Kern der Angst - Regine Bott - E-Book

Kern der Angst E-Book

Regine Bott

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Beschreibung

Lioba Heller ist pleite. Ihr neuer Job bei einer Pharmafirma verspricht nicht nur Geld, sondern auch Prestige. Doch Lioba hat weder damit gerechnet, dass sie in einem streng gesicherten Bunker unter dem Schönbuch arbeiten muss, noch damit, dass dort illegale Experimente an gekidnappten Angstkranken durchgeführt werden. Nach dem ersten Todesfall schlägt sie sich auf die Seite der Entführten. Die Probanden zu befreien und ans Tageslicht zu bringen, gestaltet sich jedoch als haarsträubend gefährlich. Ein Wettrennen mit der Zeit beginnt …

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Regine Bott

Kern der Angst

Kriminalroman

Zum Buch

Angst liegt tief Als Lioba Heller unter streng geheimen Auflagen ihren ersten Arbeitstag bei der Pharmafirma »Amendment Corp.« antritt, ahnt sie nicht, was auf sie zukommen wird. In dem unterirdisch gelegenen Labor wird illegal an einem Medikament geforscht, das Angstkrankheiten besiegen und die Probanden in unerschrockene Söldner verwandeln soll. Nach dem ersten Todesfall schlägt sich Lioba auf die Seite der Entführten. Die Probanden zu befreien und ans Tageslicht zu bringen, gestaltet sich jedoch als haarsträubend gefährlich. Auf der Flucht werden sie unter anderem von einer weiteren Leiche, mehreren Schlägereien, intriganten Wissenschaftlern und einer Armee von Sechsfüßlern aufgehalten. Doch Liobas wahrer Feind ist Lothar Bonlander, der komplett übergeschnappte Firmenreferent, der in seinem Wahnsinn keine Gnade kennt. Auch der Tübinger Kriminalkommissar Deckert, der den Machenschaften der Pharmafirma auf der Spur ist, kommt dem irren Bonlander mit seinen unorthodoxen Ermittlungen in die Quere. Wird der Kommissar verhindern können, dass er auch über Liobas Leiche geht?

 

Regine Bott, 1968 in dritter Generation in Stuttgart geboren, studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaften und Anglistik. Parallel dazu arbeitete sie in einer Buchhandlung und legte in einem Vorstadtkino die Filmrollen in den Projektor. Nachdem Bott fast zwanzig Jahre lang als festangestellte Lektorin beschäftigt war, ist sie seit 2013 selbstständig, schreibt Krimis, Kurzgeschichten und Science-Fiction. Die überzeugte Schwäbin lebt zusammen mit Ehemann, Sohn und Kater in der Nähe der Landeshauptstadt Baden Württembergs.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dancerP / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-5898-9

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Home Sweet Home

Als er um Mitternacht den Schlüssel zu seinem Apartment herumdrehte und die Tür öffnete, hatte Hendricks das seltsame Gefühl, als betrete er fremdes Territorium. Instinktiv wollte er sich die Schuhe sorgfältig abtreten und noch einmal mit den Fingern durch die störrischen Wirbel seines Haars fahren, um sich einem vermeintlichen Gastgeber in vorteilhaftem Licht zu präsentieren. Sein Labor im Bunker war ihm vertrauter als sein 150 Quadratmeter großes Loft – eine der teuersten Immobilien der Umgebung. Auch der atemberaubende Blick auf die lichterglitzernde Innenstadt, die sich 200 Meter unter ihm an grüne Hügel und die zu dieser Jahreszeit vorherbstlich schillernden Weinberge schmiegte, konnte bei ihm keine Verbundenheit mit seiner Wohnung hervorrufen, schließlich schlief er nur hier und das in letzter Zeit selten genug. Wenn man eine einzigartige Aussicht auf den Kessel Stuttgarts genießen wollte, so sollte man sich mit dem Aufzug zur Spitze des Fernsehturms transportieren lassen. Er brauchte das nicht vor seiner Haustür.

Als die Maklerfirma ihm das Apartment in Degerloch auf der Filder-Hochebene angeboten hatte, war er zuerst nicht dazu bereit gewesen, in den Kauf einzuwilligen. Die großzügige Küche mit Kochinsel und allem eingebauten Schnickschnack, die das Herz eines Hobbykochs sicher höher schlagen, sein eigenes aber kalt ließ, würde er genauso wenig nutzen wie den leinwandgroßen Fernseher oder die Sofagruppe aus Leder, auf der locker zehn Personen Platz hatten. Außerdem war die Fahrt zum Labor länger, als ihm lieb war. Die Autobahnen waren durch den Pendlerverkehr verstopft – von den Bauarbeiten auf der Bundesstraße Richtung Tübingen ganz zu schweigen.

Aber schließlich hatte er doch unterschrieben. Die Firma zahlte, und Anna war ihm bei einem ihrer seltenen Besuche vor Begeisterung um den Hals gefallen. Obwohl sie in Berlin wohnte und arbeitete, glaubte Hendricks, dass sie das Apartment in naher Zukunft für sich nutzen würde. Wenn die Grundstufe des Projekts im Bunker erst einmal abgeschlossen war und er sich mit ihr zusammen – als Vater-Tochter-Gespann1 – auf die Weiterentwicklung und Vermarktung des Serums konzentrierte, könnte sie ihre Augen über die Weinberge schweifen lassen und im Gegensatz zu ihm den Anblick würdigen.

Der Professor hatte eben den Lichtschalter betätigt und den Schlüssel in eine Glasschale auf einer antiken Anrichte geworfen, als das Telefon klingelte. Ein Blick aufs Display bestätigte ihm, was er beim ersten Ton schon vermutet hatte. Er kannte die Nummer. Bonlander rief fast immer zur gleichen Zeit an. Der Mann schien ebenfalls mit wenig Schlaf auszukommen.

»Ja?«, sprach Hendricks kurz angebunden in den Hörer und starrte auf die großformatige Fotografie über dem Büfett, die eine grafisch verfremdete Molekularstruktur in grellen Farben zeigte. Anna hatte ihm das Bild von einer Schweizer Kunstmesse mitgebracht, und obwohl es nicht wirklich seinen Geschmack traf, hatte er es aufgehängt.

»Wo stehen wir, Professor?«

»Ich stehe in meinem Wohnzimmer und Sie?«

Am anderen Ende der Leitung schnaubte es. »Sie machen einen Witz? Dass ich das noch erleben darf. Haha.« Die Stimme klang nicht amüsiert.

»Ich spaße nicht. Ich wollte damit andeuten, dass wir nirgends stehen. Oder sind Sie in letzter Zeit einmal in meinem Labor gewesen, Herr Bonlander?«, antwortete Hendricks ein wenig schärfer, als es ihm gegenüber dem persönlichen Assistenten des Aufsichtsratsvorsitzenden zustand.

»Werden Sie nicht frech«, dröhnte es gleich darauf herablassend aus dem Apparat. »Ersparen Sie mir Ihre übliche Korinthenkackerei und sagen Sie mir, wie weit Sie sind!«

Hendricks blickte an der Fotografie vorbei und starrte die Wand an. »Wir hatten Probleme.«

»Könnten Sie deutlicher werden? Das wäre unwahrscheinlich entgegenkommend von Ihnen.«

»Der letzte Patient hat die Prozedur entgegen unserer Erwartung nicht verkraftet.«

»Übersetzung, bitte. Was zum Henker heißt das? Ist er Ihnen etwa krepiert?«

Ja. Der Patient war gestorben. So etwas kam eben vor. Er war ein Proband gewesen. Eine Testperson. Schon das Wort allein beinhaltete, dass auch einmal etwas schiefgehen konnte.

