Kill Order - Andrea Gunschera - E-Book

Kill Order E-Book

Andrea Gunschera

4,8

Beschreibung

Der Ex-PLO Kämpfer und ehemalige Auftragsmörder Nikolaj Fedorow hat sein altes Leben hinter sich gelassen. Zurückgezogen lebt er das Leben eines Malers und versucht sein altes Leben zu vergessen. Doch die Vergangenheit holt ihn ein, als der Mossad ihn aufspürt und sich für seinen letzten Auftrag interessiert - den spektakulär inszenierten Mord an einem jüdischen Politiker. Die Ermittlungen der israelischen Agenten bringen eine weitere Partei ins mörderische Spiel, die um jeden Preis zu verhindern sucht, dass Nikolaj dem Mossad lebend in die Hände fällt und Informationen über das Attentat und seine Hintergründe preisgibt. Als Carmen Arndt auf der Bildfläche erscheint, die Frau, die Nikolaj einst liebte und die er verraten hat, gerät die Situation außer Kontrolle.

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Kill Order

Andrea Gunschera

Copyright © 2013 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

'Das dunkle Fenster' beim Sieben Verlag.

ISBN-Taschenbuch: 978-3-864432-48-4

ISBN-eBook-PDF: 978-3-864432-49-1

ISBN-eBook-epub: 978-3-864432-50-7

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

Epilog

Nachwort

Die Autorin

Prolog

MünchenOstbahnhof | Januar 2001

E

s schneite so heftig, dass Nikolajs Fußspuren sofort wieder unter einer Schneedecke verschwanden. Dort, wo er gestürzt war, benetzte Blut den vereisten Asphalt. Schwer atmend ließ er sich gegen die Wand der Unterführung sinken. Es dauerte Minuten, bis die Schlieren vor seinen Augen sich lichteten. Das Getöse eines Zugs hoch über seinem Kopf brach in die nächtliche Stille, hallte von den Brückenmauern wider und brachte die Betondecke zum Schwingen. Dann, als sich das Quietschen in der Ferne verlor, sank weißes Schweigen zurück in die Nacht.

Er stieß sich von der Wand ab und schleppte sich weiter. Die Finger seiner rechten Hand waren klebrig vom Blut. Seine Schulter schmerzte nicht mehr, sondern fühlte sich taub an. Er wusste nicht, wie schlimm es war, wusste nur, dass er in kein Krankenhaus konnte, weil die Ärzte die Schussverletzung melden würden.

Den gestohlenen Wagen hatte er auf der anderen Seite des Münchner Ostbahnhofs zurückgelassen, in einem Wohnviertel mit winterbleichen Jugendstilfassaden. Die Wunde, die er in der Toilette einer Autobahnraststätte verbunden hatte, wollte nicht aufhören zu bluten. In seiner Manteltasche ruhte die Beretta M9, mit der er in Berlin zwei Menschen erschossen hatte. Er hätte das Ding längst loswerden müssen, doch in seinem Zustand wagte er es nicht, unbewaffnet herumzulaufen.

Ziellos drifteten seine Gedanken, glitten ins Leere und taumelten um die Frage, was schiefgelaufen war. Neben dem Gleisaufgang entdeckte er eine Telefonzelle. Ein Taxi bog in die Straße, die Scheinwerfer scharf umrissene Kegel im Schneetreiben. Geblendet kniff er die Augen zusammen. Er hoffte, dass der Wagen vorbeifahren würde, aber der gelbe Mercedes stoppte vor den Treppen. Der Fahrer schaltete sein Licht aus und ließ den Motor laufen.

Nikolaj wich ins Dunkel der Unterführung zurück. Er starrte auf die Kette kleiner Blutstropfen, die auf den Gehwegplatten zu frieren begannen. Mit etwas Glück hielt der Taxifahrer ihn für einen Betrunkenen und schenkte ihm keinen zweiten Blick. Doch das Blut war ein Problem. Er zog sich den Ärmel des Mantels über die Finger und schloss eine Faust darum, um die Tropfen mit der Hand aufzufangen. Zwei tiefe Atemzüge, dann hastete er über die Straße.

Das Innere der Telefonzelle stank nach Rauch und Urin. Der Hörer entglitt ihm beim ersten Versuch. Mit zitternden Fingern warf er Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer.

„Wo bist du?“, schnappte Francesco am anderen Ende der Leitung. „Die suchen mit Hundertschaften nach dir! Du hast Nerven, mich anzurufen!“

„München.“ Nikolaj hatte Mühe, die Silben aneinanderzureihen. Die Müdigkeit, die vom Blutverlust herrührte, kroch ihm wie Eisnebel die Glieder hinauf. „Ich brauche einen Unterschlupf.“

„Ich schicke dir jemanden. Wo finden sie dich?“

Er sagte es ihm. Draußen auf der Straße kam Bewegung ins Schneetreiben. Drei oder vier Silhouetten. Er versuchte durch die beschlagenen Scheiben zu erkennen, was vor sich ging. Er fühlte sich plötzlich sehr verletzlich. In der gut ausgeleuchteten Telefonzelle stand er wie auf dem Präsentierteller.

„Eine Stunde“, sagte Francesco.

Nikolaj drückte den Hörer zurück in die Halterung, doch verfehlte die Gabel. Plastik krachte gegen das Glas. Hastig stieß er die Tür auf und taumelte ins Freie. Schnee fegte ihm ins Gesicht. Die Silhouetten gehörten einer Gruppe Jugendlicher, die betrunken und kichernd im Aufgang zu den Gleisen verschwanden. Der Motor des Taxis lief immer noch.

Eine Stunde in der eisigen Kälte? Er spürte kaum mehr seine Finger. Ins Innere des Bahnhofs wagte er sich nicht. Nicht in seinem Zustand, und nicht mit den Kameras und den Nachtpatrouillen, die dort ihre Runden drehten. Er zwang sich weiter die Straße hinunter, bis zu einem umzäunten Sandplatz vor einer Industriehalle. Durch eine Lücke im Zaun schlüpfte er aufs Gelände und brach eines der parkenden Autos auf, einen alten Ford. Er ließ sich in den Fahrersitz sinken, schloss die Zündung kurz und lenkte den Wagen vom Hof. Nach zwanzig Minuten zielloser Fahrt über eisglatte Straßen parkte er im gleichen Wohngebiet, in dem er zuvor seinen Fluchtwagen abgestellt hatte, nur zwei Straßen entfernt. Aus den Lüftungsschlitzen drang warme Luft, die es ihm noch schwerer machte, die Augen offenzuhalten. Sein Bewusstsein wollte herabsinken in einen Tümpel aus Schwärze. Er schob den Fahrersitz zurück, knöpfte seinen Mantel auf und tastete nach dem Verband unter der blutverkrusteten Wolle. Schmerz ließ ihn zusammenzucken, als er gegen die Wunde drückte. Das Fleisch fühlte sich hart und fiebrig an.

Unvermittelt musste er an Anna denken. Er war sich sicher, dass die Kugel sie nur gestreift hatte. Ein Kratzer, der binnen Wochen verheilen würde. Trotzdem verspürte er Schuldgefühle. Es hätte nicht so enden dürfen. Am Telefon hatte Francesco ihn nicht nach ihr gefragt. Wahrscheinlich wusste er noch nichts von der Rolle, die seine Schwester bei dem Desaster gespielt hatte.

Die Minuten krochen dahin wie dickflüssiges Blei. Er starrte hinaus in die Nacht und kämpfte mit dem Schlaf. Als es endlich Zeit war, ließ er den Motor wieder an und fuhr zurück in die Straße hinter den Gleisen. Er stellte den Ford gute hundert Meter von den Treppen entfernt ab. Das Taxi parkte noch immer vor der Telefonzelle.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht trat er in die Unterführung. Als er die andere Seite erreichte, stachen Scheinwerfer durch den Vorhang aus Schneeflocken. Ein Wagen rollte von der Kreuzung her auf ihn zu. Francescos Leute?

Aus purem Instinkt fasste er nach der Pistole in der Manteltasche und schob mit dem Daumen die Sicherung zurück. Das Fahrzeug wurde langsamer und stoppte für eine Sekunde vor dem Gleisaufgang. Groß, dunkelblau, eckige Form. Ein Landrover Geländewagen. Der Schnee fiel inzwischen so dicht, dass Nikolaj kaum mehr Umrisse erkennen konnte. Mit der Hand an der Waffe löste er sich von der Wand und trat ins Freie.

Fast lautlos kamen sie neben ihm zum Stehen. Die Beifahrerscheibe glitt nach unten. „Schöne Grüße von Francesco“, sagte ein Mann, dessen Gesicht er nicht kannte. „Dawaj, steig ein.“ Er sprach russisch, ein Detail, das Nikolaj befremdete. Er hatte Francesco um Hilfe gebeten, nicht Viktor, und Francescos Leute waren Italiener.

Mit der blutverschmierten Hand öffnete er die hintere Tür. Sie waren zu dritt. Fahrer, Beifahrer und ein weiterer Kerl auf dem Rücksitz. Warum zu dritt, um ihn aufzusammeln? Anspannung erfasste ihn, ein innerer Ruck. Adrenalin drängte das Gefühl knochentiefer Erschöpfung zurück. Alle Geräusche, alle Farben und Formen schienen an Schärfe zu gewinnen. Er erfasste das winzige Zucken in der Wange des Mannes. Die Hand, die auf dem Polster lag, doch nicht so entspannt, wie es zuerst den Anschein hatte. Die Bewegung im Schatten des Fußraums, wo sich die zweite verbarg. Den Lichtreflex auf stumpfem Metall.

