Kim und Struppi - Christian Eisert - E-Book

Kim und Struppi E-Book

Christian Eisert

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Beschreibung

Wie viele Touristen jährlich Nordkorea besuchen, lässt sich exakt sagen: wenige. Dabei hält so ein Urlaub im Reich von Kim Jong-un viele Überraschungen bereit: Autobahnen ohne Autos, Hotels, in denen der fünfte Stock fehlt, und ein Tänzchen an der gefährlichsten Grenze der Welt – zu den Klängen von "Tränen lügen nicht". Christian Eisert ist 1.500 Kilometer durch die Demokratische Volksrepublik gereist. Mit gefälschter Biographie. Unter ständiger Beobachtung des Geheimdienstes. Und immer auf der Suche nach Kim Il-sungs legendärer regenbogenfarbener Wasserrutsche. Das Ergebnis ist einfach irre – und sehr komisch.

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Das Buch

Ostberlin, 1988: Als Schüler hört Christian Eisert erstmals von einer regenbogenfarbenen Wasserrutsche, die Machthaber Kim Il-sung in Pjöngjang gebaut haben soll. Der Autor ist davon so nachhaltig fasziniert, dass er sich fünfundzwanzig Jahre später einen Traum erfüllt: Gemeinsam mit seiner besten Freundin, der kratzbürstigen Fotoreporterin Thanh Hoang, macht sich Eisert auf, das bunte Rutschbauwerk zu suchen – und reist ins bizarrste Land der Welt. Die beiden wohnen in Hotelzimmern mit Softeisautomaten, finden Wanzen im Kleiderschrank und bestaunen bezaubernde Gestecke aus Blumen und Raketen. Immer wieder gelingt ihnen dabei ein Blick hinter die Kulissen des Systems. Schon bald aber geraten sie an ihre emotionalen Grenzen – und immer öfter aneinander. Doch getrennte Wege zu gehen, ist schwierig, wenn vor der Tür Wachen mit Kalaschnikows patrouillieren …

Der Autor

Christian Eisert, geboren 1976 in Ostberlin, ist TV-Autor, Satiriker und Comedy-Coach. Er schreibt Gags, Sketche und Drehbücher u. a. für Harald Schmidt und die Fernsehshows »Alfons und Gäste« und »Grünwald Freitagscomedy«. Erste Erfahrungen mit Nordkorea sammelte er im Jahr 1988, als er an seiner Schule zu Ehren einer Gästedelegation aus Pjöngjang Arbeiterkampflieder sang.

www.christian-eisert.de

Christian Eisert

Kim & Struppi

Ferien in Nordkorea

ullstein extra

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ISBN978-3-8437-0702-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Fotos im Innenteil: © Christian Eisert Umschlaggestaltung: semper smile, München Umschlagmotiv: © Corbis / KCNA / Xinhua Press, © Getty Images / Eric Reichbaum, © Nick Ledger / JAI / Corbis

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

E-Book: Pinkuin Satz- und Datentechnik, Berlin

Für A.

Die verschwundene Stadt

Wer möchte denn nachher an die Karte?«, fragte Herr Thomas zu Beginn der Geographiestunde in die Klasse. Eigentlich stand Mathe auf dem Plan, aber es wurde eine Delegation erwartet: der Bildungsminister von Nordkorea, Ri Dschong-dschu, und der stellvertretende Bildungsminister der DDR – Volksbildungsministerin Margot Honecker hatte wohl Wichtigeres zu tun.

Es meldeten sich zwei Mädchen und ein Junge.

Die pummlige Sandy schied schon mal aus. Dass ihre Mutter Sandy das dünne Blondhaar schnitt – ohne jegliches Talent für das Friseurhandwerk –, sah man deutlich. Außerdem trug Sandy keine ordentliche Pionierbluse, sondern nur einen blauen Nicki. Anders Nancy. Ihr kräftiges Blondhaar war zu einem dicken Zopf gebunden, der bis zum Saum ihres dunkelblauen Rockes reichte. Dazu protzte ihr rotes Halstuch mit dem makellosesten Pionierknoten der Klasse. Sie war eigentlich perfekt, jedoch als Gruppenratsvorsitzende bereits beim Rundgang mit der Delegation durch die Schule in Erscheinung getreten. Wäre sie jetzt wieder an vorderster Front aktiv, würde es aussehen, als hätte die DDR nur ein kluges Kind.

So fiel die Wahl auf den Jungen. Er trug ein etwas zu groß geratenes Brillengestell in Blaumetallic. Pionierhemd und Halstuch waren in Sitz und Knoten nicht so makellos wie bei Nancy, aber immerhin vorhanden.

Herr Thomas gab letzte Instruktionen und kontrollierte dabei mit den dreieinhalb Fingern der rechten Hand – Daumen und ein Stück des Zeigefingers waren bei frühpubertären Experimenten mit Silvesterknallern abhandengekommen –, ob der Reißverschluss seiner Stonewashed-Jeans geschlossen war. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte sich die Klasse an seinen regelmäßigen Griff in den Schritt gewöhnt. Und auch an die Kreidespuren an dieser Stelle.

Die nächsten Minuten warteten er und die Klasse schweigend auf den Moment, in dem man sie in ihrer ganz normalen Unterrichtstunde überraschte. Auf der dunkelgrünen Tafel stand: »Die Längen- und Breitengrade der Erde« – und darunter die Koordinaten von »Berlin, Hauptstadt der DDR«. Was noch fehlte, waren die Koordinaten von »Phöngjang, Hauptstadt der KDVR«. Es war Herr Thomas’ erstes Tafelbild, das man vollständig lesen konnte. Endlich klopfte es an der Tür. Ansatzlos sagte Herr Thomas:

»Kommen wir jetzt zu den Längen- und Breitengraden. Wer kann uns denn mal zeigen, wo Fjöngjang liegt?«, und unterbrach sich ganz verdutzt: »Oh, es hat geklopft.«

Der rote Haarschopf der Direktorin erschien im Türrahmen. »Lassen Sie sich nicht stören, Kollege.« Die Direktorin, der stellvertretende Direktor, zwei unbekannte Herren in hellgrauen und drei Nordkoreaner in dunkelgrauen Anzügen marschierten an der Wandseite entlang nach hinten. Die Nordkoreaner trugen alle denselben Linksscheitel. Einer lächelte schiefzahnig: Ri Dschong-dschu.

Ganz hinten, neben der Wandzeitung zum »Internationalen Tag des Kindes«, war ganz zufällig ein Tisch mit zwei Stühlen frei. Die Direktorin und Ri Dschong-dschu nahmen Platz. Ein Nordkoreaner hockte sich hinter sie – der Dolmetscher.

Der Junge wurde nach vorn gerufen und stand nun vor der großen Weltkarte. Lauter bunte Länder. Schweinchenrosa die Sowjetunion, grün die USA und die kleine DDR himmelblau. Er spürte, wie ihm die Delegation, die Klasse und Herr Thomas auf den Rücken starrten. Er starrte ebenfalls. Von nahem wirkte die Karte deutlich unübersichtlicher.

»Na«, Herr Thomas’ demonstrative Heiterkeit kollidierte mit dem Beben in seiner Stimme, »arbeitest du dich von links nach rechts vor? Von Europa nach Asien?«

Der Dolmetscher übersetzte.

Rechts und links kann der Junge bis heute nur nach längerem Nachdenken lokalisieren. Ihm wurde schwummrig. Die blaue Metallbrille rutschte von der Nase. Er schob sie mit dem Zeigefinger zurück, schielte zu Herrn Thomas. Der nestelte an seinem Hosenschlitz und fixierte gleichzeitig einen Punkt am anderen Ende der Karte. Das half.

