Kerl aus Koks - Michael Brandner - E-Book
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Kerl aus Koks E-Book

Michael Brandner

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Beschreibung

Herzlich, rau und ungeschönt: Michael Brandner macht aus Lebenserinnerungen Literatur Der kleine Paul steckt in Lederhose und Janker, als seine Mutter ihn aus Bayern nach Dortmund verfrachtet. Der Ruhrpott wird seine Heimat, auch wenn es in der engen Wohnung für ihn nur ein Klappbett in der Küche gibt. In der großen, lärmenden Familie seines Stiefvaters, wo sich unter Blutwurst und Krautwickeln die Tische biegen, fühlt er sich geborgen. So beginnt Michael Brandners Roman, der mit bewusst-biografischen Zügen, fröhlich, zuweilen unglaublich und doch ganz echt vom Mut zum Möglichen und vom Zulassen des Glücks im Nachkriegsdeutschland erzählt. Paul, der mit Kurzhaarperücke den Wehrdienst ableistet, als Hausbesetzer und Musiker Freunde fürs Leben findet, der seine erste Bühne selbst zimmert und völlig unerwartet in ein Schauspielerleben stolpert. Paul treibt von einem Verhältnis zum Nächsten und kommt doch ohne Ziel und Vorsatz überall hin. Und erkennt dabei eins: Das Leben ist eine Frau. Und Frauen sind die Korrektur der Schöpfung. Ein fabulöser Roman vom beliebten Schauspieler aus Hubert ohne Staller

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Kerl aus Koks

Der Autor

MICHAEL BRANDNER, geboren 1951, hat in mittlerweile mehr als zweihundert Film- und Fernsehproduktionen gespielt, mit George Clooney gedreht und seine Erfolgsserie Hubert ohne Staller in die zehnte Staffel geführt. Willenlos und erwartungsfrei wurde er Zeichner, Schreiner, Designer, Grenzschützer, Gourmet, Gewerkschaftsführer, Bundesverdienstkreuzträger und Schauspieler. Kurz: ein Allroundstümper mit Geschmack. Aufgewachsen im Ruhrpott, lebt er heute mit seiner Familie in München.

Michael Brandner

Kerl aus Koks

Roman

Ullstein

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Dieses Buch ist ein Roman. Einige seiner Figuren haben 
erkennbare Vorbilder in der Realität, von denen das eine oder andere biografische Detail übernommen wurde. Dennoch 
sind es Kunstfiguren. Ihre Beschreibungen und das Handlungsgeflecht, das sie bilden, sind fiktiv.

© 2022 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlag: Cornelia Niere unter Verwendung eines Fotos von © Anton Tripp / Fotoarchiv Ruhr Museum Autorenfoto: © Stefan Klüter

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Paul und ich

Erste StaffelVon Bayern in den Pott1951 – 1965

1 Wurschthimmel

2 Papa

3 Tod auf Latschen

4 Schwein gehabt

5 Vertreibung

6 Ernst des Lebens

Zweite StaffelGeschlossene Abteilungen1966–1972

7 Lehrjahre

8 Pfeiler der Wahrheit – Erster Teil

9 Stützen der Gesellschaft

10 Pfeiler der Wahrheit – Zweiter Teil

Dritte StaffelGegenreaktion1972–1981

11 Treiben lassen

12 Atempause

13 Weisen von Liebe und Tod

14 Augenlicht

15 Bretter, die die Welt bedeuten

Vierte StaffelZement und Risse1981–1994

16 Wiegenfest

17 Warum nicht?

18 Bestrickt

19 Das letzte Leben

20 Stuhl für zwei

Fünfte StaffelAnkünfteEnde offen

21 Der ganze Rest

22 Steine im Weg

23 Maxmobil

Anhang

Verdichtetes zum Abschluss

Gestern. Heute. Morgen.

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Paul und ich

Koks (Leichter, poröser, stark kohlenstoffhaltiger Brennstoff.)

Paul und ich

Paul Brenner ist meine bessere Hälfte. Ich bin, seit ich denken kann, mit Paul unterwegs. Er war immer ein wenig wilder als ich, was dazu führte, dass ich oft mit heftigen Abschürfungen und zerrissenen Hosen nach Hause kam. Er war es auch, der mich dazu verführte, meinen Hang zu Experimenten in den Bereich der Sprengungen auszudehnen. Was ein, zwei Folgen hatte, die leicht hätten ins Auge gehen können. Ich kassierte dafür zwei Wochen Hausarrest und musste das Brennholz für den gesamten Winter hacken. Er wurde nie erwischt, was ich stets sehr bewunderte. Er war auch schlauer als ich, durch ihn wurden meine Ausreden immer glaubwürdiger.

Meine Mutter, die zum Teil inquisitorische Fähigkeiten an den Tag legte, schaffte es nie, Paul zu entlarven. Er wohnte ein Stück von uns entfernt, am Borsigplatz, aus ihrer Sicht eine üble Ecke, und seine Eltern waren nie da. Ich konnte also ungestört mit ihm lernen und spielen.