Er zog die eigene Waffe schon hoch, bevor sich ein bewusster Gedanke hinter seinen Schläfen formte. Der Schuss des anderen ging ins Leere, weil Nikolaj sich unvermittelt seitlich fortdrehte, den Rücken gegen das Blech gepresst. Zwei ... drei Kugeln schlugen in die gegenüberliegende Mauer, dann schwang er den Arm herum und feuerte blind ins Innere des Wagens. Er wusste nicht, ob er getroffen hatte, aber hörte Gebrüll und das Knirschen der Schaltung. Der Landrover schoss rückwärts, die offene Tür krachte ihm gegen die verletzte Schulter und riss ihn von den Füßen. Die Qual war überwältigend und ließ Übelkeit über ihn hinwegschwappten. Alles drehte sich. Er stieß gegen einen Abfallbehälter und dachte, dass er aufstehen musste, nur hoch und fort von hier. Viel zu langsam quälte er sich auf die Knie. Er drehte den Kopf und starrte direkt in die Scheinwerfer, die auf ihn zurasten. Geistesgegenwärtig warf er sich zur Seite, hinter den Mülleimer, der fest im Boden verankert war. Fest genug, um den Wagen aufzuhalten. Metall krachte auf Beton, ein trockener Knall. Etwas traf ihn an der Wange. Mit dem Rücken schob er sich an der Mauer hoch, nun beide Hände um den Griff der Pistole, und feuerte auf die Windschutzscheibe. Nach dem dritten Treffer zersplitterte das Glas. Der vierte erwischte den Fahrer, der versuchte, sich in Deckung zu ducken. Zu langsam.

Der Beifahrer war nirgends zu sehen.

Nikolaj ließ sich in die Knie sinken, hinter den Kühlergrill. Flocken verwirbelten im Scheinwerferstrahl. Er musste hier weg. Die Schüsse hatten mit Sicherheit die halbe Nachbarschaft geweckt. Wahrscheinlich rief der Taxifahrer in diesem Moment die Polizei.

Er hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung der Beifahrertür. Nichts geschah. Geduckt umrundete er den Kotflügel auf der anderen Seite. Die Fahrertür stand einen Spalt offen. Über seinem Kopf donnerte ein Zug in die betäubende Stille. Er zog die Tür ein Stück auf. Und dann ging alles rasend schnell.

Im Fußraum auf der Beifahrerseite entstand Bewegung. Er schwang sich hoch und feuerte drei Schüsse ins Dunkel, die im Poltern der Eisenräder untergingen. Ein Schrei flaute auf und erstarb abrupt. Er sah, wie eine Waffe hinab in den Schnee stürzte. Noch während er sich umdrehte, traf ihn ein schwerer Gegenstand am Hinterkopf. Er prallte mit der Stirn gegen die Dachkante des Wagens. Jemand umklammerte sein Handgelenk und entwand ihm die Beretta. Er bekam den Arm des anderen zu fassen und stieß ihn beiseite. Ein Schuss krachte, aber ging ins Leere. Die Explosion so dicht an seinem Ohr löschte für einen Moment alle anderen Geräusche aus. Finger rissen an seinem Shirt und tasteten nach seiner Kehle. Er rammte dem Mann ein Knie in den Unterleib, packte auch mit der zweiten Hand den Arm, verdrehte ihn. Ein Hieb in die Nieren trieb ihm die Tränen in die Augen. Doch er ließ nicht los. Er schleuderte seinen Gegner herum und stieß ihn rücklings gegen den Wagen. Er legte seine Finger über die Finger des anderen, presste sie auf den Abzug herunter, schob die Mündung mit einem Ruck noch weiter herum. Der Schuss explodierte so dicht an seinem Kopf, dass ihm die Ohren klingelten. Korditgeruch und das metallische Aroma von Blut stiegen ihm in die Nase. Der Mann rutschte zu Boden. Nikolaj entwand ihm die Waffe und machte einen Schritt zurück. Im abklingenden Rattern des Zuges glaubte er Polizeisirenen zu hören.

Er drehte sich um und lief mit weit ausgreifenden Schritten die Straße hinunter. Kein Mensch hielt ihn auf. Nur langsam sickerte ihm ins Bewusstsein, dass Francesco ihn aufs Kreuz gelegt hatte. Dass es niemanden gab, dem er jetzt noch trauen konnte. Dass er mit einer Schusswunde in der Schulter durch die Nacht taumelte, während die ganze Welt hinter ihm her war und seine eigenen Leute versuchten, ihn zu töten.

Er biss die Zähne aufeinander, bis es schmerzte. Alles, was ihn noch auf den Beinen hielt, war das Adrenalin. Er warf die Pistole auf den Beifahrersitz des gestohlenen Ford und ließ den Gurt einrasten. Während er um die Kurve in eine Seitenstraße rollte, sah er, wie zwei Polizeifahrzeuge in die Bahnhofsstraße bogen. Im Rückspiegel fleckte Blaulicht den Schnee.

Das Refugium

Das semitische Wort Qadisha bedeutet heilig – Wadi Qadisha heißt ‚Heiliges Tal’. Der Wadi Qadisha im Nordlibanon gilt seit alters her als Zufluchtsstätte für Verfolgte. Seit dem frühen Mittelalter versteckten sich Christen in den unzähligen Höhlen des Tals vor der Verfolgung durch Andersgläubige. Im Lauf der Jahrhunderte wurden zahlreiche Kapellen und Klöster an seinen Abhängen errichtet. Noch heute sind viele der heiligen Stätten von Mönchsgemeinschaften bewohnt.

1

Wadi Qadisha | Libanon. Sommer 2005, vier Jahre später

S

chiefergrau senkte sich der Himmel über die Mauern. Ein Sturm trieb Schnee vor sich her und beugte die alten Libanon-Zedern, die auf den Felsen über dem Kloster Fuß gefasst hatten. Die Pigmente, mit groben Pinselstrichen aufgetragen, bildeten ein zerklüftetes Relief.

Feine Graustufen flossen ineinander, die Schatten schwarz, das Schneegestöber schmutzig weiß, der einzige Tupfer Farbe das Grün der Zedernkronen. Die Leinwand war auf einen Holzrahmen genagelt, mannshoch und einen Meter breit. Sonnenlicht fiel durch das gegenüberliegende Fenster und spaltete das Bild in zwei Hälften.

Einer der Besucher sagte etwas, das Bruder Gratien nicht verstand. Sie kamen aus Italien, hatte der Abt gesagt, Besucher von der Kunstakademie in Mailand. Gratien beherrschte ein paar Brocken Italienisch, deshalb hatte der Abt ihn als Führer bestimmt, aber er konnte den schnell gesprochenen Sätzen nicht folgen.

Unter den Besuchern war eine junge Frau, die sich als Azizah Abourjeili vorgestellt hatte und fließend Arabisch sprach. Der alte Mönch war froh darüber, auch wenn ihre Art, ihn direkt anzusehen, ihm Unbehagen bereitete.

Azizah drehte sich zu ihm um. „Zeigen alle diese Bilder das Kloster?“

Gratien nickte höflich.

„Meine Freunde bewundern sie“, fuhr sie fort. „Wer ist der Maler?“

„Sein Name ist Nicolá Martin. Er ist ein sehr großzügiger Mann. Er hat die Bilder unserem Orden geschenkt.“

„Nicolá Martin?“ Azizah legte den Kopf schräg. „Erzählen Sie mir etwas über ihn.“

Gratien lächelte verlegen. „Da gibt es nicht viel, was ich Ihnen sagen könnte. Er verbringt viel Zeit bei uns, um zu malen. Vater Georg wollte Schilder mit seinem Namen anbringen, aber er war dagegen.“

„Stammt er aus der Gegend?“

„Er hat ein Haus in der Nähe von Hawqa.“

„Ich wurde in Hawqa geboren.“ Nachlässig strich sie eine Haarsträhne aus der Stirn. „Meine Eltern wohnen noch im Dorf. Ich bin nach Italien gegangen, um Kunstgeschichte zu studieren. Ich frage mich nur, wieso ich nie von diesem Künstler gehört habe. Lebt er schon lange hier?“

Gratien knetete den Stoff seiner Kutte. „Fragen Sie am besten Vater Georg. Er kann Ihnen besser helfen als ich.“

*

„Ich besuche ihn“, sagte Azizah, später, als sie im Innenhof von Azizahs Elternhaus saßen. Azizahs Mutter hatte Kaffee gekocht und war danach zu einer Nachbarin gegangen.

„Hör mal, du kannst nicht einfach bei ihm zur Tür reinplatzen“, wandte Chiara ein.

Azizah lächelte ihre italienische Freundin über den Rand ihrer Tasse an. „Hier ist das anders als in Europa. Die Mentalität der Leute ist geselliger. Es ist nichts dabei, seine Nachbarn zu besuchen.“

„Aber er ist nicht dein Nachbar. Er wohnt außerhalb des Dorfes.“

„Hier ist jeder der Nachbar eines anderen. Es ist ein Akt der Höflichkeit, sich den Nachbarn vorzustellen.“ Beiläufiges Gelächter ihrer Freunde quittierte die Bemerkung. Sie stand auf. „Ich hole noch Kaffee.“

„Ich helfe dir.“ Chiara griff nach der Kanne. Zusammen gingen sie ins Innere des Hauses, in die geräumige Küche. „Deine Eltern haben ein tolles Haus.“

„Sie sind auch sehr stolz darauf.“ Azizah füllte Wasser und Kaffeepulver in die silbrige Kanne und stellte sie auf die Herdplatte.

„Willst du da wirklich allein hingehen?“

„Warum nicht?“

„Sei froh, dass deine Mutter dich nicht hört. Ich könnte mitkommen.“

„Du bist nur neugierig. Weil du glaubst, dass er groß und gut aussehend ist.“

Chiara wurde rot. „Und du bist unmöglich.“

Vom angrenzenden Esszimmer führten offene Flügeltüren in den Innenhof. Gelächter füllte den Hof. Es roch nach Blumen und Kardamom. Das Wasser begann zu kochen. Mit einem Ruck hob Azizah die Kanne hoch und trug sie hinaus zu ihren Freunden.