Schnell hatte der Junge China gefunden. Ein gelber, fetter Fleck unter der Schweinchensowjetunion. Gleich darauf zeigte er auf die Koreanische Demokratische Volksrepublik – KDVR.

Alle atmeten aus. Auch der Dolmetscher.

»Und jetzt sind wir sehr gespannt«, schaltete sich die Direktorin von hinten ein, und jeder hörte die Drohung unter ihrem Lächeln, »wie die Längen- und Breitengrade von Fjöngjang lauten.« Auch sie sprach das Ph als F aus.

Der Dolmetscher übersetzte, Ri Dschong-dschu nickte. Und der dickere der hellgrauen Herren auch. Vermutlich Margot Honeckers Stellvertreter.

Der Junge stierte auf die koreanische Halbinsel. Die Landzunge sah aus wie ein Seepferdchen. Den nordkoreanischen langschnäuzigen Kopf reckte es nach oben rechts, den südkoreanischen Bauch wölbte es vor. Der Schwanz fehlte, als hätte man ihn abgehackt. Nord- und Südkorea – ein Seepferdchen, das vor Schmerzen schrie.

Farben und Linien, Buchstaben und Zahlen. Alles floss ineinander. Dem Jungen kam die riesige Wasserrutsche in den Sinn, die irgendwo in der Hauptstadt Nordkoreas stand. Gestern hatten alle Schüler im Kino Sojus einen Film über die KDVR gesehen. Das regenbogenfarbene Rutschbauwerk, ein Geschenk des Großen Führers Kim Il-sung an Koreas Kinder, hatte ihn am meisten beeindruckt. Ein Umstand, der im anschließenden Auswertungsgespräch zum Film nicht so gut ankam. Besser wäre es wohl gewesen, eine kommunistische Errungenschaft zu nennen, bei der es aufwärtsgeht.

Hinter ihm Flüstern und Scharren von Schuhen. Er versuchte sich zu konzentrieren. Kniff die Augen zusammen, riss sie auf. Der bunte Brei blieb. Der Junge drehte sich zur Klasse um. Sofort Stille. In den Gesichtern der Mitschüler Anteilnahme, Schadenfreude und Erleichterung darüber, nicht selbst vorn zu stehen. Der Mund des Jungen war ausgetrocknet. Man verstand ihn kaum. »Ich find’s nicht …«

Hinten wurde übersetzt. Ri Dschong-dschu grunzte.

Der Junge hörte, wie Herr Thomas Sandys Namen rief, sah von seinem Platz aus, wie sie deutete und redete und wie sie die Ehre der Klasse, der Schule und der gesamten Deutschen Demokratischen Republik wiederherstellte. Und er schwor sich, nie, nie mehr darüber zu sprechen.

Den Regenbogen hinauf

Die Bäume am Boxhagener Platz streckten ihre kahlen Äste in den Berliner Wintermorgen. Ein Krähenschwarm stieg auf. Modisch vermummte Mütter trieben ihren Nachwuchs durch die von Altbauten gesäumten Straßen. Früher hätte es nach Kohlerauch gerochen.

Der Workshop fand zum ersten Mal am neuen Standort der Drehbuchakademie statt. Während zwei Dutzend Teilnehmer meines Comedy-Seminars schwatzend ihre Plätze einnahmen, tippte ich in mein Handy:

Werkle heute bei dir ums Eck. Könnten zusammen Mittag essen …

Ihre Antwort kam noch vor dem letzten Nachzügler:

Schniefe und krächze. Fieber auch. Und drei Abgabetermine!!!

In der Mittagspause stürmte ich in die Apotheke gegenüber, kaufte eine Eukalyptusbad-Sprudeltablette, Salbeibonbons und Holunderblütentee, hetzte damit über die nächste Kreuzung, durch eine Toreinfahrt in einen Hinterhof. Rannte eine Treppe hoch und war wenige Sekunden später ohne Apothekentütchen wieder auf der Straße. Im Schein der Januarsonne tippte ich:

Schau mal an deine Wohnungstür. Kleiner Gruß von mir …

Es war vier, als sie antwortete.

Habe es gerade gefunden. :-))) Du bist ein Schätzchen. Liebe Eukalyptusbad!!! Dicke Schnupfenumarmung! … Wieso hast du nicht geklingelt???

Ich ließ die Seminarteilnehmer zehn Berufe für einen dicken Mann aufschreiben, so blieb Zeit für:

Hatte Angst mich anzustecken.

Kurz vor dem Ende der Übung kam:

War ja klar!

Vier Stunden später saßen wir trotzdem zusammen in ihrem Wohnzimmer. Draußen war es dunkel. Der Schein der Teelichter auf ihrem Tisch spiegelte sich in den Fensterscheiben.

»Ich hab irgendwo noch ’nen Mundschutz. Willste den umbinden?« Es gelang ihr, die beiden Sätze zwischen nur drei Hustern auszustoßen. Sie hing auf einem Stuhl an der Stirnseite des drei Meter langen Esstisches aus Eichenbalken. Zurückgelehnt saß ich an der gegenüberliegenden Seite und streichelte den dicken Kopf ihres Labradors. »Sollen wir dein Frauchen fragen, ob sie das Ausatmen einstellt? Wegen der Bakterien.« Der Hund legte den Kopf schief und dachte nach. Er hieß Uncle Sam. Seine Herrin lachte.

Trotz ihrer jämmerlichen Verfassung und des Jogginganzuges, der um ihren Körper schlabberte, strahlte sie mehr natürliche Coolness aus als alle Friedrichshainer Modemuttis zusammen. Kennengelernt hatten wir uns vor fünf Jahren, als ich sie im Gästegedränge einer Vernissage übersehen und meinen Orangensaft über ihr teures Áo dài geschüttet hatte, ein traditionelles vietnamesisches Seidenkleid, das sie an diesem Abend zum ersten Mal trug. Damals besann sie sich gerade wieder auf ihre Wurzeln. Thanh ist nämlich gebürtige Vietnamesin. Aus der anschließenden Mail-Korrespondenz über Reinigungsrechnungen und die zerstörerischen Kräfte von Orangensaft wuchs unsere besondere Freundschaft. Einige Monate später schenkte ich ihr zum Geburtstag ein neues Türschild mit der Gravur Thanh Hoang.

Mit der Frisur, die sie heute Abend trug, hätte ich sie damals sicher nicht übersehen. Ihre langen, schwarzen Haare hatte Thanh mit einem roten Tuchwickel hochgebunden. Oben schauten fransige Strähnen heraus. Bei jeder ihrer Hustenattacken schaukelte der rote Turm heiter hin und her. Statt der üblichen Kontaktlinsen trug sie ihre schwarze Brille, die etwas zu groß war für die kleine Nase. »Du hast bestimmt Hunger. Ich hab noch Auflauf im Kühlschrank.«

»Mit Fleisch?«

Statt einer Antwort äugte sie über den Brillenrand und ließ die Pupillen kreisen, was wohl »Dumme Frage!« heißen sollte. »Zucchini und Auberginen.«

Ich machte ein »Bäh!«-Gesicht. Sie riss eine Packung Marlboro auf. »Dann einen Tee, ja?«

Ich nickte.