»Nicht jeder Mensch reagiert gleich. Das sollten Sie doch wissen. Sie arbeiten schließlich für ein Pharmaunternehmen.« Die Bemerkung, dass Bonlander seiner Meinung nach nur ein kleiner Handlanger war, schluckte Hendricks unter Mühen hinunter. »Da müsste Ihnen bekannt sein, dass der eine auf ein Medikament eben verschiedenartiger anspricht als der andere. Menschen sind keine Roboter, sie werden nicht am Fließband hergestellt. Rückschläge muss man immer einkalkulieren. Das ist einfach …«

»Rückschläge?«, unterbrach ihn Bonlander. »Die Firma kann sich keine Rückschläge leisten. Da hängt ein wenig mehr dran als nur die Höhe Ihrer Prämie, die ebenfalls von einem herben Rückschlag ereilt werden könnte, Hendricks. Aktienkurse, unterschriebene Verkaufsverträge, unterzeichnete Versprechungen, Auszahlungen an die Geschäftsetage …«

»Sie haben das Serum schon verkauft?« Der Professor schnappte nach Luft. »Vor seiner endgültigen Fertigstellung? Vor der Weiterentwicklung? An wen?«

Abkommen dieser Art waren in der Branche zwar nicht unüblich, aber hier lag der Fall etwas anders. Oxy-35 war nicht irgendeine Arznei. Oxy-35 würde das Mensch-Sein revolutionieren. Den Homo sapiens auf eine modifizierte Entwicklungsstufe befördern. Ohne das lange Warten darauf, dass dies die Natur vielleicht irgendwann einmal von allein regelte. Wobei es dazu sicherlich nicht mehr kommen würde, so wie sich die Menschheit anstellte.

Bonlander sprach ungeniert weiter, ohne auf Hendricks einzugehen. »Von der recht unangenehmen Situation, die Ihren Familienanhang ereilen wird, wenn Sie während Ihrer Forschungsarbeit patzen, wollen wir erst gar nicht sprechen«, fuhr er drohend fort.

Hendricks fluchte leise. Dieser Hundesohn! Es verging fast kein Telefonat, in dem Bonlander ihn nicht darauf hinwies. Als ob man ihn daran erinnern müsste, dass er vor einigen Jahren Mist gebaut und Anna in diesen Dreck mit hineingezogen hatte.

Ein paar Sekunden herrschte Stille in der Leitung, dann meldete sich Lothar Bonlander erneut zu Wort. »Wenn ich das nächste Mal anrufe, dann will ich ein Ergebnis haben. Und zwar eins, das mir gefällt. Und eins, das dem Aufsichtsrat gefällt.«

Hendricks schloss die Augen.

»Ist das verständlich rübergekommen? … Hendricks? Sind Sie noch dran?«

»Sie haben den Sachverhalt prägnant dargestellt.«

»Tatsächlich? Sehr schön. Denn wir investieren nicht etliche Millionen Euro in diesen Spielplatz, um Sie alle miteinander Sandburgen bauen zu lassen, die beim kleinsten Windstoß einstürzen. Sie sollten also möglichst bald zufriedenstellende Ergebnisse vorweisen können und es auch unterlassen, sich gegenseitig mit ihren Schäufelchen zu traktieren. Zufriedenstellend – hören Sie mich?«

»Klar und deutlich.« Was für ein eingebildeter Geck.

»Sehr schön, Professor, sehr schön. Haben Sie sich bei der Entsorgung der Leiche an die Vorschriften gehalten?«, wechselte Bonlander abrupt das Thema.

»Die uns zugeteilten Mitarbeiter vom städtischen Dienst waren schon da.« Und während sie hier sprachen, war der Proband längst Teil des Kreislaufs der Stromerzeugung von Stuttgart geworden. Geld regiert die Welt. Und man kann sich alles und jeden damit kaufen.

Aus dem Hörer grunzte es beifällig. Anschließend klickte es. Die Verbindung war unterbrochen.

Angewidert starrte Hendricks eine Weile auf den Hörer in seiner Hand. Dann knallte er ihn auf die Basisstation, schritt zur Kommode, griff nach dem Schlüssel, und als die Apartmenttür hinter ihm ins Schloss fiel, merkte er, dass er nicht einmal dazu gekommen war, seinen Laborkittel auszuziehen.

*

»Du hättest nicht annehmen sollen. Du hättest nicht einmal hingehen sollen, du blöde Kuh.«

Lioba schwenkte die Flasche in Richtung ihres Spiegelbilds und nahm einen tiefen Schluck. Das kleine Schwarze mit dem beeindruckenden Wasserfallausschnitt, das sie extra für das Treffen mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden gekauft hatte, trug sie immer noch. Es war dort, wo es schmal sitzen musste, etwas zu eng geraten und schnürte ihr fast die Luft ab. Aber sie hatte nicht die Kraft, es auszuziehen.

Zuallererst hatte sie den Kühlschrank ihrer neuen Wohnung im Niemandsland aufgerissen und sich die letzte verbliebene Flasche des Guinness-Sixpacks gegriffen, das sie in weiser Voraussicht auf dem Heimweg an einer Tankstelle gekauft hatte. Bonlander, der Assistent, Referent, Wasserträger oder wie man seine Funktion auch immer bezeichnen mochte, hatte auf dem Fahrersitz herumgemeckert wie ein altes Weib, aber dann schließlich doch angehalten. Wenigstens hatte er den Anstand besessen, sie zu dem Apartment zu fahren, das die Firma für sie gemietet hatte, denn sonst hätte sie sich ein Taxi nehmen müssen. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren gemeinhin nicht an den Arsch der Welt. Und der Schönbuch, das war für Lioba eindeutig das Skrotum der Zivilisation.

Mit der Bierflasche in der Hand lief sie unschlüssig herum, schleuderte die Riemchensandalen mit den Pfennigabsätzen von sich und genoss seufzend den hochflorigen Teppich unter ihren nackten Sohlen.

Sie starrte auf den Schlüsselbund, den ihr dieser arrogante Fatzke Bonlander im maßgeschneiderten Anzug am Ende der Besprechung mit einem unverschämten Grinsen in die Hand gedrückt hatte.

Kurze Zeit später war die Flasche schon wieder leer, und sie stolperte aus dem Bad in Richtung Küche.

»Gib’s zu, du bist auf das Geld scharf. Moneten! Knete!« Sie riss den Kühlschrank erneut auf und warf einen Blick ins bedauernswerterweise leere Gemüsefach. »Du hast dich mieten lassen, du Schlampe!«, zischte sie.

Ihr knurrte der Magen. Die übersichtlich angerichteten Speisen im Restaurant hatten sie alles andere als gesättigt. Die Erbse unter der Ameisenzunge. Zudem war sie kaum dazu gekommen, ihren Teller auch nur anzuschauen, geschweige denn davon zu essen, weil Doktor Reinhard Horgenzell während des Gesprächs nicht nur Blickkontakt zu ihren Brüsten aufnahm, sondern außerdem anfing, unter dem Tisch zu füßeln. Von diesem geilen Bock hatte sie sich kaufen lassen! Nicht nur dieses Zwei-Zimmer-Apartment verdankte sie ihm, auch bot er ihr ein Monatsgehalt an, das ihr die Sprache verschlug. Und dieses Mal war das zu eng geschnittene Kleid nicht schuld daran gewesen.

»Tja Kindchen. So viel Geld hast du noch nie gesehen! Kleine Kokotte, du!«

Stark angeschickert hüpfte Lioba über den Teppich wie Butler James, kurz bevor er den Tigerfellkopf malträtiert, und schwang eine Dose Billigbier, die in der hinteren Ecke des Küchenoberschranks versteckt gewesen war. Welcher Vormieter sie auch immer dort deponiert hatte, sie war ihm enormen Dank schuldig.