Die Zufahrt zum Haus des Künstlers war ein Feldweg, der kurz hinter Hawqa von der Straße abzweigte. Akazien und Ginsterbüsche säumten den Straßenrand. Überhängende Äste verdeckten die Abzweigung, so dass ein Fremder sie leicht übersehen konnte.

Azizah stieg vom Fahrrad und schob es durchs Gebüsch. Sie wusste selbst nicht so recht, was sie trieb. Neugier? Abenteuerlust? Ihre Mutter hätte ihr die Leviten gelesen. Trotz allen Geredes über Nachbarschaftsbesuche war das ein fremder Mann, dessen Haus sie ohne Begleitung aufsuchte. Obwohl sich ihre Eltern selbst als fortschrittlich und liberal verstanden, ließen sich die alten Traditionen nicht einfach so wegwischen.

Der Weg war steinig und wand sich steil bergauf. Sie war schon einmal hier gewesen, doch das lag fünfzehn Jahre zurück. Als Kinder hatten sie die Kalksteinhöhlen oben am Berg erkundet. Sie erinnerte sich auch an das heruntergekommene Haus auf dem Plateau, das damals niemand hatte kaufen wollen. Aber das hatte sich wohl geändert. Erstaunlich war nur, dass der neue Besitzer die Zufahrt nicht besser instand hielt.

Nach einer letzten Steigung verlor sich der Pfad zwischen Gras und verwilderten Obstbäumen. Irgendwo blökten Schafe. Sie lehnte das Rad gegen einen Baumstamm und sah sich um. Es war angenehm schattig hier oben. Der Duft von Heu und Schafgarbe hing in der Luft. Sie folgte einer breiten Schneise zwischen den Bäumen, bis sie auf einen Drahtzaun stieß, der einen verwilderten Garten umfriedete. Hohe Sträucher versperrten den Blick auf das Haus. Sie lief ein Stück am Zaun entlang, bis zu einem Tor ohne Namensschild oder Klingel.

„Hallo?“, rief sie halblaut in Richtung des Gartens. „Hallo, ist jemand da?“

Die Schafe blökten noch immer, aber es klang jetzt leiser, weiter entfernt. Zaghaft drückte sie gegen den Torflügel. Ein Grasweg führte zwischen den Bäumen hindurch auf die andere Seite des Hauses.

Sie bog um die Ecke und blieb überrascht stehen. Der Bereich vor dem Haus war gepflastert und an den Seiten von Oleanderbüschen gesäumt. Das Gebäude selbst war neu verputzt worden. Jemand hatte das Dach repariert und die Fensterläden blau gestrichen. Sie klopfte gegen das geschnitzte Holzgitter in der Tür. Gleichzeitig fasste sie nach der Klinke und drückte sie herunter. Die Tür schwang in eine schattige Diele.

„Was tun Sie hier?“, fragte jemand in ihrem Rücken. Azizah fuhr herum. Ein Mann war zwischen den Büschen aufgetaucht. Er war nicht sehr alt, und er sah auch nicht wie ein Einheimischer aus.

"Guten Tag." Sie straffte ihre Schultern, plötzlich doch nervös. „Ich wohne unten im Dorf. Sind Sie Nicolá Martin?“

*

Nikolaj hatte die Frau schon vor zehn Minuten bemerkt, als sie das letzte Stück des Aufstiegs in Angriff genommen hatte. Es war einer der Vorteile des Anwesens, dass es nur einen Zugang gab, der von oben gut einsehbar war. Von unten konnte man das Haus dagegen erst ausmachen, wenn man direkt davor stand. „Ich habe Sie noch nie im Dorf gesehen“, sagte er.

„Das liegt daran, dass ich seit vier Jahren nicht mehr zu Hause lebe.“ Ihr Lächeln wirkte echt, aber vielleicht war sie einfach eine gute Schauspielerin. „Ich bin zu Besuch bei meinen Eltern.“ Sie sah ihm gerade ins Gesicht, das war ungewöhnlich und steigerte sein Misstrauen. „Mein Name ist Azizah Abourjeili.“ Nikolaj antwortete nicht, sondern betrachtete ihre Kleidung. Jeans und ein schwarzes T-Shirt. Sehr europäisch. „Ich wollte mich vorstellen, schließlich sind wir so etwas wie Nachbarn.“

Er zögerte noch immer, unsicher, wie er reagieren sollte. Falls sie wirklich die war, für die sie sich ausgab, würde es Verwunderung erregen, wenn er sie wieder fortschickte, ohne sie wenigstens zu einem Tee einzuladen. Die Leute hier nahmen das Gebot der Gastfreundschaft ernst. Sie respektierten es, dass er ein zurückgezogenes Leben führte. Dennoch würden sie sich fragen, warum er das Gastrecht so grob verletzte. „Ich bin Nicolá Martin“, sagte er schließlich und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennen zu lernen.“

*

Auf der anderen Seite des Hauses lag eine Terrasse, etwas erhöht und von Akazien beschattet. Schiebetüren führten von der Küche nach draußen. Azizah wischte eine Handvoll Blütenblätter vom Tisch und beobachtete die Spatzen zwischen den Ästen.

Nicolá brachte ein Tablett mit einer Silberkanne, zwei dickwandigen Gläsern und einer Schale voller Datteln heraus. Sorgfältig stellte er alles auf dem Tisch ab. Azizah griff nach ihrem Glas. Gewürzduft stieg ihr in die Nase. „Sie haben es schön hier.“

„Ja“, murmelte Nicolá, „ich schätze die Ruhe hier oben.“

„Ich kenne das Anwesen von früher. Als Kinder haben wir manchmal hier gespielt. Seit wann wohnen Sie in dem Haus?“

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sie dachte, dass er ein gut aussehender Mann war. Seine Haut war gebräunt, das Haar sandfarben mit von der Sonne vergoldeten Strähnen. Bartstoppeln bedeckten sein Kinn und die Wangen auf eine Weise, die ihr gefiel. Ihr Blick blieb an seiner Hand hängen. Ein merkwürdiges Muster überzog den Handrücken, eine Art Narbengeflecht wie von einem schweren Unfall. Schnell sah sie weg.

Nicolá schien es gar nicht zu bemerken. „Ich habe das Grundstück vor ein paar Jahren gekauft. Ich musste viel reparieren. Das Badezimmer ist zweihundert Jahren alt. Beim Umbau habe ich ein Mosaik entdeckt, das der Vorbesitzer einfach zugemauert hatte.“

Azizah lachte leise. „Hier leben einfache Bauern. Sie züchten Schafe und kümmern sich nicht um alte Mosaiken.“

„Selman Abourjeili ist Ihr Vater?“

„Kennen Sie ihn?“

Er nickte. „Was machen Sie, wenn Sie nicht Ihre Eltern besuchen?“

Sie streifte ihr Haar zurück, eine Geste, mit der sie ihre Nervosität zu überspielen versuchte. „Ich studiere Kunstgeschichte in Mailand. Ich bin nur ein oder zwei Mal im Jahr hier. Ich habe Ihre Bilder gesehen. Im Kloster.“

„Ach ja“, murmelte Nicolá.

„Sie sind großartig.“

„Finden Sie?“ Er machte eine vage Handbewegung. „Die Mönche mögen sie, deshalb habe ich sie ihnen geschenkt.“

„Stellen Sie Ihre Kunst auch aus?“

Nicolá schüttelte den Kopf.

„Aber das sollten Sie tun. Ihre Bilder würden sich bestimmt gut verkaufen.“ Die schmalen Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen Lächeln. Sie fragte sich, was wirklich in seinem Kopf vorging. Nach der unfreundlichen Begrüßung behandelte er sie nun sehr höflich. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas entging. „Was tun Sie denn beruflich, wenn Sie nicht malen?“

Sein Lächeln vertiefte sich, erreichte aber nicht die Augen. „Früher hatte ich eine Firma für Datenbanken. Ich habe sie verkauft.“

„In Beirut?“

„Nein, Marseilles.“

„Marseilles in Frankreich?“

Er nickte.

„Und jetzt haben Sie sich zur Ruhe gesetzt?“ Sie versuchte nicht, ihre Verwunderung zu verbergen. Der Mann war höchstens Ende Dreißig.

„Ich würde es eher eine schöpferische Pause nennen.“

„Jetzt reden Sie doch wieder wie ein Künstler.“

„Wenn Sie meinen.“ Sein Arabisch war flüssig mit einem Beiruter Akzent. Er beugte sich vor, um ihr Tee nachzuschenken. Als er die Silberkanne zurück auf den Tisch stellte, glitt ihr Blick erneut über seinen vernarbten Handrücken. Er hatte schlanke, kräftige Finger, wie ein Pianist.

„Haben Sie französische Vorfahren?“, fragte sie.

„Oui.“ Er grinste. Zum ersten Mal wirkte er charmant.

Irgendwo entfernt klapperte eine Tür. „Nicolá!“, rief jemand von der anderen Seite des Hauses. „Nicolá, bist du da?“

Er stand auf. „Entschuldigen Sie, ich komme gleich wieder.“

Das war gelogen. Azizah trank ihren Tee aus und Nicolá blieb verschwunden. Sie griff nach der Kanne und stellte fest, dass sie leer war. Leise stand sie auf und ging in die Küche, um frisches Wasser aufzusetzen. Die Haustür klaffte auf. Sie warf einen Blick hinaus, doch konnte niemanden entdecken.

„Nicolá?“, fragte sie halblaut. Das Wasser auf dem Herd begann leise zu zischen.

Vom Flur führte eine zweite Tür zu den restlichen Zimmern des Hauses. Sie spähte durch den Spalt in einen großen Raum mit einem niedrigen Sofa und Sitzkissen aus Wolle. Sisalmatten bedeckten den Boden. Zwei weitere Türen führten in angrenzende Räume. Sie erhaschte einen Blick in ein Atelier. Vor der Wand stand eine Staffelei, dahinter ein Stapel Leinwände.

