Kill Your Beast - Wiebke Wimmer - E-Book
SONDERANGEBOT

Kill Your Beast E-Book

Wiebke Wimmer

0,0
5,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 5,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mona hat den Groove gepachtet. Kein Wunder. Ihre Mutter war Britta Hannak, berüchtigte Rock-Berserkerin und unbestritten die beste Drummerin aller Zeiten. Britta ist am exzessiven Trommeln und den dazugehörigen Drogen gestorben, als Mona noch ein Baby war. Als Mona entdeckt, dass sie das Talent ihrer Mutter geerbt hat, unterdrückt sie es mit aller Macht - bis der Groove aus ihr herausbricht und sie sich damit auseinandersetzen muss. Im Sommer 2018 macht Mona sich auf den Weg in die Vergangenheit ihrer Mutter. Nach Hamburg, wo in den Neunzigerjahren Britta Hannaks Karriere als Rockstar begann. In der aufgeheizten Großstadt trifft Mona auf Hannaks musikalische Weggefährten, deren Ruhm längst verblasst ist. Doch jemand hat noch eine Rechnung mit der Berserkerin offen - und Mona soll sie bezahlen ... Eine humorvolle, berührende Geschichte von Herkunft, Freundschaft, Vergebung und der grenzenlosen Liebe zur Musik. Spannung & Groove von der ersten bis zur letzten Seite. "Echt, ich war sowas von am Pagetörnen!" Frank Schulz (Onno Viets und der Irre vom Kiez) "Jetzt schon ein Jahreshighlight." Tamara Leonhard (Regenbogenblau)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

Wiebke Wimmer

Kill Your Beast

Ein Schlagzeugroman

 

Wiebke Wimmer c/o Literatur- und Kulturlounge

Mainzer Str. 6

55276 Oppenheim

3., korrigierte und aktualisierte Auflage

Lektorat: Tamara Leonhard

Coverdesign und Satz: Christian Günther

 

 

Wiebke Wimmer, geboren 1972 auf Sylt, lebt mit ihrer Familie in Schleswig-Holstein und studierte Literaturwissenschaft in Bamberg und Kiel. Kill Your Beast ist ihr Debütroman.

Website:

www.wiebke-wimmer.de

 

Intro

Ich atme. Stoßweise.

Ein aus ein ein.

Ein aus ein ein.

Ein aus ein ein.

Dann gehe ich unter.

Sieben Jahre früher

Die drei obersten Stufen knarzen immer, egal wie vorsichtig ich auftrete. Mit angehaltenem Atem habe ich mich an den halb ausgebrannten Teelichtern vorbeigeschlichen, die noch von meinem zehnten Geburtstag auf der Treppe stehen. Barfuß. Obwohl Papa gesagt hat, ich soll Strümpfe anziehen. »Sommer in Nordfriesland ist ein Widerspruch in sich, Mona.« Mit den Worten hat er mir das Sockenbündel in die Hand gedrückt, das jetzt unten auf der ersten Stufe liegt wie ein dickes, schlafendes Küken.

Auf Zehenspitzen biege ich rechts ab und öffne die Tür. Sie schrappt über den Boden. Erschrocken ziehe ich die Luft ein. Sofort krabbelt mir Teppichstaub in den Hals. Bloß nicht husten.

Bis jetzt habe ich mich nur nachts in dieses Zimmer geschlichen, wenn ich mal wieder aus einem dieser fiesen Träume aufgewacht bin. Papa sagt, ich soll mir meine Traummonster im rosa Rüschenkleid vorstellen. Meistens klappt das. Wenn nicht, schnappe ich mir meine Decke, tappe durch den Flur, öffne die Tür zu Papas Zimmer und quetsche mich neben ihn ins Bett. Sein Bart kratzt mich dann immer an der Stirn. Das hilft. Egal wie fies die Monster waren.

Das Zimmer ist der kleinste Raum im Haus. Selbst unsere Rumpelkammer im Erdgeschoss ist größer. Er braucht nicht viel, meint Papa. Mein lieber, pappeldünner Papa. Ein Bett, einen Schrank, einen Hocker. Mehr passt ja auch nicht rein.

Vorsichtig schließe ich die Tür. Die Sonne scheint auf das ungemachte Bett. Papa liegt nicht drin. Durch den Teppich höre ich das Rattern der Nähmaschine. Kombiniere: Er ist unten in der Änderungsschneiderei. Du bist so eine Schlaufüchsin, Mona! Wahrscheinlich repariert er einen Reißverschluss oder flickt eine Jeans. Papa hat viel zu tun. Ich habe Sommerferien und gar nichts zu tun. Nur die Spülmaschine wartet darauf, dass ich sie ausräume. Aber die kann noch länger warten. Heute bin ich Mona Meisterdetektivin. Und die ist viel zu sehr mit der Suche nach einem neuen Fall beschäftigt, um schnöde Spülmaschinen auszuräumen.

Ich springe aufs Bett, damit ich mich in der Spiegeltür des Holzschranks in meinem neuen Lieblingsteil angucken kann. Ein zitronengelbes Kleid mit kurzen Ärmeln, das Papa mir zum zehnten Geburtstag gemacht hat. Alle meine Anziehsachen sind von ihm geschneidert. Der Inhalt meiner Verkleidungskiste auch. Vor dem letzten Faschingsfest hat er drei Abende damit verbracht, minikleine Pailletten auf ein Elfenkostüm zu nähen.

Mein neues Lieblingsteil hat kükenfarbene Samtbänder, die Papa rund um den Halsausschnitt und um den Saum gesteppt hat. Immer wieder muss ich über den weichen Stoff streichen.

Ich hebe die Arme und drehe mich ein paarmal um mich selbst, bis das Rockteil wie ein gelber Teller in der Luft steht und meine Beine nicht mehr berührt. Ich kichere. Dann bleibe ich auf einmal wie vom Donner gerührt stehen. Gerade ist mir eine Frage durch den Kopf geschossen, auf die nur eine Meisterdetektivin kommen kann: Was näht Papa eigentlich für sich selbst?

Im Schrank riecht es nach Lavendelseife. Meine Fingerspitzen streichen über die Hemden und Hosen, die zum Teil halb von den Bügeln gerutscht sind oder klumpig auf dem Boden liegen. In allen Kleidungsstücken finde ich Etiketten mit Waschanweisungen. Kombiniere: alles gekauft. Hm.

Entschlossen schnappe ich mir den Hocker, stelle ihn vor den offenen Schrank und steige drauf, um in das oberste Fach mit den T-Shirts gucken zu können. Ich nehme einen der unordentlich zusammengelegten Stapel raus. Dahinter steht ein Pappkarton.

Sofort weiß ich, dass da ihre Sachen drin sind. Mein Herz klopft schneller. Ich hab keine Ahnung, ob es das aus Aufregung oder aus schlechtem Gewissen macht. Das da soll ich nämlich gar nicht sehen. Sonst hätte Papa den Karton ja wohl kaum im obersten Schrankfach versteckt.

Vorsichtig ziehe ich ihn heraus. Etwas darin rollt klackernd zur Seite. Sein Deckel ist an einer Ecke eingerissen und hängt in der Mitte durch. Ich setze mich aufs Bett und öffne ihn.

Zwei lange, schmale Holzstöcke und ein brauner Umschlag, auf dem in Papas Handschrift EINNAHMEN AUSGABEN steht. Sonst nichts. Mit ihrem ganzen Gewicht legt sich die Enttäuschung auf mein Zappelherz.

Was hast du erwartet, Meisterdetektivin? Ein Foto von ihr, auf dem sie lächelt und dich in die Kamera hält? Du weißt genau, dass es das nicht gibt. Keiner durfte wissen, dass sie ein Baby gekriegt hat. Sie hätten dich sonst für den Rest deines Lebens nicht mehr in Ruhe gelassen. So läuft das mit Kindern von Rockstars. Sie wären ins Haus gekommen. Sie hätten im Müll gewühlt und dir ohne zu fragen in die Haare gefasst. Du kannst es nicht leiden, wenn man dir in die Haare fasst. Schon gar nicht mit Fingern, die vorher im Müll gewühlt haben. Das hat Papa dir doch erklärt. Das ist ja auch der Grund, warum wir mit niemandem über sie reden. Nicht mal mit deiner besten Freundin. Außerdem hat sie nie gelächelt.

