Keitumer Gespräche - Gisela Stelly Augstein - E-Book

Keitumer Gespräche E-Book

Gisela Stelly Augstein

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Beschreibung

Sieben Jahre nach dem Tode von Rudolf Augstein erhob Martin Walser erstmals im November 2009 Anspruch auf die Vaterschaft von dessen ältestem Sohn Jakob. Und dieser gibt erstmals Martin Walser als seinen leiblichen Vater preis und erklärt den bisherigen zu seinem gesetzlichen Vater. In den Keitumer Gesprächen umkreist Gisela Stelly Augsteins literarisch-poetischer Text die Neuvermessung der Familien Augstein und Walser. Und unvermittelt entwickelt sich aus dieser Klage des entleibten Vaters (Rudolf Augstein) ein veritables Bühnenstück - halb Tragödie, halb Komödie. Die Protagonisten sind Fritz (Fritz J. Raddatz), die Mutter (Maria Carlsson-Augstein), der Vater (Martin Walser), der Sohn (Jakob Augstein) und ein Anwalt.

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Seitenzahl: 83

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Ebook Edition

Gisela Stelly Augstein

Keitumer Gespräche

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag weist darauf hin, dass alle im Text erwähnten Dialoge fiktiv sind, insbesondere die Dialoge zwischen Rudolf Augstein und Fritz J. Raddatz auf dem Keitumer Friedhof.

ISBN 978-3-94677-809-7

© Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2018, in Vertriebskooperation mit der Westend Verlag GmbH

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Zitat
Text
Anmerkungen

First Witch When shall we three meet again in thunder, lightning, or in rain?

Second Witch When the hurlyburly’s done,When the battle’s lost and won

Erste Hexe Wann treffen wir drei uns das nächstemal Bei Regen, Donner, Wetterstrahl?

Zweite Hexe Wenn der Wirrwarr ist zerronnen,Schlacht verloren und gewonnen

William Shakespeare

The Tragedy of Macbeth (um 1606) / Act I / Scene I Übersetzung Dorothea Tieck ( 1833 )

Er ist schon von weitem zu sehen, der wuchtige, viereckige Kirchturm von Keitum auf Sylt, vor etlichen Jahrhunderten erbaut auf der Anhöhe über dem Meer. Knorrig, karg und kleinwüchsig, wie auch sonst auf der Insel, die Vegetation des umgebenden Gottesackers. Aber dann, an der Ostseite des Friedhofs, bei Ebbe der weite Blick über das Watt, bei Flut über die dunkelblauen Wasser der großen See. Bei Sturm über ein wildes, in Wogen anrollendes schaumgekröntes Ungeheuer. Und immer, ob Sonne oder Wolken, ein schier endloser Horizont, in dem sich der Blick wie in einer Unendlichkeit verlieren und die Sehnsucht auslösen kann, mit ihr zu verschmelzen.

Und tatsächlich, für einen Augenblick erfährt der wattseitig auf dem Gottesacker verharrende Besucher die Aufhebung aller Erdenschwere, wie sie, so vermutet er, im Augenblick des Todes eintritt. Tief atmet er nun die belebende salzhaltige Luft der Nordsee ein und wünscht sich, wenn er einmal sterben sollte, hier oben mit Aussicht in die Unendlichkeit begraben zu werden.

Spontan folgt unser Besucher seinem Wunsch und will eine in diesem Teil des Friedhofs gelegene Grabstelle erwerben. Jedoch, er wird mit einer Warteliste konfrontiert. Die wattseitigen Plätze sind nicht nur begrenzt, sie sind, wie alle anderen Gräber auch, vorrangig den Einheimischen vorbehalten.

Obwohl die ihm noch verbleibende Lebenszeit selbst bei großzügigster Berechnung angesichts der Lage der Dinge und der Länge der Warteliste eher zu kurz zu sein scheint, lässt er sich als Anwärter eintragen.

Nun zieht es ihn während seiner regelmäßigen Aufenthalte auf der Insel, er besitzt hier ein schönes Anwesen, immer häufiger an den Ort der Seligen, wie er jenen Teil des Friedhofs nennt. Nicht ohne Neid studiert er dort die Namen auf den Grabsteinen. Und jedes Mal schweift sein Blick über die weite See, um sich für einen Augenblick in der Unendlichkeit zu verlieren.