Paul war weder katholisch noch evangelisch, darum beneidete ich ihn sehr. Ab und an, wenn wir die 50 Pfennig, die mir meine Mutter für die Kollekte mitgab, verschnuckert hatten, gingen wir trotzdem in den Gottesdienst, um uns vom Seitenschiff aus das Spektakel anzusehen. Die Kinder, die wie ich in die Kirche geschickt wurden, um statt der Eltern fromm zu sein, die Mütterchen, die sich unter den Vorwürfen des Jesuitenpfarrers duckten, um von seiner feuchten Aussprache gesegnet zu werden. Wir fragten uns, ob das wirklich einem Gott gefallen würde. Als dann ein paar Jahre später die Messe von Latein auf Deutsch umgestellt wurde, leerten sich die Kirchen zusehends. Der Hokuspokus war entzaubert.

Gegenseitige Beobachtung und Nachahmung waren neben den Süßigkeiten unsere Lieblingsbeschäftigungen. Allein Leckereien in sich reinzustopfen, macht weniger Spaß, als die Schaumküsse, Rollmöpse und Bratwürste gemeinsam zu verschnuckern und den Genuss des anderen mitzuerleben.

Paul wurde dann sehr früh das, was man damals einen Schürzenjäger nannte. Selbst wesentlich ältere Frauen verfielen seinem Charme. Sogar meine Mutter, die dem männlichen Geschlecht zutiefst misstraute, bekam eine andere Stimmlage, wenn sie mit ihm sprach.

So war Paul der Erste, der mit ausgestellten Hosen und langen Haaren herumlief. In seinem Schlagschatten gingen Türen schneller auf, und wenn wir uns umständehalber eine Weile nicht sehen konnten, hatte er danach immer viel zu erzählen. Sein Leben verlief in Sprüngen. Er war stets unterwegs, kam jedoch aus dem Pott nicht raus. Wozu auch, der ganze Laden lag ihm ja zu Füßen.

Aber letztendlich durfte ich Cora heiraten. Schon vor unserer Hochzeit verschwand Paul und tauchte nie wieder auf. Er hat wohl meine Ausbildung an Cora weitergegeben.

Michael Brandner

Erste StaffelVon Bayern in den Pott1951 – 1965

1 Wurschthimmel

Tante Hannah stand am Herd und buk Hefesemmeln. Als Paul in die Küche gelaufen kam, drehte sie sich um und lächelte ihn an.

»Na, Burschi? Kommst grad recht.«

Der süße dämpfige Geruch der Teigklumpen, die zwischen Hannahs flinken Händen hin- und herflogen, ehe sie als glänzende Kugeln auf dem Blech landeten, war auch eine Art Lächeln, fand Paul. Und ihr Herd war eine Zauberkiste. Was immer sie hineinschob oder in Töpfen und Pfannen aufs Feuer stellte, verwandelte sich in ein duftendes, schmelzendes, blätterndes Wunderwerk, das Paul das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Ihr Blaukraut war so saftig, dass man beim Essen schlürfen und schmatzen musste, ihre Leberknödel zerfielen im Mund zu lauter köstlichen kleinen Perlen, und vor ihren Schnitzeln und Würsteln und Hendln fühlte sich Paul wie in dem Märchen vom Schlaraffenland.

Da war er gelandet. Im Schlaraffenland. Mit einer Zauberkiste, aus der ihm Köstlichkeiten in den Mund flogen, mit einem Küchentisch aus schrundigem Holz, an den man sich nur zu setzen brauchte, um einen gefüllten Teller vorgesetzt zu bekommen, und mit Wiesen rundherum, auf denen man laufen und laufen und laufen konnte, ohne je an einen Zaun, eine Grenze, eine Mauer zu stoßen. Er hatte Glück. Er war ein Junge, der im Schlaraffenland wohnte. Besser ging es nicht.

Die Geschichte vom Schlaraffenland hatte ihm Onkel Hans erzählt, der ihn von dort abgeholt hatte, wo er früher gewesen war. »Das Schlaraffenland hast du bei uns, in Tante Hannahs Küche«, hatte er gesagt. »Den Wurschthimmel.« Über das Wort hatte Paul gelacht.

An mehr erinnerte er sich nicht. Einer von den großen Jungen, mit denen er draußen auf den Wiesen spielte, hatte ihn einmal gestoßen und gerufen: »Was will denn das Krischperl. Der ist doch gar nicht von hier. Einer aus dem Heim ist der.«

Also war er das wohl. Einer aus dem Heim. Die Erwachsenen erklärten ständig, wie viel länger sie schon hier waren, also mussten die Kinder vorher schließlich irgendwo anders gewesen sein. Wenn man sich nicht erinnerte, war ein Ort so gut wie der andere. Da Paul sich nicht über ihn ärgerte, war es dem Jungen langweilig geworden, ihm das mit dem Heim hinterherzurufen. Stattdessen zeigte er Paul, wie man Fußball spielte. Sepp hieß er. Es gab drei, die Sepp hießen, aber dieser war der längste. »Auch wenn du eigentlich noch zu klein bist«, hatte er gesagt und Paul den großen harten Ball genau vor den Fuß gelegt, sodass er ihn nur noch zu treten brauchte.