Ich lasse die Stöcke aufs Bett kullern. Sie sind etwa so lang wie meine Unterarme und so dick wie meine Daumen. Nach oben werden sie dünner und haben kugelige Spitzen. In beide Stöcke sind goldene Buchstaben graviert, ein B und ein H.

Britta Hannak.

Was ich über meine Mutter weiß, ist wie ein Puzzle, bei dem fast alle Teile fehlen. Das sind die Fakten, die ich habe:

Sie war eine weltberühmte Schlagzeugerin.

Ihre Band hieß Zilla.

Sie wurde lange vor meiner Geburt sehr krank.

An dieser Krankheit ist sie dann gestorben, als ich noch ein Baby war.

Ende.

Mehr weiß ich nicht. Und immer, wenn ich Papa nach ihr frage, wird sein Gesicht ganz grau.

Nirgendwo im Haus hängt ein Foto von ihr.

Die Musik, die sie mit ihrer Band gemacht hat, hab ich nie gehört. Bei uns zu Hause läuft nur Klassik und das Autoradio ist schon lange kaputt.

Jetzt weiß ich, was das für Holzdinger sind! Ich schlage mir mit der flachen Hand vor die Stirn. Jede andere Meisterdetektivin wäre sofort darauf gekommen. Trommelstöcke. Aber kein Wunder, dass ich sie nicht gleich erkannt habe. Mit Rhythmus hab ich nämlich so gar nichts am Hut. »Mona hat keinen Groove! Zum Glück!«, hat Papa damals im Spielkreis gerufen. Seine Stimme war lauter als der Lärm, den die anderen Kinder auf ihren selbstgemachten Blumentopftrommeln gemacht haben. Ich hatte keinen Schimmer, was das bedeutet. Aber der Klang des Wortes machte, dass ich selber froh war, ihn nicht zu haben. Gruuhf. Das hörte sich nach einem richtig fiesen Traummonster an. Niemals habe ich auf Blumentopftrommeln herumgepatscht wie die anderen.

Der braune Umschlag ist zugeklebt und sieht langweilig aus. Hier werde ich kein neues Puzzlestück finden. Ich schüttle mich ein paarmal, um die Enttäuschung loszuwerden. Was solls? Irgendwo im Haus gibt es einen neuen Fall für Mona Meisterdetektivin. Bestimmt auf dem Dachboden. Aber erst mal mache ich den Karton wieder zu. Die Trommelstöcke liegen noch neben mir auf dem Bett.

Sie fühlen sich rau an. An einer Stelle ist ein Stück abgesplittert.

Wie stark sie gewesen sein muss.

Ich schließe meine Finger um die Stöcke und drehe die Handgelenke, so schnell ich kann. Die kugeligen Spitzen zerschneiden die Luft und machen dabei ein scharfes Geräusch. Ich nehme einen Stock zwischen Daumen und Mittelfinger und lasse ihn hin- und herwippen. Immer schneller, bis ich die Spitze nicht mehr scharf sehen kann, nur ein verschwommenes Bild aus ganz vielen Spitzen. Das sieht schön aus.

Tock.

Der Stock hat aus Versehen den Deckel des Kartons erwischt. Erschrocken blicke ich zur Tür. Die Nähmaschine rattert. Papa hat also nichts gehört. Ich lasse Holz und Pappe noch mal zusammentreffen. Diesmal mit Absicht. Tock.

Dasselbe versuche ich mit dem zweiten Stock in der anderen Hand. Dann schlage ich mit beiden Stöcken abwechselnd auf den Deckel.

Tocktock, tocktock, tocktock.

Es klingt gleichmäßig. Wie das Ticken einer Taschenuhr. Ich spiele schneller und aus der Taschenuhr wird ein Waldspecht. Noch schneller und der Waldspecht verwandelt sich in ein knatterndes Maschinengewehr. Auf dem Rand der Kiste kann ich das Knattern scharf und hell klingen lassen. Kann die Schüsse in der Mitte dunkel und weich machen. Kann das alles miteinander verbinden.

Auf einmal fügen sich die Geräusche aus der Änderungsschneiderei zu einem Rhythmus zusammen, der immer schon da gewesen sein muss und den ich jetzt zum ersten Mal höre. Ich jauchze vor Freude und springe auf das Rattern der Nähmaschine wie auf einen fahrenden Güterzug.

Ein Schweißtropfen löst sich von meiner Stirn und läuft mir über das Gesicht und dann den Hals runter. Die Nähmaschine verstummt und ich spiele allein weiter. Der Rhythmus zieht an mir und schubst mich. Hebt mich in die Luft und lässt mich ein Stück fallen. Fängt mich auf und fliegt mit mir weiter. Ich höre das Rauschen des Windes in meinen Ohren. Das Rauschen des Windes? Nein. Es ist der Applaus von tausenden von Menschen. Sie jubeln mir zu, als ich über ihre Köpfe hinweg rase.

Mit einem Schrei reiße ich die Arme hoch und lasse die Stöcke wieder auf den Karton sausen. Feuere weiter in Lichtgeschwindigkeit. Baue das Knarzen der Treppenstufen in das Trommeln und das Rauschen ein und spiele, als hätte ich nie etwas anderes gemacht. Es ist unglaublich. Es ist …

»MONA!«

Mein Herzschlag setzt aus. Sofort verstummt auch das Rattern und Rauschen in mir. Ich lasse die Stöcke fallen.

In der Tür steht Papa. Mein lieber, pappeldünner Papa. Sein Gesicht ist grau. Er starrt auf den Karton. Der Deckel ist jetzt voller Narben und kleiner Löcher.

Ich wünsche mir, dass Papa es noch mal tut. Meinen Namen schreien. Dass sein Gesicht dabei rot wird vor Wut. Aber es bleibt grau.

Papa kommt auf mich zu und nimmt mit zitternden Fingern den Karton an sich. Er geht damit zum Fenster. Lange steht er da, mit dem Rücken zu mir und dem Pappding im Arm, und sagt gar nichts.

Ich sitze auf dem Bett und kann mich nicht bewegen. Es ist still im Raum, aber in mir drin knattert der Lärm wieder los. Tockeditock, tockeditock, tockeditock. Ich warte darauf, dass die Sonne hinter einer Wolke verschwindet und draußen ein echtes Gewitter losbricht. So ein richtiges Donnerwetter, damit dieser Krach in mir übertönt wird. Aber es bleibt sonnig. Und still.

»Du machst das sehr gut«, sagt Papa leise.

Das … verwirrt mich total. Was ist denn aus Mona hat keinen Groove geworden?

»Papa, ich …«

»Sehr gut machst du das.« Seine Stimme klingt heiser, als hätte er stundenlang gebrüllt. Dabei hat er noch nie gebrüllt. Bis eben. »Du versinkst ganz und gar im Trommeln. Das muss man wohl, wenn man es sehr gut machen will. Wenn du weiter machst, wirst du immer tiefer darin versinken. Nichts anderes wird dann mehr wichtig sein. Schule. Freunde. Du wirst dich … verwandeln. Ein anderer Mensch werden. Du … du wirst …« Er schnappt nach Luft, als würde er aus eiskaltem Wasser auftauchen. »Ich weiß, wie das läuft. Ich hatte das schon mal.«

Endlich dreht er sich um. Sein Gesicht zeigt jetzt in meine Richtung, aber er sieht mich nicht an. Er hebt den vernarbten Deckel vom Karton, holt den Umschlag raus und reißt ihn auf. Dann wirft er ihn aufs Bett und dreht sich zurück zum Fenster.