Sie brauchte das Geld. So einfach war es. Ihr Kontostand verhielt sich besorgniserregend. So, als ob es nach einer Ebbe keine Flut mehr gäbe. Als ob das Meer keinen Drang verspürte, zum Strand zurückzukehren. Und sie konnte sich selbst eine dumme Nuss schimpfen, sich Vorhaltungen machen und an ihr Gewissen appellieren – Fakt war, dass sie ohne einen Job nicht über die nächsten drei Monate kam. Zumal sie momentan keinen hatte. Und bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad durch die Straßen zu radeln und Wurfsendungen oder die Tageszeitung in Briefkastenschlitze zu stopfen – denn dies war der einzige Broterwerb, den ihr die überarbeitete Dame der Arbeitsagentur auf die Schnelle in Aussicht gestellt hatte: Selbst dieser Job war nun ins Off gerückt. Falsch. Er war vom Tisch gefallen und unter das Sofa gerutscht. So weit nach hinten, dass man auch mit einem ausgeklappten Meterstab nicht mehr herankam.

Das Dosenbier gefährlich wackelig auf den Knien jonglierend und in die weichen, angemieteten Kissen des ledernen, Sofas versunken, dachte Lioba nach.

Horgenzell war ein Spatzenhirn, aber sie würde ihn sicherlich selten zu Gesicht bekommen. Alles sollte über diesen Lothar Bonlander laufen, das untergewichtige, überhebliche Bürschchen, das auf sie auch keinen besseren Eindruck gemacht hatte. Mit einem vernichtenden Blick, der besagte, dass er nicht viel von ihr hielt, hatte er sie begafft. Aber mit diesem Trottel würde sie zurechtkommen. Dem war sie intellektuell turmhoch überlegen. Sie hatte einen Doktortitel, er machte den Anschein, als gehe er noch in die Vorschule. Obwohl er sich erstaunlich eloquent ausgedrückt hatte, vermutete Lioba, dass er bei jedem Gespräch auswendig gelernte Phrasen abspulte. Den würde sie in den Sack stecken, wenn es nötig wäre.

»Der Job ist doch gar nicht so übel, Schätzchen«, nuschelte sie und stellte entsetzt und gleichzeitig enttäuscht fest, dass sie die Dose Bier schon leergetrunken hatte. Ihr Alkoholkonsum an diesem Abend war verbrieft besorgniserregend. »Gar nicht so übel.«

Irgendwas im Labor. Wissenschaft lag ihr. Professoren lagen ihr. Schließlich hatte sie einige Jahre ihrer Lebenszeit an der Uni verbracht und auch im Institut geholfen. Sie wusste, wie die Typen in ihren Elfenbeintürmen tickten. Diesen Hendricks, oder wie der noch gleich hieß, würde sie ohne große Anstrengung im Auge behalten können. Wenn man darüber nachdachte, dann war ihr sogar eine leitende Funktion angeboten worden. Mitarbeiterbeurteilung war ein wichtiger Bestandteil innerhalb der Organisation eines Betriebes. Mit dieser Aufgabe würde sie ihren nicht unbeträchtlichen Teil zur Qualitätssicherung beitragen.

Die Dose fiel ihr vom Schoß, und sie sank befriedigt in die Waagerechte.

Den letzten Gedanken, den sie hatte, war, dass sie jeden Cent wert war, den dieser geile Horgenzell für sie springen ließ.

1Frauen in einer Führungsposition oder als Teilhaberin einer Firma – selten genug. Die Väter ersparen sich aber einiges: das überzogene Konkurrenzdenken, den eitlen Hahnenkampf, Pisswettbewerbe und die Entmachtung durch einen jüngeren Mann. Patriarchen sollten über diese Faktoren einmal nachdenken.

Hell Bloody Hell

Ungeduldig zerrte David an dem bockenden Brustgurt des Fahrersitzes. Er war nervös. Supernervös. Seine Beine wollten nicht stillhalten.

Als Fran ihm vor einem Monat mit vor Freude glänzenden Augen eröffnet hatte, dass sie beide ein langes Wochenende im Schönbuch verbringen würden, nein mussten, weil ihre beste Freundin Mascha in den Stand der Ehe eintrat, hatte seine Laune die Fahrt in einem ungebremsten Lift in die Tiefe unternommen. Für ihn war in dieser Sache kein Hintertürchen vorgesehen, denn er, der Angetraute der Brautjungfer, hatte auf jeden Fall auch anwesend zu sein. Zwei ganze Tage würden sie sich dort aufhalten, wo die Natur enthemmt ihren Lauf nahm. Hohes nicht gemähtes Gras, treibende Knospen, wild wachsende Sträucher – ein Summen und Brummen, Krabbeln und Kriechen. Das, was Franziska als »Romantik pur« bezeichnete. Ihre Freundin Mascha, die David nur ein oder zwei Mal gesehen hatte, sah das gewiss ebenso, ansonsten hätte sie es vorgezogen, im örtlichen Rathaus in einem dieser penibel geputzten Räume ohne Zimmerpflanzen zu heiraten und nicht unter freiem Himmel.

David konnte das Szenario vor seinem geistigen Auge schon sehen: Der ehrenamtliche Pfarrer, wahrscheinlich in Cordhosen und legerem Karohemd, stand nahe eines Baums, an dessen Äste bunte Bänder geknüpft waren, die lustig im Wind flatterten, und nudelte mit salbungsvoller Stimme abgedroschene Glückskekssprüche herunter, während unter den Füßen und über den Köpfen der geladenen Gäste das Insektenreich den Angriff vorbereitete.

Seitdem war es ihm nicht gelungen, seine Gemütslage auf Erdgeschossniveau anzuheben.

Vier Tage in der Pampa – Fran wusste nicht, was sie ihm damit antat.

Seit sie es ihm gesagt hatte, litt er wieder unter diesen Träumen. Er – Auge in Auge mit einem Insekt, das auf dem Kopfkissen direkt neben seiner Nase saß und sich die Antennen putzte. David konnte förmlich spüren, wie sich die kleinen starken Mandibeln, die Mundwerkzeuge, in seinen Kopf bohrten und sein Gehirn zerkleinerten. Wie fahle Würmer unter der Bettdecke an seiner Haut knabberten, bis die Stelle dort groß genug geworden war, um hineinzuschlüpfen. Er fühlte, wie sie sich in ihm fortbewegten. Wie sich ihre Körper knapp unterhalb der Oberfläche seiner Epidermis wanden und schlängelten. Er konnte ihre Bewegungen sehen.

David kannte jedes Insekt in- und auswendig. War imstande, jegliche Körperteile zu beschreiben. Alle lateinischen Bezeichnungen hatte er verinnerlicht. Seinen Feind zu kennen – das war das Ziel gewesen! Stunden hatte er mit den einschlägigen Enzyklopädien verbracht. Sich unter Qualen Dokumentarfilme angesehen, von denen er sich eine Art Heilung versprach. Oder zumindest eine Besserung der Symptome. So wie sich Menschen mit Höhenangst immer wieder mal auf einen Aussichtsturm wagten, so hatte er sich die Viecher vorgenommen.

Die ganze Mühe war umsonst gewesen. Die Angst und die Albträume waren geblieben. Aber immerhin konnte er jetzt mehr oder weniger alles beim Namen nennen, was kreuchte und fleuchte.

Was für ein Erfolg, sinnierte er bitter.

Das Grüne! Warum gaben sich die Menschen nicht in einem Luftschutzkeller das Eheversprechen?

»Herrgott, David! Ich dachte, du hättest das Auto vorher noch gesaugt!« Franziska bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Hab’ ich doch auch«, versuchte sich David zu verteidigen.

»Und warum liegt hier auf dem Boden ein alter Kaugummi?«

»Das kann nicht sein. Du weißt, wie empfindlich ich gegenüber Abfall bin. Was suchst du denn überhaupt?«

Statt ihrem Mann eine Antwort zu geben, drehte Franziska noch einmal den Kopf und spähte in eine große Tasche zwischen Rückbank und Fußraum des Wagens. »Hast du ihn mitgenommen? Ich sehe ihn nicht. Er müsste hier drin sein.«

»Himmel … Wen? Von was sprichst du eigentlich die ganze Zeit?«

»Hörst du mir überhaupt zu? Vom Föhn! Ich spreche von meinem Föhn. Er lag auf dem Bett. Ich hab’ dir das doch gesagt! Du erinnerst dich?«

Das war der Gipfel. Nachdem er den Kampf gegen den Brustgurt gewonnen hatte, waren sie losgefahren. Er hatte so gezittert, dass es ihm schwergefallen war, das Gaspedal herunterzudrücken. Und jetzt: Zehn Minuten, nur zehn lächerliche Minuten auf der Straße, und sie steckten schon wieder mittendrin in einer dieser bescheuerten, unnötigen Diskussionen.