Vom Treten taten Paul die Zehen weh, und der Ball flog nur bis in Tante Hannahs Blumenbeet, aber der lange Sepp hatte ihn gelobt. »Gar nicht so schlecht«, hatte er gesagt. »Wenn du willst, übe ich morgen wieder mit dir. Dann wird das schon noch was.«

Paul konnte den nächsten Tag, an dem er wieder hinaus auf die Wiesen laufen und mit den drei Sepps und all den anderen spielen würde, kaum erwarten. Aber in der großen Küche am Tisch zu sitzen und Tante Hannahs Hefesemmeln in sich hineinzustopfen, war auch schön. Und nachher würde er in seinem Bett unter der Dachschräge liegen, zugedeckt mit der riesigen Bettdecke, und die Bilderalben anschauen, die Onkel Hans ihm gegeben hatte. Da gab es eines mit Schiffen und eines mit wilden Tieren, und die Bilder hatte Onkel Hans alle selbst gesammelt und eingeklebt.

»Als ich ein Junge wie du war, Paul. Zigarettenbildchen. Mein Vater, der Opa, hat sie alle für mich aufgehoben, und jetzt gehören sie dir, weil du jetzt unser Junge bist.«

Wach zu werden, weil sich der Geruch vom Holzfeuer nach oben schlich und den Duft von Hefeteig mit sich zog, war so wunderbar, dass Paul sofort aus dem Bett sprang. Bei der Ziehfrau, zu der ihn seine Mutter gegeben hatte, wollte er selbst aus dem klammen Gitterbett nie raus in die Kälte. Es wartete ja doch nur immer leicht angebrannter Haferbrei auf ihn und die anderen vier Ziehkinder.

Als Paul um die Ecke linste, lächelte Tante Hannah und schob das Blech in den Ofen. Paul sah genau hin und glaubte zu erkennen, wie sie die Lippen bewegte, um »Abrakadabra« zu murmeln. Wenn sie gleich das Blech wieder herauszog, würden aus den Teigbällen Semmeln geworden sein, die goldbraun glänzten, außen knusprig und innen so weich, dass er sie mit der Zunge zerdrücken konnte.

»Hast du dir die Hände gewaschen?«

Paul nickte. Das war zwar nicht ehrlich, aber es sparte Zeit.

»Schön, schön«, sagte Tante Hannah. »Warum setzt du dich dann nicht schon mal hin und probierst deine Milch?«

Mit einem Nicken wies sie nach dem Tisch, an dem ihre Tochter Lisa bereits vor einer großen Tasse Milch saß. Vor Pauls Platz stand ebenfalls eine. Die Tassen waren so schwer, dass er sich gehörig anstrengen musste, um sie in die Höhe zu stemmen, und die Milch darin dampfte, nicht weil sie gekocht war, sondern weil sie so frisch und warm aus dem Euter der Kuh herausgeschossen kam. Sie war sahnegelb und viel dicker und süßer als die, die er in der Fuggerei bekommen hatte, und wenn er sie noch ein bisschen süßer haben wollte, durfte er sich aus dem braunen Topf in der Tischmitte Honig hineinlöffeln.

»Nimm nur, nimm nur«, sagte Tante Hannah. »Müssen doch zusehen, dass du armes Hascherl was auf die Knochen kriegst.«

Das Leben war süß. Honigsüß. In die Milch würden sie nachher die Hefesemmeln tauchen, und wenn Onkel Hans zur Vesper kam, würde er sich zu ihnen setzen und irgendetwas Lustiges erzählen. Onkel Hans war Straßenbaumeister und brachte von den Bauern oft Hausgemachtes mit. Köstlichkeiten, die ins Schlaraffenland passten. Abends, an besonderen Tagen, holte er seine Gitarre und sang dazu mit einer Stimme, die Paul so schön fand, dass es ihm abwechselnd heiß und kalt über den Rücken lief. Dann setzte sich die Tante und strahlte ihren Hans an. Sie war schön, wenn sie glücklich war, fand Paul. Mit ihren roten Wangen und den blonden Haaren, die sich in der Hitze kräuselten.

Diese Abende, wenn Onkel sang und Tante hübsch aussah und er und Lisa ein bisschen länger aufbleiben durften, mochte Paul am liebsten. Noch summend vor Energie, frisch vom Stoppelkrieg auf den Feldern, mit dürftig gebürsteten Fingern und ordentlich zerstochen von den Stoppeln setzte Paul sich über Eck neben Lisa, trank von seiner Milch und wünschte sich, dass heute einer von diesen Abenden sein würde.

Die Küchentür schwang auf, Onkel Hans kam herein, fasste seine Hannah um die Mitte und drückte ihr einen Kuss aufs Gesicht. Wohin genau, bekam Paul nicht zu sehen, obwohl ihn solche Dinge brennend interessierten. Er sah etwas müde aus, hatte aber offensichtlich gute Laune. Den Grund zog er aus dem ledernen Tornister. Ein prächtiger Hase, das Fell bereits abgezogen. »Vom Huberbauern, frisch geschossen. Das der noch was trifft in seinem Dauerrausch!«

Er wandte sich wieder Tante Hannah zu, die die goldbraunen duftenden Semmeln vom Blech in einen Korb schüttete und mit der anderen Hand ein Stück gelber Butter in eine Pfanne gleiten ließ, um irgendetwas Schlaraffiges, Wurschthimmeliges, das ihnen in den Mund fliegen würde, darin auszubraten. Tante Hannah war wirklich eine Zauberin: Sie sah aus, als hätte sie nur zwei Hände wie andere Leute, aber so wie sie herumwirbelte und alles gleichzeitig warm auf den Tisch stellte, musste sie mindestens acht haben. Schüsseln und Teller flogen geradezu auf ihre Plätze. Die Oma, der Opa und Onkel Adi, »der andere Onkel«, kamen zur Tür hereingetrottet, alle setzten sich, und gleich darauf begannen die Löffel auf dickem Porzellan zu klappern.