Einen Moment zögere ich. Aber ich muss einfach reingucken, es geht nicht anders. Es sind Fotos drin. Mein Herz macht einen Hüpfer. Bilder von ihr! Hoffentlich sieht sie darauf aus wie du, Meisterdetektivin. Bestimmt hat sie darauf deine hellblonden krisseligen Locken, die genau wie bei dir wie ein fransiger Helm auf ihrem Kopf sitzen. Und vielleicht hat sie darauf auch dieses Grübchen, in das sich sofort tausend Sommersprossen stürzen, wenn sie lächelt. So wie du. Ich freue mich so sehr darauf. Bis ich die Bilder aus dem Umschlag nehme und erkenne, was darauf abgebildet ist.

Die Fotos tun weh, als hätten mir ihre scharfen Kanten die Haut aufgeritzt. Ich sehe ein Stück von Papas ausgestrecktem Arm auf jedem Bild. Dahinter sein Gesicht. Es sieht ganz anders aus ohne den Bart. Und mit dem Blut unter der Nase und dem zugeschwollenen Auge.

Was ist dir da passiert? Bist du die Treppe runtergefallen, will ich fragen. Doch meine Zunge ist so schwer wie nach einer Betäubungsspritze beim Zahnarzt. Auf einmal wird auch der Rest meines Körpers ganz schwach und taub.

»Sie war das«, sagt Papa.

Sie? Wer ist sie? Klar. Die Treppe.

Mein Blick klebt auf dem obersten Foto.

Wie stark sie gewesen sein muss.

Tränen schießen in meine Augen. Ich kneife sie zu und presse mir beide Handballen auf die Ohren. Sofort ist Papa bei mir und umfasst meine Unterarme. Ich will, dass er mir die Hände von den Ohren zieht und mir dann hinein sagt, dass er damals die Treppe runtergefallen ist, bevor er die Fotos von seinem eigenen Gesicht gemacht hat. Was denn sonst? Aber er lässt meine Arme wieder los und blickt zu Boden.

Langsam nehme ich die Hände selbst runter.

»Tu mir das nicht an, Mona«, flüstert Papa.

Meine Augen schwimmen, ich kann ihn kaum sehen.

Dann werfe ich mich in seine Arme. Spüre, wie sein Zittern nachlässt. Schließe die Augen und fühle das Kratzen der Barthaare an meiner Stirn.

Diesmal tröstet es mich nicht, denn der Krach ist immer noch da.

Tockeditock. Tockeditock.

Ich habe das fieseste Monster aller Zeiten reingelassen.

Den Gruuhf.

Groove 1 nordfriesland

15. Februar 2018

Flatsch.

Ein Haufen Schneematsch hat sich vom Ast der Eiche gelöst und landet in meinem Kragen. Hinter mir kichert jemand. Blitzschnell drehe ich mich um. Sofort verstummt das Lachen und die Blicke der herumstehenden Kinder senken sich auf den nassen Asphalt des Pausenhofs mit seinen abgenutzten Hüpfspielmarkierungen. Bitterer Stolz durchströmt mich. Jetzt ist es amtlich: Ich bin gefährlich. Nicht mehr bloß seltsam, sondern gefährlich. Es scheint eine neue Hausregel an der Gemeinschaftsschule Brarum zu geben: Du sollst dich nicht mit Mona Wackernagel anlegen. Es sei denn, du willst die Haut zwischen den Augen mit zwei dünnen Metallplättchen aufgeschlitzt bekommen.

Angewidert wische ich mir die Pampe aus dem Kragen. Die Kälte bleibt an meinen Fingern kleben. Februar an sich ist schon schlimm genug. Aber Februar in Brarum, Nordfriesland – das ist die Höchststrafe. Meine Höchststrafe.

Ich stehe mitten im Pausengetümmel unter der Schulhofeiche und suche den Boden nach Müll ab. Weggeworfene Kaugummipapiere, Schokoriegelverpackungen, angekaute Lollistiele. Freiwillig? Nein. Es ist eine »pädagogische Maßnahme bei Fehlverhalten«, wie Frau Dietrich mir durch ihre gespitzten Fischlippen mitgeteilt hat. Auch wenn es genau genommen gar kein Fehlverhalten, sondern ein Unfall war. Müllsammeln ist die Strafe für das, was ich im Musikunterricht mit Annika gemacht habe. Meiner ehemals besten Freundin. Meiner ehemals einzigen Freundin.

Fröstelnd ziehe ich die Schultern und den Reißverschluss meiner dunkelgrauen Kapuzenjacke hoch. Der gelbe Patchworkschal liegt in der Klasse. Ich trage ihn nur, wenn ich aus dem Haus gehe, Papa zuliebe. Er hat ihn aus den Resten meiner zu klein gewordenen Lieblingskleider genäht, als Erinnerung an meine Kindheit. Ich habe so getan, als würde ich mich freuen, aber in Wirklichkeit halte ich diesen Schal nicht aus. Schon als ich ihn an meinem sechzehnten Geburtstag aus dem mit Herzchen bedruckten Papier gehoben habe, konnte ich ihn nicht aushalten. Trotzdem gehe ich jeden Tag damit aus dem Haus. Sobald ich außer Sichtweite der Schneiderei bin, reiße ich ihn mir vom Hals und stopfe ihn in meine Schultasche, egal wie kalt es ist. Gelb steht mir schon lange nicht mehr. Dunkelgrau ist jetzt meine Farbe. Am liebsten würde ich mir die Haare dunkelgrau färben. Aber das würde Papa nicht ertragen.

Ein zweiter und ein dritter Schneehaufen machen sich auf den Weg vom Ast Richtung Asphalt und landen kurz nacheinander in der Pfütze neben mir. Platsch, Platsch. Sofort passiert das, was immer passiert, wenn meine Ohren zwei gleich klingende Geräusche hören.

Der Groove erwacht.

Seit der Sache mit dem Pappkarton vor sechseinhalb Jahren sitzt er in mir fest. Inzwischen weiß ich, dass es nicht Pappkarton heißt. Ein Karton ist immer aus Pappe. Egal. Jedenfalls sitzt der Groove seit der Sache mit dem Karton in meinem Hirn, meinem Bauch, meinen Füßen, meinen Fingern und überall dazwischen. Es fühlt sich nicht mehr wie ein Monster an. Sondern viel schlimmer. Als hätte jemand ein Schlagzeug mit tausend kleinen und großen Trommeln in meinem Körper festgeschraubt.

Ein vertrautes Kribbeln unter meiner Kopfhaut kündigt an, dass der Groove das Platschen des getauten Schnees zu einem Rhythmus zusammengebaut hat und schon mal einzählt.

One. Two.

Ich kneife die Augen zu und fange an, so ungleichmäßig wie möglich mit der Zunge zu schnalzen. Es nützt nichts.

One, two, three.

Ich zucke mit dem linken Arm, balle dabei die Finger immer wieder zur Faust, schlackere wild mit dem Müllsack in der anderen Hand und rutsche gleichzeitig mit den Füßen ohne erkennbares Muster über den Asphalt.

Das wirkt. Endlich verzieht sich das Miststück. Immerhin habe ich diesmal niemanden verletzt. Ein Fünftklässler mit Bommelmütze, der gerade von seinem Pausenbrot abbeißen wollte, starrt mich aus sicherer Entfernung mit offenem Mund an.

Mona zeigt im gesamten schulischen und sozialen Umfeld eine ausgeprägte motorische Unruhe. Das hat Fischlippe Dietrich, die auch noch meine Klassenlehrerin ist, unter mein erstes Gemeinschaftsschulzeugnis geschrieben. Ich bin sicher, dass sie sich längst einen Stempel mit diesem Satz hat anfertigen lassen. So oft, wie er schon unter meinen Zeugnissen stand.

Nach der Sache mit Annika wurden Papa und ich ins Direktorinnenzimmer zum Gespräch zitiert. Fischlippe machte uns in ihrer umständlichen Ausdrucksweise klar, dass so etwas nie wieder passieren dürfe und dass sie uns wegen der Zuckungen dringend zu einem Besuch beim Kinder- und Jugendneurologen rate. Blubb, blubb. Da waren wir doch schon längst. Das war auch so ein Fisch. »EEG unauffällig, neurologisch-motoskopischer Untersuchungsbefund unauffällig. ADHS kann nicht ausgeschlossen, aber auch nicht eindeutig diagnostiziert werden.« Blubb, blubb.

