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Arnold Bachmann ist ein junger, hochtalentierter Softwareentwickler. Er arbeitet in einer Firma, die effiziente Systemprogramme herstellt. Eines Tages wird er beschuldigt, vertrauliche Informationen aus der Chefetage an alle Mitarbeiter weitergegeben zu haben. Er wird unverzüglich fristlos entlassen. Tief verletzt sucht er Trost im Alkohol. Wenige Stunden später findet man ein Brandopfer in einem alten Steinbruch. Alles deutet darauf hin, dass es sich um Arnold Bachmann handelt. Aber der erwacht in einem komfortablen Kellerverlies.
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Seitenzahl: 474
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Dieter Rogall
Kellergeist
Roman
Texte: © Copyright by Dieter RogallUmschlaggestaltung: © Copyright by Dieter Rogall
Verlag:Selbstverlag Dieter RogallRößchengrundstr. 204720 Dö[email protected]
ISBN 978-3-7549-6100-1
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Arnold blinzelte durch die Äste der alten Linde und beobachtete das Wechselspiel zwischen der schimmernden Sonne, den weißen Schönwetterwolken und den sich leicht im Wind hin und her wiegenden Zweigen des Baumes. Die Bank, auf der er saß, bot ein schattiges Plätzchen inmitten des Stadtparkes. Er hatte seine Beine weit nach vorn ausgestreckt, und sein Gesäß lag quasi zur Hälfte auf der vorderen Kante der Bank, also kurz bevor er Gefahr lief, ganz herunter zu rutschen. Diese Stellung ermöglichte ihm, sein Genick auf der Kante der Rückenlehne abzulegen, um mit verschränken Armen in die Baumwipfel zu schauen. Er empfand es als sehr angenehm, wenn zeitgleich mit der Bewegung der Äste der Wind auch über seine Haut strich und ihm ein Gefühl von angenehm warmer und sonniger Geborgenheit gab. Für einen Moment freundete sich Arnold mit dem Gedanken an, dass es nicht das Schlechteste wäre, den Rest seines Lebens so zu verbringen. Das Vorhaben scheiterte aber schon daran, dass diese Körperhaltung auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten war. Das angenehme äußere Empfinden paarte sich mit den schweren Gedanken, die Arnold bewegten. Nun saß er hier, an einem sonnigen warmen Montag, in einem bisher sehr freundlichen Frühsommer. Der Glockenschlag der Turmuhr der nahen Kirche verriet allen, die in Hörweite waren, dass es gerade 11.00 Uhr geworden war.
Arnold musste die Schläge nicht mitzählen, um die Uhrzeit zu wissen. Er war sich in diesem Moment nur allzu bewusst, welche Stunde es ihm da gerade geschlagen hatte. Noch gegen 8.00 Uhr saß er auf dem Ledersessel in seinem Büro, in dem er eigentlich alt werden wollte. Seit nunmehr fünf Jahren war er in dem Unternehmen als Ressortleiter für Systemadministration tätig. Er war verantwortlich für die reibungslose Funktion der EDV-Anlage. Das war einer von Arnolds Traumjobs. Schon als Junge war er von dem begeistert, was Computer alles können. Zu verdanken hatte er das wohl seinem Vater, der immer dafür sorgte, dass die Technik im Elternhaus auf dem neuesten Stand war. Mitte der neunziger Jahre war Arnolds Vater einer der Wenigen, die bereits über einen Internetanschluss verfügten. Das für Arnold faszinierende Geräusch, wenn sich das Modem mit lautem, piepsendem und krächzendem Getöse mit dem ‚World Wide Web‘ vereinigte, gab ihm das Gefühl, mit der ganzen Welt verbunden zu sein. Damals gab es tatsächlich noch Verzeichnisse aller bekannten deutschen Internetadressen in Buchform - ein Umstand, der heute nicht mehr denkbar wäre. Unglaublich, wie rasant sich alles entwickelt hatte. Auch an das erste Funktelefon der Eltern, groß und klobig, dass es in keine Hosentasche passte, ohne herauszuragen, hatte er in guter Erinnerung. Und die Tatsache, dass sich damals noch niemand richtig getraute, in der Öffentlichkeit damit zu telefonieren. Entweder galt man als Angeber oder eben als nicht „ganz dicht“. Anlässlich eines Schwedenurlaubs im Jahr 1995 konnte sich Arnold allerdings davon überzeugen, dass anderswo die Menschen schon viel weiter waren. Laut und hemmungslos, als wäre es die größte Selbstverständlichkeit der Welt, telefonierten sich die Schweden stehend, laufend und fahrend durch Stockholm. Für Deutschland wäre das undenkbar, dachte Arnold damals. Und heute trugen selbst die Uromis ein Handy bei sich, für den Notfall, wie ihre Kinder und Enkel dieses Geschenk zum Geburtstag oder zu Weihnachten meistens begründeten.
Arnold hatte das große Glück, ein Bestandteil dieser Entwicklung zu sein. Was einmal mit einfachen Computerspielen begann, setzte sich mit Anwendungsprogrammen fort, bis er sich nach und nach mit Betriebssystemen und Netzwerken auskannte, ohne jemals Respekt vor dieser Technik zu haben. Natürlich hatte es ihn interessiert, wie so ein PC von innen aussah, und natürlich musste er in seinem jugendlichen Leichtsinn den funkelnagelneuen Rechner des Vaters auseinander bauen, um herauszufinden, ob er auch in der Lage war, ihn wieder zusammenzubauen. Und es gelang ihm tatsächlich, ohne dass der Vater es merkte. Er, Arnold, der denselben Vornamen hatte wie Schwarzenegger. Ja, er fühlte sich ein bisschen wie der Terminator, als er damals Jahrgangsbester wurde und sein Informatikstudium mit einer glatten Eins abschloss. Ein leichter Gehfehler, ausgehend von seinem linken Knie, ersparte ihm den Wehrdienst und ermöglichte ihm einen direkten Übergang vom Gymnasium zur Universität. Und gleich danach ging die Karriere steil bergauf. Die ersten zwei Jahre als Assistent und nach dem zufälligen Wegzug seines damaligen Chefs sofort die Stelle des Ressortleiters Systemadministration. Im Alter von 25 Jahren hatte er es tatsächlich geschafft, sein Hobby zum Beruf zu machen. Seine fachliche Kompetenz wurde trotz oder gerade wegen seines jungen Alters überall anerkannt und geschätzt. Wie oft konnte er sich als Retter in der Not feiern lassen, wie sein Namensvetter in dessen Filmen. Das Unternehmen, in dem er beschäftigt war, zählte über 300 Mitarbeiter mit einer noch höheren, stattlichen Anzahl moderner EDV-Systeme. Die Administration der Server und Rechner sowie der gesamten Peripherie machte ihm Spaß. Nie wurde es langweilig, ständig gab es neue Herausforderungen, und immer konnte er den Sieg über die Tücken der Technik für sich verbuchen. Zusammen mit seinem Team, bestehend aus zwei erfahrenen Kollegen, einem Praktikanten und einem Auszubildenden, konnte er sich beruhigt jeder Aufgabe stellen, ohne dass er wirklich ernsthafte Bedenken haben musste, diese nicht lösen zu können. Auch sein Steckenpferd, das Programmieren, konnte er hier voll ausleben. Eine Vielzahl von Software, die dem firmeninternen Ablauf diente, hatte er in den letzten Jahren selbst entwickelt. Er hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, sich seine Programme lizenzieren zu lassen. Letztendlich verwarf er diese Idee wieder, weil er diese Arbeiten mit der Technik seiner Firma durchführte. Außerdem bekam er einen ansehnlichen Bonus für das Ergebnis seiner Arbeit, was ihn nur noch fester an seine Firma band.
Und jetzt dieser Zusammenbruch. Da saß er nun auf dieser Bank, die fristlose Kündigung in der Jackentasche. Er konnte nicht begreifen, was geschehen war. Er, der Newcomer, der strahlende Held und Alleskönner. Er fühlte eine schwere Müdigkeit in sich, die man bekommt, wenn die Probleme und Sorgen übermächtig werden. Am liebsten würde er sich ganz der Sonne und dem Spiel des Windes auf seiner Gesichtshaut hingeben und einschlafen. Dann würde er aufwachen, und alles wäre nur ein Traum. Aber die andere, die Gedanken aufwühlende Seite war viel stärker. Und plötzlich, mit der ganzen Wucht eines Schicksalsschlages durchfuhr sie ihn und zwang ihn, sich gerade hinzusetzen.