David warf einen hektischen Blick in den Rückspiegel, setzte den Blinker und lenkte das Auto schnell auf die linke Spur. Aus den Augenwinkeln sah er den Fahrer eines Milchtrucks, den sie überholten, als sie sich in die Blechkolonne auf der Bundesstraße in Richtung Tübingen einreihten. Der Trucker erweckte den beneidenswerten Anschein, als wäre er die Ruhe selbst.

»Nein, den habe ich nicht eingepackt.« David atmete durch, versuchte, zur Attacke blasende Ameisen von seiner inneren Leinwand zu verbannen, und wappnete sich schon gegen den nächsten verbalen Angriff. »Habe ich vergessen, sorry.« Er starrte auf die Straße. »Kann ja mal vorkommen.«

»Kann ja mal vorkommen? Wie kann das mal vorkommen?« Franziskas Stimme rutschte in eine unangenehm hohe Tonlage. »Ich habe dich extra darum gebeten! Extra! Die Haartrockner in diesen Pensionen sind doch alle Mist!«

David sah ihre Schultern zucken und beschloss, seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Fahrbahn zu richten und zusätzlich zu Frans Emotionen auch die Nachmittagssonne zu ignorieren, die die Umgebung in goldenes Licht tauchte. Er zog den Blendschutz weiter herunter.

Steigere dich nicht hinein, Fran! Nicht jetzt! Ich bin angespannt genug. Es ist nur ein verfluchter Föhn!

Sie fuhr sich mit einer hektischen Handbewegung über den Mund, als wolle sie verhindern, dass der Rest ihrer Worte hörbar wurde. »Immer der gleiche …«, murmelte sie schniefend gegen das Brummen des Diesels.

»Ich war mit dem restlichen Gepäck beschäftigt. Fran, wir sind nur ein Wochenende weg, deine Haare sehen sensationell aus!« David versuchte, so viel Begeisterung wie möglich in diesen Satz zu legen.

Sie fuhr herum. »Ich bin Brautjungfer auf der Hochzeit meiner besten Freundin. Ich muss mehr als sensationell aussehen! Ich muss perfekt sein! Warum begreifst du nicht, wie wichtig das für mich ist? Das wird eine enorm aufwendige Feier! Mit allem Drum und Dran! Ihr Vater ist ein hohes Tier bei irgend so einer Pharmafirma, der investiert ein Vermögen in das Glück seiner Tochter. Da kann die Brautjungfer nicht rumlaufen wie ein alter Besen.« Sie biss sich auf die Unterlippe, wandte sich wieder ab, und David konnte geradezu durch ihren Hinterkopf hindurch sehen, wie sie provokativ das Beifahrerfenster fixierte.

Er seufzte leise. Von wegen alter Besen. Auch wenn Fran morgens schlaftrunken nur in Slip und dem Männer-Unterhemd, das ihr zwei Nummern zu groß war, ins Bad torkelte, sah sie aus wie Gwyneth Paltrow. Wozu brauchte man einen Föhn, um seine Haare nachträglich so zu stylen, dass man den Eindruck erweckte, als sei man in diesem Moment erst aus dem Bett gestiegen? Dann kämmte man sich morgens eben einfach nicht. Ließ alles, wie es war. Wie hieß das noch gleich? Casual Look? Schwachsinn! Außerdem waren das Peanuts im Vergleich zu seinem eigenen Problem. Er saß hinterm Scheiß-Steuer und musste diese Scheiß-Karre in das Scheiß-Grün fahren, in das er verdammt noch mal gar nicht hinwollte!

Das Zusammenleben mit ihm war schwierig für Fran, David wusste das. Er war schwierig, aber …

Du musst dich zusammenreißen, David, das bringt alles nichts.

»Schatz, leih dir doch einen Föhn von einem der anderen Gäste aus. Es sind sicherlich viele Leute da, die du kennst.« Ein letzter Versuch.

Aber Franziska war nicht so leicht zu besänftigen.

»Die haben den Aufsatz nicht«, grollte sie. »Ohne das Zusatzteil geht das nicht. Wie kannst du nur so unsensibel sein? Du hättest dran denken müssen. Die Köderdosen hast du sicherlich eingesteckt. Hast du doch, oder? Die sind ja immer dabei. Immer! Das Moskitonetz auch. Ich hab’ gesehen, wie du das eingepackt hast. Es geht immer nur um deine Bedürfnisse. Aber wenn ich dich einmal um was bitte … Kannst du auch irgendwann an das denken, was mir wichtig ist?« Ihre Stimme schwoll kurz an und erstarb dann beinahe. »Nur ein einziges Mal?«

»Franziska …«

»Kannst du?« Sie schien mit der Fensterscheibe zu sprechen. David konnte sie mehr schlecht als recht hören. Er konzentrierte sich darauf, die immer noch zitternden Knie zu kontrollieren. Insekten schwärmten vor seinem geistigen Auge aus. Krochen über weiße Tischdecken und blaue Servietten.

»Kannst du das?« Kaum mehr als ein Flüstern. Sie schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände vor der Brust. »Alles dreht sich um dich. Was ist mit mir? Diese verdammten Krabbelviecher ruinieren unsere Ehe. Ist dir das klar?«

Diese verdammten Krabbelviecher waren der verschissenste Teil seines Lebens. Wie konnte ihm das nicht klar sein? Er wollte die Augen schließen. Das Steuer loslassen.

»Fran …«, begann er.

»Lass mich doch in Ruhe.« Sie drehte den Oberkörper von ihm weg und lehnte sich an die Beifahrertür. Der Gurt rieb an ihrem Hals. »Kaputt. Das macht uns alles kaputt«, flüsterte sie.

Der Zeigefinger Gottes

»Bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren, Frau Wagner. Wo könnte das Fahrzeug abgeblieben sein? Wo könnte es stehen?« Kriminalkommissar Erik Deckert sah stirnrunzelnd zu der jungen Frau hinunter, die sich einfach mitten auf den Asphalt gesetzt hatte. Sie hielt den Kopf in den Händen, und ihre Schultern zitterten. »Es gibt zwar entsprechende Reifenspuren, aber diese könnten auch von einem anderen Auto stammen. Momentan wissen wir das noch nicht. Sind Sie absolut sicher, dass sich der Unfall hier ereignet hat?«

Deckerts Knie knackten, als er neben ihr in die Hocke ging. Seine Augen folgten den schwarzen, durchbrochenen Streifen, die quer über die Fahrbahn in Richtung Böschung führten. Dann blickte er auf den Vorhang aus blonden Haaren, der das Gesicht der Frau völlig bedeckte. »Frau Wagner, ich bin sicher, dass Sie in einen Autounfall verwickelt waren. Sie hatten Glück, dass Sie mit ein paar Prellungen davongekommen sind, aber versuchen Sie mich bitte zu verstehen. Hier ist nichts. Wir haben auch in der Zwischenzeit keine Informationen darüber erhalten, dass ein stark beschädigter Ford von einer der nahegelegenen Werkstätten abgeschleppt wurde und«, er zögerte, »tut mir leid – keinerlei Spuren von Ihrem Mann.«

Das Zittern, welches die schmale Gestalt neben ihm durchlief, nahm an Intensität zu. Ein Schluchzen drang hinter den Händen hervor.

»Frau Wagner, ich kann mich nur wieder entschuldigen, aber ich muss bedauerlicherweise darauf bestehen, dass Sie sich den Vorfall noch einmal vor Augen führen. Denkbar, dass wir hier an der falschen Stelle sind.« Deckert richtete seinen langen Körper auf und ging ein paar Schritte auf den Abhang zu. Vor ihm schälte sich die Silhouette der mittelalterlichen Zisterzienserkirche Bebenhausens aus dem Blau.