„Nicolá?“, rief sie noch einmal. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, aber ihre Neugier war stärker. Schließlich war es seine Schuld, wenn er seine Gäste sich selbst überließ.

Das Atelier hatte große Fenster. Auf der Staffelei ruhte eine grundierte Leinwand, daneben stand ein Rollcontainer voller Pinsel, Paletten und Farbtuben. Auf der anderen Seite lehnten Gemälde an den Wänden, mit Tüchern verhüllt. Sie lüftete die Abdeckung und warf einen Blick auf das vorderste Bild. Sie brauchte einen Moment, um das Motiv zu erfassen, geometrische Formen, verwoben mit arabischer Kalligrafie. Es erinnerte sie an etwas. Sie hatte das schon einmal gesehen. Sie kam nur nicht darauf, wo. Auch nicht, als sie länger darauf starrte.

Dann hörte sie Männerstimmen von draußen, Fetzen einer Unterhaltung. Sie zuckte zusammen, zog das Laken zurück und floh aus dem Zimmer. Sie schob die Tür hinter sich zu, bemüht, kein Geräusch zu machen. Das Wasser in der Küche kochte sprudelnd. Sie nahm es vom Herd und griff nach der Teedose im Regal.

Eine Sekunde später trat Nicolá in den Raum. Sie drehte den Kopf und lächelte ihn an. Es war eine bemühte Geste. Ihr Herz schlug so heftig, dass sie es noch im Hals zu spüren glaubte.

„Entschuldigen Sie.“ Er trat einen Schritt näher. „Das war mein Freund Sarkis. Er hat extra einen weiten Weg auf sich genommen, um mir etwas zu zeigen.“

*

Sarkis hatte es ihm bestätigt. Die Frau war wirklich die Tochter von Selman Abourjeili. Nur eine Studentin, die die Semesterferien bei ihren Eltern verbrachte.

Nikolaj blieb am Tor stehen und blickte ihr nach, bis sie hinter der Biegung verschwand. Er fühlte Erleichterung. Seit er das Haus gekauft hatte, war er vorsichtig gewesen. Außer mit dem Kloster, in dem seine Bilder hingen. Das war nicht rational, er hatte es aus einem inneren Bedürfnis heraus getan. Vielleicht ein Fehler. Er musste mit Pater Georg sprechen und ihn bitten, in Zukunft seinen Namen nicht mehr preiszugeben, wenn ein Tourist danach fragte. Der Abt würde verstehen, dass er von fremden Leuten nicht belästigt werden wollte.

Er war Nicolá Martin, französischstämmiger Libanese, der in der New Economy-Ära viel Geld mit seiner Computerfirma verdient hatte und des Geschäftslebens müde geworden war. Der sein Geld genommen und sich den Ausstieg finanziert hatte. Pater Georg verstand diese Geisteshaltung, deshalb hatte er auch keinen Augenblick an der Geschichte gezweifelt.

Nikolaj drehte sich um und kehrte zurück ins Haus. Mit langen Schritten durchquerte er den Wohnraum und betrat das Badezimmer an der Rückseite des Hauses. Das Mosaik, von dem er Azizah erzählt hatte, war ein Schriftornament von fast einem Quadratmeter Fläche. Die Restaurierung des kleinen Raums hatte ihn beinahe ein Jahr gekostet. Liebevoll strich er über die hölzernen Fenstergitter, ließ sich auf ein Knie nieder und schob das Regal unter dem Waschbecken beiseite. Eine der Fliesen saß locker in der Wand, dahinter verbarg sich ein Hohlraum. Er zog die Pappschachtel heraus, die er seit drei Jahren nicht mehr angerührt hatte. In Beirut gab es ein Schließfach mit ähnlichem Inhalt, ein weiteres in einer Bank in Neapel. Er hatte die Depots kurz vor dem Kauf dieses Hauses eingerichtet, für einen Notfall, von dem er hoffte, dass er nie eintreten würde.

Die Schachtel hatte er beinahe verdrängt. Bis ihn für einen Lidschlag der Schrecken durchzuckt hatte, jemand könnte seine Spur gefunden haben. Jemand, der eine junge Frau schickte, um ihm eine Falle zu stellen.

Er blätterte durch die Pässe, die sorgfältig in Klarsichthüllen verpackt waren, dazu passend Kreditkarten und Führerscheine. Jewgeni Nazyrow, Angestellter eines russischen Bauunternehmens. Giacomo Sebastiano, Zahnarzt aus Rom. Ahmed Abi-Hachem aus Beirut, Händler für Weine und edle Spirituosen. Und natürlich Nicolá Martin, Ex-Computerspezialist. Vier Identitäten für knapp sechstausend Dollar, zwei davon so gut, dass sie auch einer näheren Überprüfung standhalten würden. Unter den Pässen lagen viertausend Dollar und zweitausend Euro jeweils in Fünfzigern, sorgfältig gebündelt. Und darunter, am Boden der Schachtel, eine Beretta mit zwei Ersatzmagazinen.

Nikolaj nahm die Waffe in die Hand und zog den Schlitten zurück. Das kühle Metall fühlte sich beruhigend an. Er stieß ein Magazin in den Griff, streckte probehalber den Arm aus und zielte über das Handgelenk. Dann, ohne sie zu entladen, legte er die Pistole zurück in die Kiste, schloss den Deckel und schob sie zurück in das Versteck. Er stand auf und zog den Untertisch zurück an seinen Platz. Kurz blickte er in den Spiegel und musterte sein Gesicht. Er hatte sich Bart und Haar wachsen lassen, um sein Aussehen dem der Einheimischen anzunähern. Einzig seine Augen verrieten die europäische Herkunft, denn sie waren von einem intensiven Grün. Das ließ sich mit gefärbten Kontaktlinsen kaschieren, das hatte er früher manchmal getan. Aber er vertrug die Linsen nicht gut, vor allem nicht über einen längeren Zeitraum. Deshalb hatte er als Nicolá Martin gar nicht erst damit angefangen. Im Pass war grün vermerkt, und wenn ihn jemand danach fragte, gab er das Erbteil seines französischstämmigen Großvaters an.

Er hatte viel Sorgfalt auf Nicolás Geschichte verwendet. Der Lebenslauf war unspektakulär, aber nicht langweilig. Es gab keine nachprüfbaren Details. Das Einzige, was ihn mit seinem früheren Leben noch verband, war die Malerei. Und selbst hier malte nicht länger Nikolaj Fedorow, sondern Nicolá Martin, der versuchte, mit dem Pinsel die Heimat seiner Vorfahren einzufangen.

*

„Oh mein Gott, ich muss dir unbedingt was erzählen!“, platzte Azizah heraus, als Chiara durch die Tür trat. Draußen schlugen Autotüren, ein Motor sprang an, dazwischen Wortfetzen und Gelächter.

„Du hast den Maler verführt und ihr habt den ganzen Tag in seinem Bett verbracht?“

Azizah kicherte. „Du bist unmöglich.“

„Habt ihr?“

„Natürlich nicht. Es war ein sehr sittlicher Besuch.“

„Wie langweilig.“ Chiara hob die Augenbrauen. „Was noch?“

„Nico Delani. Sagt dir das was?“

„Das sollte es vermutlich, wenn du so fragst?“

„Nico Delani. Der Maler.“

„Ach, jetzt weiß ich wieder.“ Chiara legte den Kopf schräg. „Erstes Semester. Die Ausstellungseröffnung mit den gefälschten Einladungen.“

„Genau. Der Typ mit den Landschaftsmosaiken. Er war mal ziemlich angesagt, aber ist in der Versenkung verschwunden. Und jetzt habe ich ihn gefunden. Er behauptet, er wäre früher Programmierer gewesen und hätte seine Firma verkauft, aber das stimmt nicht.“

Chiara legte das Handy auf die Anrichte. „Das scheint ja doch ein ziemlich interessanter Besuch gewesen zu sein.“

„Er sagt, dass er die Malerei nur als Hobby betreibt und dass ihn Ausstellungen nicht interessieren, aber ich habe sein Atelier gesehen.“

„Aha.“

„Nur ganz kurz. Da stehen seine Bilder. Er hat sie mit Laken abgedeckt, aber ich habe darunter geschaut. Er ist es, ich schwöre es dir.“

„Meine Güte, das ist aber ganz schön weit hergeholt.“ Chiara verdrehte die Augen. „Vielleicht kennt er diesen Delani und hat sich von ihm inspirieren lassen.“

„Nein, ich bin mir absolut sicher.“ Azizah drehte sich um zu den anderen, die in der Küche am Kühlschrank standen.

„Carla!“, rief sie. „Carla, du wirst das nicht glauben! Erinnerst du dich an Nico Delani? Den Maler?“

2

M

arc Torpey’s Gedächtnis war legendär. Im CIA-Hauptquartier in Langley nannten sie ihn Magic Brain, weil er sich an Details erinnerte, die Jahrzehnte zurücklagen. Er arbeitete als Analytiker im Bereich European Affairs. Seine Aufgabe bestand darin, eingehende Informationen zu filtern und zu bewerten und, wenn möglich, Querverbindungen herzustellen.

An einem Freitagnachmittag kurz vor Dienstschluss erhielt er eine Mitteilung aus Italien. Einer ihrer Informanten hatte ein Gerücht aufgeschnappt, das er als interessant, aber nicht sicherheitsrelevant eingestuft hatte. Der Grund für die Weiterleitung war, dass es etwas mit einem verschwundenen Attentäter zu tun hatte, der angeblich im Libanon gesehen worden war. Der Informant hatte die Mitteilung unter mögliche terroristische Aktivitäten klassifiziert, etwas, das sie in Langley als Grundrauschen bezeichneten.