Was war da nur passiert? Was hatte das für Konsequenzen für ihn und vor allen Dingen, wie sollte es jetzt weitergehen? Eine halbe Stunde nach seinem Dienstbeginn hatte ihn der Personalchef in sein Büro bestellt und ihn aufgefordert, den Erhalt des Schreibens zu quittieren. Anschließend musste er unter dessen Aufsicht zurück in sein Büro. Dort warteten zwei weitere Mitarbeiter aus anderen Abteilungen, und er wurde aufgefordert, seinen Schreibtisch zu räumen. Ihm wurden Kartons gereicht, in denen er seine persönlichen Sachen unterbringen sollte. Das Problem dabei war nur, dass er außer seinem Kugelschreiber mit seiner Namensgravur keine weiteren privaten Gegenstände in seinem Büro hatte. Eine richtige Aktentasche besaß er nicht, weil er niemals Akten mit nach Hause nahm. Es war ohnehin verboten. Essen und Trinken bezog er täglich aus der Kantine, weil sein gutes Gehalt dies zuließ. Schlüssel und Brieftasche waren in den Hosentaschen untergebracht. Alles andere war Eigentum der Firma. Und was brauchte er schon mehr als seinen Rechner, den Drucker und seinen Notizblock. Weil auch im Notizblock nur dienstliche Sachen standen, ließ er diesen zusammen mit den anderen üblichen Büroutensilien auf dem Schreibtisch liegen. Mit dem Blick von drei Leuten im Nacken und laufenden Schweißperlen auf der Stirn löschte er lediglich seine wenigen privaten Daten, die in seinem elektronischen Kalender für die Zukunft geplant waren. Dabei handelte es sich nur um einen Zahnarzttermin, den er im Dienstplan blocken musste, weil die Behandlungszeit unumgänglich in die Arbeitszeit fiel und deshalb vermerkt war. Alle anderen privaten Termine waren in seinem privaten Smartphone gespeichert, das er regelmäßig mit seinem Rechner zu Hause synchronisierte.
Als er fertig war, stand er auf und begab sich zum Tresor-schrank. Dort befanden sich die aktuellen Passwortlisten aller Firmencomputer und die Verzeichnisse der Netzwerk- und Datenstrukturen, außerdem wichtige Papiere zur Administration der EDV-Anlage und sonstige Verordnungen und Dienstanweisungen der Firma. Der Personalchef musterte die Unterlagen oberflächlich, Arnold bejahte dessen Nachfrage auf Vollständigkeit und übergab ihm die Schrank- und alle anderen Dienstschlüssel. Eilig wurde eine Mitarbeiterin aus der Personalabteilung hinzugerufen, die Arnold sehr gut kannte. Er war schon oft ihr Retter in der Technik-Not. Sie war stets dankbar und glücklich, wenn Arnold für sie vermeintlich verloren gegangene Daten wiederfand. Jetzt trug sie sorgfältig und in Druckbuchstaben alle Dokumente und Arbeitsmittel in ein Protokoll ein, das im Rahmen des eingeführten Qualitätsmanagementsystems der Firma eigens für solche Fälle entwickelt worden war. Arnold selbst war automatisch in die Entwicklung solcher Papiere mit einbezogen worden und persönlich bei den jährlich stattfindenden Audits anwesend und gefragt. Diese wurden durch die entsprechende Stelle durchgeführt, damit das notwendige Qualitätszertifikat für ein weiteres Jahr erteilt werden konnte. Ja, hier war wirklich alles geregelt und schriftlich festgehalten. Für alles gab es ein Protokoll, und für die unvorhersehbaren Dinge gab es speziell ein Fehlerprotokoll, in dem bis ins Detail nunmehr auch das aufgeschrieben werden würde, was hier gerade passierte.
Obwohl Arnold die anderen Personen im Raum sehr gut kannte und von vielen schon oft Anerkennung, Respekt und Dank wegen seiner Fähigkeiten, Hilfsbereitschaft und Arbeitsmoral erhalten hatte, schauten heute alle ausweichend nach unten und bemühten sich, so zu tun, als würden sie ihn nicht weiter kennen. Nur die Mitarbeiterin der Personalabteilung, die ihre Liste abzuarbeiten hatte, schaute ihn entschuldigend an, als sie nach seinem Betriebsausweis fragte. Arnold trug diese Kennkarte immer in der Hemdtasche bei sich, weil er sie mehrmals am Tag benötigte, um damit die elektronischen Schlösser spezieller Räume zu öffnen. Einen kurzen Moment lang hegte er das Verlangen, die Karte vor sie hin zu schleudern, konnte sich aber zusammenreißen und legte sie behutsam neben das Protokoll. Dies brachte ihm ein leises ‚Danke‘ der Kollegin ein. Sie stand vor ihm mit gesenktem Kopf, als nach einer halben Stunde die Prozedur zu Ende ging. Statt eines „Auf Wiedersehen“ vernahm er die Aufforderung des Personalchefs, die Firma umgehend zu verlassen, und den Hinweis auf ein zukünftiges Hausverbot für das gesamte Firmengelände. Es wunderte Arnold nicht, dass die beiden anderen Mitarbeiter ihn bis zum Haupteingang begleiteten und sich davon überzeugten, dass er wirklich das Gebäude verließ. Einer der beiden gab ihm unten am Ausgang respektvoll die Hand, den Blick dennoch gesenkt, mit den Worten: „Es tut mir leid, alles Gute.“ Der andere hielt sich abseits und wirkte eher ungeduldig. Alles geschah wie im Nebel und erst jetzt, auf dieser Bank im Park, wurde ihm das ganze Ausmaß des Geschehenen bewusst. Er fühlte Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Unverständnis und Enttäuschung zur gleichen Zeit. Ihm war wie Heulen zumute, aber Tränen sollten nicht fließen, das wäre viel zu peinlich. Instinktiv fingerte er in seiner rechten Hosentasche nach einem Taschentuch. Allerdings waren seine schwarzen Jeans so eng geschnitten, dass er aufstehen musste, um dies zu bewerkstelligen. Als er das Tuch herauszog, stellte er fest, dass sich noch etwas Anderes in seiner Hand befand. Was zum Vorschein kam, war sein Chipdrive, eine Art USB-Stick mit einer Datenkarte, die über einen Code geschützt war. Bei einer Verbindung mit einem Rechner wurde dieser verlangt, und bei dreimaliger Falscheingabe würde sich die Karte selbst zerstören. Solche Sticks hatten er und seine beiden engsten Mitarbeiter während der Dienstzeit ständig bei sich, denn auf ihnen befanden sich alle sensiblen Daten und Passwörter des gesamten EDV-Systems der Firma. Außerdem hatte er selbst ein Programm geschrieben, das beim Einstecken dieses Chips und der erfolgreichen Codeeingabe die auf ihm gespeicherten Verwaltungsrechte der Firmendatenbank freigab. Sein Chipdrive befand sich heute früh im Tresorschrank und wurde zusammen mit den anderen Dingen übergeben, was im Protokoll vermerkt war. Oder hatte er es doch gewohnheitsmäßig, wie an jedem Morgen, bereits herausgeholt und in seine Tasche gesteckt? Wahrscheinlich war es so. Schon oft hatte Arnold festgestellt, dass er Dinge ganz automatisch tat, ohne sich danach wirklich daran zu erinnern. Fast jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit hatte er seine Zweifel, ob zu Hause die Kaffeemaschine ausgeschaltet und tatsächlich alle Fenster und Türen verschlossen waren. ‚So wird es wohl heute früh auch mit dem Stick gewesen sein. Aber was soll’s‘, dachte er sich. Er hatte kein Interesse mehr an diesem Ding, und im Protokoll war die Übergabe ohnehin vermerkt worden. Wen interessierten jetzt noch Passwörter und Codes. Wahrscheinlich war alles schon von Falk geändert worden, weil man Arnolds Gedächtnis ja nicht löschen konnte. Also warf er ihn in das große Gebüsch, das sich direkt hinter der Parkbank breitmachte. Am liebsten hätte er die ganze Bank hinterhergeworfen. Mit weichen Knien stand er auf und ging langsam in Richtung Hauptstraße.