»Lasst es euch schmecken.«

Paul liebte das. Er konnte gar nicht genug Menschen um sich herum haben. Menschen, die durcheinanderredeten, lachten, kauten, sich gegenseitig das Salzfass, die Butterdose, den Semmelnkorb unter den Fingern wegschnappten und in einer Weise, die nicht erklärt werden musste, zu ihm gehörten. Die Kinder stießen mit ihren Milchtassen, die Männer mit Bierkrügen und die Oma mit einem Stamperl voll gelber Flüssigkeit an. Tante Hannah trank nichts. Sie sah erschöpft und immer noch hübsch aus, und sie lächelte Paul an. Das war das Schönste. Dieses kleine Lächeln, das von den anderen keiner bemerkte und das sie und ihn zu Verschwörern machte.

»Können wir heute nach dem Essen singen, Onkel Hans?«, fragte Paul.

»Singen?« Der Onkel wischte sich über den Mund, was eine glänzende Butterspur auf seinem Handrücken zurückließ. »Gehört ihr kleinen Kröten um die Zeit denn nicht ins Bett? Und selbst wenn nicht – habt ihr nichts Besseres zu tun, als mit uns Alten herumzusitzen und vergessene Kamellen zu trällern? Nein? Na, was soll man dazu sagen?«

Paul sagte nichts, sah nur den Onkel unverwandt an, während er sich unter dem Tisch mit aller Kraft selbst die Daumen drückte.

»Na, wenn du’s so gern möchtest«, gab der Onkel schließlich nach. »Warum eigentlich nicht?« Er grinste und boxte Paul so sanft, dass dieser es kaum spürte, auf den Arm.

Pauls Herz vollführte einen kleinen Satz. Auf ein Lied, fand er, konnte man sich freuen wie auf einen Menschen. Es machte dasselbe Kribbeln im Bauch.

Die Türklingel schellte. Es war ein hartes, schrillendes Geräusch, das alle Gespräche unwiederbringlich abschnitt wie ein Messer das Ende von der Wurst.

»Jessas«, brummte Onkel Hans. »Der Bazi, der mich bei meinem Leberkäs stört, hat dafür besser einen sauguten Grund.«

Er hatte Hände wie Schaufeln, die er auf die Tischplatte stützte und sich schwerfällig in die Höhe stemmen wollte, doch Tante Hannah war schneller. »Lass mal. Ich geh schon.«

»Bist die Beste.« Der Onkel ließ sich wieder auf die Küchenbank plumpsen, aber gleich darauf rief Tante Hannah nach ihm, und in ihrer Stimme klang etwas an, das Paul nicht kannte.

»Hans! – Hans, du musst mal herkommen.«

Der Onkel sprang auf und eilte aus der Küche.

»Da ist sicher was mit dem Westzaun«, nuschelte der Opa, dem ein Bissen von der Semmel die Wange ausbeulte. »Hab ich immer gesagt, den muss der Hans in Ordnung bringen lassen, aber auf mich hört ja keiner. Die denken hier alle, die Alten, die zwei Kriege erlebt haben, sind blöd wie gedroschenes Stroh.«

Gleich darauf kam Tante Hannah in die Küche zurück. Ihr Gesicht war sehr weiß, und sie kniff den Mund zusammen, wie man es macht, wenn man auf keinen Fall weinen will. Ein paar Schritte hinter ihr folgte Onkel Hans mit einer fremden Frau.

Er trat zum anderen Onkel und zu Oma und Opa und begann, mit vor den Mund gehaltener Hand auf sie einzuflüstern, wie Erwachsene es machten, wenn etwas für Kinderohren nicht bestimmt war. Ein Kind hätte allerdings taub sein müssen, um Onkel Hans’ Flüstern nicht zu hören.

Paul war nicht taub. Und er hatte längst herausgefunden, dass sich das, was für Kinder nicht bestimmt war, meist als interessanter erwies als alles andere.

Die Frau, die mit Onkel Hans hereingekommen war, interessierte ihn sofort. Frauen interessierten Paul grundsätzlich. Wie sie aussahen, was sie taten und sagten, alles war spannender als bei Männern, bei denen sich Paul mehr oder weniger im Voraus denken konnte, was sie von sich geben würden.

Wie sein Onkel zum Beispiel.

»Nehmt Lisa mit rüber in die Stube, nun macht schon«, presste der zwischen den Zähnen hervor. »Ist besser, wenn sie von alldem nichts mitbekommt.«

Tatsächlich hatte Paul diese Aufforderung erwartet, er war nur überrascht, nicht selbst in aller Eile aus der Küche entfernt zu werden.

Die Frau sah nach einem richtigen Geheimnis aus. Sie war ganz anders gekleidet als Tante Hannah, trug Rock und Jacke in dunklem Blau und dazu eine schneeweiße Bluse mit einem Kragen, der wie geleimt in die Höhe stand. Ihr Haar war in Locken um den Kopf gelegt und wirkte so elegant, dass es Paul in den Fingern juckte, es anzufassen. Ihr Mund dagegen war dünn und sah ein bisschen vertrocknet aus. Tante Hannahs Mund, der feucht wie eine Sauerkirsche schimmerte, fand Paul angenehmer.