Der Zeigefinger Gottes2, dachte er. Reckt sich mahnend nach oben.

Der hochgotische Turm ragte wie ein angespitzter Bleistift in den Himmel. Als zuverlässiger Richtungsweiser taugte er Deckert im Moment jedoch nicht.

Die Vormittagssonne tränkte die Abtei in glänzendes Licht. Ein Bild des Friedens und der Besinnung. Und hinter Deckert saß ein weinendes Häuflein Mensch auf dem nackten Asphalt. Verwirrt, alleine, scheinbar verlassen und vollkommen verstört. Dabei sollte dieser Mensch jetzt genau neben dieser Kirche stehen. Franziska mit David Wagner. Bestimmt wären die beiden hineingegangen. Wer verbringt denn ein paar Tage in einem Hotel nahe einem der schönsten Zisterzienserklöster Deutschlands und wirft keinen Blick in das Innere? Die Abtei hatte eine bewegte Geschichte hinter sich und war nicht nur im Mittelalter wirtschaftlich äußerst erfolgreich – eine Zeit lang hatten dort die reichsten Mönche im Süden des Landes gelebt, auch die Herzöge von Württemberg waren von der Lage und den Glanzleistungen gotischer Architektur sehr angetan. Wilhelm II., letzter König von Württemberg, hatte zusammen mit seiner Gattin das Kloster sogar zu seinem bevorzugten Wohnsitz erklärt.

Franziska und David Wagner waren auf dem Weg zur Hochzeit von Frau Wagners bester Freundin gewesen. Mascha Horgenzell hieß die junge Frau. So, wie es aussah, benötigte die Braut nun eine neue Jungfer. Unter den Umständen nahm Frau Wagner an den Feierlichkeiten natürlich nicht teil. Deckert glaubte zwar nicht an göttliche Vorsehung, aber – war das hier nicht ein schlechtes Vorzeichen für eine Ehe, die noch nicht einmal begonnen hatte?

Der Kriminalkommissar schloss die Augen und atmete tief durch. Sein Tag hatte nicht übel angefangen. Keine Anrufe, bei denen es sich ohnehin immer um Petitessen handelte, hatten ihn in der Nacht aus dem Bett getrieben, und zum ersten Mal seit Langem hatte er wieder durchgeschlafen. Trotzdem war er früh aufgewacht und hatte vom Schlafzimmer aus den roten Morgenhimmel betrachtet, der seine Farbschattierung ständig zu wechseln schien. Erstaunt hatte er festgestellt, dass er sich an den Anblick der leeren Betthälfte neben sich gewöhnt hatte. Dass er Christines kupferne Locken nicht mehr vermisste, die noch vor ein paar Monaten wie ein Fächer über das Kissen gefallen waren. Dass er kein Interesse daran hatte zu wissen, wo sie jetzt wohnte – und vor allem mit wem.

Das üppige Frühstück, das er sich heute Morgen in einem Studenten-Café in der Nähe seiner kleinen Wohnung in der Tübinger Altstadt gegönnt hatte, hatte einen wunderbaren Beitrag zur weiteren Entspannung geleistet. Das Rührei war saftig, die Brötchen waren etwas warm gewesen, sodass die leicht salzige Butter darauf verlief. Ein tadelloser Anfang. Bis ihn der Anruf aus der Zentrale in seiner Beinahe-Beseeltheit unterbrochen hatte. Er hatte es gerade noch geschafft, den Kaffee auszutrinken und die neue Kollegin zu bitten, die Sache erst einmal für sich zu behalten. Dafür gab es Gründe. Seinen Vorgesetzten konnte er auch später informieren. Irgendwann. Streit war so oder so vorprogrammiert.

Der Kriminalkommissar riss sich von seinen Gedanken los und wandte sich mit bemüht sanfter Stimme wieder dem Häuflein Elend zu. »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass ein Wagen an diesem Punkt das Gebüsch durchbrochen hat. Um wie viel Uhr, glauben Sie, hat sich der Unfall ereignet?« Es fiel ihm schwer, die Nerven zu behalten. Das war der totale Gegenpol zu lockerem Rührei und fruchtiger Marmelade. Und keine Anhaltspunkte.

»Ich weiß nicht genau«, murmelte sie leise und starrte auf den Boden. »Vielleicht so gegen fünf Uhr nachmittags?« Dann sah sie ihn an. »Ist Ihnen klar, dass ich die ganze Nacht hier draußen war? Mutterseelenallein? Und möglicherweise war ich die gesamte Zeit nicht bei Bewusstsein, sonst hätte ich doch jemanden verständigt. Ich hätte alle Hebel in Bewegung gesetzt. Glauben Sie, ich übernachte freiwillig neben der Landstraße?« Ihre Stimme zitterte vor Sorge und Angst. Jetzt erst konnte Deckert sehen, wie attraktiv sie war. »Ich mag gar nicht dran denken, was da alles hätte passieren können. David ist weg, der Himmel weiß wo, und vielleicht ist da noch jemand in der Nähe, war es die ganze Zeit und der wartet nur darauf, dass …« Sie brach ab.

Deckert nickte verständnisvoll. »Tut mir sehr leid«, brummte er und versuchte dabei fürsorglich zu klingen.

»Wir haben uns gestritten«, schluchzte sie. »Über einen Föhn. Einen gottverdammten Föhn!«

Nervös fuhr er sich durchs Haar und wünschte, sie hätte die letzten Sätze nicht gesagt. Ein Tatort war das eine. Er wusste damit umzugehen, auch wenn es bis jetzt keine Anhaltspunkte gab. Das war sein Job. Schon länger, als er denken konnte. Trauerberatung oder eine andere Art von psychologischer Unterstützung hatte er jedoch nie anbieten können. »Ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben, Frau Wagner«, spulte er den einstudierten Satz ab. »Aber jetzt sind wir ja da. Und wir suchen. Wenn Sie uns nur noch ein paar Fragen beantworten würden – dann lassen wir Sie erst einmal in Ruhe, und der Kollege vom Rettungsdienst wird sich um Sie kümmern.«

Er wandte sich zu den Sanitätern, die geduldig auf ihren Einsatz warteten. Deckert hatte ihnen bis jetzt zu verstehen gegeben, dass er allein mit Frau Wagner reden wollte. Allem Anschein nach fehlte ihr ja auch nichts, außer den Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Nacht. In dieser Beziehung standen sie hier im Nirgendwo, gestrandet auf Asphalt und wussten nicht, wo sie anfangen sollten. Deckert richtete noch einmal den Blick auf den Kirchturm.

Die ihm zugetanen Kollegen von der Spurensicherung waren mit ihrer Ausrüstung schon vor einer halben Stunde aufgebrochen, um die L 1208 und das Drumherum abzugrasen. Der Leiter des Teams, ein langjähriger Freund des Kommissars, der ebenso wie Deckert gerne einmal den einen oder anderen Dienstweg abkürzte oder überhaupt nicht nahm, konnte bis jetzt nicht vermelden, dass man in irgendeiner Weise einen Erfolg vorzuweisen hatte. Ziemlich frustrierend.

Ein solcher Fall war Deckert in seiner über 20-jährigen Laufbahn noch nie untergekommen. Natürlich ließ sich die Verstörtheit von Unfallopfern erklären, sie standen unter Schock und konnten das Geschehen aus diesem Grund oftmals nie lückenlos rekapitulieren, trotzdem kam hier offensichtlich etwas anderes hinzu. Was die Sache nebulös machte, war die Abwesenheit des Ehemannes. Scheinbar hatte sich eine Person entmaterialisiert. Aber warum hätte David Wagner nach einer Kollision aus dem eigenen Wagen kriechen, seine Frau im Stich lassen und sich klammheimlich aus dem Staub machen sollen? Wenn das eine neue Spielart war, eine Ehe zu beenden, dann benötigte man dazu eine Menge krimineller Energie. Zudem hätte David Wagner bei diesem Unterfangen selbst getötet werden können. Und vor allem: Wo war das Auto hin, verdammt?