Auch wenn er dann hin und wieder eine aufkeimende Sehnsucht nach der Erlösung von aller Erdenschwere verspürt, weiß er, im Ernstfall wird er den Übergang vom Leben in den Tod mit aller Willenskraft, über die er verfügt – und tatsächlich verfügt er über eine außergewöhnlich große Willenskraft – so weit wie überhaupt möglich hinausschieben.

Das gelingt ihm trotz der »Gebresten des Alters«, wie er seine zunehmende Hinfälligkeit nennt, recht gut. Eines Tages jedoch, es sollte sein letzter Besuch der Wattseite sein, hört man ihn murmeln: »Ich wollt’, ich würde schon hier liegen.«

Kurz darauf lässt er die Friedhofsverwaltung wissen, im Falle des Falles wäre er auch mit einer nicht wattseitig gelegenen Grabstelle einverstanden. Sie müsse nur groß genug sein, er wolle nicht zu Asche verbrannt, sondern in einem Sarg bestattet werden.

Nur wenige Monate darauf kündigt sein Körper, von einem sich hinschleppenden schlechten Befinden geschwächt, seinem Willen die Gefolgschaft auf und kollabiert, rapide verlassen ihn die Lebenskräfte, die behandelnden Ärzte geben ihn verloren.

Eine Niederlage? Niemals!

Mit einem Aufstand gegen das ärztliche Urteil mobilisiert sein übergroßerWille die letzten Reserven, zum zähen Kampf gegen die müden Knochen und das zerfallende Fleisch. Und das Wunder geschieht, ein halbes Jahr danach ist er tatsächlich wieder an Deck. Aber nicht mehr als Kapitän. Er hat die uneingeschränkte Souveränität über sein Schiff verloren, er scheint verwirrt, nicht immer, aber immer öfter.

Etwas sei faul im Staate Dänemark, hört man ihn in lichten Momenten murmeln.

Drei Jahre hält sein Wille den gebrechlichen Leib und das schwankende Gemüt aufrecht, während sich eine Myelofibrose, durch nichts und niemanden an ihrem Fortschreiten gehindert, mühelos ausbreitet, dann kapituliert er.

An einem sonnigen Spätherbsttag wird seine sterbliche Hülle auf die Insel gebracht und im Eichensarg an der wattabgewandten Seite, er hatte es in der Warteliste nicht mehr auf einen der wattseitigen Plätze geschafft, bestattet. Begleitet von angereister Familie und Verwandtschaft sowie einer bunt gemischten Trauergesellschaft. Und unter reger Teilnahme von Fernseh- und Fotoreportern, die über Gräber springen, Wege, Rasen und Blumen zertrampeln, denn er war früh, fast noch ein Jüngling, bereits eine herausragende Persönlichkeit gewesen und schnell ein bedeutender Mann mit Einfluss geworden.

Seit diesem 19. November im Jahre 2002 ist er in den Annalen des Keitumer Friedhofs als prominentester Resident unter den wenigen nicht einheimischen Prominenten vermerkt, sein Grab mit dem Findling, auf dem sein Name, sein Geburts- und Todestag eingemeißelt sind, ist im Netz zu finden.

Dreizehn Jahre darauf ein weiterer, nicht einheimischer prominenter Neuzugang. Nur wenige folgen an diesem kühlen und windigen Märztag im Jahre 2015 der Asche, die in einer Urne vom Friedhofsangestellten zu einer wattseitig gelegenen Grabstelle getragen wird, die Beisetzung findet ohne die Öffentlichkeit statt.

Sie kannten sich, der Neue an der Wattseite und unser Resident von der wattabgewandten Seite. Und so stellt sich die Frage, ob sie geplant ist, diese Nähe auf dem Insel-Gottesacker, ist sie doch eine Wiederholung der Nachbarschaft zu Lebzeiten, lag doch das Hamburger Domizil des Neuzugängers jahrelang in Sichtweite schräg gegenüber zu dem unseres Residenten. Und nun liegt es wieder schräg gegenüber, allerdings anders als zu Lebzeiten in besserer, weil wattseitiger Lage. Waren sie demnach vielleicht nicht nur Nachbarn, sondern enge Freunde, über den Tod hinaus die Nähe des anderen suchend?

Gewiss, sie waren Berufene in medialen Parallelwelten mit etlichen Schnittstellen, an denen sie sich trafen. Doch kann man tatsächlich behaupten, es sei innige Freundschaft gewesen, die sie verband?