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Maria stand vor dem großen Spiegel im Badezimmer und musterte ihren nackten Körper aufmerksam von allen Seiten. Gerade der Dusche entstiegen und frisch abgetrocknet, folgte heute wie jedes Mal dieselbe Prozedur. Gab es da irgendetwas im Spiegel zu sehen, was ihr vielleicht nicht gefallen könnte? Und wieder schaute sie vergebens nach einer Falte, einem Fleck oder ähnlich Störendem auf ihrer Haut, was sie zufrieden stimmte. Die Brüste waren immer noch in Ordnung, nicht zu groß und nicht zu klein, sie hingen nicht ansatzweise. Der Hintern musste die längste Zeit ihren Blicken standhalten. Hängt der vielleicht doch schon etwas, war das noch der straffe Po vom letzten Jahr? Vielleicht saß sie zu viel, was ihr Beruf nun mal mit sich brachte. Sie kam zum gleichen Ergebnis: Dass es eigentlich albern sei, vor dem Spiegel zu stehen wie die Königin aus Schneewittchen und sich von ihrem Abbild sagen zu lassen, ob man die Schönste im ganzen Land sei. Sie wusste natürlich, dass sie sehr schön war. Mit ihren langen blonden Haaren, die geschmeidig in Naturwellen über ihre Schultern fielen und in der Sonne glänzten wie Seide, mit ihrer schlanken Figur, ihren ausgewogenen Proportionen und einer zufriedenstellenden Körpergröße von eins achtundsechzig war sie schon von frühster Jugend an im Visier der Männer, die sich alle gern einmal mit ihr geschmückt hätten. Obwohl ihr hin und wieder durch den Kopf ging, dass sie bereits vor zwei Jahren, als sie ihren 30. Geburtstag feierte, den Zenit ihres Lebens überschritten haben könnte, gelang es ihr doch jedes Mal, im Angesicht ihres Spiegels diesen bösen Gedanken wieder zu verwerfen. Im Moment fieberte sie regelrecht dem Tag entgegen, an dem endlich auch ihr geliebter Traummann die 30 erreichen würde und sie beide eine Drei an erster Stelle stehen hätten. Zwei Jahre und einen ganzen Monat erblickte sie eher das Licht der Welt als Arnold. Arnold, ihr strahlender Alleskönner, den scheinbar nichts im Leben aufhalten konnte. Selbst als sie damals Bedenken wegen des Altersunterschiedes hatte, riss er sie regelrecht mit in sein Leben und hielt sie immer noch ganz fest. Und sie ließ sich so gerne von ihm festhalten. Alles war leicht an seiner Seite. Am meisten schätzte sie an ihm, dass er sie heute, nach fast drei gemeinsamen Jahren, genauso behandelte, als wollte er sie stets aufs Neue erobern. ‚Kein Tag ohne Kuss, keine Tränen in der Nacht, kein Schatten auf der Seele und kein Schicksal ohne mich‘. Das schrieb ihr Arnold einmal auf die Rückseite einer Restaurantrechnung. Genau an dem Tag, als sie mit einem Abendessen ihr erstes gemeinsames Jahr feierten. Vor einem Jahr bezogen sie die gemeinsame Wohnung, in der sie glücklich waren. Gern verweilte sie einen Augenblick vor dem kleinen gerahmten Bild, das auf dem Schubladenschrank in der Diele stand. Es verkündete jedem Gast: „Seht, hier wohnen Arnold und Maria.“ Arnold wie Arnold Schwarzenegger und Maria, wie eben dessen Frau. Es dauerte relativ lange, bis sie dieses zufällige Gleichnis zwischen ihnen und der Familie Schwarzenegger bemerkten. Sie sahen es in einem Promibericht im Fernsehen und freuten sich über diesen Zufall. Nur mit dem kleinen Unterschied, dass Maria Schwarzenegger denselben Nachnamen trug wir ihr Ehemann.
Über die Ehe hatten beide bisher noch nicht gesprochen, obwohl sie sich nahestanden wie niemand sonst, den sie kannten. Wann würde er denn fragen, wann würde sie den Mut haben zu fragen? Sie wusste es nicht. Vielleicht wollte er es gar nicht, jedenfalls jetzt noch nicht. Im Moment war Arnold ganz und gar seiner Arbeit verfallen. Eine Blitzkarriere, bei der er bereits mit 25 Jahren am Ziel seiner Träume angekommen war. Seine Leidenschaft und sein Hobby in seinem Traumjob vereint, gepaart mit einem attraktiven Verdienst und der Anerkennung und hohen Achtung seiner Kollegen: Was wollte man mehr? Dazu kam das Aussehen: zirka 1,85 Meter groß, schlank, brünett, schon erste Lachfalten um die Augen und stets einen offenen Blick. Mit seiner mittellangen Frisur lag er voll im Trend. Sein Haarschnitt eignete sich perfekt für Junggebliebene. In Kombination mit einem Sakko und Hemd ohne Krawatte wirkte er damit seriös und kompetent auf sein Gegenüber, ohne spießig zu erscheinen. Sein kleiner Gehfehler, den er schon von Geburt an hatte, fiel wirklich nur denen auf, die davon wussten. Ja, das war ihr Arnold, wie liebevoll er auf diesem Bild seinen rechten Arm auf ihre Schulter legte und in die Kamera lächelte, als hielte er alles Glück dieser Erde damit fest. Manchmal kam ihr der Gedanke, ob sie ihn mal fragen sollte, wofür er sich im Notfall entscheiden würde, wenn er es müsste. Für sie oder für seine Arbeit. Sie tat es aber nicht, weil sie im Prinzip wusste, dass beides zu seinem Lebensglück gehörte. So ähnlich wie bei einem Seemann, der vom Fahren über die Meere nicht lassen kann, weil er die See genau so liebt wie seine Frau. So war Arnold, nur mit dem Unterschied, dass sie sich nicht trennen mussten und jeden Tag zusammen waren. Abends erzählte er ihr, wie er die Probleme des Tages gelöst oder eben nicht gelöst hatte. Ob das gut oder schlecht ausging, dafür machte er gern das Schicksal verantwortlich. „Zeigt es mit dem Daumen nach oben, ist alles gut, zeigt es nach unten, dann musst du zusehen, wie du zurechtkommst“, sagte er oft leichthin. Meist erzählte er zwar zuerst von sich selbst, vergaß aber nie, auch Maria nach ihrem Tag zu fragen und achtete darauf, dass er sie mit seinen Informationen nicht überstrapazierte und sich genauso viel Zeit und Aufmerksamkeit für ihre Neuigkeiten nahm. Sicherlich hatte Maria nicht so viel zu berichten wie er. Sie war tagsüber damit beschäftigt, das Rechtsanwaltsbüro von Seidel, Völkner, Kohnert, Weigelt und Maschmann zu managen. Für den reibungslosen Kommunikationsverkehr hieß das Ganze abgekürzt ‚Dr. Seidel & Partner‘, wobei damit gleichzeitig impliziert wurde, wer hier das Sagen hatte. Früher fragte sie sich immer, warum sich die Anwälte immer in solchen Schaaren zusammenfanden. Heute wusste sie natürlich aus der Erfahrung, dass es einer Kanzlei immer besserging, wenn der potenzielle Klient alles unter einem Dach fand, was er brauchte. Den passenden Anwalt für Arbeitsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Bau- und Architektenrecht, Patentrecht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Familien- und Sozialrecht und natürlich Strafrecht fand man hier vor. Hin und wieder befasste man sich mit Verkehrsrecht, weil dies zunehmend eine gute Einnahmequelle darstellte. Manche Mandanten behielten gerne aus Prinzip Recht und zahlten lieber dem Anwalt 1000 Euro Honorar als 200 Euro an die Bußgeldstelle.
Den monetären Bezug der Kanzlei konnte Arnold ihr sofort nach einem Blick auf den Briefbogen erklären, als er die Namen gelesen hatte. „Du brauchst nur die Anfangsbuchstaben deiner Chefs zu lesen, dann weißt du alles“, sagte er. „So Viel Kohle Wie Möglich“, interpretierte er zutreffend.