Nichts ergab einen Sinn.

Das kleine Team, das er ohne Wissen seines Vorgesetzten um sich geschart hatte, konnte im Umkreis nirgends Blut entdecken. Nirgendwo. Was war hier geschehen?

Sie standen am falschen Ort. Das musste es sein. Franziska Wagner war herumgeirrt, hatte sich verlaufen. Unter Schock war sie völlig desorientiert durch die Gegend gestolpert.

Oder bei ihr ist eine Schraube locker.

Aber so wirkte sie nicht.

Er betrachtete ein letztes Mal den göttlichen Zeigefinger. Dann ging er zurück zum Einsatzwagen und schnappte sich das Smartphone vom Beifahrersitz.

2Wenn Sie beim »Zeigefinger Gottes« an das augenfällige Zentrum von Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle denken oder etwa die Seherin Conchita Gonzales und ihr Internetsprachrohr, den Amerikaner Glenn Hudson, vor Augen haben, deren vermeintliche Enthüllungen über den geheimnisvollen Plan des Allmächtigen das Web verstopfen, so liegen Sie hier falsch.

Willkommen in der Corporation

Als David aufwachte, spürte er eine unangenehm kalte Fläche unter seinem Rücken. Eisig und hart. Er schien auf einem Tisch zu liegen, dessen Oberfläche sich wie Metall anfühlte. Ein OP-Tisch? Was war passiert, und warum lag er hier? Und wo war hier? Wo war das Licht, aus welchem Grund war es so verdammt dunkel? War etwa die Narkose schiefgegangen?Großer Gott, bitte alles, nur das nicht!

Ihm schossen Bilder aus diversen Hollywoodstreifen durch den Kopf. Horrorfilme über nicht korrekt anästhesierte Patienten, die während einer Operation aufwachten, unfähig, sich bemerkbar zu machen, aber jede Kleinigkeit mitbekamen, den Schmerz spürten, wenn das Skalpell ihr Fleisch durchtrennte. Schreien wollten, allerdings nicht konnten. Und denen keine Erlösung durch eine Ohnmacht gewährt wurde. Bitte, bitte nicht! Ein Alptraum! Nicht diese Autopsieschere, mit der sie dich aufschneiden wie einen Truthahn!

Aber er hörte keine Stimmen, keine anderen Geräusche. Kein Klappern von OP-Besteck, welches die Schwester vorbereitete – nichts. Und doch war er bewegungsunfähig. Weder den Kopf noch den Rest des Körpers konnte er drehen. Er spürte nur die furchtbare Kälte unter sich, die sich langsam durch sein T-Shirt in seinen Kreislauf fraß, wie Eis in ein Stück Fleisch im Tiefkühlfach.

Wo zum Teufel war er? Und wo war Franziska? War sie etwa auch hier?

Es dauerte lange, bis er imstande war, ein Wort zu formen. Seine Zunge fühlte sich hart und schwer an und lag wie ein toter Fisch in seinem Mund. Erst schleppte sie sich mühselig in der Mundhöhle herum, dann endlich wurde sie etwas beweglicher.

»Fran?«, flüsterte er schwerfällig, aber die Dunkelheit schien seine Stimme aufzusaugen.

»Fran, bist du hier?«, krächzte er.

Dann hörte er das Rascheln. Ein Geräusch wie von einem Lebewesen. Einem ungeduldigen Tier. David versuchte angestrengt den Kopf, der wie in einer Schraubzwinge eingespannt da lag, zu drehen. Umsonst. Besorgt lauschte er und war bemüht herauszufinden, woher dieser deutlich vernehmbare Laut kam. Ein Kratzen. Beständiges Kratzen. Es schien überall zu sein, und inzwischen klang es nicht mehr, als ob es von einer Quelle stammte, sondern von vielen. Zahllose Tiere? Kleine Tiere? Sehr kleine Tiere? Krabbelnde winzige Scheusale, die auf was warteten? Und – warum?

Die Panik war sofort da. Nicht einmal nach einem seiner typischen Albträume war er mit einem solchen Krampf im Bauch aufgewacht. Als ob sich die Organe nach innen stülpten und sich dabei entleerten. Eine Faust packte seinen Darm und zerquetschte ihn.

Wild an den nicht sichtbaren Bandagen zerrend, versuchte er sich aufzurichten. Aber er bewegte sich kein Jota. Und um ihn herum nur Dunkelheit.

Ein unbeweglicher Körper in einem Grab.

Ich bin doch nicht – tot? Also, ich meine, so kann das ja nicht sein? Ich kann sprechen, ich atme, mein Brustkorb hebt und senkt sich vor Angst, meine Lungen bersten, mein Darm möchte sich entleeren. Ich kann nicht tot sein, verdammt! Ich fühle! Ich habe eine Scheißangst!

Er probierte, gleichmäßig Luft zu holen. Atmete in den Bauch ein, atmete in den Bauch aus. Versuchte, die Lage einzuschätzen. Seine Gedanken zu sammeln. An was konnte er sich noch erinnern?

Ich wurde aus dem Ford gezerrt. Er besann sich dunkel. Das Auto … Wir hatten einen Unfall. Es hatte sich überschlagen. Oder nicht?

Befand er sich doch in einem Krankenhaus, in einem Untersuchungsraum, und die verlorene Körperkontrolle war das Resultat seiner Verletzungen? Großer Gott – war er etwa gelähmt? Lag Fran im Nebenzimmer? Wie ging es ihr?

Konzentrier dich, David! Versuch dich zu erinnern! Was ist geschehen, verdammt noch mal?

Nach dem dämlichen Streit hatten sie sich lange Zeit angeschwiegen. Die Sonne brannte durch die Scheiben des Wagens, und nachdem David die Bundesstraße verlassen und die L 1208 durch den bewaldeten Schönbuch3 genommen hatte, eine der wenigen Straßen, die den Naturpark erschloss, war Franziska auf dem Beifahrersitz neben ihm eingeschlafen.

Plötzlich war die Gestalt wie aus dem Nirgendwo auf der Landstraße aufgetaucht. David hatte sie vorher nicht gesehen, obwohl seine volle Konzentration ausschließlich der Route gegolten hatte. Er wollte an nichts anderes denken als daran, stur den Wagen zu fahren. Selbst der Naturpark, für den er – aus sicherer Entfernung und in der Geborgenheit des Wagens – immer eine Schwäche gehabt hatte, war wie schmückendes Beiwerk unbeachtet an ihm vorbeigezogen.

Auf dem Asphalt hatte etwas gestanden, vielleicht etwas Menschliches, etwas, das im Bruchteil einer Sekunde wie durch eine unsichtbare Tür auf die Fahrbahn getreten war. David erinnerte sich, wie er das Bremspedal voll durchgedrückt und den Lenker nach rechts gerissen hatte und wie die Umrisse vor dem Kühler des Wagens immer größer geworden waren, als sich der Ford diesem Etwas mit hoher Geschwindigkeit näherte. Verschwommen sah er das weiße, leicht unförmige Objekt vor sich, nicht wirklich Mensch, aber auch kein größeres Tier, das aus dem Naturpark auf die Straße gesprungen sein konnte. Zwei Beine. Er konnte nicht sagen, was es war oder wo es herkam, konnte sich nur daran erinnern, wie der Wagen ausgebrochen und von der Fahrbahn abgekommen war. Unaufhaltsam hatte der Ford die Böschung angesteuert und dann – nur noch die wirre Wahrnehmung der sich drehenden Kabine, sein Kopf, der an die Wagendecke stieß, seine Schreie, sein Versuch, Franziska zu schützen … und, als er irgendwann später wieder zu sich gekommen war, das Gefühl, wie starke Hände oder etwas, was sich wie Hände anfühlte, seinen Oberkörper umfassten und aus dem Fahrersitz hoben. Wie sie ihn von Fran wegtrugen, die immer noch angegurtet im Beifahrersitz hing.