»Darf ich erst eine rauchen?«

»Was fragst du? Du wohnst hier.«

»Ich rauch’ am Fenster, ja?«

Sie war im Begriff aufzustehen und Frostluft hereinzulassen. Augenblicklich verspannte ich. »Du holst dir den Tod. Durch Erkältung und Nikotinvergiftung.«

»Du meinst, du holst dir den Tod.« Ihr Feuerzeug klickte. Das Fenster blieb zu. Im meinem Kopf kreiste die Idee, ein neues Sprichwort zu erfinden mit »Regen«, »Traufe«, »Pest« und »Cholera«. Sie pustete, hustete und sagte: »Mann, Hase! Kein Alkohol, keine Zigaretten und bei dreißig Grad im Schatten heizen. Wie hält das Isabel nur mit so einem Pimpelchen aus?«

Isabel war meine Freundin. Ich hielt sie lieber aus der Diskussion heraus. Nachher stritten wir noch darüber, warum ich mich als Berliner an eine Schwäbin verschenkte. Mein Liebesleben war ähnlich turbulent wie das von Thanh. Regelmäßig klagten wir einander unser Leid mit Partnern und Trennungen. Unsere Freundschaft dagegen erwies sich bisher als unerschütterlich. Obwohl uns so viel trennte. Zum Beispiel unser Wärmebedürfnis.

»Wieso Pimpelchen? Erstens sind draußen minus vierzehn Grad, und zweitens hatte ich schon meinen Arm im Hintern einer Kuh.«

»Ich hab mich drei Tage in der Sahara verlaufen.«

»Ich hab dreizehn Jahre in der DDR gelebt.«

»Ich bin fast verdurstet.«

»Ich war Jungpionier!«

Sie blies Rauch in Richtung Decke. »Oh, wie gefährlich. Pionier an der Thälmann-Schule.«

»Meine Schule hieß Schule der Freundschaft zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Koreanisch Demokratischen Volksrepublik!«

»Bitte?«

Ich wiederholte den Namen. Diesmal noch schneller. Als Schüler hatten wir damit Zungenbrecher-Wettbewerbe veranstaltet. Natürlich nicht offiziell.

»Und was habt ihr da gemacht? Panzer aus Reis gebaut?«

»Nein, wir bekamen Besuch von nordkoreanischen Freundschaftsdelegationen und wedelten mit Winkelementen.«

»Winkelemente?«

»Ja, Sonnenblumen aus Plastik, die auseinanderfielen, wenn man zu sehr winkte.«

Heiseres Bellen drang aus ihrer Kehle. Uncle Sam zog seine breite Stirn in Falten. Was ihm Frauchen wohl sagen wollte? Leise beruhigte ich ihn: »Alles gut, sie lacht nur …« Laut erläuterte ich: »Meine Schule trug den längsten Schulnamen der DDR. Und ich erinnere mich an einen sehr beeindruckenden Film im Kino Sojus über Kim Il-sungs Regenbogenrutsche.«

»Nordkoreaner rutschen auf dem Regenbogen?«

»Ja, je Farbe eine Bahn.«

»Hase, ich glaub, du wohnst zu warm …«

Hase nennt Thanh Menschen, die sie besonders mag. Bei uns kam hinzu, dass sie mich damals auf der Vernissage als eine Art Hasen kennengelernt hatte. Genaugenommen als Kaninchen. Das erzählen wir aber nicht so gern.

Auf Thanhs Eichentisch flackerten regelmäßig die Flammen der Teelichter. Wahrscheinlich zog es durch eines der Fenster. Ich kraulte mich durch Uncle Sams Flauschfell. Thanh drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus. »Wäre natürlich ein tolles Aufmacherfoto: die Regenbogenrutsche von Kim Il-sung.«

»Preisverdächtig!«, schlug ich in die gleiche Kerbe. »Und ein dickes Honorar gäbe es sicher auch.« Thanh ist Fotoreporterin.

»Falls du dir das nicht alles einbildest«, zweifelte sie.

»Im Netz findet man tatsächlich nichts dazu.«

»Siehste …« Thanh hustete.

»Dann müssen wir eben hin«, sagte ich. »Abgesehen von der Rutsche: Ich wollte immer schon nach Nordkorea. Schließlich haben wir damals tagelang geübt, die Kims nicht zu verwechseln. Das darf doch nicht umsonst gewesen sein.«

Thanh blies die Backen auf und ließ lippenflatternd Luft ausströmen.

Ich hatte sie am Haken. Obwohl – meine Angel war vergebens ausgeworfen. »Es gibt ein dickes Problem, meine Liebe. Nordkorea lässt keine Journalisten ins Land.«

»Ich finde viel schwieriger, deinen schwäbischen Schwarm davon zu überzeugen, dass er dich mit mir verreisen lässt.«

»Heißt das also …?«

Thanh nieste.

Es klang nach: »Probieren wir’s.«

Acht Wochen später stand ich mit Isabel vor dem Abfluggate am Flughafen Tegel. »Du kommsch heil wieder, gell?«

»Du wolltest nicht weinen!«

Isabel presste die Lippen zusammen, schmiegte sich in meine Halsbeuge.

Ich strich ihr durch die blonden Haare.

Nur eine Reisende stand noch vor der Sicherheitsschleuse. Sie drehte sich um: »Dableiben oder mitkommen?«

»Isabel, es wird Zeit …« Ich löste mich aus ihrer Umarmung. Sie nickte. Stumm und tapfer. Ließ los. Ich musste an die Cartoonreihe denken mit diesem zuckersüßen pummligen Pärchen: »Liebe ist …«

Liebe ist, den Liebsten nach Nordkorea fahren zu lassen. In ein Land, dessen Herrscher in den Zeitungen als irre bezeichnet wurden.

Für jeden Tag meiner Abwesenheit hatte ich Isabel einen Brief geschrieben und unter ihrem Kopfkissen versteckt. Meine Zeilen würden sie jeden Morgen lange beschäftigen. Mit der Hand schreibe ich recht unleserlich.

Vielleicht war Liebe auch, den Liebsten mit einer anderen Frau verreisen zu lassen. Von Berlin nach Abu Dhabi, von dort nach Peking und dann weiter flog ich mit Thanh. Die aber jetzt nicht mehr so hieß.

Die blinden Maschinen

Die Tür des Flugzeugs wurde verriegelt.

Etwas Chinesisches ertönte, das »Boarding completed« heißen konnte. Oder: »Jetzt sitzen Sie in der Falle.«

»Also, da drüben kommt keiner mehr«, sagte meine Reisebegleiterin. Sie stand auf.

»Bleib lieber hier«, bat ich.

»Wenn es verboten ist, werden sie mich bestimmt sofort erschießen.«

»Nein.«

»Nein?«

»Erst nach der Landung.«

»Quatschkopp …« Sie wechselte auf die andere Gangseite. Nun konnte jeder von uns die Beine über zwei Sitze ausstrecken. Wir waren am Dienstagabend in Berlin gestartet, jetzt war es Freitagmittag. Unsere letzte Reiseetappe begann.

Die Boeing kurvte über das Rollfeld, während zwei chinesische Stewardessen die Sicherheitshinweise vorführten. Blass und zackig. Draußen hüllte der Smog Pekings die Terminalgebäude und Hangars ein. Die Welt schien zu verschwinden.

Unsere Maschine kam zum Stehen. Holte Atem. Die Turbinen heulten auf, das Flugzeug erzitterte … und jagte los. Gelbe Grasflächen rasten am Fenster vorbei. Das Donnern der Räder brach ab. Wir schwebten.