Maria hatte Arnold nichts davon erzählt, dass sie heute einen freien Tag genommen hatte. Er ging morgens ohnehin eher als sie aus dem Haus, weil er gern pünktlich um 8.00 Uhr an seinem Arbeitsplatz saß. Die Anwaltskanzlei begann erst um 9.00 Uhr mit der täglichen Arbeit. Maria war gegen 8.30 Uhr gewöhnlich die Erste, die sich einfand, um alle Räume aufzuschließen und diese ein wenig zu lüften, im weiteren Verlauf Kaffee zu kochen und ähnliche Minnedienste zu verrichten, damit sich die Herren Anwälte bei ihrer Ankunft recht wohlfühlten. Das konnte durchaus deren Stimmungslage für den Rest des Tages beeinflussen. Wenige Minuten nach ihr kamen nach und nach die anderen fünf Angestellten, die die Fraktion der Sachbearbeiter verkörperten und die drei Azubis. Die Sachbearbeitung bestand aus vier Frauen im Alter zwischen 24 und 39 und einem jungen Mann, der bereits mit 19 Jahren eine abgeschlossene Berufsausbildung als Rechtsanwaltsfachangestellter vorweisen konnte.Bei ihm lief alles reibungslos. Der Schulabschluss mit der Note Eins. Der Berufsabschluss mit der Note Eins. Danach absolvierte er gleich seinen Militärdienst und machte nach seiner dortigen Entlassung auf der Abendschule sein Abitur, natürlich auch mit der Note Eins. Im Alter von 25 Jahren begann er sein Jurastudium und mit 27 Jahren schloss er mit dieser Rechtsanwaltskanzlei einen Werkvertrag ab, der ihm sein Praktikum hier ermöglichte. In jeder Minute, die er nicht für sein Studium benötigte, kümmerte er sich hier um Wiedervorlagen, Erledigung von Schriftverkehr nach aufgenommenem Diktat, schriftliche Formulierungen von Anspruchsbegründungen, Klageerwiderungen und Klageeinreichungen. Außerdem oblag ihm die Überwachung von Terminen, Berechnung von Fristen, Buchführung und Kassenwesen, das Führen des Terminkalenders von Mandantenbesprechungen und ähnliches. Und nun sah Marco, so hieß der junge Mann, seinem erfolgreichen Abschluss als Volljurist für Patentrecht entgegen, den er in wenigen Monaten mit der gesamten Kanzlei feiern wollte. Das Problem bestand jedoch darin, dass er bei seinem Chef Herrn Weigelt in seiner Funktion als Gehilfe und Praktikant sehr beliebt war, dieser jedoch nicht im Geringsten daran dachte, sich sein Ressort zukünftig mit jemand anderem zu teilen oder gar zu erweitern. Somit stand die Zukunft von Marco noch in den Sternen, aber das würde sich schon alles finden. Davon war Maria fest überzeugt, denn sie hatte den unmittelbaren Vergleich einer erfolgreichen Karriere ja täglich vor ihren Augen: ihren Arnold.
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Die altbürgerliche weiße Villa, in der die Rechtsanwaltskanzlei untergebracht war, stand unmittelbar am Rand des Stadtparkes inmitten eines großzügigen Grundstückes. Der Hauptempfang befand sich natürlich im Erdgeschoss. Hier im großen Empfangsbüro hatte Maria ihren Platz. In dem Computer an ihrer Empfangstheke fanden sich sämtliche Termine aller Anwälte innerhalb und außerhalb des Hauses. Sie hatte in einem gewissen Umfang Zugriff auf Aktenlagen innerhalb der Datenbanken. Außerdem war sie von moderner Technik regelrecht umzingelt und war, dank Arnolds Hilfe, in der Lage, alle Geräte wie Drucker, Kopierer, Scanner, Videokameras und Systemtelefone nicht nur zu bedienen, sondern auch kleinere Macken und Fehler zu beheben. Sie koordinierte die eingehenden Telefonate und leitete diese an das entsprechende Büro weiter. Sie informierte die Sachbearbeiter und Azubis über das Eintreffen der Mandantschaft. Diese wurde von Mitarbeitern persönlich unten abgeholt und in die erste Etage begleitet. Dort platzierte man sie nochmals auf dem Flur vor dem jeweiligen Kanzleizimmer, bis der Anwalt heraustrat und sie freundlich in sein Büro gebeten wurde. In der ersten Etage befanden sich insgesamt acht Büros. Gegenüber den Anwaltsbüros, deren Fenster dem schönen Stadtpark zugewandt waren, lagen jeweils die persönlichen Sekretariate. Hinzu kamen eine Kleinküche sowie WC und Waschräume, für Personal und Gäste getrennt. Dr. Seidel hatte als Einziger seine Räume am Ende des Flures im Erdgeschoss. Zu ihm gelangte man nur durch sein Sekretariat im Vorzimmer. Die Rückseite seines Zimmers schmückte eine riesige Glastür, durch die man in einen gut gepflegten Wintergarten kam, den Dr. Seidel trotz voller Terminkalender persönlich betreute. „Pflanzenzucht ist eine ideale Ergänzung zum Strafrecht“, sagt er immer und meinte damit wahrscheinlich, dass wenigsten hier alles einen vorhersehbaren Gang ging und er sich bei der Pflanzenpflege „erden“ konnte.
Maria war mehr oder weniger zufällig hierher geraten. Ursprünglich erlernte sie den Beruf einer Kauffrau für Bürokommunikation bei einem privaten Bildungsträger in der Stadt, weil sie mit ihrem relativ schlechten Schulabschluss einfach keine andere passende Lehrstelle fand. Die Arbeitgeber, bei denen sie sich bewarb, luden sie gar nicht erst zu einem Gespräch ein. Deren Interesse bestand darin, jemanden zu finden, bei dem ein erfolgreicher Abschluss der Ausbildung garantiert sein würde. Meist kamen sogar nur Abiturienten infrage, deren Abschluss nicht schlechter als Zwei war. Da konnte Maria mit dem Prädikat „Ausreichend“ einer Mittelschule natürlich nicht mithalten. Also meldete sie sich auf dem Arbeitsamt und begann innerhalb eines halben Jahres ihre Berufsausbildung. ‚Die heutige Zeit bietet viele attraktive Möglichkeiten, das Leben zu genießen. Da ist jede Minute, die man mit Schul- und Lernstress verbringt, einfach zu schade‘, so dachte sie damals.
Doch dann, nach der Scheidung ihrer Eltern, wurde das Geld knapp im Haushalt ihrer Mutter, und die vielen Annehmlichkeiten, die man sich bisher leisten konnte, fielen auf einmal weg, da der Vater stets den Löwenanteil des Geldes nach Hause gebracht hatte.Dem Diplom-Ingenieur und leitenden Angestellten bei den hiesigen Stadtwerken konnte ihre Mutter mit ihrem Verdienst als Kassiererin in einem Supermarkt nur wenig entgegensetzen. Er besaß die Unverfrorenheit, ihr ausgerechnet an ihrem gemeinsamen Hochzeitstag zu erklären, dass er zwar mit ihr immer glücklich gewesen war, heute aber trotzdem ihr letzter gemeinsamer Feiertag sei und er beabsichtigte, nun seine Jugendliebe zu heiraten. Diese sei seit einem Jahr in seiner Abteilung tätig. An dieser Schocknachricht litt Marias Mutter gesundheitlich so, dass sie ein halbes Jahr nicht arbeiten konnte und sich in psychiatrische Behandlung begeben musste. Während ihrer Therapie verunglückte ihr Ex-Ehemann bei einem Autounfall tödlich. Und weil sie ihn trotz allem noch liebte, brach ihre Welt ein zweites Mal zusammen. Vielleicht war das ein Grund, warum Maria noch nie das Thema Hochzeit mit ihrem Arnold angesprochen hatte.
Jedenfalls war sie es ihrer Mutter schuldig, sich an der gemeinsamen Führung des Haushaltes zu beteiligen, in dem sie noch lebte. Also strengte sich Maria das erste Mal in ihrem Leben richtig an und fand sogar Freunde an der Ausbildung und an dem sehr guten Abschluss, den sie am Ende vorweisen konnte. Auf der Suche nach einem Praktikumsplatz empfahl ihr einer ihrer Ausbilder, sich als Praktikantin zur Führung der Unterlagen und zur Sekretariatsarbeit in der Anwaltskanzlei seines Nachbarn zu bewerben. So wurde ein Feierabendbier am Gartenzaun zu einer neuen Chance für Maria. Dr. Seidel wollte zwar am liebsten jemanden, der eine berufliche Mischung aus Rechtsanwaltsgehilfin, Sekretärin und Tippse war, aber er fand gerade nichts Passendes. Als sie dann artig gekleidet und mit ihrem freundlichen Wesen und gutaussehend vor ihm stand, konnte er nicht nein sagen. Hinzu kam der Vorteil, dass Maria nebenbei an einer Abendschule das Schreiben mit der Zehnfingertechnik erlernt hatte und diese mit geschlossenen Augen beherrschte. So übernahm sie erfolgreich die Mithilfe bei der Gesamtorganisation der Kanzlei und unterstützte die Chefsekretärin, die bedingt durch ihre Schwangerschaft öfter wegen Krankheit ausfiel, nach Leibeskräften. Selbst an den Tagen, an denen sie in der Berufsschule war, kam sie im Anschluss an ihren neuen Arbeitsplatz, um die wichtigsten Dinge des Tages zu regeln.