Als Torpey den Namen auf dem Bildschirm las, rastete jedoch etwas in seinem Gedächtnis ein. Er öffnete die Datenbank und tippte Nico Delani. Die Akte öffnete sich, er überflog den Text. Viel war es nicht, nur ein kurzer Absatz ohne Foto. Torpey holte scharf Luft und griff nach dem Telefonhörer.

Andrew Stuart, der Bereichsleiter, stand auf und schloss die Tür seines kleinen Büros. Mit einer Handbewegung bot er Torpey einen Stuhl an. Volltreffer, dachte Torpey.

„Woher kommt diese Information?“, fragte Stuart.

„Mailand. Reiner Zufall, dass es nicht untergegangen ist. Unser Informant war auf einer Studentenparty und hat eigentlich nur geschaltet, weil jemand das Wort Libanon hat fallen lassen. Eine libanesische Studentin hat ihre Eltern besucht und ist dort einem Mann begegnet, den sie für Nico Delani hält.“

„Ach du Scheiße.“ Stuart griff nach dem Telefonhörer, legte ihn dann aber zurück auf die Gabel. „Ach du Scheiße“, wiederholte er.

„Der Kerl war doch in das Rosenfeldt-Attentat verwickelt, oder?“

„Tatsächlich glauben wir, dass er der Attentäter war. Aber das ist die Baustelle der Israelis.“

Torpey grinste. „Vielleicht sollten wir unseren Freunden am King-Saul-Boulevard einen Tipp geben.“

„Vielleicht sollten wir das.“ Stuart kaute auf einem Bleistift. Er wandte Torpey den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. „Sie würden bestimmt dankbar sein. Und dann müssten wir uns nicht darum kümmern.“ Mit einem Ruck drehte er sich wieder um und griff erneut nach dem Telefon.

*

Am King-Saul-Boulevard, einer staubigen, dicht befahrenen Straße in Tel Aviv, steht ein graues Betonhochhaus, das Hadar Dafna Center. In seiner Eingangshalle befindet sich eine Bank, im zweiten Stock eine öffentlich zugängliche Cafeteria. An den Seiten des Gebäudes liegen einige Geschäfte, die den Eindruck erwecken, es handle sich bei dem Komplex um ein Einkaufszentrum. Nur wenige Anwohner wissen, dass hier das Hauptquartier des Mossad untergebracht ist, des israelischen Auslandsgeheimdienstes.

Der Besprechungsraum auf Ebene IV-a hatte keine Fenster, dafür aber eine Klimaanlage, die erst kürzlich repariert worden war. Als Lev Katzenbaum eintrat, standen bereits zwei Männer im Raum. Er kannte sie beide, Adi Simmenauer, den Leiter der Abteilung für Internationale Sicherheit und Binyamin Shalev, den Vizedirektor.

Das Meeting war unerwartet einberufen worden. Es musste etwas passiert sein. Und zwar etwas Großes, wenn Shalev persönlich dabei war. Katzenbaum legte seine Schreibmappe ab und murmelte einen Gruß. Einen Moment später erschien Natalie Zinker, Shalevs Assistentin. Sie schloss die Tür hinter sich und legte einen Stoß Akten auf den Besprechungstisch.

„Hallo, die Herren“, sagte sie.

Binyamin Shalev forderte die anderen mit einer Handbewegung auf, sich zu setzen. „Jemand Kaffee?“

Natalie schaltete den Projektor ein. Katzenbaum fröstelte, weil die Klimaanlage so kalt eingestellt war.

„Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“ Der Vizedirektor war ein kleiner, untersetzter Mann mit goldgeränderter Brille und ergrautem Haar. Seine unauffällige Erscheinung und die leise Stimme täuschten leicht über die Machtfülle hinweg, die er in der Organisation innehatte. Shalev war eine Institution am King-Saul-Boulevard, die zwei Direktoren überlebt hatte. Katzenbaum kannte ihn, seit er selbst vor fast dreißig Jahren vom Dienst rekrutiert worden war. „Ich habe heute einen Anruf aus Langley bekommen. Die Amerikaner haben eine interessante Information aufgefangen.“ Shalev warf Natalie einen Blick zu. „Sind Sie soweit?“

Natalie schaltete auf die erste Folie, das Bild eines Mannes. Katzenbaum holte scharf Luft. Er fing einen Blick Simmenauers auf, ein schiefes Grinsen.

„Die Akte Fabio“, murmelte Simmenauer. „Dass ich das noch erleben darf.“

Katzenbaum betrachtete wieder die streifige Schwarzweiß-Fotografie an der Wand, die aus einer Überwachungskamera des Flughafens Tegel in Berlin stammte. Fabio.

Die Akte war geschlossen, die Operation für gescheitert erklärt. Es war der Anfang vom Ende der Karriere des Ephraim Seltzer gewesen, des Mannes, der 2001 an der Spitze des Mossad gestanden und Gerüchten zufolge den vollen Zorn des neu eingesetzten Premierministers zu spüren bekommen hatte. Ein unvermeidliches Opfer, hatte Shalev Seltzers Sturz genannt. Sowohl er als auch Katzenbaum waren von Anfang an involviert gewesen.

Natalie wechselte die Folie. „Am fünfundzwanzigsten Januar 2001 wurde der US-Senator Jonas Levi Rosenfeldt erschossen, unmittelbar vor seiner Rede zur Eröffnung des Jüdischen Museums in Berlin.“ Ihre Stimme verriet keinerlei Emotion. „Der Killer entkam, obwohl es in der Gegend um das Museum von Sicherheitsbeamten wimmelte. Wir konnten das nie beweisen, aber Indizien deuteten darauf hin, dass das Attentat von der PLO vorbereitet und bezahlt wurde. Sie engagierten einen Killer, den die CIA in ihren Akten unter dem Namen Fabio führt. Unsere amerikanischen Freunde haben lange Zeit vergeblich versucht, ihm auf die Spur zu kommen.“

Bis ein drittklassiger Romeo-Agent mit mehr Glück als Verstand seine Tarnung aufdeckte, dachte Katzenbaum. Das hatte nichts mit fundierter Geheimdienstarbeit zu tun gehabt, das war reiner Zufall gewesen, obwohl die Amerikaner das gern anders verkauften.

„Einen Tag nach dem Attentat sollte in der Berliner Galerie Neuhoff eine Ausstellung des belgischen Malers Nico Delani eröffnet werden. Delani hat sich zwischen 1997 und 2001 als erfolgreicher Nachwuchsstar in der europäischen Kunstszene etabliert. Die Vernissage fand zwar statt, aber ohne den Künstler.“ Sie machte eine Pause. „Die Amerikaner glauben, dass dieser Maler und Fabio ein und dieselbe Person sind. Sie haben natürlich keine Beweise. Der Romeo-Agent, der Fabio angeblich enttarnte, wurde erschossen. Tatsache ist aber, dass seit dem Verschwinden von Fabio auch Delani verschollen ist.“ Sie studierte ihre Unterlagen. „Wir haben in dieser Angelegenheit mit CIA und Interpol zusammengearbeitet. In den Wochen nach dem Attentat gelang es uns noch drei Mal, seine Spur zu finden.“ Sie hob einen Bleistift und stach damit in die Luft.

„In München, am achtundzwanzigsten Januar, gab es eine Schießerei am Ostbahnhof, drei Tote. Wir haben Hinweise, dass unser Mann darin verwickelt war. Dann, vier Tage später in Reims, einhundertfünfzig Kilometer entfernt von Paris. Wir hätten ihn beinahe gestellt, aber er entdeckte das Überwachungsteam und flüchtete, bevor unsere Leute zuschlagen konnten. Die letzte Meldung stammt aus Auritz, einem Dorf zehn Kilometer hinter der französisch-spanischen Grenze. Danach verlor sich seine Spur.“ Natalie legte den Bleistift zurück auf den Tisch.

Er hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Damals war Katzenbaum wütend gewesen über den Fehlschlag der Operation. Es war ein erschreckend symptomatisches Indiz für den schleichenden Verfall, der den Dienst heimsuchte.

Mein Gott, sie waren einmal die Besten gewesen. Doch etwas war dran an den Gerüchten, dass die goldene Ära des Mossad vorüber war. In den letzten Jahren waren ihnen peinliche Fehler unterlaufen, die dem Ansehen der Israelis auch bei befreundeten Geheimdiensten schwer geschadet hatten. Die Fabio-Affäre passte gut ins Bild. Gelegentlich war ihm der Gedanke gekommen, dass es besser gewesen wäre, wenn Fabios Verschwinden einen Schlusspunkt unter die ganze Angelegenheit gesetzt hätte. Besser für den Dienst, besser für die Sache Israel. Doch die Gemüter waren erhitzt. Rache für Rosenfeldt, lautete der Befehl der Stunde. Der Killer war verschwunden, sie würden ihn nicht mehr nach seinen Auftraggebern fragen können. Aber die Indizien wogen auch so schwer genug, um grünes Licht für die Operation ‚Wüstenwind’ zu bekommen.

Efraim Seltzer, der Analytiker, der stets einen kühlen Kopf bewahrte, ausgerechnet Seltzer, hatte die Operation genehmigt. Rosenfeldt war sein Freund gewesen, und Seltzer war seinem Herzen gefolgt, nicht dem Verstand. Danach, als der kollektive Blutdurst verflogen war, hatten sich sowohl Shalev als auch Katzenbaum gefragt, ob sie nicht etwas übersehen hatten. Ob die Rache wirklich die Schuldigen getroffen hatte. Eine schlampig ausgeführte Rache noch dazu, die Israel als Mörder von Frauen und Kindern dastehen ließ.

„Danke, Natalie“, sagte Binyamin Shalev.