»Sandra, Sandra, Sandra«. Seit dem Abflug wiederholte ich regelmäßig im Kopf Thanhs neuen Namen, an den ich mich erst gewöhnen musste. Dabei war er gar nicht neu. Nur benutzte Thanh ihren deutschen Namen seit fünf Jahren nicht mehr.

»Sandra, Sandra, Sandra.« Wenn ich das versaute, würde es lebensgefährlich werden.

Die vergangenen Nächte hatten wir, schlaflos meist, in der Luft verbracht und tagsüber versucht, auf den hektischen Sightseeing-Abstechern ins Zentrum unserer Zwischenstoppstädte munter zu bleiben. Wir hatten uns für die einzige ausländische Fluggesellschaft entschieden, die Nordkorea zu diesem Zeitpunkt per Linienflugplan ansteuerte: Air China bediente die Strecke Pjöngjang–Peking bis zu dreimal die Woche. Genausooft flog die nordkoreanische Air Koryo. Regelmäßig, besonders im Winter, fallen Flüge wegen Passagiermangels aus.

Allerdings erfüllen nur zwei Flugzeuge der Air Koryo die strengen europäischen Sicherheitsstandards. Bis auf die relativ neuen Tupolews Tu-204 ist die Flotte für den europäischen Luftraum gesperrt. Da wir nicht sicher waren, womit uns die Nordkoreaner zu transportieren gedachten, wollten wir wenigstens dieses Risiko ausschließen. Wir gingen ja genug andere ein.

Wie viele Touristen jährlich nach Nordkorea kommen, lässt sich nicht verlässlich sagen. Die Führung behauptet nach innen und außen, es seien Massen, um ihr Land aufzuwerten. Reiseveranstalter behaupten aus demselben Grund das Gegenteil. Landesführer Kim Jong-un verkündete 2012, Nordkorea bald für einhunderttausend Touristen im Jahr zu öffnen. Das wären rein rechnerisch zweihundertvierundsiebzig Menschen am Tag. Momentan sind es nicht ganz so viele, die ihre Ferien in Nordkorea verbringen. Zum Zeitpunkt unserer Reise waren es nach inoffiziellen Schätzungen viertausend bis fünftausend westliche Besucher im Jahr. Den Kölner Dom besuchen durchschnittlich sechzehntausend Touristen. Am Tag.

An sich ist es gar nicht so schwer, Ferien in Nordkorea zu machen. Man braucht nur eine Einladung von dort. Bei der Handvoll deutscher Anbieter, die touristische Reisen nach Nordkorea anbieten, sind diese Einladungen im Reisepaket inbegriffen. Inhaltlich unterscheiden sich die Pakete kaum. Unterbringung und Verpflegung stehen von vornherein fest. Alle Programmpunkte schreibt die nordkoreanische Reiseagentur Korean International Tourism Company (KITC) vor, die alle Touristen vor Ort betreut. Einziger Unterschied der Angebote: Entweder reist man in einer Gruppe oder individuell.

Individuell war teurer. Aber stressfreier. Hofften wir.

Außer uns befanden sich rund fünfzig weitere Passagiere an Bord des Fluges CA121. Ein Drittel davon Asiaten. Die meisten an Bord wirkten wie Touristen, praktisch gekleidet und leuchtenden Blickes. Nur eine Reihe Westler und einige Asiaten in Anzug und Krawatte verrieten sich als Diplomaten oder Geschäftsleute.

In den Reiseempfehlungen für Nordkorea steht, man möge angemessene Kleidung tragen. Für den Besuch besonderer Sehenswürdigkeiten seien dunkle Stoffhosen erwünscht.

Sandra trug eine abgewetzte Lederjacke, T-Shirt und Blue Jeans, ich ein Kapuzenshirt, darunter einen Wollpullover mit Rollkragen gegen eventuelle Zugluft und ebenfalls Jeans. Vielleicht ließen sie uns gar nicht erst ins Land.

Nach einer Stunde Flug teilten die Stewardessen Einreiseformulare aus. Ein Din-A5-Blatt und ein handtellergroßes Zettelchen, beide dünn wie Seidenpapier. Wie schon bei unseren Visaanträgen, die wir vier Wochen zuvor über unsere Reiseagentur bei der nordkoreanischen Botschaft in Berlin eingereicht hatten, mussten wir Name, Alter, Beruf und Arbeitgeber angeben, dazu unseren Reisepartner und in welcher Beziehung wir zu diesem standen.

In die Namensspalte hatte Thanh Sandra Schäfer geschrieben, einen gültigen Pass mit diesem Namen besaß sie noch, bei ihrem Beruf hatte sie komplett gelogen und statt Journalist den durchaus logischen Broterwerb Dolmetscherin für Vietnamesisch und Deutsch eingetragen.

Da ich nicht über den Luxus eines Zweitnamens verfügte, reiste ich unter meinem ersten und einzigen. Allerdings als Lehrer für dramatisches Spiel und nicht als Comedy-Coach, weil ich nicht wusste, wie viel Spaß man in Nordkorea verstehen würde. Zeitgleich mit der Reisebuchung hatte ich meine Website und sämtliche Profile in sozialen Netzwerken umgestaltet und jeden Hinweis auf meinen zweiten Beruf als TV-Autor gelöscht. Den konnte man leicht mit Journalist verwechseln. Und ausländische Journalisten stehen in Nordkorea grundsätzlich unter Spionageverdacht.

Ein Restrisiko blieb. Wer intensiver suchte, fand natürlich Hinweise zu meinem beruflichen Tun auf Webseiten, die ich nicht beeinflussen konnte. Immerhin, ein Visum für Einreise hatten sie uns schon mal erteilt.

In den ausgeteilten Zollformularen sollten wir außerdem vermerken, ob wir Sprengstoff oder Waffen mitführten und welche elektronischen Geräte wir mitbrachten.

Ich trug mein Netbook ein, Sandra ihr iPad. Erst auf ein Augenrollen meinerseits ergänzte sie noch ihr iPhone.

In die Zeile Devisen schrieb ich: 204,53Euro –100US-Dollar –31,70Dirham. Und Sandra: +/-100Euro,50–60US-Dollar.

Von oben sah Nordkorea aus wie eine alte Wolldecke, die ein Hund durch Pfotenscharren und Schnauzenstupser und ewiges Im-Kreis-Drehen bearbeitet hat. Je tiefer unsere Maschine sank, desto mehr veränderte sich der Eindruck. Aus der Woll- wurde eine Patchwork-Decke. Felder in allen Formen, umrandet von Hecken, deren gleichmäßige Dichte Menschenhand verriet. Anbauflächen, die sich dem unablässigen Auf und Ab der Landschaft anpassten. Dazwischen Ansammlungen weißer Häuser und langgezogene Industriebaracken. Manche mit himmelblauen Dächern. Schließlich tauchte unter uns der Flughafen auf. Unser Pilot landete sportlich, aber sicher. Niemand klatschte. Auf anderen Flughäfen freuen sich Passagiere mehr auf ihr Urlaubsland.

Risse durchzogen den Beton der Landebahn und ihrer Abzweigungen, ähnlich wie auf Rollfeldern spanischer Inselflughäfen. Unsere Boeing rumpelte an einem Dutzend Flugzeugen vorbei. Über die ganze Länge der weißen Alurümpfe zog sich auf Höhe der Fenster ein roter Streifen, umrahmt von schmalen blauen. Im gleichen Blau der Schriftzug der Airline: »Air Koryo«. Ebenfalls in koreanischen Schriftzeichen. An einigen Tragflächen hingen Düsentriebwerke, die meisten aber trugen schwere Propeller. Der Größe nach geordnet standen die stumpfnasigen Antonows und Tupolews am Rand des Flugfeldes. Schräg zu uns, aber zueinander sorgsam parallel ausgerichtet. Über den Scheiben aller Pilotenkanzeln lagen Tücher. Eine mächtige Flotte blinder Maschinen.