Es dauerte nicht lange und sie wurde ein fester Bestandteil der Kanzlei, ohne dass man sich dessen bewusst war. Als sie am Ende ihrer Ausbildung Dr. Seidel um ein Abschlusszeugnis bat, sagte er ihr, dass das Unsinn wäre, denn er würde kein selbst geschriebenes Zeugnis benötigen, um sie fest einzustellen. Beinahe wäre sie ihm vor Freude um den Hals gefallen, aber sie konnte sich beherrschen. Schon lange hatte sie damals der Gedanke bewegt, was denn nun würde, wenn ihre Ausbildung zu Ende ginge. Als die Chefsekretärin in den Schwangerschaftsurlaub ging und verkündete, dass sie beabsichtigte, die nächsten drei Jahre zu Hause zu bleiben, wurde Maria endgültig für ihren Fleiß belohnt. Um die vorerst scheidende Chefsekretärin nicht vor den Kopf zu stoßen, wählte Dr. Seidel für Marias Job die schöne Bezeichnung Aktuarin. Kein Mensch wusste, dass das eine schon lange veraltete Bezeichnung für eine Gerichtsangestellte war, aber es klang nach etwas Besonderem und Wichtigem.
Wie es der Zufall wollte, teilte die Chefsekretärin nach einem Jahr mit, dass ihr Mann einen Job in einer anderen Stadt angenommen hatte und sie für eine Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit wegen des Umzuges nicht mehr zur Verfügung stand. Und so stand die neue Chefsekretärin nun vor fast drei Jahren starr hinter ihrem Tresen und spürte in ihrem ganzen Körper ein angenehmes Unwohlsein. Sie hatte Angst, nicht die richtigen Worte zu finden, als der junge Mann vor ihr stand und ebenfalls keinen Blick von ihr ließ. Beide lächelten verlegen. „Guten Tag. Mein Name ist Arnold Bachmann. Ich möchte gerne einen Termin bei einem Rechtsanwalt.“
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Als Arnold in sein Auto stieg, das er auf dem großen Parkplatz am Rande des Stadtparkes hatte stehen lassen, war er noch unentschieden. Dann beschloss er, nach Hause zu fahren, das Auto abzustellen und in das kleine Café, fünf Straßenecken weiter zu gehen, in dem er sich des Öfteren mit Maria einfand, um ein leckeres Stück Kuchen zu essen. Es war dort ein bisschen wie eine kleine Heimat. Da Maria ohnehin auf der Arbeit war, brauchte er zunächst nicht befürchten, von seinem Unheil berichten zu müssen. Es sollte heute gewiss kein Kuchen sein, den er dort zu sich nehmen wollte. Von einem Hungergefühl war er weit entfernt. Zu Hause angekommen, stellte er seinen schwarzen Golf GTI auf den reservierten Parkplatz, der zu ihrer gemeinsamen geräumigen Mietwohnung in der dritten Etage gehörte. Schön waren die Erinnerungen an die Zeit, als sie sich entschlossen, zusammen zu ziehen. Die Wohnung war schnell gefunden. Er hatte in seiner Firma einen guten Kollegen in seiner Abteilung, der ihm den Tipp gegeben hatte, dass in dieser Straße eine ganze Häuserzeile neu renoviert wurde. Die gutbürgerliche Wohnung befand sich abseits des belebten Kleinstadtzentrums, war ruhig gelegen, hell und großzügig mit einem schönen großen Erker. Dieser bot sich im Sommer mit weit geöffneten Fenstern als angenehm Schatten spendender Balkon an, auf dem man es sich auf einer Liege bequem machen konnte, ohne sich neugierigen Blicken preisgeben zu müssen. Überhaupt war sein Mitarbeiter Falk ein sehr angenehmer, netter und hilfsbereiter Mensch. Nicht nur bei der Vermittlung der Wohnung, sondern auch beim Aushandeln des Mietpreises war er sehr hilfreich. Bei der Managerin, die damals mit der Vermietung der Wohnungen beauftragt war, handelte es sich um eine ehemalige, sehr gute Schulfreundin, wie Falk mehrmals betonte. Offensichtlich war sie ihm wohl einen Gefallen schuldig, den sie jetzt einlösen konnte. Und wie Arnold so darüber nachdachte, wurde ihm plötzlich wieder bewusst, dass auch Falk nicht mehr sein Mitarbeiter war, weil er ja diese Arbeit nicht mehr hatte. Zu einer richtigen Freundschaft zu ihm hatte es zwar nie gereicht, aber trotzdem würde er ihn vermissen. Was für eine alte Scheiße, dachte er. Oben angekommen drehte er den Schlüssel um und betrat die Wohnung, die er erwartungsgemäß leer vorfand. Er zog sein Sakko und sein Hemd aus und warf beides auf die Couch im Wohnzimmer. Aus dem Kleiderschrank in seinem Zimmer nahm er sich sein graues Kapuzenshirt, das er sehr gern in der Freizeit trug. Es war weich, weit und bequem, was Arnold sehr liebte. Die Brieftasche und das Kündigungsschreiben steckte er in die Hosentasche seiner Jeans. Das Handy und die Schlüssel verstaute er in den beiden Taschen des Pullis. Sicherheitshalber steckte er sein Feuerzeug ein, falls ihm so war wie Rauchen. Hin und wieder tat er dies gemeinsam mit Maria. Nicht, weil es ihnen schmeckte, sondern als Ausdruck von Gemütlichkeit oder Übermut oder eben einfach so. Heute hatte er jedoch einen anderen Grund dafür. Vielleicht half ja das Nikotin, seine Gedanken und Gefühle zu betäuben. Dann nahm er den Kellerschlüssel vom Haken und schlug die Wohnungstür hinter sich mit einem lauten Ruck zu. Im Keller angelangt, holte er sein Fahrrad, trug es die Treppe hoch auf die Straße, schwang sich darauf, streifte die Kapuze seines Shirts über den Kopf und fuhr gezielten Weges in Richtung des Cafés.
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Maria betrat das Reisebüro in der ersten Etage der großen Shopping Mall in der Innenstadt. Da sie die einzige Kundin war, wurde sie sogleich von einer Mitarbeiterin freundlich gefragt, wie man ihr helfen könne. Seitdem Maria und Arnold zusammenwohnten, hatten sie beide natürlich stets im Blick, was gegenseitig geschah. Wenn sie nicht auf Arbeit waren, verbrachten sie entweder die Freizeit zusammen oder wussten vom Anderen, wo er gerade war oder was er gerade tat. Auf diese Weise waren persönliche Geheimnisse schwer zu hüten, wenn man denn welche hätte. Maria hatte ein Geheimnis, und Arnold sollte unter gar keinen Umständen nur das Geringste davon erfahren. Deshalb hatte sie sich auch einen Tag freigenommen, um dieses Reisebüro zu besuchen. Hier eine Reise zu buchen, empfand sie zwar als etwas altmodisch, weil man heutzutage, ohne aus dem Haus gehen zu müssen, so ziemlich alles bequem online buchen konnte. Aber gerade hier lag Marias Problem. Natürlich besaß sie ein eigenes Notebook, aber auf dem konnte sie schon gar nichts geheim halten. Nicht vor Arnold. Sie war zwar sehr geschickt in der Anwendung aller möglichen Programme, egal ob Text-, Foto- oder Tabellenbearbeitung. Mit dem ganzen Drum und Dran der EDV war sie aber überfordert. Neue Updates installieren, ja oder nein? ‚Achtung, Ihre Antivirenlizenz läuft aus‘ und andere nervige Fragen wurden da regelmäßig an sie gestellt, mit denen sie sich in keiner Weise auseinandersetzen wollte. Also war es viel einfacher, den Rechner Arnold vor die Nase zu stellen und ihn mit einem Lächeln zu bitten, die Sache zu erledigen. Bei dieser Gelegenheit machte er gleich alle möglichen Wartungsarbeiten an ihrem Notebook. Dabei wäre ihm vielleicht der Browserverlauf unter die Augen gekommen, und er hätte die Dinge gesehen, die er nicht sehen sollte.