Frau Dietrich machte sich ernsthaft Sorgen. »Nun, ja, es ist nicht zu übersehen, dass Mona mit ihrem, nun, impulsiven Verhalten, nun ja, die Abwesenheit einer weiblichen Bezugsperson, ja, kompensiert.«

Netter Versuch.

Es war nicht das erste Mal, dass sie etwas über meine Mutter herausbekommen wollte. Aber es war das erste Mal, dass sie von Bezugsperson und kompensieren sprach. Vermutlich kam sie gerade von einem Psychoseminar. Doch auch damit hatte sie bei uns keine Chance.

Was Frau Dietrich nicht ahnt: Sie kennt meine Mutter. So ziemlich jeder kennt meine Mutter. Zumindest jeder, der irgendwann in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts ein Radio oder einen Fernseher eingeschaltet hat.

Nach der Sache mit dem Karton hat Papa vor mir einen ganzen Haufen neuer Puzzleteile ausgekippt, die ich erst mal sortieren musste:

Britta Hannak ist mit siebzehn von zu Hause abgehauen, um Schlagzeugerin zu werden.

Mein Vater und sie haben sich ein paar Jahre später in Hamburg kennengelernt. Er war damals der Assistent des Kostümdesigners, der das Bühnenoutfit für die vielversprechende junge Band Zilla entworfen hat.

Frank Wackernagel und Britta Hannak haben sich ineinander verliebt.

Sie hatten eine Wahnsinnszeit.

Bis Zilla durch die Decke ging und Britta nichts anderes mehr tat, als zu trommeln.

Das Puzzleteil Sie wurde irgendwann sehr krank hat Papa gegen Sie wurde irgendwann stark drogensüchtig ausgetauscht.

Er hat sie vom letzten Konzert ihrer Welttournee aus Tokyo abgeholt und mit nach Nordfriesland genommen. Da hat sie entgiftet. Vom Trommeln und von den Drogen.

Dann wurde sie schwanger.

Nach meiner Geburt lebten wir drei zusammen in Brarum, ohne dass einer der bräsigen Nordfriesen meine Mutter erkannt hätte.

Wir hatten eine Wahnsinnszeit. Dachte Papa.

Bis Britta Hannak abgehauen ist. Hat sich heimlich ein Ticket nach Brasilien besorgt, schaffte es aber nur bis zum Hamburger Flughafen. Dort hat sie sich auf dem Klo eine Nadel in den Arm gejagt und ist an einer Überdosis Heroin gestorben.

Ohne den Rest einer Berührung auf meiner Haut zu hinterlassen. Oder einen Duft. Irgendeine Ahnung, wie es war, von ihr getragen zu werden.

Jemand hat mir mal erzählt, dass es immer noch ein Echo des Urknalls im Universum gibt. Ich habe mir so oft ein Echo von Britta Hannaks Herzschlag gewünscht, dem ich neun Monate lang zugehört habe. Und dann, als ich zehn war, kam das Echo. Mit solcher Wucht, dass ich nichts anderes wollte, als es wieder loszuwerden.

Der Groove ist das Einzige, was sie mir hinterlassen hat.

Ich war drei Monate und einen Tag alt, als sie starb.

Die Ursachen einer Überdosis Heroin sind unterschiedlich. Es könnte sein, dass sie sich eine zu hohe Dosis gespritzt hat. Oder sie hat nach ihrer cleanen Phase wieder so viel genommen wie früher. Oder der Stoff war zu rein oder zu gestreckt oder was weiß ich.

Drei Monate und ein Tag sind dreizehneinhalb Wochen.

Es heißt, dass der Tod durch Heroin schmerzlos abläuft und dass man vom Sterben nichts mitkriegt. Man wird sofort bewusstlos und hat durch die Droge kein Schmerzempfinden mehr. Angeblich ist das ein schöner Tod. Wie im Schlaf. Diese Info habe ich im Internet gefunden. Es sollte mich trösten, aber das tut es nicht.

Dreizehneinhalb Wochen sind vierundneunzig Tage.

Meine Mutter hat diesen schmerzlosen Tod nicht verdient. Sie hat den Mann, der sie über alles liebte, ins Gesicht geschlagen. Und dann hat sie ihr Baby verlassen, das erst seit vierundneunzig Tagen auf der Welt war.

Mein Puzzle ist fertig. Es zeigt ein trommelstockschwingendes, drogensüchtiges Monster.

Nach der Sache mit dem Karton und den vielen neuen Puzzleteilen kam Die schreckliche Zeit. Tage und Wochen, in denen Papa nicht gearbeitet, nichts gegessen und nur vor sich hingestarrt hat. Noch nicht mal der Ausflug zum Husumer Hafen hat ihn aufgeheitert. Rote und blaue Krabbenkutter tanzten an der Pier auf und ab, aber er starrte nur auf den Poller, an dem eins der kleinen Boote mit einem dicken Tau festgemacht war. Sein Gesicht verschwand fast vor dem bleigrauen Himmel.

Als ich an diesem Abend im Bett lag, habe ich Papa und mir in Gedanken auch so ein Tau geflochten.

Erster Strang: Wir reden mit niemandem über Britta Hannak.

Zweiter Strang: Wir reden auch miteinander nicht über Britta Hannak.

Dritter Strang: Ich trommle nicht. Nie wieder.

Stundenlang habe ich Strang um Strang um Strang ineinandergeflochten und dabei die Worte wie ein endloses Gebet vor mich hin geflüstert, bis ich eingeschlafen bin.

Papa weiß nichts von dem Tau. Aber ich bin sicher, dass meine durchflochtene Nacht etwas bewirkt hat. Am nächsten Morgen wurde ich nämlich von Pfannkuchenduft und dem Rattern der Nähmaschine geweckt, und ich hörte Papa eine schiefe Melodie pfeifen. Fast hätte ich geheult vor Erleichterung.

Ich gehe weiter mit gesenktem Blick über den Schulhof. Eine leere Taschentuchhülle versucht, von mir wegzuwehen, bevor ich sie erwische und in meinen Müllsack stecke. Von den Fahrradständern her strahlt ein helles Lachen aus dem Pausenlärm. Ich muss nicht hochschauen, um zu sehen, zu wem es gehört. Mach ich trotzdem.

Annika unterhält sich mit Moritz Mann aus dem Abijahrgang, dem mit Abstand heißesten Typen der Schule. Unerreichbar. Stundenlang haben wir von ihm geschwärmt und uns vorgestellt, wie es sich wohl anfühlt, die halbmondförmige Narbe auf seiner Oberlippe zu berühren oder, gottogottogott, zu küssen.

Sie lacht immer noch und wirft ihr seidenglattes Haar in den Nacken. Annikas Gesicht glüht, trotz der Februarkälte. Selbst mit dem Pflaster über der Nase sieht sie bezaubernd aus.

Wir haben uns bei der Einschulung kennengelernt. Sie war mit ihrer Mutter gerade erst von Bamberg nach Brarum gezogen. Ihre Augen waren während der gesamten Feier vor Aufregung so weit aufgerissen, dass man rundherum das Weiße sehen konnte. Nach der Zeremonie stellten wir uns zum Gruppenfoto vor der Turnhalle auf. Als der Fotograf uns zum Lächeln animierte und sein fröhliches »Käääsekuchen« krähte, hielt Annika es nicht mehr aus und kotzte im Schwall auf ihre Schultüte. Zum Teil sogar in ihre Schultüte. Annika war in Tränen aufgelöst und ich schenkte ihr meine.

Seitdem waren wir unzertrennlich. Brarum ist zum Schreien langweilig, also zogen wir um. In die Welten der Bücher, die wir meistens zeitgleich, manchmal sogar dicht aneinandergedrängt im selben Exemplar lesend verschlangen. Wir erkundeten magische Orte, die wir zu unserer neuen Heimat machten. Hogwarts, Zamonien, Momos Amphitheater und Gravalon unter der Geisterbahn. Wenn wir zerzaust und mit knallroten Wangen von unseren Streifzügen zurückkehrten, entwarfen wir Lesezeichen. Wir hatten einander feierlich geschworen, niemals ein Buch mit den Seiten nach unten aufs Gesicht zu legen. Beim Basteln führten wir Quatschinterviews.