Meine Stirn wurde taub, so sehr presste ich sie ans Fenster. In den zerkratzten Ausschnitt von der Welt draußen geriet das sandfarbene Terminalgebäude. Auf dem Dach das meterhohe Kopfporträt eines graumelierten Herrn. Feistes Gesicht, strahlendes Lächeln. Es fehlte nur der Slogan »Blend-a-med winterfresh – Frischer Atem für die Dritten«. Stattdessen erinnerte ein Wort aus roten Einzelbuchstaben daran, dass es sich bei dem Abgebildeten nicht um ein asiatisches Silver-Ager-Modell handelte, sondern um Staatsgründer Kim Il-sung. Pyongyang kündete es vom Dach herab. Die englische Schreibweise von Nordkoreas Hauptstadt.

Die zweigeschossige Fensterfassade unter dem Schriftzug sollte dem kantigen Sechzigerjahrebau wohl Imposanz verleihen. Er erinnerte jedoch eher an eine Dreifelderhalle für Betriebssportgruppen in Bitterfeld als an das Empfangsgebäude des Hauptstadtflughafens eines Vierundzwanzig-Millionen-Volkes. Zusätzlich schmälerte der angrenzende Turm den Repräsentationsanspruch. Halb eingerüstet und notdürftig verhängt, ragten staubige Mauerstümpfe in den grauen Himmel. Daneben funkelte ein Flachbau. Seine blau schimmernde Glasfassade trat in der Mitte spitzwinklig hervor. Darüber liefen Dachelemente schräg zusammen. Autohäuser in Kreisstädten sehen so aus. Autohäuser in Bitterfeld.

Ich nahm die Stirn vom Fenster.

Eine Flugbegleiterin hieß uns in der Demokratischen Volksrepublik Korea willkommen und gebot, noch so lange angeschnallt sitzen zu bleiben, bis das Flugzeug seine endgültige Parkposition … Ich verstand kein Wort der chinesischen Ansage. Aber ich schloss aus, dass sich die Stewardess – wie es das Personal beim Zwischenstopp in Abu Dhabi getan hatte – für den guten Flug bei Allah bedankte. Das mit der Parkposition sagen sie ja immer. Und das mit dem angeschnallt Sitzenbleiben auch. Und jedes Mal hält sich keiner daran. Bis es endgültig stand, rührte sich in unserem Flugzeug niemand.

Schließlich schnappten die Gurte, klappten die Handgepäckfächer. Jemand lachte auf. Keiner schaltete sein Handy ein. Meines lag in Berlin auf dem Schreibtisch. Handys waren hier verboten. Zollbeamte nahmen am Flughafen jedem Einreisenden das Handy ab, hieß es. Sandras Kommentar dazu: »Das sollen sie mal versuchen!«

Jetzt standen alle. Halb im Gang, halb über Sitzlehnen gebeugt. Wir saßen. Sandra links vom Gang, ich rechts. Aus der vierten Reihe konnten wir das Kabinenpersonal beobachten, und das machte keine Anstalten, die Flugzeugtür zu öffnen.

Ich schaute auf meine Uhr. Graues Plastik, Digitalanzeige, wasserdicht. Was schon deshalb praktisch war, weil man unter ihrem Gummiarmband ständig schwitzte. Wir waren jetzt seit sechsundsechzig Stunden auf den Beinen.

Ich begann die Zeit umzustellen. Nordkorea ist Deutschland sieben Stunden voraus, der Unterschied zwischen Peking und Pjöngjang beträgt eine Stunde. Da ich nicht wusste, wie man es hier mit der Sommerzeit hielt, ließ ich es wieder bleiben. Vielleicht herrschte in Nordkorea ewiger Winter. Eine andere Zeitrechnung gilt in jedem Fall. Die Jahreszählung beginnt in Nordkorea offiziell nicht mit der Geburt Christi wie bei uns, sondern im Jahre 1912. Mit der Geburt Kim Il-sungs.

Nach einer Weile merkte ich, dass meine Finger gleichmäßig über meine Uhr glitten. Ich streichelte sie. Sie war das Abschiedsgeschenk Isabels. Wir hatten sie am Abend vor dem Abflug gemeinsam in einem Drogerie-Discount ausgesucht. Andere Paare mochten an Abschiedsabenden schön essen gehen. Wir gingen Hand in Hand durch neonlichterhellte Regalreihen. Links die Schaumfestiger, rechts Tampons und Binden.

Meine Zwölf-Euro-neunundneunzig-Uhr wartete neben Stoppuhr und Countdown mit einer Weckfunktion auf. Deshalb hatte ich sie mir ausgesucht. Vom Handy wecken lassen ging ja nicht. Und das graue Wunderwerk konnte die Herzfrequenz messen!

Der Mann mit den Eisaugen

Unserer Maschine näherte sich eine himmelblaue Gangway.

Gleich darauf traten wir hinaus in den nordkoreanischen Nachmittag. Der Wind war weich, die Luft warm, der Himmel grau. Es roch nach Frühling.

Ich legte den Zeigefinger auf die Messtaste meiner Uhr, hielt ihn die Stufen der Gangway hinab gedrückt. Als ich den Boden betrat, piepte es. Puls: hunderteinundzwanzig. Wie unsere Flugnummer.

An der niedrigen Decke in dem spiegelverkleideten Flachbau flimmerten nur wenige Leuchtstoffröhren. Er schien nur aus einem langen Raum zu bestehen. Mannshohe Holzwände, jeweils etwa einen Meter breit, trennten drei Viertel des Raumes der Länge nach ab. Hier hielten sich alle ankommenden Passagiere auf. Abfliegende sah man nicht. Wenn eine Maschine startete, würden sie es wohl umgekehrt arrangieren.

Olivgrüne Uniformen in jeder Ecke. Links vorne zwei Schalter des Zolls, davor ein Durchleuchtungsgerät mit dem Gepäckrolltisch. Gegenüber ein einziges Gepäckband.

Die Businessmenschen bildeten Gruppen. Fünf Westler und zweimal drei Asiaten. Touristen standen meist pärchenweise herum. Nur ein Tourist reiste anscheinend allein. Ein hünenhafter Mann, der Militärhosen trug und eine wüstensandfarbene Weste mit unzähligen Taschen, die über seinem Bauch spannte. Umherirrend rief er: »Yanggakdo? Fährt wer zum Yanggakdo Internäschenel? Irgendjemand? Yanggakdo?«

Alle fuhren zum Yanggakdo International. Dem Hotel für Ausländer.

Eine weißhaarige dicke Engländerin, grüne Windjacke, Gürteltasche, redete auf ihn ein. Er verstand sie nicht. Sie wusste sich zu helfen: »Are there any Germans here?«

Antwort gab eine schlanke Enddreißigerin mit roten Rastazöpfchen. »I’m Austrian. I speak German.«

»Oh Sweetheart, would you help him?«

Wie sich herausstellte, gehörte die Mehrheit der Touristen am Flughafen zu ein und derselben Reisegruppe. Sieben Tage Rundreise durch Nordkorea. Sandra und ich sahen uns an. Sie schloss kurz die Augen.