Die Oma, der Opa und der andere Onkel verließen mit Lisa die Küche.

»Ja, dann setz dich mal«, sagte der Onkel zu der fremden Frau. »Willst was trinken? Bist doch bestimmt erschöpft von der Fahrt, und man muss solche Sache ja nicht übers Knie brechen.«

»Im Wagen wartet ein Anwalt, Hans.« Die Stimme schoss wie ein Pfeil aus dem vertrockneten Mund. »Der rechnet nach Stunden ab. Ich will so schnell wie möglich weiterfahren.«

»Aber der Junge weiß doch gar nicht, wie ihm geschieht, Helga!«, rief Tante Hannah. Sie war mit einem Satz bei Paul und umfasste seine Schultern. Bis eben hatte er gebannt das Schauspiel verfolgt. Natürlich hatte er begriffen, dass es hier irgendwie um ihn ging, und es hatte ihm nicht schlecht gefallen, einmal der zu sein, um den die anderen Wirbel machten. Jetzt aber, wo Tante Hannahs Finger sich in seine Schultern bohrten und er ihre Angst spürte, verflog der Spaß im Nu.

Wer war die Frau? Weshalb war sie hier? Paul wünschte, sie würde den kleinen Hut, den sie in der Hand hielt, auf das elegante Haar setzen und verschwinden, sodass der Abend weitergehen konnte wie geplant.

»Versteh das doch bitte.« Onkel Hans knetete seine Hände. »Das hier ist jetzt sein Zuhause. Für so ein Kind ist es nicht einfach, wenn es immer wieder rausgerissen wird.«

»Was verstehst du denn von Kindern, Hans?«

»Ich hab eins, zum Beispiel. Und ich war mal eins.«

»Und das macht dich zum Fachmann?« Die Frau sog hörbar die Luft ein. »Sei mir nicht böse, aber ich bin nicht der Ansicht, dass euer Leben hier der Entwicklung eines Kindes förderlich ist. Man muss schließlich auch an die Zukunft denken, man kann den Jungen nicht einfach zu lauter Trotteln in die Dorfschule stecken. Um seine Ausbildung muss sich jemand kümmern, damit er es mal besser hat als wir.«

»Jessas Maria.« Tante Hannahs Finger bohrten sich fester in Pauls Schultern. »Er ist doch noch keine vier Jahre alt.«

Die Worte zerflossen in Pauls Kopf zu einem Brei. Was sie bedeuteten, verstand er nicht. Nur dass sie ihm Angst machten und er sich gern die Hände auf die Ohren gepresst hätte. Stattdessen saß er auf seinem Stuhl wie erstarrt und war sicher, sich nicht rühren zu können.

»Du hältst dich raus«, sagte die fremde Frau. »Ich würde jetzt gerne seine Sachen packen und schnell aufbrechen. Ich hätte das Ganze lieber friedlich gelöst, aber wenn das mit euch nicht zu machen ist, kann ich gerne meinen Anwalt hereinholen.«

Tante Hannah rief etwas, dann wieder die Frau, dann wieder die Tante. Ihre Stimmen schraubten sich hoch, und Paul spürte nur noch seine Angst. Sein Blick hing wie gebannt an den Händen des Onkels, die einander unentwegt kneteten.

»Jetzt hört schon auf!«, brach Onkel Hans’ Stimme durch das Geschrei. »Das hat doch keinen Sinn, Hannah. Wenn es hart auf hart kommt, ist das Recht auf ihrer Seite, da kannst du Zeter und Mordio schreien, solange du willst.« Dann hielten die Hände im Kneten abrupt inne, und er wandte sich an Paul. »Du musst ja denken, wir sind alle verrückt geworden, armer kleiner Kerl. Wir sollten dir mal erklären, was hier eigentlich los ist, aber das ist gar nicht so leicht.«

Ich will’s nicht wissen, durchfuhr es Paul.

Onkel Hans trat zu ihm und schob Tante Hannah beiseite. »Die Dame hier ist deine Mutter«, sagte er. »Sie ist gekommen, um dich mitzunehmen.«

2 Papa

Als Paul in Dortmund ankam, etwas verpennt von der langen Reise, stand da ein großer dunkler Mann mit einer leicht schiefen Nase und einem guten Grinsen. Er hatte die Ärmel aufgekrempelt und die Hände in den Hosentaschen. Auf den Armen waren dunkelblaue Linien und Flecken, die Paul beim Näherkommen sah. Der Mann zog große Arbeiterhände aus den Taschen, umarmte Mama und küsste sie. Das durfte er wohl. Dann hatte er sich zu ihm runtergebeugt, Paul intensiv gemustert und sehr bestimmt gesagt: »Ich bin jetzt dein Papa«, und hatte ihm die Hand geschüttelt. Paul hatte einen Kloß im Hals und brachte keinen Ton heraus. Das war sein Papa. So was hatten viele Kinder, und jetzt hatte er das auch. Die Mama schnalzte unwillig mit der Zunge und meinte dann: »Jetzt nehmt euch doch mal in den Arm!« Der Papa breitete die Arme aus und Paul auch. Papa hielt ihn ganz fest, und Paul gefiel das sehr. Irgendwie hatte er plötzlich Tränen in den Augen, und Papa hatte auch feuchte Augen. Er räusperte sich und sagte mit einem leichten Frosch im Hals: »Jetzt stell ich dir mal einen Freund von mir vor, der heißt Giovanni und macht Eis, was hältst du davon?« Davon hielt Paul einiges. Es war einfach genial, einen Papa zu haben, vor allem wenn der sich lächelnd alle Mühe gab, den Titel des guten Vaters zu behalten.