»Frau Wackernagel, stimmt es, dass ein Roman weniger wiegt, je länger man darin liest?«

»Das ist korrekt, Frau Huber. Der Gewichtsverlust eines Buches während des Lektürefortschritts liegt zwar im Nanogrammbereich, ist aber wissenschaftlich eindeutig nachgewiesen.«

Wir kämmten uns gegenseitig die Haare. Wobei kämmen bei meiner Lockenwolle eher hacken bedeutet, aber Annika bürstete mir vorsichtig die Spitzen aus und arbeitete sich dann geduldig Richtung Scheitel nach oben. Bis ich aussah wie ein Rauschgoldengel.

Zeitgleich mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule kam der Groove mit seinen Zuckungen. Damals fing auch das allgemeine Gekicher und Getuschel an. Alle meine anderen Freundinnen wandten sich von mir ab, doch Annika hielt zu mir. Wenn ein paar ältere Jugendliche mir auf dem Heimweg ihre einstudierten Zuck- und Schnalzchoreographien vorführten, hakte sie mich ein. Mit hoch erhobenen Häuptern schritten wir nach Hause, um dort neue phantastische Ländereien zu erobern.

Die Tatsache, dass wir beide als Einzelkinder mit Einzeleltern aufwuchsen, war für mich immer nur eine Gemeinsamkeit von vielen. Für Annika war es von Anfang an das Erkennungszeichen unserer Seelenverwandtschaft. Stundenlang erzählte sie mir von ihrem Vater (dem Vollpfosten), der es kurz vor Annikas geplanter Einschulung in Bamberg geschafft hatte, eine ausgesprochen junge und ausgesprochen verheiratete Kollegin (die Dumpfkuh) zu schwängern. Dieses Erdbeben liegt inzwischen zehn Jahre zurück, aber die seismischen Wellen schwingen nach wie vor zwischen Oberfranken und Nordfriesland. Ich hörte ihr immer geduldig zu und hoffte, dass ihr nicht auffiel, wie wenig ich von meinem abwesenden Elternteil erzählte. Nämlich gar nichts. Aber irgendwann kamen die Fragen dann doch. Wie neugierige Welpen sprangen sie an mir hoch. Wann ist deine Mutter gestorben? Woran? Warum hängen bei euch keine Fotos von ihr? Wie sah sie aus? Wo ist sie begraben? Eine ganze Weile gelang es mir, Annika abzulenken. Leckerlis auszuwerfen, möglichst weit weg. Ein neues Buch, eine Bemerkung über den Vollpfosten, eine geschickte Gegenfrage zur Dumpfkuh, die jetzt offiziell Annikas Stiefmutter war. Das funktionierte. Bis vor ein paar Wochen.

Es war zwei Tage vor Weihnachten und wir hockten in Annikas Zimmer auf dem Bett. Haarpflege war schon durch, jetzt war Maniküre dran. Ich bepinselte den Nagel ihres kleinen Fingers. Die Nachttischlampe strahlte ihr helles Licht auf Annikas gespreizte Hand. Ich genoss die Stille, in der man nur das Klackern des Pinselhalses im Lackfläschchen hörte. Und dann ein abgehacktes Schluchzen.

Erschrocken guckte ich hoch, in zwei rotgeweinte Augen.

»Annika? Was ist los?«

Mit dem Rücken der noch nicht manikürten Hand wischte sie sich über das Gesicht und schluchzte wieder. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie weinen sah, Annika ist deutlich näher am Wasser gebaut als ich. Aber das hier war anders. Es hatte nichts mit Vollpfosten oder Dumpfkuh zu tun, das merkte ich sofort. Trotzdem warf ich routiniert mein Leckerli aus.

»Ist es, weil Moritz, der Unerreichbare, beim Nikolauskonzert mit Laura geflirtet hat? Kann ich total verstehen. Ich sage dir, wenn die auch nur einmal …«

»Scheiß auf Moritz«, brach es aus Annika heraus. »Es ist wegen dir.«

Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet. »Was hab ich denn gemacht?«

Sie wischte sich noch einmal über das Gesicht, diesmal mit dem Rücken der halbfertig lackierten Hand. Mit dem Nagel des kleinen Fingers blieb sie an einer Haarsträhne hängen und verschmierte die frische Farbschicht. »Die Frage ist, was du nicht gemacht hast.« Sie zog die Nase hoch. »Ich will wissen, wer du bist, Mona. Wo du herkommst. Aber ich kenne dich überhaupt nicht. Du … du hast ein Geheimnis. Ein schlimmes. Und das tut mir leid. Aber ich …« Sie stockte. »Echte Freundinnen teilen ihre Geheimnisse. Auch die schlimmen. Vor allem die schlimmen.« Sie fing wieder an zu weinen. »Bin ich denn überhaupt deine Freundin, Mona? Was bin ich für dich?«

Ich saß ihr immer noch gegenüber, auf dem hell beleuchteten Bett. Aber es war, als hätte sie mich in eine dunkle Ecke gedrängt.

Sag was, Mona. Los. Irgendwas. Damit das hier schnell vorbei ist.

»Annika.«

»Ja?« Ihre rotgeweinten Augen sahen mich hoffnungsvoll an.

»Jetzt …« Was? Komm schon, raus damit. »Jetzt sei mal bloß nicht so eine Dramaqueen.«

Und das war das Falscheste, was aus meinem Mund hätte kommen können. Denn es waren exakt die Worte, die Annikas Vater jedes Mal sagte, wenn sie oder ihre Mutter seinetwegen die Fassung verloren.

Annika erstarrte. Alles an ihr wurde hart und glasig. Sie stand auf, ging mit eckigen Bewegungen zur Tür und öffnete sie.

»Ich glaube, du gehst jetzt.«

»Annika, ich …« Mein Mund war knochentrocken.

Sie wurde noch ein bisschen starrer und glasiger, vor allem im Gesicht.

»Ich glaube, du gehst jetzt.«

Also ging ich.

Erster Strang: Wir reden mit niemandem über Britta Hannak.

Unter einer der Picknickbänke in der Mitte des Schulhofs liegt ein benutztes Taschentuch. Mit spitzen Fingern hebe ich es am einzigen trockenen Zipfel auf und lasse es in den Müllsack gleiten, der noch nicht mal ansatzweise voll ist. Es ist Donnerstag, der vierte und vorletzte Tag meiner Bußwoche. Müllsammeln ist nur eine von zwei Strafen, wobei die zweite genau genommen eine Erlösung ist. Ich bin bis auf Weiteres vom Musikunterricht befreit. Das ist im Moment so ziemlich der einzige Lichtblick in meinem Leben, das nur noch aus Februar zu bestehen scheint.

Unser Musiklehrer hat einen Rhythmusfetisch. Es ist unglaublich anstrengend, den Groove während dieser Stunden zu unterdrücken. Ich klöpple und klatsche so gut es geht neben dem Beat und gebärde mich ansonsten wie von der Tarantel gestochen. Am Ende des Unterrichts bin ich komplett nassgeschwitzt.

»Die will doch nur Aufmerksamkeit«, hörte ich eine meiner Mitschülerinnen einmal beim Rausgehen sagen. »Verwöhntes Papakind.«

Ich hatte Annika am Heiligen Abend eine Nachricht geschickt. Entschuldigung. Frohe Weihnachten. Darauf hat sie nicht geantwortet. Natürlich nicht. Mir hätte das an ihrer Stelle auch nicht gereicht. Ich hätte sie schon anrufen müssen. Aber leider bin ich ziemlich bockig. Und außerdem wäre ich dann wieder in dieser dunklen Ecke gelandet und wer weiß, was ich diesmal zu ihr gesagt hätte.