„Fabio ist seither verschwunden“, übernahm Simmenauer. „Es gibt keine Hinweise auf seinen Aufenthaltsort oder darauf, dass er überhaupt noch am Leben sein könnte. Wir haben die Akte geschlossen.“

„Vorläufig“, murmelte Shalev. Simmenauer warf ihm einen Blick zu, dann sah er Katzenbaum an. Lev hatte das vage Gefühl, dass er in diesem Raum der Einzige war, dem eine wichtige Information entging. „Vorläufig“, wiederholte der kleine Mann, „Und jetzt machen wir sie eben wieder auf.“

Katzenbaum betrachtete die blaustichige Schwarzweiß-Fotografie, ein Gesicht im Halbprofil, von schräg oben aufgenommen.

Shalev stellte die Thermoskanne schwungvoll zurück auf den Tisch. „Adi?“, fragte er.

Simmenauer nickte. „Wie ich schon sagte, hat mich gestern Nacht Andrew Stuart aus Langley angerufen. Einer ihrer Leute hat aufgeschnappt, dass jemand den Maler Nico Delani in einem libanesischen Bergkaff gesehen haben will.“

Katzenbaum zog die Brauen hoch, sagte aber nichts.

„Ich habe diesen Augenzeugen bereits überprüfen lassen“, fuhr Simmenauer fort. „Es ist eine Frau namens Azizah Abourjeili, fünfundzwanzig Jahre alt. Sie studiert Kunstgeschichte in Mailand, neuntes Semester, hat gute Noten. Ihre Aufenthaltsgenehmigung läuft für die Dauer des Studiums, sie besitzt einen libanesischen Pass und besucht zweimal im Jahr ihre Eltern. Sie leben in einem Dorf namens Hawqa. Keine Verbindungen zu extremistischen Gruppen. Scheint eine ganz normale intellektuelle Familie zu sein.“

„Und wie“, fragte Katzenbaum, „kommt sie darauf, Nico Delani gesehen zu haben?“

„Das versuchen wir noch herauszufinden.“

„Ein Geist kehrt zurück“, unkte der Vizedirektor.

„Wir müssen dem auf jeden Fall nachgehen.“ Shalevs Augen funkelten hinter den Brillengläsern. „Vielleicht kriegen wir eine zweite Chance.“

Zu viele lose Enden, dachte Katzenbaum. Sie hatten zu viele lose Enden zurückgelassen. Die Vorstellung, das alles wieder aufzunehmen und den Fall abzuschließen, vier Jahre später, elektrisierte und beunruhigte ihn zugleich. Und Binyamin musste es ähnlich gehen. Oft hatten sie darüber diskutiert, ob Wüstenwind gerechtfertigt gewesen war. Blutvergießen im Namen der Gerechtigkeit. Fabio kannte die Antworten, musste sie kennen, aber Fabio hatte sich in Luft aufgelöst. „Ein libanesisches Bergkaff, ja?“

Shalev nickte.

„Na schön. Was machen wir?“

„Wir rollen den Fall wieder auf“, sagte Shalev. „Lev, ich will, dass du das übernimmst. Für den Anfang brauchen wir Informationen. Wir werden herausfinden, was genau diese Studentin gesehen hat. In der Zwischenzeit kannst du dich ja mal mit der Topologie von Hawqa vertraut machen.“

Katzenbaum holte tief Luft, darum bemüht, sich den aufsteigenden Aufruhr in seinem Innern nicht anmerken zu lassen. Abermals starrte er auf die Projektion an der Wand. Kurzgeschnittenes Haar, gerade Nase, markante Wangenknochen, an der Schläfe zwei kleine Leberflecke – ein Gesicht wie tausend andere. Noch dazu in einem Winkel aufgenommen, der kaum für ein Fahndungsfoto taugte. Es war das einzige Bild, das sie von Fabio hatten. Und von Nico Delani, dem Maler, existierte ebenfalls keine einzige Aufnahme, obwohl zig Kunstmagazine seine Gemälde abgedruckt hatten. Er ist exzentrisch, er möchte nicht fotografiert werden.

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

3

A

m schönsten war der Wadi Qadisha in den frühen Morgenstunden, wenn die Nacht einer dunkelblauen Dämmerung wich und die Sonne hinter den Bergen aufstieg. Um diese Zeit war es kühl, der Wind angenehm und auf den Gräsern sammelte sich Tau.

Nikolaj hatte es sich angewöhnt, in den Sommermonaten lange vor Sonnenaufgang aufzustehen. Draußen war es dunkel, während er Tee aufbrühte und in bequeme Kleidung schlüpfte, um seine tägliche Laufstrecke zu absolvieren. Hinter dem Haus begann ein Ziegenpfad, der früher als Auftrieb zu den höher gelegenen Weiden genutzt worden war. Wenn es weiter oben in den Bergen regnete, verwandelte er sich in ein schlammiges Bachbett. Trotzdem mochte Nikolaj den Weg. Er gewährte einen spektakulären Blick auf das Tal und die Hänge der gegenüberliegenden Bergkette. Kein Mensch verirrte sich hier hinauf, erst recht nicht so früh am Morgen. Der Duft blühender Akazien mischte sich mit dem Aroma von Schafgarbe, Thymian und Rosmarin.

Er genoss die körperliche Anstrengung. Früher war es zwingende Notwendigkeit gewesen, in Form zu bleiben, jetzt diente es nur noch dem Selbstzweck. Das Laufen funktionierte wie Meditation. Während seine Muskeln arbeiteten, konnte er nachdenken. Am Anfang hatte er Vergangenes rekapituliert und Optionen durchgespielt, Reaktionen auf mögliche Entwicklungen, Pläne für den Fall, dass seine Zuflucht sich im Nachhinein als Sackgasse erwies. Dann, mit jedem weiteren Monat, als deutlich wurde, dass er vielleicht keinen Alternativplan brauchen würde, hatte er begonnen, seinen Horizont auf Dinge des täglichen Lebens zu verlagern.

Kurz dachte er an Azizah Abourjeili, die Frau, die ihn besucht hatte. Sie war mitsamt ihren italienischen Freunden wieder abgereist. Dennoch war es die Art von Zufall, die er nicht brauchen konnte.

Am Horizont über den Bergen bildete sich ein rötlicher Streif. Er musste unbedingt Pater Georg aufsuchen.

Die Straße zum Kloster führte von Hawqa aus in Serpentinen ins Tal, folgte dem Fluss in der Talsohle und stieg danach wieder an. Pinien und Kiefern lösten das Buschwerk auf beiden Seiten der Straße ab. Nikolaj parkte seinen Pickup auf einer Sandfläche, die neben der Fahrbahn ausgewalzt worden war, zwischen einem alten Ford Escort und einem blauen Suzuki Geländewagen. Das letzte Stück konnte nur zu Fuß bewältigt werden. Einhundertzwölf ausgetretene Stufen führten zur Klosterpforte.

Er ließ sich beim Aufstieg Zeit. Die abgeschabte Ledertasche mit seinen Malutensilien schlug ihm beim Laufen gegen den Oberschenkel. Er hatte sie aus Gewohnheit mitgenommen, auch wenn er bezweifelte, dass er die Muße aufbringen würde, etwas zu zeichnen. Er liebte das Kloster mit seiner verwitterten Architektur und verbrachte ganze Tage dort oben. Doch Azizahs Besuch hatte eine innere Unruhe in ihm aufgerissen. Plötzlich fühlte er sich gedrängt, sein Sicherheitskonzept in Frage zu stellen. Eine nervöse Anspannung hatte Besitz von ihm ergriffen und wurde mit jeder Stunde schlimmer.

Den Eingang zum Klosterhof bildete ein Torhaus mit niedrigem Bogen, das von zwei Eichen beschattet wurde. Ein einzelner Mönch fegte den Hof. Der Mann hob die Hand zum Gruß, dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. Nikolaj ließ die Kapelle hinter sich und steuerte auf das Hauptgebäude zu. Er durchquerte das Foyer und tauchte in einen Kreuzgang. Seine Schritte hallten auf dem polierten Steinboden. Das Zimmer des Klostervorstehers befand sich am Ende des Korridors, doch es war leer.

Er kehrte um, um den Abt zu suchen, zurück zur Treppe, die zur Bibliothek und dem Skriptorium führte. Aus dem Obergeschoss drangen Stimmen. Eine Gruppe von Besuchern kam in Sicht. Ausländer, ein immer noch seltener, aber nicht mehr ungewöhnlicher Anblick. Der Abt war ein großer Förderer des Tourismus, denn die europäischen und amerikanischen Gäste spülten Geld in die leeren Kassen der Bruderschaft. Die Besuchergruppe passierte die Treppe und sammelte sich im Korridor. Nikolaj fing ein paar Wortfetzen in Französisch auf, dann war er vorbei und trat hinaus in den Hof.

Er fand den Abt im Klostergarten. Pater Georg stand in ein Gespräch mit zwei Brüdern vertieft, aber als er Nikolaj bemerkte, wandte er sich ihm sofort zu. Sie tauschten Begrüßungen aus, während die Mönche weitergingen.

Der Abt erzählte ihm von den Kunststudenten aus Mailand, die von den Gemälden in der Galerie vor der Bibliothek beeindruckt gewesen waren. Ein enttäuschter Ausdruck schlich sich in seine Augen, als er keine Resonanz in Nikolajs Miene fand.