Pauls erster Freund in Dortmund war Georg Venske, mit dem er nach der Schule durch zerbombte Straßen streifte und einen Ball aus Lumpen hin und her kickte. War kein solcher aufzutreiben, tat es auch eine leere Konservendose.

Georg wohnte über Paul. Pauls neues Zuhause waren Wohnküche und Schlafstube und ein handtuchbreites Bad. Für Paul gab es ein Klappbett in der Küche. Die Bleibe von Georgs Familie war eine beinahe deckungsgleiche Kopie der Brenner-Wohnung darunter. Nur hatte Georg noch zwei ältere Schwestern und schlief im Korridor, während Pippa und Lene sich das Klappbett in der Küche teilten. Sie wurden Freunde, praktisch von dem Moment an, als Paul an der Hand seiner Mutter in den düsteren Hausflur getrottet war, in dem der Putz von den Wänden blätterte, und Georg sich ein Stockwerk drüber in die Türritze geklemmt und übers Geländer gespäht hatte.

Paul hatte in Lederhose und Janker gesteckt und ausgesehen wie ein Fisch, den ein Angler aufs Trockene geworfen hatte. Ein Bayer im Ruhrpott. Eine Stunde später hatte der Junge von oben vor der Tür gestanden und gefragt, ob »der Junge« zum Spielen mitkäme. Von da an spielten sie jeden Tag in den Straßen, bis es dunkel wurde oder Hunger sie heimtrieb. Wenn sie nach Hause kamen, stank der Hausflur nach Kohl oder sauren Kutteln, und wenn Pauls Papa von der Schicht zurück war, saß er am Fenster, stützte die Ellenbogen auf eins von Mutters Sofakissen und hielt einen Schwatz mit jedem, der vorbeischlenderte.

Georg war dabei, als Paul sich in Ute Riesenberg, die butterblonde Metzgerstochter, verliebte, der seine Mutter wegen ihres Heuschnupfens den unfreundlichen Spitznamen Rotzglocken-Ute verpasste. Stolze sieben Jahre hatte Paul auf dem Buckel, Ute war knapp acht, als er auf einer Treppenstufe im Kohlenkeller Stein und Bein schwor, dass er sie heiraten, ihr ein Schloss bauen und einen Drachen für sie töten würde. Oder wenigstens den Klassenlehrer, der ihr im Zwischenzeugnis eine Sechs verpasst hatte.

Ulli – Ulrich Schulte von gegenüber – war in diesem Bunde der Dritte. Ein genialer Mittelstürmer, der für den BVB hätte spielen können, wenn ihn in den Straßen der Nordstadt jemand beim Stürmen mit Konservendosen entdeckt hätte. Dass er Ute vor der Schule abgefangen und sie Sugar Baby genannt hatte, konnte Paul ihm trotzdem nicht durchgehen lassen. Sugar Baby war ein Schlager von Peter Kraus, der in jenem Sommer aus so gut wie jedem Lokal dudelte. Paul hatte ihn mit Papa gehört, der dafür eigens die Musiktruhe anstellte, wenn die Schlagersendungen kamen. Paul hatte lauthals mitgesungen und dabei an Ute gedacht.

Sugar Baby.

So etwas durfte sich kein siebenjähriger Drachentöter aus dem Pott gefallen lassen. Nicht einmal von seinem zweitbesten Freund. Die zerdroschene Nase hatte Ulli ihm verziehen, als die Sache mit Ute längst eines sang- und klanglosen Todes gestorben war. Zudem existierten zwischen den beiden ohnehin irgendwelche Bande nicht-amouröser Natur: Ullis Mutter war die Schwester von Onkel Norberts zweiter Gattin, und Onkel Norbert war Utes Vater. Deshalb nannte dieser Ullis Mutter zu Pauls Verwirrung Schwägerin, und sie nannte ihn Schwippschwager.

Erwachsene hießen sowieso fast alle auch noch irgendwie anders. Selbst Paul hieß ja anders als seine Eltern, was lapidar damit erklärt wurde, dass es ihn schon vor der Hochzeit gab. Punkt. Die Mutti von Georg beispielsweise hieß nicht nur Mutti, sondern auch Brunhilde. Das war einfach zu merken, denn wenn Pauls Papa und Onkel Jürgen, der Papa von Georg, vom Italiener kamen, hampelte Onkel Jürgen wie ein Häuptling beim Kriegstanz um sie herum und sang: »Brunhilde, die Wilde, was führt sie wohl im Schilde?«

»Ihr habt ja einen im Tee«, sagte die Brunhilde-Mutti dann, obwohl Papa und seine Kumpels beim Italiener nie Tee, sondern Bier tranken. Und Kurze. Das waren Schnäpse. Giovanni hatte ihm das erklärt, und Paul war stolz, es zu wissen.