„Ich würde gern eine Reise nach New York buchen“, entgegnete sie auf die ihr gestellte Frage. Die Angestellte wies mit ihrer Hand auf einen der Stühle vor ihrem Schreibtisch und bot Maria einen Platz an. „Haben Sie da schon konkrete Vorstellungen?“, fragte sie, nachdem Maria saß. „Ja, sehr konkret. Die Reise sollte eine Woche dauern, und mitten drin muss der 4. Dezember liegen. Bekommen Sie das hin?“, fragte Maria ihr freundliches Gegenüber. „Selbstverständlich bekommen wir das hin“, antwortete diese. „Am besten wird es sein, wenn wir uns erstmal alles aufschreiben, was Ihnen bei dieser Reise wichtig ist“, fuhr sie fort. „Also, wenn wir von einer Woche reden, meinen wir 6 bis 7 Tage, richtig?“ „Ja, richtig“, erwiderte Maria. „Zwei Personen. An- und Abreise am liebsten mit Flug ab Frankfurt. Dann möchte ich einen Shuttleservice vom Flughafen in das Hotel, das mindestens 4 Sterne haben sollte und genau am Broadway in unmittelbarer Nähe des Central Parks liegt. Außerdem habe ich von einem New York Pass gehört, mit dem man, ohne sich irgendwo großartig anstellen zu müssen, in die wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Stadt kommt. Dazu kommt ein Hubschrauberrundflug über Manhattan, eine Schiffsfahrt auf dem Hudson River und am 4. Dezember zwei Eintrittskarten für die Rockband ‚Linkin Park‘ im Madison Square Garden. Bekommen Sie das immer noch hin?“, fragte Maria mit einem etwas provozierenden, aber freundlichen Blick die Angestellte. Diese lächelte jetzt tatsächlich nicht mehr so intensiv wie am Anfang des Gesprächs, und man sah ihr irgendwie an, wie sie alle soeben eifrig dargestellten Wünsche zu sortieren versuchte. Trotzdem zögerte sie nicht und versprach, sich all der Dinge anzunehmen. „Eins ist sehr wichtig“, ergänzte Maria. „Wir wickeln alles Notwendige hier bei Ihnen ab. Sie dürfen mir keinesfalls irgendetwas nach Hause schicken. Auch keine Werbung oder Kataloge. Sollten Sie Informationen haben, rufen Sie mich ausschließlich auf meinem Handy an und, wenn es geht, mit unterdrückter Rufnummer.“ „Mit unterdrückter Rufnummer?“, hinterfragte die Angestellte mit einer leicht unverständlichen Miene. „Ja, ich denke das können Sie bei jedem Telefon an- und abschalten. Wenn Sie wollen, können wir das ja gleich Mal an Ihrem Apparat ausprobieren. Ich kenne mich mit so was aus, wissen Sie.“
In der Anwaltspraxis galt es als gesetzt, die Rufnummer der Kanzlei auf dem Telefon des Angerufenen anzuzeigen. Trotzdem kam es hin und wieder schon mal vor, dass einer der Anwälte ein Telefonat zu führen hatte, bei dem er es für besser hielt, seine eigene Rufnummer nicht anzuzeigen. Maria hatte sich darüber noch nie großartig Gedanken gemacht, denn auch sie hatte ja jetzt ihre Gründe dafür. Jedenfalls kannte sie sich dadurch bestens mit den Telefonen aus, denn die dafür notwendige Tastenkombination war überall gleich. „Mein Freund ist IT-Spezialist und würde jederzeit in der Lage sein, mein Handy zu lesen wie ein offenes Buch“, begann nun Maria in einem vertraulichen Ton. „Das ist prinzipiell nichts Schlimmes, denn ich habe gewöhnlich keine Geheimnisse vor ihm. Nur dieses eine Mal muss es sein. Er hat am 4. Dezember einen runden Geburtstag. Mein Geschenk soll für ihn sein, dass er sich an diesem Tag in einer Stadt befindet, von der er schon immer träumt. Wissen Sie, so wie es Udo Jürgens gesungen hat. Wenn möglich sollten wir an diesem Nachmittag auf dem Empire State Building stehen, und vielleicht entscheiden wir uns dort endgültig, für den Rest unseres Lebens füreinander da zu sein, genau wie Tom Hanks und Meg Ryan in ‚Schlaflos in Seattle‘. Und zur Krönung des ganzen Tages soll er endlich die Gelegenheit bekommen, seine Lieblingsband live zu erleben - und das in dem weltberühmten Madison Square Garden.“ Die Mitarbeiterin des Reisebüros stützte ihren Kopf in ihre Hände und seufzte kurz. „Wie romantisch, und wie sehr müssen Sie Ihren Freund lieben, wenn Sie sich das alles für ihn ausgedacht haben. Hinzu kommt, dass die ganze Sache nicht ganz billig wird“, ergänzte sie und nahm wieder Haltung hinter ihrem Schreibtisch an. „Wissen Sie“, antwortete Maria, „nachdem mein Vater starb, hat er mir eine schöne Summe Geld hinterlassen. Eigentlich wollte ich es für schlechte Zeiten aufheben, aber meine Zeiten mit Arnold sind gerade so gut, dass ich es schade finden würde, sie nicht mit einem gemeinsamen Höhepunkt zu krönen.“ „Arnold heißt er also, der Glückliche.“ „Ja, Arnold, mein Held.“
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Schon zehn Mal hatte er sich diese Sätze durchgelesen. Unzählige Male hatte er sich die Frage gestellt, wie das überhaupt geschehen konnte. Er wusste es nicht. Arnold saß in der hintersten Ecke des kleinen Cafés. Neben die Kaffeetasse wurde soeben bereits der dritte Cognac gestellt, nachdem er hastig griff, wie nach den beiden anderen zuvor. Fest stand jedenfalls, dass heute Morgen jeder Mitarbeiter beim Öffnen seiner Datenbanken bemerken konnte, dass eine Datei, die offensichtlich aus dem Verwaltungsordner der Geschäftsleitung stammte, in seinem persönlichen Ordner enthalten war. Diese ließ sich öffnen, war unverschlüsselt und für alle lesbar. Es war das letzte Protokoll der großen Leitungssitzung, in dem festgehalten war, welche Mitarbeiter mit welcher Begründung im Verlauf des Kalenderjahres ihre Kündigung erhalten sollten. Das war eine Katastrophe, die technisch nicht nachvollziehbar war. An der Dateistruktur mit allen Zugriffsrechten hatte Arnold schon in seiner Zeit als Assistent mitgearbeitet und ein absolut sicheres System entwickelt, Daten ordnungsgemäß abzulegen, zu sortieren und zu verschlüsseln, also sorgfältig zu verwalten. Jeder Mitarbeiter, auch die Geschäftsleitung selbst, konnte nur in den ihnen vorgegebenen Bereichen Daten abspeichern. Das Ablegen in anderen Ordnern war technisch unmöglich, weil der Zugriff verwehrt war.
„Durch Ihr vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten bei der Ausübung Ihrer Tätigkeit als Ressortleiter für Systemadministration sind aktuelle Interna der Geschäftsführung unserer Firma unberechtigt veröffentlicht worden. Jeder Mitarbeiter unseres Hauses hatte somit Zugriff zu vertraulichen Dokumenten der Geschäftsleitung. Wir erklären hiermit das Vertrauensverhältnis zwischen unserer Firma und Ihnen als zerrüttet, was eine außerordentliche Kündigung rechtfertigt.“
So ein Schock, so eine unerklärbare Katastrophe. Wie konnte das nur passieren? Der Cognac in seiner Blutbahn beschleunigte unaufhaltsam das Durcheinanderwirbeln seiner Gedanken. Arnold musste feststellen, dass Alkohol nicht zwei Dinge gleichzeitig regeln kann. Einerseits erhoffte er eine Entspannung. Andererseits arbeitete er gedanklich wesentlich angespannter an der Erklärung des Problems. Eine Lösung dieses Widerspruchs bot sich insofern an, als er nach dem sechsten Cognac keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Aufgrund seines Zustandes verwarf er die Absicht zu rauchen, obwohl er sich extra ein Päckchen aus dem Automaten gezogen hatte. Alkohol war er einfach nicht gewöhnt. Hin und wieder mal ein Glas Wein mit Maria oder ein, zwei Bier auf einer Feier. Das war‘s aber schon. Wenig mehr und er konnte abends im Bett die Gardinenstange über dem Fenster mit seinen Augen einfach nicht mehr fixieren, so sehr er sich auch anstrengte. Immer wieder schwankte die verdammte Stange nach links und rechts, und er fühlte sich dabei einfach nur hilflos. Wenn er sich dem nicht mehr aussetzen wollte und die Augen schloss, sah er sogar mehrere Gardinenstangen, die sich in einem halbdunklen Raum entgegengesetzt bewegten und dabei immer schneller wurden. Jetzt drohte ihm der Verlust der Übersicht und der Kontrolle. Ein Zustand, den er ganz und gar nicht mochte. Erschwerend hinzu kamen seltsame stechende Geräusche, die regelrecht auf ihn einhämmerten. Am schlimmsten war das „E“. Viele Buchstaben „E“ flogen umher und störten sein akustisches Empfinden schmerzhaft. „E-E-E-E-E-E-E-E“, mit einer Lautstärke wie Glockenschläge. Erlösung bot die Tatsache, dass man diesen Zustand unterbrechen konnte, weil der Magen eine waagerechte Lage des Körpers einfach nicht mehr zuließ.