„Sie müssen sich doch freuen“, beharrte er. „Stellen Sie sich vor, wenn Sie Ihre Bilder in Beirut ausstellen würden, in einer richtigen Galerie. Denken Sie an die Publicity. Sie könnten viel Geld verdienen.“

„Aber das will ich gar nicht“, sagte Nikolaj sanft. „Ich brauche es nicht.“

„Sie haben Ihre Firma verkauft, ich weiß.“ Der Geistliche winkte ab. „Sie brauchen das Geld nicht. Aber freuen Sie sich nicht, wenn Ihre Kunst ein Glücksgefühl bei den Betrachtern auslöst? Das muss Ihnen doch etwas bedeuten?“

„Ich male nur zu meinem eigenen Vergnügen.“ Nikolaj sah dem Pater ins Gesicht. „Tatsächlich bedeutet mir meine Privatsphäre sehr viel. Deshalb wollte ich Sie auch um etwas bitten.“

„Alles was Sie möchten.“

„Ich hätte gern, dass Sie meinen Namen im Zusammenhang mit den Bildern nicht mehr preisgeben.“

„Das tut mir leid.“ Unbehagen glitt über die hageren Züge. „Sie meinen sicher die junge Studentin, die sich nach Ihnen erkundigt hat. Es tut mir wirklich leid“, wiederholte der Pater, „wenn sie Sie belästigt hat. Sie war so begeistert und ich dachte mir nichts dabei.“

„Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Ich möchte nur, dass Sie mich in Zukunft nicht mehr erwähnen. Erzählen Sie den Leuten eine Legende. Sagen Sie, dass einer Ihrer Ordensbrüder die Bilder malt oder ein Künstler aus Europa, der ein paar Jahre in Ihrer Abtei verbracht hat.“ Nikolaj lächelte ein wenig. „Die Leute mögen romantische Geschichten. Da ist eine kleine Notlüge verzeihlich.“

„Wie Sie meinen.“ Pater Georg sah hinüber zum Hof, wo Bewegung entstanden war. Nikolaj folgte seinem Blick. Die Besuchergruppe verließ das Hauptgebäude.

„Touristen?“

Der Abt nickte. „Aus der Schweiz. Sie sind gestern angekommen und werden einige Tage bleiben.“

„Seit wann beherbergen Sie Gäste?“

„Ach, ich hatte schon länger darüber nachgedacht. Dann hat mich diese Dame angerufen und gefragt, ob wir Interesse hätten, Besuchergruppen aufzunehmen. Sie kennen ja unser Gästehaus. Leider steht es fast das ganze Jahr über leer, was eine Schande ist.“

Diffuses Unbehagen ballte sich in Nikolajs Brust. Er musterte die Dahlien, die den Kreuzgang säumten. Plötzliche Veränderungen. Zufälle. Er glaubte nicht an Zufälle.

Ein hochfrequentes Summen schreckte ihn auf. Ein Blitz erhellte das Gewölbe. Er fuhr herum und sah zwei Frauen, von denen eine sich mit ihrer Kamera drehte, um auch die andere Seite des Gartens zu fotografieren.

Das Unbehagen schwoll zu einem eisigen Klumpen. Schon vor Berlin war er empfindlich gewesen, was Kameras anging. Aber er war nicht länger Nico Delani, der exzentrische Künstler, der wie selbstverständlich einem Journalisten die Kamera aus der Hand schlagen durfte. Er konnte diese Touristin nicht zwingen, ihm den Fotoapparat mit dem Film auszuhändigen, das würde Aufsehen erregen. Und das wäre noch schlimmer als ein zufälliges Bild in einem privaten Fotoalbum.

„Was haben Sie denn?“, fragte der Abt besorgt.

„Ich – was?“ Nikolaj drehte sich zurück, so dass er der Kamera vollständig den Rücken zuwandte. „Mir ist gerade gar nicht gut. Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gern verabschieden.“

„Das wird die Hitze sein. Möchten Sie sich vielleicht hinlegen?“

„Nein“, wiederholte er. „Nein, vielen Dank. Ich fahre besser nach Hause.“

„Wie Sie meinen.“ Der Geistliche verbarg sein Befremden nicht.

Zurück in seinem Haus, suchte Nikolaj alle Zimmer nach Wanzen ab. Er wusste selbst, wie paranoid das war. Andererseits hatte seine Paranoia ihm mehr als einmal den Hals gerettet, zuletzt auf seiner Flucht aus Berlin.

Er fand nichts. Das Haus war unberührt. Das Telefon, der Computer, die Wände und Decken, alles war sauber. Beinahe gewaltsam musste er sich versichern, dass der Auslöser für seine plötzliche Panik lächerlich war. Eine Touristin, die ihn vielleicht auf einem ihrer Bilder aufgenommen hatte. Er dachte an die Kiste hinter dem Badschrank und fragte sich, ob er eine Zeitlang verreisen sollte.

Wenn jemand seine Spur aufgenommen hatte, war es das Beste, in Bewegung zu bleiben.

4

„D

as erste Foto zeigte einen Mann im Halbprofil vor einer Mauer. Auf dem zweiten Bild war der Mann mit einem Priester zu sehen, diesmal von der anderen Seite.

„Das ist alles?“, fragte Shalev.

„Nur fürs Erste.“ Katzenbaum zog die beiden Fotos zu sich heran. „Und es ist mehr, als du glaubst. Wir hatten Glück. Es hätte auch drei Wochen dauern können. Oder drei Monate.“

„Ja, schon gut. Hast du die Fotos den Jungs von der Analyse gezeigt?“

„Habe ich.“ Katzenbaum lächelte verkniffen. „Es gibt gewisse Ähnlichkeiten mit dem Archivfoto von Fabio, soweit man das bei der ungünstigen Perspektive und der Qualität des Bildmaterials sagen kann. Die Analystin denkt, sie hat eine Übereinstimmung von siebzig Prozent. Aber ich habe etwas Besseres.“ Er lehnte sich im Stuhl zurück. „Der Rechner hat einen weiteren Treffer gefunden und zwar für einen Mann namens Nikolaj Fedorow, militantes Mitglied der PFLP. Fedorow wurde 1993 nach dem Überfall auf einen Checkpoint im Südlibanon gefangen genommen, von Shaback-Leuten verhört und anschließend nach Megiddo gebracht. Er verbrachte zwei Jahre im Gefängnis, bis ihm zusammen mit einem italienischen Waffenschmuggler die Flucht gelang.“

„Aha.“ Shalev blies den Rauch seiner Zigarette gegen die Zimmerdecke. „Und dann?“

„Nichts weiter. Die Akte endet hier.“

„Könnte es sein, dass dieser Fedorow nach seiner Flucht aus Megiddo auch weiterhin für unsere palästinensischen Freunde gearbeitet hat?“

„Wissen wir nicht. Aber ich habe noch etwas. Am Überfall auf den Checkpoint waren drei Leute beteiligt. Zwei Tage nach seiner Gefangennahme verriet Fedorow den Shaback-Agenten, wo sie die anderen beiden Mitglieder des Überfall-Kommandos finden konnten. Einer von ihnen war schwer verletzt. Sie hielten sich in einer Höhle versteckt und warteten darauf, dass Fedorow ein Fahrzeug organisiert. Von seiner Festnahme wussten sie nichts.“ Katzenbaum machte eine Pause. „Bei den Kämpfern handelte es sich um Rafiq Abou-Khalil und Carmen Arndt.“

Mit leiser Genugtuung beobachtete er, wie die gleichgültige Maske vom Gesicht des Vizedirektors abfiel. Er kannte Binyamin Shalev seit vielen Jahren und wusste, dass Shalev stolz auf seine Selbstbeherrschung war. Aber das hier war einfach zu gut. Katzenbaum hatte es selbst kaum glauben können, als ihm die Zusammenhänge plötzlich bewusst geworden waren.

Er nickte, wie um die Bedeutung seiner Aussage noch einmal zu unterstreichen. „Binyamin, glaub mir, ich habe es dreimal nachgeprüft. Denn wie du weißt, habe ich die beiden eigenhändig rekrutiert.“

*

Morgensonne fiel durch die gedrechselten Holzgitter der Fensterläden, ein warmer Windstoß blähte die Vorhänge. Aus quäkenden Lautsprechern schallten die Gebetsrufe der Muezzine und mischten sich mit dem Verkehrslärm der Straßen von Damaskus.

Rafiq Abou-Khalil stand vom Bett auf und schloss das Fenster. Er blieb noch einen Moment stehen, genoss die Wärme auf seinem Gesicht und lauschte der plötzlichen Stille.

Müßig fuhr er sich durch die Locken. Marina war schon vor Stunden gegangen, sie musste quer durch die Stadt zur Arbeit. Sie arbeitete als Sekretärin im Kulturreferat der Deutschen Botschaft und Rafiq hatte sie bei einem der unzähligen Empfänge kennengelernt, die zwingender Bestandteil des diplomatischen Umgangstons im Nahen Osten waren. Ausnahmsweise war sein Interesse an ihr jedoch nicht beruflich geprägt. Marina war ein kleines Licht im diplomatischen Außendienst ihres Landes. Nicht ausgeschlossen, dass sie ihm eines Tages doch noch einen Gefallen tun konnte, aber eigentlich rechnete Rafiq nicht damit.

Er fand sie anziehend und unterhaltsam und genoss die gemeinsamen Nächte. Sie war verliebt in ihn, das schmeichelte ihm. Allerdings, und das war etwas, das er sich nur ungern eingestand, sah sie Carmen zum Verwechseln ähnlich. Tatsächlich war das der Hauptgrund gewesen, dass er sie zum Essen eingeladen hatte, um ihre Bekanntschaft schließlich im Schlafzimmer seiner eleganten Damaszener Wohnung zu vertiefen.

Er versicherte sich, dass Carmen ihn nicht mehr interessierte. Dass ihm egal war, was sie tat und mit wem sie es tat. Sie hatte ihre Beziehung nach sieben Jahren beendet, nicht er. Zugegeben, er hatte ihr viele Gründe geliefert. Aber als sie ihre Drohung tatsächlich wahr machte, traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Sie war eine Konstante in seinem stürmischen Gefühlsleben gewesen und jetzt war sie verschwunden. Das lag fast zwei Jahre zurück, aber er fühlte sich immer noch von Frauen angezogen, die aussahen wie sie.

Er trat an den Schrank, drapierte über seinem Oberarm frische Kleidung und machte sich auf den Weg ins Bad.