Giovanni war Italiener und Papas Freund, er führte das Lokal – das Azzuro – an der Ecke und hatte extra einen Fernseher im Gastraum aufgestellt, damit seine Gäste die Fußballweltmeisterschaft sehen konnten, obwohl Italien in der Vorrunde ausgeschieden war. Wenn Papa ihn traf, rief er: »Tach, Giovanni«, wenn er aber mit seinen Kumpels aus der Zeche Lust auf ein paar Bier und Kurze hatte, sagte er: »Was ist, Jungs? Gehn wir zum Italiener?«

Seit der Fernseher in der Gaststube stand, blieben Georg und Paul auf dem Heimweg von der Schule immer vor dem Schaufenster stehen und versuchten, durch die getönte Scheibe einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen. Wenn er schwarz blieb und kein geheimnisvolles Leben darin aufflackerte, waren sie enttäuscht. Paul besonders. Die Schule war doof, er hatte schon am ersten Tag beschlossen, nicht mehr hinzugehen, aber Mutti ließ nicht mit sich reden. Mit der Aussicht auf den Fernseher – die Glotze – überstand er den Tag, und umso niederschmetternder war es, wenn es damit Essig war.

Oft kam dann aber Giovanni aus der Ladentür geschossen und drückte jedem von ihnen ein dreieckiges Stück Pizza in die Hand. Klasse schmeckte die. In der gesamten Bergarbeitersiedlung gab’s die nur hier, in ihrer Straße, und mit den Fingern essen durfte man sie obendrein. Das allein war schon das Gezeter wert, das Mutti daheim anstimmte, weil sie sich »nicht den ganzen Tag an den Herd gestellt und gekocht hatte«, damit »der Junge hinterher das Zeug von dem Itaker frisst«.

Itaker war ein anderer Name für Italiener, Paul hatte Papa gefragt. »So was sagen wir bei uns aber nicht«, hatte Papa erwidert. »Ob hier einer Deutscher ist oder Italiener, Kroate oder Weiß-ich-was, ist egal. Wenn du aus dem Pott bist, dann bist du aus dem Pott. Aus dem Koks. Das genügt.«

Paul war aus dem Pott. Darauf war er stolz. Mutti war irgendwie nicht aus dem Pott, obwohl sie ja mit ihm und Papa zusammen hier, in der Wohnung in der Heroldstraße, wohnte. Das war schwierig zu verstehen, und an den meisten Tagen hatte Paul zu solchen schwierigen Sachen keine Lust.

Wenn er und Georg so mit ihrer Pizza in den Händen loszogen, rief ihm Giovanni hinterher: »Bestellst du schöne Grüße an die Helmut, ja, piccolino? Sagst du, die Helmut soll mal heute Abend komm vorbei, hat die Giovanni für sie Parmesan und neue Grappa.«

Darüber, wie Giovanni die Wörter aneinanderreihte, hätten Georg und Paul sich vor Lachen ausschütten können und ahmten es gerne nach. Aber Giovanni nahm es nicht krumm, sondern lachte mit. Bei ihm gab es zur Pizza eben »eine schöne kalte Bier«, und »die Helmut« war der andere Name vom Papa. Der Opa, der nur ein paar Häuser weiter wohnte, bestellte auch immer Grüße an »den Helmut und von mir aus auch an deine Frau Mama«, wenn er Paul auf der Straße begegnete. Opa mitsamt seiner riesigen lauten Familie konnte Paul gut leiden. Der war einer, der das Sagen hatte, der wusste, wo’s langging, obwohl er gar keine Frau war. Warum er die Mutti Frau Mama, den Papa hingegen Helmut nannte, gehörte zu den Rätseln, die Paul ungelöst ließ.

Giovanni erwähnte die Mutti gar nicht. »Sagst du schöne Grüße an die Helmut, ja?«, verabschiedete er die beiden Jungen auch heute. »Sag ihm, er soll mal nachher lieber rumkommen. In seine Kiste kann er andermal gucken, zusammen ist besser, und bei Giovanni gibt es eine schöne kalte Bier.«

Paul lag die Frage auf der Zunge, was das mit der Kiste zu bedeuten hatte, aber Giovanni verschwand schon wieder in seinem Lokal.

Also trödelten die beiden Jungen weiter die Straße hinunter. Georg biss in seine Pizza, dass ihm die rote Sauce und der zerschmolzene Käse die Mundwinkel hinunterlief. Ein Stück Wurst rutschte auch mit heraus. Georg hob es auf und stopfte es sich wieder in den Mund. Auf Pauls Pizza war keine Wurst, weil Giovanni wusste, dass er das nicht so gern mochte. Bei Mutti bekam er jeden Tag Fleisch oder Wurst auf den Teller, und wenn er davon etwas liegen ließ, wurde sie vor Wut so rot wie die Sauce. Schließlich sparte sie sich das Geld für das Fleisch vom Munde ab, nur damit ihr Junge ein bisschen Kraft in die Knochen kriegte. Nicht dass die Gericke von gegenüber ihr wieder Vorwürfe machte, weil Paul aussah wie der Tod auf Latschen. »Früher hast du’s ja auch gegessen, sag bloß, bei denen hat’s dir besser geschmeckt?«

Da Paul ahnte, wann dieses Früher und wo dieses Bei denen gewesen sein sollte, gab er darauf nie eine Antwort, und Mutti schien auch keine zu erwarten. Jedes Mal, wenn seine Abneigung gegen ihre Erziehung ihre Kochkunst streifte, kam dieses »Bei denen« auf den Tisch, und jedes Mal hatte Paul ein unangenehmes Ziehen im Bauch. Er wusste nur, dass an Weihnachten immer ein Päckchen kam, das gut roch. Das machte Mama aber erst auf, wenn sie allein war. Danach gab es dann Schinken und Wurst, in die Papa und Paul hoffnungslos verliebt waren. Papa hatte ihm verraten, dass dieser göttliche Geschmack aus Bayern kam, »wo du auch herkommst«. Und es war auch Papa, der dann mutig vorschlug, doch mal gemeinsam hinzufahren, nach all den Jahren, was ein Gewitter auslöste, vor dem Paul schnellstens nach draußen floh.