»Ja«, sagte ich. »Gott sei Dank!«

»Eine Reisegruppe hätten wir im Leben nicht ausgehalten.«

»Wir müssen ja schon uns aushalten.«

Ganz am Ende des Gebäudes, wo es nach draußen ging, warteten, jeweils zu zweit, Nordkoreaner in dunklen Anzügen. Meist Herren. Die wenigen Damen trugen schwarze Kostüme, der Rocksaum endete knapp unter dem Knie. Die Reiseleiter. Je zwei betreuten eine Gruppe. Und wie ich sie da hinten stehen sah, wurde mir klar, dass wir in puncto Überwachung gegenüber einer Gruppenreise eindeutig im Nachteil waren. Uns konnte je ein Reiseleiter im Blick behalten. In einer Gruppe würden sie definitiv schneller den Überblick verlieren.

Wer uns zugeteilt war, ließ sich von unserem Standpunkt nicht ausmachen. Sie würden uns schon finden.

Während wir auf unsere Koffer warteten, musterte ich die Zöllner. Wie in allen Ländern waren ihre Gesichter ausdruckslos, der Mund ein Strich, die Pupillen jagten hin und her.

Ich dachte an Sandras iPhone und versuchte zu ergründen, wie wohlgesonnen sie sich gegenüber einer Smartphone-Besitzerin zeigen würden, die ihr Telefon behalten will. Bestenfalls schickten sie uns zurück.

Plötzlich Sandras Stimme hinter mir.

»Oh no, I’m not Korean, I’m Vietnamese.«

»Vietnamese, really?« Die Engländerin entschuldigte sich. Sandra sagte etwas von »vacation« – Urlaub – und wie verrückt es sei, hier zu sein. Vielleicht sähe man sich.

»Was war?«, fragte ich.

»Die hat mich für ’ne Reiseleiterin gehalten.« Sandra schüttelte den Kopf samt ihren langen schwarzen Haaren und nickte Richtung Ausgang. »Ich seh gar nicht so aus wie die.«

»Stimmt, die tragen alle keine Lederjacken.«

»Im Gesicht, Hase, im Gesicht.«

Bevor ich meinen Einwand formulieren konnte, fuhr sie auf: »Nee, Hase, wirklich nicht.« Ihre Mandelaugen blitzten vor Empörung.

Bald ruckelten Sandras Tasche und mein Koffer heran. Kaum hatten wir sie vom Gepäckband genommen, winkte uns einer der Uniformierten heran. Sein Gesicht überzog ein Netz aus Fältchen, seine Augen hatten die Farbe alter Gletscher.

Er deutete auf den Durchleuchtungskasten. Eine Hitzewelle durchfuhr mich. Ich deutete von meinen Koffer auf den Kasten und zurück, um mich zu vergewissern, ob er das ernst meinte. Er schoss mehrere Worte Koreanisch auf mich ab.

Ich wuchtete meinen Samsonite auf das Transportband. Der Offizier wandte seine Eisaugen in Richtung Kontrollmonitor, an dem eine kleine Beamtin Dienst tat. Lippenstift und Rouge verliehen ihrem Gesicht einen Charme, wie ihn Mädchen auf Winterbildern naiver Maler ausstrahlen. Ein Pelzkragenmäntelchen statt der Uniform – und ich hätte Appetit auf Bratäpfel bekommen.

Der Offizier kniff die Augen zusammen, seine Fältchen vermehrten sich. Er knurrte. Die pausbäckige Beamtin senkte ihren Kopf, nickte zweimal schnell.

Der Röntgenapparat schluckte meinen Hartschalenkoffer und Sandras Reisetasche. Schweiß trat mir auf die Stirn, die Brille rutschte. Das letzte Mal hatte ich mich so gefühlt, als ich vor einer Wandkarte stand und Nordkorea finden sollte. Das war mir inzwischen gelungen.

Würde ihre Suche auch erfolgreich enden?

Wir hatten lange überlegt, womit wir, wenn es darauf ankam, Einheimischen eine Freude machen konnten. Dabei wollten wir nicht wie Seefahrer mit Glasperlen und Spiegeln daherkommen. Außerdem sollte es nicht gleich als Geschenk offensichtlich sein, sondern aussehen, als wäre es zum Eigenbedarf bestimmt.

Dass sie uns schon im Transitbereich auf die Schliche kommen würden, hatte nicht mal ich erwartet. Streng genommen waren wir noch gar nicht im Land.

Auf beide Gepäckstücke hatten wir ein halbes Kilo Schokolade in Zwanzig-Gramm-Täfelchen verteilt. Auf dem Papier jedes Täfelchens standen Sprichworte. Zum Beispiel: »Hochmut kommt vor dem Fall.«

Erster Vorwurf: Bestechung in Tateinheit mit Verbreitung von Hetzparolen.

Außerdem hatte Sandra in Peking und Abu Dhabi sämtliche kostenlosen Hochglanzmagazine eingesteckt. Zweiter Vorwurf: Einfuhr feindlichen Propagandamaterials. Schon ein ausländischer Reiseführer über das Land wurde angeblich als feindlich eingestuft.

In meinem Koffer würden sie zudem die Umrisse eines Porsches entdecken. Ich wollte den Spielzeugsportwagen in Pjöngjang fotografieren – für die Facebook-Seite meines letzten Buches. In dessen Schlusskapitel tanzen Sandra und ich nackt um einen Porsche. Von meinem Fotovorhaben wusste Sandra nichts. Dritter offizieller Vorwurf: Einfuhr kleiner roter Autos.

Vierter Vorwurf, inoffiziell: »Hase, echt ey!«

Ich ärgerte mich bereits über das Triumphgefühl Sandras, wenn sie statt ihrer mich verhaften würden. Obwohl ich mein Telefon zu Hause gelassen hatte.

Das Gesichtsrund der Kontrollbeamtin am Monitor blieb ohne Reaktion. Entweder war das Gerät nur eine Attrappe wie manche Rakete bei nordkoreanischen Militärparaden oder sie suchten nach Gefährlicherem als Schokolade, Illustrierten und Spielzeugautos. Handys zum Beispiel.

Der Faltenuniformierte deutete auf Sandras Kreuzchen im Einreiseformular bei hand phone, cell phone and other communication means.

Sandra schüttelte den Kopf.

Der Uniformierte blickte ihr in die Augen. Stieß ein Wort aus. Kein schönes.

Ich bot ihm zur Ablenkung mein Netbook an. Von dem Kleincomputer hatte ich alle verräterischen Dateien durch dreifaches Überschreiben gelöscht. Offiziell führte ich das Gerät mit, um darauf meine Urlaubsbilder vor Ort bearbeiten zu können, für das Fotoalbum daheim.

Er sah mich nicht einmal an.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle schon mal verraten, dass wir den Flughafen nie wiedersahen.

»Jetzt gib’s ihm«, presste ich hervor. Sandra nahm mich beim Wort. Allein dafür, wie sie dem Faltenmann ihr Handy in die Hand klatschte, hätte man uns einsperren können.

Mein Puls überholte sich selbst.

Beim Durchschreiten des Metalldetektors piepte nichts. Am Zollschalter hämmerte ein Uniformierter Stempel in unsere beiden Pässe – und behielt sie. Jetzt hatten sie schon drei Dinge von uns.

Immerhin durften wir den Transitbereich verlassen. Endlich waren wir ganz offiziell in dem Land, das zwei Wochen zuvor seinen letzten Atomtest absolviert hatte.