Arnold spürte, dass es jetzt soweit war. Ein Gefühl, das er hasste. Er beschloss schlagartig zu retten, was zu retten war, um Schlimmeres zu verhindern. Es war ihm immer sehr ekelig bei dem Gedanken zumute, den Finger in den Hals zu stecken. Noch ekeliger war es dann zu sehen, was passierte. Aber das war besser als der bevorstehende langwierige Kampf in seinem Magen, dem Kopf und seiner Blutbahn. Die Hände auf den Tisch aufstützend erhob er sich und schob den Stuhl mit den Beinen nach hinten weg. Dies gelang ihm nicht vollständig, denn der Stuhl stellte sich schräg. Bei dem Versuch, ihn zu umgehen, stolperte er darüber und stürzte auf den Boden. Trotz der Schwindelgefühle war ihm durchaus bewusst, was hier gerade geschah, und er bemühte sich, beherrscht wieder aufzustehen und geraden Weges zur Toilette zu laufen, um sein Vorhaben zu verwirklichen.
Plötzlich spürte er die helfende Hand der Kellnerin beim Aufstehen. „Ist alles ok mit Ihnen?“, fragte ihn die freundliche junge Frau, die ihm Kaffee und Cognac serviert hatte. Sie nahm wieder Abstand und betrachtete ihn prüfend. „Ja, danke“, sagte Arnold, „es geht schon. Ich muss nur dringend auf die Toilette.“ „Hinter dieser Tür den Gang entlang und ganz hinten links finden Sie, was Sie brauchen“, sagte die Kellnerin lächelnd, während sie mit der rechten Hand die Richtung andeutete, in die Arnold gehen sollte. Arnold bedankte sich kurz und setzte sich in Bewegung. Merkwürdigerweise war er trotz seiner häufigen Besuche in diesem Café hier noch nie auf der Toilette. Wahrscheinlich war er nie lange genug hier. Außerdem trank er hier bisher keinen Alkohol. Obwohl er deutlich spürte, wie ihm die konsumierten Prozente bereits zusetzten, riss er sich zusammen und ging geraden Schrittes auf die Tür an der hinteren Wand des Cafés zu. Er öffnete sie, lief den Gang wie beschrieben bis ganz nach hinten und bog auf die Herrentoilette ab. Gezielt ging er in die erste der drei freien Boxen, kniete sich vor das Becken, steckte den Finger in den Hals und erbrach sich nach wenigen Sekunden des Würgereizes mehrmals heftig und lautstark. Nachdem er seinen Magen erleichtert hatte, spürte er, wie ihm zunehmend schwindelig wurde, sein Kopf schmerzte erbärmlich. Er hatte jetzt das dringende Bedürfnis, schnell nach Hause zu kommen, bevor er vollends das Gleichgewicht verlor.
Nachdem die Kellnerin das Geld für den Kaffee und die Cognacs verstaut hatte, entdeckte sie ein Schreiben auf dem Tisch des Gastes, der gerade, offensichtlich sehr benommen, das Café verlassen hatte. Sie hatte beobachtet, wie er dieses Schreiben gleich nach seiner Ankunft aus seiner Brieftasche gezogen und immer wieder gelesen hatte. Auch hatte sie bemerkt, dass er jedes Mal, nachdem er alles gelesen hatte, das Schreiben wendete, als hätte er die Hoffnung, auf der Rückseite etwas zu entdecken, was ihm bisher entgangen war. Da das Blatt nicht zerknüllt oder zerrissen war, zog sie in Erwägung, dass er es vergessen haben könnte. Eilig lief sie zum Tisch, nahm es an sich und lief zur Tür. Als sie sich auf der Straße umsah, war von dem Gast nichts mehr zu sehen. Das Rad, mit dem sie ihn hat kommen sehen und das er bei seiner Ankunft in den Fahrradständer neben dem Eingang gestellt hatte, war verschwunden. „Na, hoffentlich kommt er mit dem Ding noch gut nach Hause“, dachte sie. Sie kannte diesen jungen Mann. Er kam öfter mal auf einen Kaffee und ein Stück Kuchen. Jedes Mal in Begleitung einer sehr hübschen Frau. Etwas besorgt um den ihr sympathischen Mann, ging sie zurück an den Tresen. „Zu spät“, sagte sie schulterzuckend zu ihrer Kollegin, die gerade den Kaffeeautomaten bediente, während sie das Papier auf den Tisch legte. „Heute hat er hier das erste Mal Alkohol getrunken, der ihm offensichtlich nicht so gut zu bekommen schien.“ „Vielleicht hat seine Freundin mit ihm Schluss gemacht, und er hat darin seinen Kummer ertränkt?“, erwiderte die Kollegin mit einem herausfordernden Augenzwinkern. Von Neugierde getrieben drehte sie das Schreiben um und überflog es. „Scheiße, das ist eine fristlose Kündigung. Na, wenn das kein Grund ist sich zu betrinken.“
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Als Maria das Reisebüro mit dem Eindruck verließ, dass alles so klappen würde, wie sie es geplant hatte, beschloss sie, sich noch etwas Shopping zu gönnen. Schließlich hatte sie heute den ganzen Tag frei. Arnold würde ohnehin nicht vor 17.00 Uhr zu Hause sein, und heute schon ein paar Sachen für den New-York-Urlaub zu kaufen, könnte ohnehin nicht schaden. Ein schickes Kleid zum Abendessen, dazu passende Schuhe und viele andere Dinge gingen ihr dabei durch den Kopf. Aber halt, das ging ja wohl doch nicht. Erstens musste sie unbedingt alle neu gekauften Klamotten ihrem Arnold vorführen und sich bewundern lassen. Zweites konnte sie ihm ja schlecht sagen, wieso sie heute Zeit zum Shopping hatte, offiziell war sie ja auf Arbeit. Drittens hatte sie gerade bei einem Blick auf ihr Handy feststellen müssen, dass der Akku zur Neige ging. Arnold meldete sich zwar nur selten tagsüber bei ihr, aber wenn doch, dann auf ihrem Smartphone. Sollte dies mangels Akkuleistung nicht erreichbar sein, käme er vielleicht auf die Idee, auf dem Festnetz anzurufen. Und hier könnte die Katastrophe lauern, wenn man ihm mitteilte, dass sie heute einen freien Tag hatte. Nein, das Risiko war einfach zu groß. Also begab sie sich zum Parkplatz, setzte sich in ihren roten VW Polo und fuhr nach Hause.
Zunächst war sie etwas ärgerlich, als sie von weitem sah, dass sich wieder einmal ein fremdes Fahrzeug auf einem ihrer gemieteten und eindeutig gekennzeichneten Doppelparkplätze befand. Als sie näher kam, erkannte sie aber schnell, dass es sich um Arnolds Golf handelte. Was war los? Wieso war er zu Hause, und wie sollte sie erklären, warum sie jetzt schon kam? Obwohl sie neugierig war, wieso Arnold zu Hause war, entschied sie sich kurzerhand doch, weiterzufahren. Immerhin war er offensichtlich gut mit dem Auto nach Hause gekommen, selbst wenn es ihm nicht besonders gehen sollte. Außerdem hätte er sie mit Sicherheit angerufen, wenn es ein größeres Problem gegeben hätte.
„Hallo, Frau Kettner, ich dachte, Sie haben heute frei“, begrüßte sie beim Betreten der Anwaltskanzlei ihr Chef Dr. Seidel, der sich offensichtlich gerade ein paar Unterlagen aus dem Empfangsbüro abholte. „Ich habe schon alles erledigt, was ich heute machen wollte, und hier sind noch ein paar wichtige Dinge liegen geblieben. Warum sollte ich dann alleine zu Hause sitzen und morgen doppelt so viel Arbeit haben?“ Sie nahm das anerkennende Lächeln ihres Chefs wahr, als er zurück in sein Büro ging. Der Rest des Nachmittages gestaltete sich innerlich doch nicht so spannungsfrei für Maria. Sie ertappte sich dabei, wie sie ständig daran dachte, warum wohl Arnolds Auto vor der Tür stand. Das Handy, welches inzwischen am Ladekabel hing, zeigte ebenfalls keine Reaktion.