Sie wird sich schon wieder einkriegen. Mit diesem Mantra kam ich durch die Ferien. Und durch die erste Schulwoche. Und durch die zweite. Und alle weiteren.

Bis ich es letzten Donnerstag nicht mehr aushielt. Ausgerechnet in der Musikstunde wollte ich es ihr sagen. Dass es mir wirklich leidtut. Dass ich noch ein bisschen Zeit brauche, bis ich mit ihr über meine Mutter spreche. Insgeheim ersetzte ich ein bisschen Zeit mit bis in alle Ewigkeit, aber meine Entschuldigung würde sie hoffentlich so lange hinhalten, bis sie eines Tages endlich das Interesse verloren hätte.

Sie stand neben mir im Kreis. Unser Musiklehrer zählte.

»Auf die Eins! Eins zwei drei vier!«

Ich schlug den Schellenkranz mit der linken Hand gegen den Ballen meiner rechten und gab mir Mühe, kein einziges Mal die Eins zu treffen. Eine Winzigkeit davor oder dahinter, manchmal erst auf die Zwei. Meine Füße rutschten dabei gegen den Takt über das Linoleum und ich schnalzte mit der Zunge. Paul, ein besonders hinterhältiger Imitator meiner Zuckungen, fing an zu kichern. Ich ignorierte ihn und rückte ein Stück näher an Annika heran.

»Annika, es tut mir wirklich, wirklich …«

»Eins zwei drei vier!«

»Weißt du, ich brauche noch ein bisschen Zeit, bis ich …«

»Eins zwei drei vier! Okay, langsamer. Eins. Zwei. Drei. Vier. Mona, die Eins!«

Mein Groove bäumte sich auf. Wie mir der Schweiß ausbrach beim Versuch, gegen ihn anzukämpfen.

Annika drehte den Kopf in meine Richtung und sah mir ins Gesicht, zum ersten Mal seit Wochen. Mein Herz machte einen Salto. Für eine Nanosekunde war da dieser überwältigende Drang, mit hoch erhobenem Schellenkranz rasselnd durch die Aula zu tanzen und mich dem Rhythmus hinzugeben.

»Eins! Zwei! Drei! Vier!«

Ich war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren.

Zwischen Eins und Vier hörte ich Paul zu Annika sagen: »Mona trifft die Eins noch nicht mal, wenn sie mitten auf ihrem hässlichen Haarhelm sitzt.«

»Eins!«

Exakt auf dem Schlag ließ der Groove meine freie Hand hochzucken. Nimm das, Paul! Ich verfehlte ihn um Haaresbreite. Mit einem Triumphschrei und genau auf Drei riss ich auch die andere Hand nach oben. Die mit dem Schellenkranz. Ohne hinzusehen.

Die Metallplättchen bohrten sich mit den Kanten nach vorn zwischen Annikas Augen. Blut lief ihr auf beiden Seiten der Nase hinunter. Annika schrie. Alle schrien. Ich war starr vor Schreck. Schaffte es, einen Schritt auf Annika zuzugehen, aber sie schrie lauter und stieß mich weg. Bis in alle Ewigkeit.

Am selben Tag saßen Papa und ich bei Fischlippe und ließen uns über die Abwesenheit weiblicher Bezugspersonen belehren. Dann gingen wir nach Hause. Als wir an Annikas Haus vorbeihuschten, hörte ich, wie die Flügeltüren der Großen Halle von Hogwarts donnernd zuschlugen.

Die Haare kämme ich mir jetzt wieder selbst. Es ziept. Auch wenn ich mir Öl in die Spitzen massiere. Jeden Morgen ist irgendwas verfilzt. Abschneiden? Kommt nicht in Frage. Dann würde ich ja aussehen wie Britta Hannak.

Ein Snickerspapier kommt von hinten in mein Sichtfeld geflattert. Jemand hat es eben erst in meine Richtung geschnippt. Ich sehe mich um, aber da ist keiner. Als ich mich danach bücke, kommen mir die Tränen. Jetzt bloß nicht heulen, Mona. Die sehen dich.

Meine Hand umschließt das Papier. Dann lege ich es in den Sack und gehe damit langsam zum Müllcontainer. Dabei halte ich den Blick gesenkt und zähle meine Schritte.

Eins zwei drei vier. Eins zwei drei vier.

Ich kann nicht anders.

Eins zwei rumpel drei kläng vier. Eins zwei drei schepper vier. Mein Blick schnellt hoch.

Im Unterstand neben der Aula sitzt ein Typ breitbeinig auf der Rückenlehne einer Holzbank, die Füße auf der Sitzfläche. Ich kenne nur seinen Namen. Ole Jepsen. Einen Jahrgang über mir, kurze schwarze Haare, meine Statur, große Klappe. Aber einer der wenigen, die mich noch nie nachgeäfft haben. In jeder Hand hält er einen Stock. Die Art Stöcke, die ich vor sechseinhalb Jahren das erste und letzte Mal in den Händen hielt. Drumsticks. Wie von selbst schließen sich meine Finger um imaginäres, schartiges Holz.

Die drei anderen, die um Ole herumstehen, sind welche von der Sorte, die mit dem Smartphone ihre Rülpser aufnehmen und sie dann als Klingelton benutzen. Sie stehen nur da, nicken die ganze Zeit und sagen Sachen wie »ja, Mann« und »stabil, Digger«. Durch eine Lücke zwischen den Nickern sehe ich, dass Ole eine Brotdose aus Metall auf sein linkes und eine aus Plastik auf sein rechtes Knie gesteckt hat, mit den Böden nach oben. Seine Unterarme sind lässig übereinandergekreuzt und er trommelt. Jetzt versucht er einen Wirbel auf der Plastikdose, der ihm zu hundert Prozent misslingt. Wie von einem Magneten gezogen bewege ich mich näher an das Ensemble heran. Die vier bemerken mich gar nicht.

»Pass auf, Paradiddle«, ruft Ole und spielt auf beiden Brotdosen eine ungleichmäßige Folge von Schlägen. Was immer ein Paradiddle ist – so wie er ihn spielt, klingt er total schlimm. Zumal ihm ständig die Brotdosen von den Knien rutschen.

»Kraaass.« Die offenbar gehörlosen Nicker sind beeindruckt. »Richtig krass, Bro!«

Ole strahlt, trommelt weiter auf den Brotdosen herum und bezieht jetzt die Bank mit ein. Ich tue so, als würde ich den Schulhof nach weiterem Müll absuchen, bleibe aber in Hörweite.

»So, hier jetzt, nehmt das, ihr Bodennieten!« Ole lässt die Sticks ohne erkennbares Muster auf Plastik, Metall und Holz klappern und quasselt dabei, ohne Luft zu holen. »Hab ich gestern im Unterricht gelernt. Mein Schlagzeuglehrer sagt, ich bin me-ga-be-gabt. Und ich sage, der Mann hat recht.« Er klappert noch mal. Und noch mal. Die Nicker feuern ihn an. Jedes Mal, wenn Ole die Phrase wiederholt, krampft sich in mir etwas zusammen. Er hat eindeutig Spaß. Aber er setzt keinen Akzent, hat kein bisschen Rhythmus.

Er fühlt es nicht. Nicht so, wie ich es fühle.

Wut schießt in mir hoch wie eine glühende Fontäne. Ich hebe den Kopf, lasse den Müllsack fallen, balle meine Fäuste und gehe direkt auf die vier Typen zu. Als die Nicker mich kommen sehen, hauen sie sofort ab. Als wollten sie sowieso gerade gehen. Aber ich weiß genau, dass sie vor mir fliehen.

Du sollst dich nicht mit Mona Wackernagel anlegen.

Praktisch, so ein mieser Ruf. Warum ihn nicht auskosten?

Ole kriegt das gar nicht mit. Er ist in einen besonders schwierigen Rhythmus vertieft, den er besonders scheiße spielt. Ich stehe jetzt genau vor ihm. Starre ihn an, während es in mir fast überkocht. Das muss er mitgekriegt haben, denn endlich sieht er zu mir hoch, mit einem freundlichen Grinsen, das ich ihm gleich mit meinen Worten aus dem Gesicht wischen werde. Lass es, Ole Jepsen, werde ich ihm sagen. Du bist ein netter Kerl, werde ich ihm sagen. Aber siehst du nicht, dass meine Ohren bluten? Du bist ein rhythmischer Totalausfall und wirst es immer bleiben. Und jetzt verschwinde.