An mehr erinnerte sich David nicht.

Das kratzende Geräusch im Raum wurde intensiver. Bestimmt nur ein Heizungsrohr.

Es war nur ein Heizungsrohr!

Verdammt, wenn es nur nicht so dunkel wäre.

Normalerweise kam David gut ohne Licht aus. Als Morgenmuffel knipste er keine einzige Deckenlampe des Apartments an, nachdem er sich aus den Federn gequält hatte. Fran blieb immer noch eine halbe Stunde liegen. In der Zwischenzeit genoss er die Zeit des anbrechenden Tages. Schlurfte durch die von der aufgehenden Sonne nur schwach erleuchteten Zimmer, und duschte sogar, ohne das Licht im Bad anzuschalten. Er kannte ihr gemeinsames Heim in- und auswendig. Wusste, es war sicher. Keine Zimmerpflanzen, Insektennetze vor allen Fenstern, eine Putzfrau, die dreimal die Woche kam.

Nur für die Rasur betätigte er morgens den Schalter für die beiden kleinen Lampen, die seitlich neben dem Badezimmerspiegel befestigt waren. Er konnte schließlich nicht aus dem Haus gehen und aussehen, als ob er die Nacht auf Stacheldraht liegend verbracht hätte.

Aber die Düsternis jetzt – es war stockfinster. Absolute Schwärze. Und diese Schwärze vergrößerte seine Panik.

»Franziska? Hallo?« Wieder versuchte David vergeblich, sich aufzurichten. Ihm war inzwischen bitterkalt. Er hatte das Zittern seines Körpers kaum unter Kontrolle.

»Hallo!« Die Stimme schnappte über. »Hört mich jemand?«

Mit aufgerissenen Augen starrte David in die Dunkelheit. »Bitte!«, schrie er.

Verdammt, was war passiert?

Er musste hier weg.

*

»Ist er der Richtige?« Michael Kesslers krächzende Stimme stellte die Frage, als ob sie große Schwierigkeiten damit hätte, überhaupt etwas zu artikulieren. Er räusperte sich umständlich.

Im Überwachungslabor herrschte eine Eiseskälte. War die Heizungsanlage ausgefallen oder warum fing er plötzlich an zu zittern? Als er den Mund aufgemacht hatte, um zu sprechen, war es ihm vorgekommen, als müsse sich die Zunge erst wie ein festgefrorenes Stück Fleisch im Kühlfach vom Gaumen lösen.

Hendricks antwortete seinem Assistenten in sonorem, jedoch bestimmten Tonfall: »Warum ist dieser Sachverhalt für Sie ein Thema? Haben Sie etwa die Tests nicht ordnungsgemäß durchgeführt, Kessler?«

»Selbstverständlich.« Er zögerte. »Aber … nach dem, was beim letzten Mal während der entscheidenden Phase passiert ist … Wir waren uns vollkommen sicher, … und dann …«, sein Krächzen brach ab. Michael Kessler saß das Geschehen ständig in den Knochen. Und es würde für immer dort sitzen bleiben. Dort hocken und ihn unerwartet anspringen.

»Aus diesem Grund haben wir die Sicherheit ein weiteres Mal erhöht. Check, check und nochmals check. Es kann nichts mehr dazwischenkommen. Entspannen Sie mal.« Professor Hendricks trat aus dem Schatten an einen kleinen Tisch, der in der Mitte des Labors stand und auf dem sich Ausdrucke mit Zahlenkolonnen und andere Unterlagen stapelten. Er trug wie stets einen blütenweißen Laborkittel, in dessen Brusttasche ein Kugelschreiber steckte. »Die Blut- und Urinproben haben unsere Vermutung bestätigt«, fuhr er mit einem Blick auf ein Tablet, welches er in der Hand hielt, fort. »Die Elektroenzephalografie verlief ebenfalls befriedigend. Er ist der Richtige, seien Sie sich dessen versichert.« Nach diesen triumphierenden Worten legte Hendricks mit einem breiten Lächeln das Tablet neben eine Kaffeetasse, auf der zwei gelbe, sich überschneidende Kreise auf schwarzem Hintergrund abgebildet waren. Darüber war in großen weißen Lettern We amend – you grow zu lesen.

Derselbe Slogan prangte auf Kesslers T-Shirt. Besorgt griff der zur Tasse, räusperte sich erneut und führte sie dann an die Lippen. Er konnte das Zittern seiner Hand immer noch nicht kontrollieren, und ein dünner Faden brauner Flüssigkeit lief ihm den Mundwinkel herunter. »Mit allem nötigen Respekt, Professor Hendricks«, er wischte sich umständlich mit einem Taschentuch den Kaffee vom Kinn. »Aber das haben Sie letztes Mal ebenfalls gesagt.« Als ihn der starre Blick des Kollegen traf, fuhr er hastig fort: »Wenn wir die Untersuchungen diesmal jedoch wiederholt haben, und das haben wir ja, dann sollte ich mich vielleicht beruhigen. Aber ich will trotzdem ein weiteres Mal auf Nummer sicher gehen – Sie verstehen?«

Kessler versuchte, Hendricks abfälliges Schnauben hinter seinem Rücken auszublenden, als er sich setzte und in kurzer Abfolge verschiedene Zahlenkombinationen auf der Tastatur eingab. Auf dem Bildschirm des Laptops erschien die optische Darstellung etlicher chemischer Verbindungen. Nach ein paar weiteren Zahlenbefehlen drehten sich die Modelle, und neben ihnen wurden Strukturformeln sichtbar.

»Das sieht alles wirklich gut aus«, murmelte er mehr zu sich selbst und strich sich eine dunkle Haarsträhne aus den Augen, die gleich darauf wieder in ihre Ausgangsposition zurückrutschte.

»Das tut es.« Der Professor klopfte ihm mit aufgesetzt väterlicher Geste auf die Schulter. »Das tut es in der Tat.« Er nahm das Tablet wieder vom Tisch, drehte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Labor.

Kessler warf einen prüfenden Blick auf die sich drehenden Muster vor ihm, bevor er den Laptop schloss. Auf den Schriftzug seiner Kaffeetasse starrend, blieb er ein paar Minuten reglos sitzen. Dann stand er schwerfällig auf und trat zögernd zum venezianischen Spiegel, der sich vom Boden bis zur Decke erstreckte und den Blick in einen großen, dunklen Raum freigab, in dem schemenhaft ein Tisch zu erkennen war, der in der Mitte des Zimmers jenseits der Scheibe stand.

Der junge Wissenschaftler strich sein T-Shirt glatt, atmete tief durch und legte für einen Augenblick seine heiße Stirn auf die beruhigende Kälte der Scheibe. Dann holte er tief Luft und drückte auf einen Knopf, der in einem Schaltpult neben dem Glas eingelassen war.

»Willkommen, Herr Wagner, bei der Amendment Corporation«, leierte er mechanisch herunter. Es waren immer die gleichen Worte, nur die Namen wechselten. Kessler schwitzte und wischte sich mit dem Unterarm die Stirn. »Sie wurden aus vielen potenziellen Kandidaten für unser zukunftsweisendes Vorhaben ausgewählt. Bitte schätzen Sie sich glücklich, der Forschung auf diese Weise dienen zu können. Diese einmalige Chance wird Sie auf ewig in die akademischen Lehrbücher eingehen lassen. Seien Sie sicher, dass Ihre Hingabe nicht umsonst sein wird.«

Kessler ließ den Knopf los und lehnte sich, wie durch einen langen Fußmarsch durch sumpfiges Gebiet erschöpft, schweißüberströmt an die Wand. Dann drückte er die Taste ein weiteres Mal.

»Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Gott – wie er seinen Job inzwischen hasste! Er hatte sich das alles anders vorgestellt.