Carmen arbeitete wieder in Europa. Sie hatten nicht mehr miteinander geredet, seit die Strategen in Tel Aviv ihn zurück nach Damaskus beordert hatten. Im Zusammenhang mit früheren Aufträgen hatte er sich in Syrien die Identität eines Waffenhändlers mit guten internationalen Verbindungen aufgebaut. Eine Rolle, die es ihm erlaubte, sich auch längere Zeit außer Landes aufzuhalten, ohne dass jemand Fragen stellte. Als Nasser El-Ehdeni war er eine feste Größe in der gehobenen Gesellschaft von Damaskus. Sein Charme und seine Dollars öffneten Türen, die Außenstehenden verschlossen blieben. Fast beiläufig gelangte er auf diese Weise an Informationen, die andere sich teuer erkaufen mussten.

Rafiq schätzte den luxuriösen Lebensstil, der Teil seiner Tarnung war. Er genoss ohne Reue und das verlieh seinem Auftreten Wahrhaftigkeit. Entspannt lächelte er sein Spiegelbild an. Ein blauschwarzer Bartschatten bedeckte Kinn und Wangen. Er wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, drehte sich um und öffnete die Hähne der Badewanne. Er hatte heute keine Verpflichtungen, seine Arbeit begann erst am frühen Abend.

Sein Handy klingelte. Er spielte mit dem Gedanken, es zu ignorieren. Als der Anrufer es aber hartnäckig wieder und wieder versuchte, nahm er ab.

„Guten Morgen“, sagte eine vertraute Stimme am anderen Ende. „Wir müssen uns treffen.“

Augenblicklich fiel die Entspannung von ihm ab. „Wann?“

„So schnell wie möglich.“

„Einverstanden.“ Er warf einen Blick auf die Uhr.

„Es ist ein Ticket reserviert, morgen früh sieben Uhr zwanzig, Air France“, sagte der Mann am Telefon.

Nach kurzem Zögern nickte Rafiq, auch wenn der andere das nicht sehen konnte. „Gut“, sagte er und legte auf.

*

Carmen knöpfte ihre Jacke zu, während sie die Treppen der U-Bahn-Station Rosenheimer Platz in München hinauf stieg. Sie bog in die Fußgängerzone, die zum Orleansplatz und weiter bis zum Ostbahnhof führte. Ohne Eile betrachtete sie die Schaufensterauslagen. Sie kaufte sich zwei Paar Schuhe und einen leichten Pullover. Die Rechnungen zahlte sie mit ihrer Kreditkarte, die auf den Namen Barbara Niedermeyer ausgestellt war.

In einem Café am Weißenburger Platz suchte sie sich einen Tisch am Fenster und bestellte Milchkaffee und Croissants. Sie nahm sich eine der Zeitungen von der Auslage und studierte die Tagesnachrichten. Es war später Vormittag, und das Café war nicht besonders voll. Carmen mochte die Gegend. Haidhausen war ein historisch gewachsenes Viertel mit gut erhaltenen Bürgerhäusern aus der Jahrhundertwende. Vor vielen Jahren hatte sie hier in einer WG gewohnt, Pariser Straße, zusammen mit zwei Psychologie-Studenten.

Aber das war lange her, ein anderes Leben. Sie hielt sich erst seit wenigen Tagen wieder in München auf. Barbara Niedermeyer arbeitete als freie Journalistin für eine Tourismuszeitschrift. Ausgedehnte Reisen waren Teil ihres Berufes, so dass die Nachbarn es nicht verwunderlich fanden, wenn ihre Wohnung immer wieder für Monate leer stand. Auf ihren Visitenkarten war die Nummer ihrer Verlagsredaktion aufgedruckt. Wenn jemand sie wählte, erreichte er eine Dame, die ihm erklärte, dass Frau Niedermeyer derzeit auf Dienstreise sei, man ihr den Anruf aber ausrichten würde.

Der letzte Job in Berlin hatte sich viel länger hingezogen als geplant. Es war eine unangenehme Aufgabe gewesen, eine Affäre mit einem Familienvater anzufangen, um ihn anschließend erpressen zu können. Sie trank ihren Kaffee aus und faltete die Zeitung zusammen. Sie wollte sich nicht beklagen. Es gab schlimmere Jobs. Mit einem Wink bedeutete sie der Kellnerin, ihr die Rechnung zu bringen.

Als sie ihre Wohnung betrat, blinkte das Lämpchen des Anrufbeantworters. Sie zog Mantel und Schuhe aus und drückte auf Play.

„Hallo Süße“, sagte eine Männerstimme, „wenn du zu Hause bist, ruf doch mal an.“

Sie löschte die Aufnahme, lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen.

Es gab komplette Protokolle darüber, wie man Nachrichten aller Art in harmloser Alltagskommunikation versteckte. Alles wurde in komplizierte Rituale verschlüsselt. Eine Vorgehensweise, die sie ihrem Naturell entsprechend eher als paranoid denn als notwendig empfand. Schließlich zog sie ihren Mantel wieder an. Das Protokoll sah vor, dass sie den Rückruf von einer Telefonzelle tätigen musste, und zwar nie zweimal hintereinander von der gleichen.

5

A

ls Rafiq auf dem Internationalen Flughafen in Beirut ankam, holte ihn Lev Katzenbaum persönlich ab. Er wartete in der Ankunftshalle, ein hagerer Mann in einer verschrammten Lederjacke mit dunklen Schatten unter den Augen. Zuviel Kaffee, zu viele durchgearbeitete Nächte, dachte Rafiq. Lev war ein Katsa, ein Agentenführer beim Mossad. Vielleicht war es einfach so, dass man eines Tages müde wurde und sich nicht wieder erholte.

Rafiq stellte seine Tasche auf den Boden und schüttelte ihm die Hand. „Du siehst schlecht aus.“

„Ist das so?“ Levs Lächeln wirkte halbherzig.

Sie fuhren mit dem Aufzug hinunter zum Parkdeck. Katzenbaum bezahlte das Ticket. Der alte Renault stand am hintersten Ende der Reihe. Rafiq warf seine Tasche auf den Rücksitz und stieg ein. Das Auto roch nach Staub und Scheibenreiniger.

„Offiziell sind wir nicht hier“, sagte Lev. „Sie würden uns sofort verhaften.“ Er ließ den Motor an und schob sich rückwärts aus der Parklücke. Während er die Autoreihe hinunterrollte, suchte er nach seinen Zigaretten. „Willst du eine?“

„Danke, ich habe aufgehört.“

Sie ließen die Gebäude des Flughafens hinter sich und bogen auf die Schnellstraße, die stadteinwärts führte. Es herrschte dichter Verkehr. Rafiq musterte die Industriekulisse auf beiden Seiten. Ein Bretterzaun sperrte kilometerlange Schuttfelder ab. Auf der gegenüberliegenden Seite rissen Bulldozer und Planierraupen die Erde auf. Seit Ende des Bürgerkriegs hatte sich ganz Beirut in eine riesige Baustelle verwandelt.

„Wie war die Reise?“

„Anstrengend. Ich hasse Middle East Airlines. Hässliche Stewardessen und der Kaffee ist furchtbar. Warum leitet ihr eigentlich alles über Paris?“

„Sicherheitsvorschrift“, sagte der Katsa lakonisch.

Sie überholten einen Schulbus, Schemen von Kindergesichtern, die sich gegen staubige Scheiben drückten. Rafiq verspürte einen Anflug von Wehmut. Es war ein Gefühl, wie man es empfindet, wenn man nach langer Zeit an einen vertrauten Ort zurückkehrt. Ein Gefühl wie Heimat, bittersüß und in diesem Moment völlig unangebracht. Er drehte den Kopf weg und starrte auf die Kolonne von LKWs, die über die Gegenfahrbahn krochen. Die Luft flimmerte von der Hitze und den Abgasen. Damals, bevor der Bürgerkrieg die Stadt zerstört hatte, war dies der Ort seiner Kindheit gewesen. Heute war es ein fremdes Land. Der alte Zauber hatte sich verflüchtigt.

Seine Eltern lebten noch immer in Beirut, sein Vater handelte vermutlich wieder mit alten Büchern und Pergamenten. Rafiq hatte ihn nicht wiedergesehen, seit er vor zwei Jahrzehnten fortgegangen war, um Freiheitskämpfer zu werden. Er mied den Gedanken an seinen Vater. Die gefühlte Distanz war mit jedem Jahr größer geworden, bis sie schließlich unüberbrückbare Dimensionen angenommen hatte.

Katzenbaum überholte einen Lastwagen und bog in die Ausfahrt Hamra. Sie fuhren die belebte Rue de Monot hinunter und tauchten ein in ein Gewirr enger Gassen. Die Bewohner dieser Gegend gaben sich keine Mühe, ihre religiöse Ausrichtung zu verbergen. Transparente mit Koranversen spannten sich zwischen den Hauswänden, an den Mauern hingen Bilder des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafiq al-Hariri, der im Februar durch eine Autobombe getötet worden war. Katzenbaum lenkte den Renault in eine abschüssige Querstraße und parkte vor einer Treppe.

Sie liefen ein Stück zurück bis zu einem Mehrfamilienhaus, einem schmucklosen Betonbau aus den sechziger Jahren. Allah Akbar – Allah ist groß – war mit verblasster Farbe auf die Außenwand geschrieben.

Die sichere Wohnung lag im zweiten Stock, ein karg möbliertes Vierzimmer-Apartment mit einem Balkon zur Straßenseite. Auf ihr Klopfen hin öffnete eine schwarzhaarige junge Frau, die sich als Sofia vorstellte. Sie verschwand in der Küche, während Rafiq und Katzenbaum sich im Wohnzimmer niederließen.

„Ich habe ein Abendessen mit Nasser Abu-Ghanem abgesagt“, sagte Rafiq. „Ich hoffe, dein Anliegen ist wichtig.“