Zum Feierabend fuhr sie etwas schneller als sonst durch die Stadt, sofern der Verkehr dies zuließ. Nachdem sie ihren Wagen neben dem ihres geliebten Arnolds geparkt hatte, eilte sie die Treppe hinauf zu ihrer Wohnung. Als sie den Schlüssel im Schloss nur eine halbe Drehung bewegen musste, war ihr klar, dass er zu Hause war, denn es war nicht seine Art, die Wohnung unverschlossen zu verlassen. Manchmal ging er sogar noch mal zurück, um zu überprüfen, ob er wirklich zweimal herumgeschlossen hatte. Da sie ja nicht wissen konnte, dass sein Auto schon länger auf dem Parkplatz stand, wollte sie so tun, als wäre es wie immer, wenn man sich nach getaner Arbeit zu Hause traf. Je nach Arbeitsaufkommen in der Firma oder in der Kanzlei wechselte es regelmäßig, wer zuerst kam. „Hallo, Lima“, rief sie laut und freundlich durch den Flur. Lima war der Kosename von Arnold. Entstanden war dieser in einer lustigen Weißweinrunde, als beide aus Spaß gegenseitig versuchten, Abkürzungen für ihre Vornamen zu finden. Bei ihr war die Sache schnell entschieden. Man einigte sich auf Mia. „Da sparen wir uns glatt eine ganze Silbe“, lachte Arnold. Tatsächlich aber fügte er seit diesem Abend viel mehr Silben an als zuvor. Je nach Stimmungslage wurde aus Mia Mia-Mäuschen, Mia-Schatz oder Mama-Mia, wenn sie berichtete, wie sie ihre Herren Anwälte verwöhnte. Mal musste eine Krawatte gereinigt, mal ein Knopf am Sakko angenäht werden. Mal musste noch schnell ein Geschenk für die Gattin des Anwalts zum Hochzeitstag oder ein Strauß Blumen besorgt werden. ‚Maria‘ sagte Arnold eigentlich nur, wenn es um ein ernsteres Thema ging. Das traf zum Beispiel zu, wenn er nachfragen musste, wo sich ein bestimmtes Kleidungsstück befand, was er schon eine ganze Weile vermisste. Er musste dann befürchten, dass sie es beseitigt hatte, weil es zu alt, zu verschlissen oder unmodern geworden war. Während er Maria gerne und geduldig beim Klamotteneinkauf begleitete und beriet, hielt er nahezu jedes neue Kleidungsstück für sich selbst für überflüssig. Seiner Meinung nach war alles, was er besaß, noch völlig in Ordnung. Und so half Maria eben manchmal selbstständig nach. Er musste sich damit abfinden, das T-Shirt mit den hässlichen kleinen Flecken oder das Hemd mit dem ausgefransten Kragen nicht mehr anziehen zu können.
Mit der Abkürzung für Arnold war es schwieriger. Über den Namen ließ sich ohnehin streiten. Aber für den konnte er ja schließlich nichts. Der Name Arnold war die Idee seines Vaters, warum auch immer. Arnold Bachmann schien ihm solide. So hieß nun wirklich nicht jeder. Namen, die damals jeder Zweite trug, wie zum Beispiel Andreas oder Christian, kamen für ihn nicht infrage. Schon gar nicht Namen wie Mike, Sven oder gar Kevin.
Also galt es nun, eine Abkürzung zu finden, die zufriedenstellte und annehmbar war. Arno ging gar nicht. Man konnte nicht heißen wie ein Fluss in der Toskana. Arni klang wie Erni aus der Sesamstraße. Nach Noldi blieb wirklich nicht mehr viel Spielraum. Schließlich sagte Maria, dass es völlig egal sei, wie er hieße. „Du bist und bleibst mein Lieblingsmann.“ „Lima“, sagte Arnold spontan. Da haben wir was Passendes. Lima ist die Abkürzung von Lieblingsmann, und somit verpasste er sich seinen Kosenamen selbst. Natürlich benutzten sie diese Abkürzungen nur, wenn sie allein waren. Maria sagte jetzt nur ‚Arnold‘, wenn es um Dinge ging wie: „Wann sieht denn dein Zeitmanagement das Leeren des Mülleimers vor?“
Als sie keine Antwort auf ihren Begrüßungsruf erhielt, beschloss sie, diesen nicht zu wiederholen, denn es wäre ja möglich, dass er schlief. Leise öffnete sie die Tür zum Wohnzimmer und lugte hinüber zur Couch. Dort lag er offensichtlich nicht. Als Nächstes warf sie einen Blick in sein Zimmer, aber Arnold war hier ebenfalls nicht. Als sie damals die geräumige Dreizimmerwohnung bezogen, einigten sie darauf, dass neben dem Wohnzimmer jeder sein eigenes Zimmer bekam. Ein gemeinsames Schlafzimmer kam für beide nicht infrage. Zum einen blockiert man sich ein Zimmer nur für die Nacht, zum anderen hat jeder die Möglichkeit, sein eigenes Reich zu gestalten, wie er es mochte. Während Marias Zimmer einem richtigen Mädchenzimmer mit unzähligen Plüschtieren, Kissen und Bildern an der Wand ähnelte, stand in Arnolds Zimmer die Technik im Mittelpunkt. Auf seinem Schreibtisch befanden zwei Monitore und ein Laptop. An der Wand hinter seinem Bett stand ein Regalschrank mit Fernseher, DVD-Player usw. Den Nachtschrank neben seinem Bett zierten mehrere Fernbedienungen.
Als Maria zurück ins Wohnzimmer kam, fielen ihr das Sakko und das Hemd auf, die auf der Couch lagen, als hätte man sie dort mit einem Wurf hin befördert. Jetzt ging sie durch den Rest der Wohnung, um nach Arnold Ausschau zu halten. Zuerst lief sie ins Bad, denn es lag durchaus nahe, dass er sich dort befand. Schließlich warf sie einen Blick in die Küche, allerdings mit demselben Ergebnis. Das war alles sehr merkwürdig, und sie beschlich das unruhige Gefühl, welches sie schon den ganzen Nachmittag mit sich herumtrug. Wieso stand heute schon vorzeitig sein Auto unten? Wieso war die Wohnungstür nicht abgeschlossen? Weshalb hatte er offensichtlich hastig seine Sachen auf die Couch geworfen, und warum hatte er sie nicht angerufen? Anrufen, genau das werde ich jetzt tun‘, dachte sie. Sie ging zurück in den Flur, wo sie ihre Handtasche abgestellt hatte, griff nach dem Handy und tippte auf die Rufnummer in Arnolds Profil. „Die gewählte Rufnummer ist zurzeit nicht erreichbar“, hörte sie, nachdem die Verbindung hergestellt war. Nun wurde es schlagartig noch ungewöhnlicher. Es kam hin und wieder mal vor, dass sich nach mehrmaligem Rufton die Mailbox einschaltete, dann konnte er aber gerade nicht ans Telefon gehen. Sie brauchte die Mailbox niemals besprechen, denn sie konnte sich darauf verlassen, dass er sie umgehend zurückrief, weil er regelmäßig auf sein Handy sah, selbst am Wochenende oder im Urlaub. Manchmal ging ihr das auf die Nerven. Nur einmal hatte sie ihn gefragt, warum er das ständig tue. „Es könnte wichtig sein“, war seine prompte Antwort.
Ausgeschalten war sein Handy nie. Es war rund um die Uhr an, nur nachts stellte er es auf den stummen Modus. Was war los? War sein Akku alle? Nein, das kam nicht infrage. Soweit ließ er es nie kommen. Spätestens bei einer angezeigten Leistung von 30 Prozent kam es an das Ladekabel, und diese Kabel gab es quasi überall. Eins hatte er in der Firma, eins in seinem Zimmer, im Wohnzimmer, in seinem Auto und in Marias Auto. Und wie sie ihn kannte, hatte er sicher mehrere in Reserve. Vielleicht war es ihm runtergefallen und kaputt. Nein, auch das war nicht möglich. Es war eine Macke von Arnold, sich zu jedem Handy, was er sich neu zulegte, eine personalisierte stabile Schutzhülle anfertigen zu lassen. Diese bestand aus einem stabilen Rahmen aus Metall und einer schwarzen Rückseitenabdeckung, auf der in weißer Schrift „Arnold seins“ stand. Die Anfertigung war nicht ganz billig, aber das gehörte nun einmal zu den Dingen, auf die Arnold Wert legte. Zusätzlich wurde das Teil in einer Lederhülle verstaut. Nein, so hart konnte das iPhone nicht gefallen sein, dass es sich deshalb gleich ausschaltete. Letztlich würde er, umsichtig und verantwortungsvoll wie er war, Maria eine Nachricht hinterlassen, dass er gerade nicht auf seinem Handy erreichbar war. So sehr sie in ihrem Kopf nach anderen Möglichkeiten suchte, schienen ihr keine davon logisch. Auch das Thema Funkloch hatte sich erledigt, nachdem sie den Wählvorgang mit dem gleichen Ergebnis mehrmals wiederholt hatte.
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