»Meinst du, du darfst heute Abend mit zum Italiener, das Spiel gegen Argentinien sehen?«, fragte Georg, während er auf dem Pizzarand herumkaute. »Mein Vater hat gesagt, er erlaubt’s mir vielleicht.«

Das wäre ja was! Paul blieb stehen, um die Bilder zu genießen, die in ihm aufstiegen: Er und Georg mit Papa, Onkel Jürgen und den anderen im Azzuro, eine Limo vor sich und vielleicht sogar ein zweites Stück Pizza? Und dann das Spiel. Deutschland gegen Argentinien. Wenn Deutschland ein Tor schoss, würden sie alle aufspringen, in Jubel ausbrechen und sich in die Arme fallen. Das war das Beste am Fußball. Paul hätte es jeden Tag haben können.

Einmal waren Onkel Jürgen und Ullis Papa und der Papa vom Fredi zu ihnen in die Wohnung gekommen, um das Endspiel um die Deutsche Meisterschaft im Radio zu hören. Dortmund gegen Hamburg. Sie hatten sich alle auf der Küchenbank, vor der Musiktruhe, zusammengequetscht, vor ihnen auf dem Tisch standen Batterien von Flaschen, und jedes Mal, wenn Dortmund ein Tor schoss, hatten sie so laut gebrüllt, dass die Fensterscheiben wackelten und Mutti in der Schlafstube in Geschimpfe ausbrach.

Am Ende hatte es 4:1 für Dortmund gestanden, sie waren in einer Polonaise durch die Küche gezogen und hatten in voller Lautstärke So ein Tag, so wunderschön wie heute gesungen. Paul war selig. Sooft Mutti ihn abends zum Beten anhielt, betete er seither, es möge doch bald wieder Dortmund oder Deutschland im Fußball gewinnen, weil es so schön war, wenn alle zusammen sich freuten. Und wenn er dazugehören durfte. Paul liebte Menschen. Nirgendwo fühlte er sich so sicher und gut aufgehoben wie inmitten einer Menschenansammlung, von der er ein Teil war.

»Was ist denn nun?«, platzte Georgs Stimme in seine Gedanken. »Meinst du, dein Papa erlaubt es dir?«

Pauls Euphorie surrte in sich zusammen wie ein Ballon, den man nicht richtig zugeknotet hatte. »Mein Papa schon. Dem ist das recht, der macht da keinen Wind. Aber Mutti findet, Kinder gehören nicht in Kneipen.«

»Kannst du ihr nicht erzählen, du kommst zum Spielen zu mir?«

Paul zuckte die Schultern. Er wollte Georg nicht sagen, dass er in den Augen seiner Mutter in die Wohnung der Venskes genauso wenig gehörte wie in Kneipen, denn wie hätte er dem Freund das erklären sollen? Das Spiel würde er nicht sehen und morgen, wenn alle davon sprachen, nicht mitreden können.

Stattdessen musste er aufpassen, dass er vor Georg nicht losheulte. Glücklicherweise schoss gerade in diesem Augenblick ein niedriges Gefährt an ihnen vorbei und lenkte vom Thema ab. Bruno Beinlos. Bei anderen Leuten waren die Väter, Brüder oder Bräutigame im Krieg geblieben, bei Bruno nur die Beine. Weil er ohne schlecht laufen konnte, hatte er sich unter ein Bügelbrett Räder geschraubt und kurvte durch die Straßen, indem er sich mit den Armen abstieß. Um sich zusätzlichen Schwung zu verleihen, hielt er in jeder Hand ein Bügeleisen, an das er Stücke von Autoreifen festgenietet hatte. Immer wieder faszinierte es Paul, wie schnell er auf diese Weise vorankam.

Bruno Beinlos bremste ab und vollführte eine scharfe Vierteldrehung, sodass er den Jungen den Weg blockierte. »Tachchen, Tachchen, die jungen Herren.« Er verbeugte sich und zog seinen Hut, obwohl er gar keinen trug.

Jedes Mal sah Paul schier hingerissen zu, wie er das machte. Unwillkürlich ahmte er es nach.

»Oh, wie nett. Ein höflicher junger Herr«, lobte Bruno. »Sag mal, mein kleiner Freund, ist denn der Helmut schon zu Hause? Weißt du das?«

Paul blickte nach oben. Der Himmel war braun wie Opas Spucke, wenn der mit seinen gelben Zähnen einen Priem zermalmte. Also war heute abgeblasen worden, und Papa kam nach der Frühschicht heim. »Denk schon, dass er da ist«, sagte er zu Bruno.