*

Nachdem der Lautsprecher knackend seine Tätigkeit eingestellt hatte, war David der festen Überzeugung, dass sich jemand einen Scherz mit ihm erlaubte. Einen äußerst makabren Ulk. Es überstieg seine Vorstellungskraft, wer auf die Idee kommen könnte, ihn in ein derart unheimliches Szenario zu verwickeln, aber was konnte es anderes sein? Ein wissenschaftliches Experiment? Das war doch ein Witz! Er lebte in Deutschland und nicht in irgendeinem totalitären Staat, in dem debile Diktatoren ihren Marionetten Pläne zur persönlichen Befriedigung eigener krankhafter Begierden vorlegten. Und dann dieser Schlusssatz: »Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Wenn er dazu in der Lage gewesen wäre, hätte er sich vor Lachen auf die Schenkel geklopft.

Er war es aber nicht.

David versuchte zum wiederholten Mal vergeblich, sich auf dem kalten Stahl aufzurichten. Das Rascheln und Zischen hatte inzwischen aufgehört, und er war sich nicht sicher, ob alles eventuell seiner Einbildung entsprungen war. In dieser Situation fantasierte man sich doch alles Mögliche zusammen! An die Schwärze konnten sich seine Augen immer noch nicht gewöhnen, und seinen Körper durchliefen weitere Kälteschauer. Die Beklemmung war einer Ungeduld gewichen. Einer Ungeduld, die ihn aggressiv machte. David spannte alle Muskeln an und schrie. Er presste den Laut tief aus dem Bauch hervor, spürte die Kontraktion des Zwerchfells und legte seine ganze Kraft in diesen gellenden Kampfschrei der Verzweiflung. Er konnte fast fühlen, wie der Ton von den Wänden abprallte und im Raum hin und her geschleudert wurde.

Nichts geschah.

*

»Hendricks! Sie sehen zufrieden aus, will ich meinen.«

Richter, ein kleiner Dicker mit Vollbart und einer veritabel tollkühn gebürsteten Halbglatze, griff sich einen Teller mit Käsekuchen von der Selbstbedienungstheke der firmeneigenen Cafeteria und stellte ihn klirrend zu einer dampfenden Tasse auf das Tablett. Die Bläschen des Milchschaums zerplatzten durch die Erschütterung. Er schien nicht zu bemerken, dass sein Cappuccino drohte aus dem Porzellanbecher zu hüpfen, und wandte sich wieder Hendricks zu, der neben ihm stand und mit gewichtiger Miene einen Streuselkuchen begutachtete.

»Was soll das heißen?«, fragte der Professor mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Nun ja«, stotterte der Wissenschaftler und stellte in einer Art Übersprunghandlung eine Apfeltorte neben den Käsekuchen. »Letztes Mal lief es ja nicht so besonders. Ich meine, das soll keine Kritik sein. Um Gottes willen, nein, wer wäre ich denn, wenn ich Sie kritisierte? Ich bitte Sie.« Er kicherte und stellte die Torte kopfschüttelnd zurück.

»Korrekt. Wer sind Sie denn? Aber Sie wissen ja, was der Volksmund sagt: ›Einsicht ist der erste Schritt …‹ und so weiter und so fort.« Hendricks nahm vom Streuselkuchen Abstand und drehte sich zu Richter um, dessen Bartspitze ihn nun beinahe am Adamsapfel kitzelte. »Um aber auf Ihre Frage zu antworten. Es läuft bestens, Kollege. Bestens!« Der Professor trat einen Schritt zurück. »Anscheinend ist der Käsekuchen genießbar, den nehmen Sie jeden Nachmittag pünktlich um 14.15 Uhr zu sich.«

»Was Ihnen alles auffällt. Nun, der ist tatsächlich ausgezeichnet. Wollen Sie mal kosten?« Richter steckte eine kleine Gabel in den Kuchen und brach ein Stück herunter.

»Sind Sie wahnsinnig! Wissen Sie, was da alles drin ist? Vom Zustand des Kantinenbestecks ganz zu schweigen. Grundgütiger, nein!« Hendricks verzog angewidert das Gesicht in eine Landschaft feiner Falten.

Die Innenausstattung der Cafeteria war Dr. Richter bei seinem ersten Besuch vorgekommen wie der feuchte Traum eines Möchte-Gern-Designers auf den bewegten Spuren seiner wahrhaft legendären Inspirationsquellen. Die schlecht imitierte Mischung aus Barbarella und Uhrwerk Orange hatte den Wissenschaftler schlichtweg umgehauen. Vor allem, nachdem der Rest des Gebäudes einen, dank des exzessiven Einsatzes der Farbe Weiß, schneeblind werden ließ. Zuerst hatte er pure Verzweiflung in sich gespürt angesichts der Tatsache, dass sich hier sein persönlicher Alb der eigenen, schon längst vergangenen Roaring Seventies zu wiederholen schien. Klaus Richter konnte das Design dieser Dekade inzwischen nicht mehr ertragen. Er hatte damit lange genug gelebt, die Orange- und Lila-Töne hatten sich während dieser Epoche in seine Netzhäute gebrannt, und er sowie der Rest der Gesellschaft hatten erst einige Zeit und etliche Gegenentwürfe später die Gelegenheit gehabt, sich von dem Zeitalter der Popkultur zu erholen. Dann aber war ihm aufgegangen, dass hier alles noch viel schlimmer war. Denn im Café der Amendment Corporation war der Innenarchitekt der runden, glitzernden Sprache des Weltraumstils erlegen, und das nicht etwa unter Einsatz der Originalstücke oder deren Replikate, sondern man bekam beim Anblick der Drahtgeflechtstühle, organisch wirkenden Sofas und der kugelförmigen Sessel, in denen man versank wie in monströsen Venusfliegenfallen, den Eindruck, dem Unternehmen sei das Geld auf den letzten Drücker ausgegangen. Was nicht stimmte, denn die Firma hatte Bares wie Heu. Hier hatte man jedoch üble Mimikry platziert, die einem jedes Mal, wenn man den Raum betrat, die Luft aus den Lungen presste. Matte Leichtmetallscheiben, die wie Girlanden von der Decke hingen, versuchten einzelne Sitzgruppen voneinander abzuteilen, und knallgrüne Plastikwände schirmten unzureichend Arbeitsbereiche ab, in denen der Wissenschaftler noch nie jemanden hatte sitzen sehen. Trotz seiner Abneigung dem Space Design gegenüber musste Richter zugeben, dass es anscheinend immer noch schlimmer ging. Und zwar, wenn ein Stümper versuchte, etwas zu kopieren, seinen Vorbildern aber in keiner Weise auch nur das kleinste Wassertröpfchen reichen konnte. Joe Colombo4 würde sich im Grab umdrehen. Mehrmals. Es war schlecht, schlecht, schlecht, und der einzige Grund, weswegen Richter immer zur gleichen Uhrzeit hierher kam, war der überraschend gute Kaffee und die herrlichen Backwaren. »Augen zu und durch«, hieß die Devise. Kommen, trinken, essen und weg. Wenn es erlaubt gewesen wäre, sein volles Tablett mit in die Labore zu nehmen, hätte sich in den Räumen der Cafeteria wahrscheinlich nur das Küchenpersonal aufgehalten.

Richter folgte Hendricks, sein Serviertablett auf den Händen balancierend, zu zwei freien Stühlen. Hendricks marschierte punktgenau und zielsicher durch den Saal, bis er vor einem Tisch anhielt, der gegenüber einem großen Aquarium stand, in welchem 15 Piranhas schwammen. Ein weiterer Design-Missgriff. Der Zusammenhang zwischen Kaffeepause und dieser Fischgattung aus der Familie der Sägesalmler erschloss sich, abgesehen vielleicht vom Innenarchitekten, keinem. Wenn es eine Kantine gewesen wäre und der Chefkoch ab und an einmal Sushi oder wenigstens Fischstäbchen serviert hätte – keine Einwände. Aber hier gab es Kaffee und Tee in allen Varianten und eine Menge kalorienhaltiger Naschereien.