Es waren wohl eher die Frauen, die Ehefrauen, durch die Verbundenheit entstand, suchte doch der eine, unser Neuzugänger, die Nähe der Ehefrau des anderen, verlagerte oder erweiterte er seine Aufmerksamkeit von der einen auf die andere, ging unser Resident eine neue Ehe ein. Man könnte darin nun durchaus so etwas wie eine Dostojewski’sche Fixierung eines ewigen Gatten an den Rivalen erkennen. Es liegt aber wohl näher, von einer Fixierung in Folge einer immer wieder angebotenen und vom anderen andauernd verschmähten Freundschaft auszugehen, ließ sich doch unser Neuzugänger, ein versierter Mann der Feder, dazu hinreißen, den vergeblich Umworbenen nach dessen irdischem Ableben öffentlich in seinen Tagebüchern1 mit seiner Feder, zwar öfter an den Tatsachen vorbei, so doch umso genüsslicher aufzuspießen.

So seltsam verknüpft wie die Lebenswege der beiden waren, liegt es da nicht nahe, sich hier an diesem Ort, auf diesem Gottesacker über dem Wattenmeer eine Begegnung der beiden Grabnachbarn vorzustellen? Eine nachbarschaftliche Plauderei, einen Austausch, gar einen Schlagabtausch der zeitlebens Wortgewandten? Etwa als höchst willkommene Gelegenheit für unseren Residenten, sich endlich das, was ihm auf der Seele liegt, was ihn im Laufe der vergangenen dreizehn Jahre zunehmend beschwert, ja, niedergedrückt hat, von der Seele zu reden?

Aber ist ein solches Reden von Seele zu Seele denn überhaupt denkbar?

Nun, bis heute ist die Annahme aus Platons Phaidon, mit Eintritt des Todes verlasse die Seele den Körper und steige auf, durchaus im kollektiven Bewusstsein lebendig. Ebenso wie die Meinung, dass es Seelen gibt, die über Jahre an ihr irdisches Dasein gebunden bleiben, weil sie mit Unrecht beladen sind, das ihnen entweder widerfahren ist oder das sie verübt haben. Für die Befreiung dieser durch Unrecht beschwerten, unerlösten Seelen bietet, neben dem Tibetanischen Totenbuch etwa, auch das Christentum Hilfen durch Gebete an.

Schon als Knabe ist unser Resident mit solcherart Hilfestellungen für Verstorbene vertraut gewesen und praktizierte sie auch regelmäßig an Sonn- und Feiertagen, wenn er mehrfach seine Kirche im Laufschritt umrundete und sicher war, mit drei Ave Maria jeweils eine unerlöste Seele aus dem Fegefeuer zu befreien. Später verlor er den Glauben nicht nur an die Wirkungsmacht seiner Gebete, sondern den Glauben überhaupt. Er blieb jedoch in Einklang mit Shakespeare davon überzeugt, dass es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, als sich träumen lässt, und mit Goethe, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als die Schulweisheit erlaubt.

Seelen werden häufig als solche Dinge zwischen Himmel und Erde verortet. Oft werden sie als nachtaktive Kuriere geschildert. Seelen unter sich jedoch sollen zu jeder Tages- und Nachtzeit kommunizieren, und so soll es nun vorstellbar sein, dass sich unser Resident von der wattabgewandten Seite gleich einmischt, als der Friedhofsangestellte das Versenken der Urne seines alten und nun neuen Nachbarn an der Wattseite wie üblich mit den Worten »Ruhe in Frieden« begleitet.

Ein wahrhaft frommer Wunsch sei das, weiht er den neuen Mitresidenten ein, er, der hier seit dreizehn Jahren Ruhende, habe weder Ruhe noch Frieden gefunden. Im Gegenteil, wie ein Prometheus ans Irdische gefesselt, sei er gezwungen mitanzusehen, ja, zuzusehen, hilflos, ohnmächtig, was auf Erden geschieht! Nicht im Großen, dafür fühle er sich Gott sei Dank nicht mehr zuständig, nein, was mit seinem Erbe geschehe, mit seiner ureigenen Hinterlassenschaft, mit seinem Vermächtnis. Und wie mit ihm, dem Erblasser, verfahren werde … Eine wahre Folter sei das!

Unser Resident hält inne und horcht auf Antwort, auf Resonanz des Neuzugängers, dieses Früheingeweihten, der zweifellos versteht, wovon er spricht, welch unerhörtes Geschehen er anspricht, doch nichts ist zu hören. Noch nicht einmal ein Wort der Begrüßung.