Oles Grinsen friert ein, als er mich sieht. Die Sticks sind ein paar Zentimeter über den Brotdosen erstarrt. Ich öffne den Mund. Die Worte kauern sprungbereit auf meiner Zunge. Dann schnellen sie hervor: »Gib mir Unterricht.«

Bitte was? Ich schlucke und mache dann noch einmal den Mund auf, um diesmal das Richtige zu sagen: »Bring mir die Sachen bei, von denen du da gerade geredet hast.«

Ich bin fassungslos.

Ole offensichtlich auch.

Was soll das, Mona? Du erzählst im Ernst diesem groovelosen Schnacker, dass er dir Unterricht geben soll? Niemals. Diesmal wird der richtige Text rauskommen. Da ist er auch schon: »Ich komme morgen Nachmittag zu dir. Dann zeigst du mir, wie das geht.« Unglaublich. Immerhin schiebe ich noch nach: »Das ist keine Bitte.«

In diesem Moment klingelt es und Ole erwacht aus seiner Starre. Er klappt ein paarmal den Mund auf und zu, was sehr viel rhythmischer ist als alles, was ich in den letzten Minuten von ihm mitbekommen habe. »Ich, äh, äh, ich kann nicht. Morgen kommt der Besamungstechniker.«

Diese Antwort muss ich erst mal sacken lassen. Stimmt. Oles Eltern haben einen Bauernhof und jede Menge Kühe.

Ole pflückt sich die Brotdosen von den Knien, springt von der Bank, strahlt mich an und hat wieder Oberwasser. »Freut mich, dass dir mein Drumstyle gefällt. Ich bin aber auch gut. Schönes Leben noch.«

Er rennt zum Haupteingang, reißt die Tür auf und verschwindet im Gebäude. Ich stehe allein auf dem Pausenhof und kann nicht glauben, was gerade passiert ist.

Das Klingeln der Schulglocke tönt in mir nach wie ein Gong.

Erste Runde, Ole Jepsen. Du Bodenniete.

16. Februar 2018

Ich stemme mich in die Pedale meines alten Mountainbikes und trete gegen den Wind an, dessen eisige Finger mir in die Haare greifen. Warum sprechen alle bloß immer von Windstärken? Für mich hat der Wind vor allem Schwächen. Und die größte Windschwäche ist seine distanzlose Übergriffigkeit. Ständig blinzle ich, damit mir die Augen nicht austrocknen.

Rechts vom Radweg schleicht gerade eine schlammbespritzte Familienkutsche hinter einem Laster vom Futtermittelhändler her und weicht dabei einem roten Fellbündel aus, das auf der Fahrbahn klebt. Schleswig-Holstein, Land der breitgefahrenen Eichhörnchen. Links von mir: Acker an Acker. An den Rändern ragen Stümpfe von Maispflanzen aus der Erde wie überdimensionale Bartstoppeln. In den Furchen, die Treckerreifen in die Erde gedrückt haben, sammelt sich das Schmelzwasser der letzten Wochen.

Ich nähere mich dem kahlen Apfelbaum, kurz vor der Abzweigung. Seine Krone hat der Wind in jahrelanger Arbeit niedergedrückt. Bockig und krumm steht er da, als wäre es seine Idee gewesen, so zu wachsen. Für Annika und mich war er damals eindeutig ein Verwandter der Peitschenden Weide von Hogwarts. Geduckt und mit hämmernden Kinderherzen sind wir an ihm vorbeigestrampelt und waren jedes Mal erleichtert, dass er uns verschont hat.

Die Wurzeln des Apfelbaums haben den Belag des Fahrradwegs angehoben. Ich hopple über die rissigen Bodenwellen, bevor ich zum Halten komme und die Landstraße überquere.

Ab hier gibt es keinen Radweg mehr. Ein Lieferwagen rast viel zu dicht an mir vorbei. Meine Mittelfinger sind eingefroren, sonst hätte ich dem Fahrer einen davon hinterhergeschickt. Doch meine Handschuhe liegen irgendwo zu Hause. Zum Suchen hatte ich keine Zeit. Nach der Schule habe ich meine Tasche im Flur abgeworfen, einen Teller von Papas Eintopf in mich hineingelöffelt, Oles Adresse gegoogelt und mich aufs Rad geschwungen. Papa war in der Schneiderei beschäftigt und hat mich gar nicht gehört.

Ein himmelblaues Moped knattert mir entgegen. Der Fahrer trägt kurze Hosen und keinen Helm. Im Februar. Gehts noch?

Ich fahre an einer Reihe Einfamilienhäuser vorbei, langsam genug, um die Hausnummern zu lesen. 14. 12. 10. Ein säuerlicher Geruch steigt mir in die Nase. Der Duft von Silage – vergorenem Tierfutter –, der mir nur zu vertraut ist. Gehäckselter Mais wird zu riesigen Haufen zusammengefahren und mit Folie abgedeckt. Auf die Folie schmeißen die Bauern dann alte Autoreifen, um das Ganze luftdicht abzuschließen. Die Dinger sind überall. Auf dem Wappen Nordfrieslands sollten statt der drei goldenen Segelschiffe drei Silagehaufen abgebildet sein.

Die Nummer 8 ist ein reetgedecktes Bauernhaus mit angrenzendem Stall. Vor der Eingangstür mit den blanken Butzenscheiben steht eine gusseiserne Laterne. Die Kerze darin verströmt warmes Licht.

Das Haus verschwindet aus meinem Blickfeld, als die Straße einen Bogen macht. Ich halte ein Stück weiter vor einer Einfahrt, die an einem Flachbau aus schmutziggelbem Klinker endet. Rechts davon steht der Stall, im Hintergrund eine Halle aus verbeultem Blech. Der Silogeruch vermischt sich mit einer deutlichen Güllenote. Hier muss es sein. Ole Jepsen, Dorfstraße 6, 25821 Schnakelsbüll.

Ich lehne das Rad an den Begrenzungspfahl. Mein Herz rast von der schnellen Fahrt. Was machst du hier, Mona? Seit ich gestern auf dem Schulhof mit den falschen Sätzen im Mund auf Ole losgegangen bin, verhalte ich mich wie ferngesteuert. Ein langgezogenes, dunkles Muhen aus dem Stall lässt mich zusammenfahren. Ich schaue mich um. Weit und breit ist kein Besamungstechniker zu sehen.

Über die unbefestigte und ziemlich matschige Einfahrt stapfe ich zum Flachbau, dem Wohnhaus der Jepsens. Schmucklos und nicht sehr einladend. Ich nehme meinen Mut zusammen und steige die drei Stufen hinauf zur Eingangstür.

Als ich auf den Klingelknopf drücken will, huscht hinter dem geriffelten Glas jemand durch den Flur. Ein Schlüssel wird herumgedreht. Dann öffnet sich die Tür und Ole steht vor mir.

»Nicht klingeln«, flüstert er aufgeregt. »Meine Eltern halten Mittagsschlaf!«

»Oh«, mache ich. »Aha.« Und dann, als würde es mich etwas angehen: »Haben sie gestern Abend gefeiert?«

Ole rollt mit den Augen. »Meine Eltern sind Bauern. Die feiern nicht. Die stehen jeden Morgen um halb fünf auf, um die Kühe zu füttern und zu melken. Von eins bis drei ist Mittagstunde. Ruhe im Karton. Nicht verhandelbar.«

Ich gucke an ihm runter. Er trägt ein ausgeleiertes T-Shirt, löchrige Jeans und an den Füßen moosgrüne Stoppersocken. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. In der Schule legt Ole so viel Wert darauf, stylish rüberzukommen. Und nun darf ich ihn keine dreißig Stunden nach unserem ersten Zusammentreffen schon in Schmuddelklamotten und flauschigen Socken sehen, die er trägt, damit er seine Eltern nicht beim Mittagsschlaf stört.