Wir hatten kaum durchgeatmet, da kamen zwei Männer auf uns zu.

»Frau Schafer, Herr Esert?«

In ihren schwarzen Anzügen standen sie lächelnd vor uns. Am Revers ein Abzeichen. Es zeigte die beiden ewigen Landesführer: Kim Il-sung und Kim Jong-il, vor roter Fahne. Beide mit Zahnpastalächeln.

Nordkorea war bis 2011 das einzige Land der Welt, das offiziell ein Toter führt. Landesvater Kim Il-sung war nach seinem Tod 1994 zum »Ewigen Präsidenten« ernannt worden. Sein Sohn Kim Jong-il übernahm nach einer – entsprechend dem konfuzianischen Ritus – dreijährigen Trauerzeit die Staatsgeschäfte. Als Kim Jong-il Ende 2011 starb, erhielt er kurz darauf den Titel »Ewiger Generalsekretär der Arbeiterpartei Koreas und ewiger Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates«. So wurde Nordkorea das einzige Land der Welt, das offiziell von zwei Toten geführt wird.

Da diese ihr Amt naturgemäß nur passiv ausüben können, kümmert sich seit dem 29. Dezember 2011 ein Kim in dritter Generation um die Staatsgeschäfte: Kim Jong-ils jüngster Sohn Kim Jong-un. Er wurde am 8. Januar 1983 oder 1984 geboren. Damit es eine bessere Übereinstimmung zum 1911 gezeugten und 1912 geborenen Groß- und Landesvater Kim Il-sung gibt, legte man Kim Jong-uns Geburtsjahr auf 1982 fest. So wurde er im hundertsten Geburtsjahr des verehrten Staatsgründers, in welchem dem Land eine neue Blüte prophezeit wurde, offiziell dreißig Jahre alt. Zunächst ernannte man Kim Jong-un zum Obersten Befehlshaber der Volksarmee, wenige Monate später zum Marschall und außerdem zum Ersten Sekretär der Arbeiterpartei Koreas. Inzwischen lässt er sich selbst »Großer Führer« nennen, was sich sein Vater zu Lebzeiten nie getraut hatte. Um für die verantwortungsvolle Leitung einer Diktatur gerüstet zu sein, genoss Kim Jong-un eine mehrjährige Schulausbildung im schweizerischen Bern.

Der Blick unserer Reiseleiter wanderte von unseren Gesichtern zu den Fotokopien in ihren Händen und zurück. Wie es schien, wiesen wir genug Ähnlichkeit mit den Passbildern in den Visaanträgen auf. »Herzlich willkommen in unserem Korea«, strahlte uns der größere der beiden an. Bis auf die Schwierigkeiten bei der Aussprache von Ä und Ei schien er gut Deutsch gelernt zu haben an der Kim-Il-sung-Universität.

»Das sind ja Kinder«, murmelte Sandra. Unsere Reiseleiter wirkten kaum älter als siebzehn. Der, der uns angesprochen hatte, war hoch aufgeschossen. Seine schwarzen Haare fielen ihm als Pony in die Stirn. Die vollen Lippen verbargen schiefe Schneidezähne. Zum schwarzen Anzug trug er ein hellblaues Hemd, der Schlips war schwarz.

Der andere war deutlich kleiner und stämmiger. Auf seinem streng gescheitelten Haar lag ein Glanz von Gel. Die Stirn stand steil. Schwarze Striche die Augen, weit darüber thronten daumendicke Brauen. Auch sein Hemd war hellblau, hatte aber im Unterschied zu dem seines Kollegen einen modischeren Button-Down-Kragen, seine Krawatte glänzte silbern.

»Hallo, guten Tag.« Sandra streckte die Hand aus, ich tat es ihr gleich. Zum ersten Mal in unserem Leben berührten wir Nordkoreaner. Sie fühlten sich warm an.

»Hatten Sie einen angenehmen Flug gehabt?« Eine auswendig gelernte Phrase. Der Kleine griff nach Sandras Reisetasche.

Wir äußerten uns zufrieden über die Anreise.

»Mein Name ist Herr Chung«, sagte der Lange.

»Und ich heiße Herr Rym«, sagte der Kleine.

»Und die haben mir mein Handy weggenommen«, sagte Sandra.

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen«, der Lange war wohl der Chef, »die Beamten werden es für Sie aufbewahren. Und Ihre Pässe bewahren wir für Sie auf. Wenn Sie wieder in Ihre Heimat fliegen, bekommen Sie alles zurücküberreicht.«

»Schön«, erwiderte Sandra, »aber wir fliegen gar nicht in unsere Heimat zurück.«

Das Strahlen unserer Reiseleiter erlosch.

Um ein bisschen mehr vom Land zu sehen, hatten wir für die Rückreise von Pjöngjang nach Peking eine Fahrt mit der Bahn gebucht. Deshalb war es ein Problem, wenn man das Handy am Flughafen aufbewahrte. Das sah der lange Herr Chung ein. Er versprach, sich darum zu kümmern.

Der Wortwechsel zwischen ihm und dem Fältchenoffizier erinnerte an Maschinengewehrsalven. Der kleine Herr Rym schlug derweil heiter vor: »Warum gehen wir nicht hinaus in den schönen Sonnenschein?«

Wir gehorchten. Obwohl die Sonne gar nicht schien.

Draußen standen mehrere moderne Kleinbusse aufgereiht, einer blitzender als der andere. Alle vom selben Typ, grau mit chromglänzendem Kühlergrill. Ein vollkommen fremdes Fabrikat und eine beglückende Herausforderung für einen Autoliebhaber. Wir steuerten auf einen Bus ohne Scheibenwischerblätter zu. Nackte Metallbügel pressten sich ans Glas. Ein Hutzelmann – grauer Anzug, kurze Arme, kurze Beine – wedelte das letzte Stäubchen vom Wagen. Er war der älteste Nordkoreaner, den wir bisher gesehen hatten.

»Wir werden hier warten, bis Herr Chung kommt«, lachte Herr Rym. Unter seinem Frohsinn lauerte etwas, das sich nicht einordnen ließ. Er sah auf mein Handgelenk. »Wollen Sie unsere Zeit wissen?«

»Es müsste eine Stunde später sein als in Peking, oder?«

Herr Rym schaute auf seine Uhr. Sehr kurz. Ich konnte gerade die Farbe des Lederarmbandes erkennen. »Es ist jetzt sechzehn Uhr vierzig.«

Laut meiner Digitalanzeige war es in Peking sechzehn Uhr. Mein graues Wunderwerk würde doch nicht schon nach drei Tagen kaputt sein? Ich stellte sechzehn Uhr vierzig ein – Kim Il-sung-Zeit.

Ringsum kletterten Menschen in kleine Busse, nur die Rundreisegruppe bestieg einen großen. Herr Chung stieß zu uns. »Frau Schafer, es wird gleich entschieden sein über Ihr Telefon.« So beschwingt, wie er diese Nachricht überbrachte, klang es hoffnungsfroh. Überhaupt war er der Sympathischere von beiden. Bei ihm lachten auch die Augen.

Seit ihrer letzten Zigarette waren mehr als vier Stunden vergangen, und so lautete die naheliegende Frage meiner Begleiterin: »Darf man hier rauchen?«

»Bei uns dürfen Sie überall rauchen.« In Herrn Ryms Stimme schwang Stolz. Anscheinend wusste er, wie brutal westliche Demokratien die Freiheitsrechte von Rauchern unterdrücken.

