich, wer er war; Bash war zu gut aussehend und sein Dad zu wichtig, um von irgendjemandem allzu lange unbemerkt zu bleiben. Er und ich lernten uns jedoch erst zu Beginn der zehnten Klasse im September persönlich kennen.

Ich hatte mich seit meinem ersten Jahr an der Ethan Allen für die Schülerzeitung engagiert und gelegentlich Leitartikel geschrieben, hauptsächlich jedoch als Fotograf fungiert. Bash stieg als Sportkolumnist ein. Unser Betreuer, Mr Cohen, hielt ihn hervorragend geeignet für diesen Posten, was sich einzig und allein auf die Tatsache stützte, dass Sebastian 1) Lacrosse spielte und 2) sein Vater der sportliche Leiter an der Universität war. Mir kam es nicht besonders logisch vor, aber bei Front Line waren alle dermaßen beeindruckt von Bashs Lacrosse-Statistiken – und seinem Aussehen –, dass es ihnen egal war. Aus einem noch unerfindlicheren Grund ernannte Mr Cohen ausgerechnet mich zu Bashs persönlichem Fotografen, ich sollte die Fotos zu seinen Artikeln schießen.

Zu Anfang war es keine einfache Partnerschaft. Bash war mir, was den gesellschaftlichen Status betraf, aufgrund seiner Popularität haushoch überlegen, er bewegte sich im Dunstkreis des Schuladels der Ethan Allen. Er hing mit Leuten wie Fox Whitney und Race Atwood ab – folglich auch mit meinem Bruder Hayden. Als natürliche Feinde waren Sebastian und ich uns vom Moment unseres Kennenlernens an spinnefeind und durchbohrten einander mit stählernem Blick.

Im Lauf der folgenden zwei Monate jedoch vollzog sich eine allmähliche Veränderung. Es fiel uns schwer, die gegenseitige Abneigung aufrechtzuerhalten, wenn wir bei Fahrten zu Auswärtsspielen mehrmals die Woche gezwungen waren, stundenlang zusammen im Auto zu sitzen. Ich erkannte, dass er tatsächlich ein ziemlich guter Sportjournalist war, und die Atmosphäre zwischen uns veränderte sich: Aus offener Animosität wurde missmutige Zusammenarbeit und schließlich kam es zu einem widerwilligen, aber notwendigen stillschweigenden Nichtangriffspakt. Bei einem Footballspiel in Brattleboro eine Woche vor Thanksgiving unterhielt sich Bash Williams schließlich zum ersten Mal richtig nett mit mir.

Ich wühlte gerade in meiner Tasche auf der Suche nach einem Fotoobjektiv, das sich zwischen dem ganzen nutzlosen Kram da drin versteckte, und hatte einige Sachen rausgeholt, um mir die Suche zu erleichtern. Ganz oben auf dem unordentlichen Stapel, den ich neben mir aufbaute, lag ein zerfleddertes und eselsohriges Exemplar von Liebe – der vierte Band der krassesten Manga-Serie aller Zeiten.

»Alter«, platzte Bash unerwartet heraus, etwas Unvertrautes blitzte in seinen Augen auf. »Liest du tatsächlich Death Note?«

»Äh … ja?« Wohl wissend, dass dies eine Falle sein könnte, antwortete ich vorsichtig. Doch Bash verblüffte mich.

»Diese Story ist der heiße Scheiß!« Er konnte seine Begeisterung nicht verhehlen. »Ich will ja nichts verraten oder so, aber wenn du weiterliest, drehst du durch. Wo bist du gerade?«

»Echt jetzt? Ehrlich gesagt lese ich es nicht zum ersten Mal. Genauer gesagt zum dritten Mal«, gestand ich und beäugte ihn neugierig und mit neuem Respekt. Ich dachte, die angesagten Leute an der Schule würden sich für nichts interessieren außer für die Top 40, die anderen angesagten Leute und dafür, gemeinsam Nerds fertigzumachen. »Du magst Mangas?«

»Ja, irgendwie schon.« Er zuckte verlegen die Schultern. »Der kleine Bruder von meiner Freundin, Javier, der ist total versessen auf Anime und solches Zeug. Er hat mich den ganzen letzten Sommer genervt, dass ich Death Note lesen soll.« Bash hatte eine öffentlich geführte On-Off-Beziehung mit Lia Santos – eine ekelhaft glühende Liebesaffäre mit haufenweise Gefummel und Geknutsche auf den Schulfluren, gefolgt von lautstarken Streits ebenfalls auf den Schulfluren, einer Trennung, einer Versöhnung, und das Ganze dann noch mal von vorn. Dabei auf dem Laufenden zu bleiben, war anstrengend. »Irgendwann hab ich nachgegeben, nur damit er mich in Ruhe lässt, und … Mann, als ich angefangen hatte, hab ich sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen und die ganze Serie in einem Rutsch gelesen. Jetzt weiß ich, glaube ich, wie es ist, von einem Meth-Rausch runterzukommen.«

»Ich weiß, was du meinst«, sagte ich kurz auflachend. »Als ich es das erste Mal gelesen habe, war ich in der siebten Klasse, und ich konnte ungefähr eine Woche lang nicht schlafen – ich hatte Angst, dass es vielleicht tatsächlich möglich ist, jemanden umzubringen, indem man seinen Namen in ein Notizbuch schreibt.«

Er grinste. »Echt?«

»Das ist so peinlich.« Ich spürte, wie ich rot wurde, aber ich lächelte trotzdem, weil er sich nicht über mich lustig zu machen schien.

»Das verstehe ich. Ich, äh … ich glaube, ich habe auch ein paar Tage lang mit Licht an geschlafen, als ich es ausgelesen hatte«, gestand er mir und rieb sich den Hinterkopf. »Und das war letzten August.«

»Es ist total unheimlich«, stimmte ich ihm zu.

»Es ist super«, gab er ernsthaft zurück. »Kennst du Blue Exorcist?