Auf Oles Hals zeichnen sich ungleichmäßig geformte rote Flecken ab. »Ich komm mit raus«, flüstert er, schnappt sich seine Jacke vom Garderobenhaken, schlüpft in ein Paar schmutzige Clogs und drückt sich durch den Türspalt nach draußen. »Also«, sagt er leise und steckt die Hände in die Jackentaschen. »Was willst du von mir? Hab dir doch gesagt, dass ich heute nicht kann.«

»Ja, weil angeblich der Besamungstechniker kommt«, flöte ich.

»Was heißt hier angeblich? Der kommt, verlass dich drauf. Besamer kommen immer.« Ole kichert über seinen eigenen versauten Witz und guckt mich beifallheischend an.

Den Gefallen tue ich ihm nicht. Ich sehe ihm fest in die Augen. »Du hast ein Schlagzeug. Du bekommst Unterricht. Ich will, dass du mir zeigst, was du da lernst. Diesen Paradingens zum Beispiel.«

»Paradiddle.«

»Genau.«

Ole windet sich. »Ich muss noch ein Referat vorbereiten.«

»Ja, klar. Und anschließend musst du dir die Augenbrauen zupfen oder was?«

Sein Schweigen wird von einem weiteren Muhen unterbrochen. Diesmal klingt es ungeduldig.

Ole verschränkt die Arme und guckt angestrengt in eine andere Richtung.

Mir ist klar, warum er nichts mit mir zu tun haben will. Ich bin das zappelige und neuerdings gewaltbereite Mädchen aus dem Jahrgang unter ihm. Es gibt keinen Grund, warum er sich mit mir abgeben sollte.

Ich starte einen letzten Versuch: »Du hast doch gar kein Schlagzeug.«

Das klappt. Ole schnaubt entrüstet. »Kein Schlagzeug? Na, dann komm mal mit.«

Vorsichtig zieht er die Wohnungstür zu und führt mich am Stall vorbei über den Hof. Überall liegen Reifen, Holzpaletten und leere Kanister herum.

In der Ferne erkenne ich das hübsche Bauernhaus, das mir auf dem Hinweg aufgefallen ist. »Gehört das auch zu euch?«

Ole lacht kurz auf. »Nee. Das gehört unseren Nachbarn, den Mangelsens. Mit denen haben wir nichts zu tun. Die machen einen auf Bio.«

Ich kann nicht eindeutig bestimmen, ob das verächtlich oder bewundernd klingen soll.

Ein durchdringend fauliger Gestank macht sich in meiner Nase breit. Den großen Misthaufen rieche ich, bevor ich ihn sehe. Majestätisch prangt er in einer ölig schimmernden Pfütze neben der Halle.

Ole stemmt die verbogene Schiebetür auf. »Da müssen wir durch. Alternativ durch die Mistpfütze, ganz wie’s beliebt.«

Ich schaudere bei dem Gedanken, einen Fuß in das stinkende Wasser zu setzen.

In der Halle ist es noch viel unordentlicher als draußen. Wir steigen über Stacheldrahtrollen und rostiges Werkzeug, über leere Plastikeimer und aufgerissene Kraftfuttersäcke, die einen intensiven Geruch nach Staub und Brühwürfeln verströmen. Ein uralter, orangefarbener Trecker mit platten Reifen dämmert unter Spinnweben in einer Ecke vor sich hin.

Ole scheint meine Gedanken zu erraten. »Außen pfui, innen pfui. So ist das bei meinen Alten. Keine Zeit zum Aufräumen. Bei Mangelsens nebenan ist natürlich alles hui.«

Auf der anderen Seite der Halle zieht Ole erneut eine Schiebetür auf und gibt so den Blick auf eine fußballfeldgroße Wiese frei. Wir steuern auf den alten Backsteinschuppen am Ende der Grasfläche zu.

»Meine Eltern wollten ihn abreißen, aber ich hab mich in letzter Sekunde vor den Bagger geschmissen«, raunt Ole verschwörerisch und schließt die Metalltür auf. Er schaltet mit der einen Hand das Licht und mit der anderen einen Heizlüfter an, der sofort brummend damit beginnt, die Luft anzuwärmen. Der Geruch von frischer Farbe steigt mir in die Nase und verdrängt das Mistaroma.

»Ta-daaa«, macht Ole.

Ich halte die Luft an. Der kleine Raum ist ausgefüllt mit Schlagzeug. Es steht auf einem durchgescheuerten Orientteppich, der den Boden des Schuppens bedeckt.

Das Drumset ist eindeutig nagelneu. Auf die große liegende Trommel, die Bassdrum, sind zwei kleinere Trommeln geschraubt. Aus dem Arbeitsbuch Musik weiß ich, dass sie Toms heißen. Ich strecke meine Hand aus und berühre den kühlen Metallrand einer Tom. Streiche über ihr glattes, durchsichtiges Fell.

Dann schaue ich zu Ole. »Darf ich?«

»Hmnjaah.« Er wackelt mit dem Kopf und zieht die Augenbrauen zusammen. »Mach mal lieber nichts kaputt.«

Ich lege meine flache Hand auf die HiHat, einem auf ein Stativ horizontal montiertes Beckenpaar. Die geriffelte Bronze wellt sich unter meinen Fingerkuppen. Zwischen Bassdrum und HiHat steht auf einem kurzen Stativ die kleine Trommel, die Snare. Ihr Fell sieht unberührt aus, wie eine Decke aus frisch gefallenem Schnee.

»Wie lange kriegst du schon Unterricht?«

Ole seufzt. »Drei Wochen.« Anscheinend habe ich mit den Stoppersocken und dem chaotischen Hof schon so viel Einblick gewonnen, dass er mir nichts mehr vormachen muss. »Ich hab das Drumset erst vor ein paar Tagen bekommen.«

»Hattest du denn Geburtstag?«

»Ich hab erst im August Geburtstag. Nee, einfach so zwischendurch.«

»Ganz schön üppiges Geschenk für einfach so zwischendurch.«

Ole zuckt mit den Schultern. »Dafür haben meine Eltern nie Zeit. War schon immer so.« Die Gleichgültigkeit in seiner Stimme klingt aufgesetzt. Gerade noch rechtzeitig unterdrücke ich den Impuls, ihm tröstend über den Rücken zu streichen. Stattdessen fahre ich mit den Fingerspitzen über das Fell der Snare. Ein raues Rauschen ertönt und sofort stellen sich die feinen Härchen auf meinen Armen auf.

»Ride und Crash sind bestellt, kommen nächste Woche«, sagt Ole.

»Äh, was?«

»Die beiden Standbecken. Keine Ahnung, wo ich die noch unterbringen soll.« Ole quetscht sich um das Schlagzeug herum und setzt sich auf den Hocker hinter der Snare. Er hebt zwei Sticks vom Boden auf und dreht einen davon lässig zwischen den Fingern. Sofort fällt er runter. Wieder muss ich grinsen. Ole deutet eine Verbeugung an, hebt den Stick wieder auf, nimmt den zweiten dazu und fängt an zu spielen.

Ein unfassbarer Lärm wirft sich gegen mein Trommelfell. Ich halte mir die Ohren zu. Ole bearbeitet Bassdrum, Snare und HiHat in einer ohrenbetäubenden rhythmischen beziehungsweise unrhythmischen Abfolge, ab und zu drischt er auf eine der Toms ein.

Hektisch fummle ich mir ein Papiertaschentuch aus der Hosentasche und reiße zwei Streifen davon ab, die ich zusammenknülle und mir in die Ohren stopfe. Jetzt ist es etwas besser. »Macht es deinen Eltern nichts aus, dass du in der Mittagsstunde trommelst?«, brülle ich über den Lärm.

»Nö«, schreit Ole und kommt dabei noch mehr aus dem Takt. Spielen und gleichzeitig sprechen geht offenbar gar nicht, auch wenn es nur ein Einsilber wie »Nö« ist.

---ENDE DER LESEPROBE---