»Ich liebe dieses Land«, jubelte Sandra. Und alle zuckten ein wenig zusammen. Schnell schwächte sie ab: »… für seinen Umgang mit Rauchern. Alles andere muss ich ja erst kennenlernen.« Sandra reichte ihre Marlboro-Schachtel herum, im Gegenzug hielt Herr Chung ihr eine goldene Zigarettenpackung hin. Sie lehnte mit »Später vielleicht!« freundlich ab. Daraufhin beschlossen unsere Reiseleiter, sich aus ihrer eigenen Schachtel zu bedienen. Galant gab Herr Chung Feuer.

Die drei pafften. Nickten sich zu. Fehlte nur noch, dass sie sich mit gekreuzten Beinen im Kreis niederließen.

Ich stand nichtrauchend dabei wie der Feuerwasserhändler, der keinen Frieden will.

»Nicht wundern«, Sandras Zigarette wies auf mich, »er ist ein bisschen seltsam. Er raucht nicht, trinkt keinen Alkohol und mag keinen Kaffee.«

Herr Chung sah mich mit großen Augen an: »Sie trinken keinen Kaffee?«

»Nein.«

Herr Chung grinste: »Sind Sie überhaupt Deutscher?«

Der kleine Hutzelmann ließ beinahe den Lappen fallen, so laut lachten wir.

Die Sonne brach zwischen den Wolkenbergen hervor und überzog den Asphalt vor dem Flughafen Pjöngjang-Sunan mit goldenem Schimmer. Um das frisch gewachsene Vertrauen zu vertiefen, sagte Sandra: »Bei uns in Deutschland duzt man sich, wenn man zusammen verreist. Also … ich bin die Thanh.«

Mein Herz blieb stehen.

Die kleine Mumie

Liebe Mama … die Miete geht vom Konto bei der Deutschen Bank ab. April und Mai sind bezahlt. Von Constantin Entertainment und der Bonito (Schmidt) kommen noch Honorare. Kündigen müsstest du dasZEIT-Abo, denADACund die ganzen Versicherungen. Die Unterlagen für meine Sterbeversicherung liegen in meinem Schreibtisch links, zweite Schublade, … aber ich hoffe, du wirst diese Zeilen nie lesen müssen.«

Meine Nachlassregelung hatte ich einige Tage vor unserem Abflug in einem Briefumschlag meiner Mutter übergeben.

Wenn der eigene Kontostand und die politische Lage es zulassen und die nordkoreanischen Visabeamten guter Laune sind, gibt es nur eine Hürde, die eine Reise ins Reich der Kims verhindert: Man darf kein Journalist sein.

2009 waren zwei amerikanische Journalistinnen zu zwölf Jahren Arbeitslager verurteilt worden. Sie hatten auf dem zugefrorenen Fluss Tumen angeblich illegal von China aus die Grenze zu Nordkorea übertreten. Erst als Ex-US-Präsident Bill Clinton nach Pjöngjang reiste, kamen sie frei.

Gut drei Monate vor unserer Reise war ein renommierter Journalistenpreis verliehen worden. Eine Bilderserie über Kräuter der Provence und den Einsatz von Pestiziden bei deren Anbau in Bulgarien. Wer in der Google-Bildersuche Thanh Hoang eingibt, findet ziemlich bald das Foto von der Preisverleihung für die beste Bildreportage: »Kräuter der Provence – das würzige Gift«. Wer Sandra Schäfer sucht, findet Tausende davon. Thanh dreht auch regelmäßig Dokumentarfilme.

Auf dem Parkplatz des Pjöngjanger Flughafens wurde meine Begleiterin im selben Augenblick gewahr, dass sie einen Fehler gemacht hatte, in dem mein Herz aussetzte.

Dann fingen sich Herz und sie wieder.

»… ich bin die Thanh …, hm, …ndra.«

Herr Chung schaute sie verwundert an: »Tantra?«

Ich drehte mich weg, die Anspannung drohte in Lachen zu explodieren. Thanh wiederholte korrekt ihren falschen Namen und sagte schnell meinen Vornamen hinterher. »Und wie sollen wir euch nennen?«

»Das ist Herr Chung«, sagte Herr Rym.

»Und das ist Herr Rym«, sagte Herr Chung.

Ich beschloss, meine Begleiterin laut einfach gar nicht mehr namentlich anzureden. Ein zweites Mal würde ein Versprecher kaum versanden. Im Stillen nannte ich sie wieder Thanh. Wahrheit braucht ihr Eckchen.

»Was ist denn jetzt mit meinem Telefon?« In dem waren die Kontaktdaten von rund fünfhundert Journalistenkollegen gespeichert. Und Hunderte E-Mails. Sie hatte sich geweigert, den Speicher zu löschen. »Ist ja mit ’nem PIN-Code gesichert.«

Herr Chung straffte die Schultern und begab sich zurück in die Flachbauhöhle zu dem Faltenlöwen.

Thanh bemühte sich um Konversation. Sie deutete auf den kariösen Turm neben dem Terminal mit dem Kim-Bild auf dem Dach. »Wird das gerade gebaut oder abgerissen?«

»Ja, darin gibt es ein Café und einen Buchshop und andere Einkaufsshops«, entgegnete Herr Rym.

Herr Rym hätte einfach sagen können, dass die weise Führung den Bau eines neuen Terminals beschlossen hatte und dafür das Alte aus dem Weg musste.

Thanh ließ sich nicht entmutigen und wechselte das Thema: »Ab welchem Alter darf man hier den Führerschein machen?«

Herr Rym sah sie verständnislos an. Ich ließ die Pupillen kreisen. Es gab keine Privatautos in Nordkorea. Das hatte ich ihr schon in Berlin gesagt. Herr Rym bemerkte unsere stumme Auseinandersetzung nicht. Er grübelte, was Thanh wohl mit »Führer-Schein« meinte. Möglicherweise bezog sie sich ja auf die politischen Aufstiegsmöglichkeiten.

Und so lautete seine Antwort: »Jeder kann bei uns.«

Wasser auf Thanhs Mühlen. »Siehste, hier kann jeder Auto fahren«, blitzte sie mich an. Nun war Herr Rym vollkommen durcheinander. »Auto fahren – nein.«

Thanh blieb dran: »Ich meine, wie alt muss man sein, wenn man ein Auto fahren will?«

»Wollen Sie Auto fahren?«

Thanh war begeistert: »Klar, wenn ich darf!«

»Es ist nicht nötig. Wir haben einen Fahrer.« Herr Rym lächelte.

Bevor Thanh fragen konnte, wo sie in Pjöngjang einen Wagen mieten könne, tauchte Herr Chung wieder auf. Mit einem weißen Päckchen in der Hand.

Der Flughafen Pjöngjang-Sunan liegt rund dreißig Kilometer nordwestlich vom Zentrum der Hauptstadt entfernt. Wir rauschten über eine Betonpiste Richtung Stadt. Auf dem Beifahrersitz saß Herr Chung. Den rechten Arm lässig im offenen Fenster aufgestellt, trommelten seine Finger gegen den Dachholm. Normalerweise hätte ich wegen der Zugluft protestiert, aber es war nordkoreanischer Wind.

Auf der Bank hinter uns hockte Herr Rym. Auf der Mittelbank schaukelten Thanh und ich.

Ich saß direkt am Fenster, während Thanh auf ihrer Seite von einem Notsitz zwischen Bank und Schiebetür, der für den bequemeren Einstieg hochgeklappt war, auf Abstand gehalten wurde. Entsprechend sah sie am wenigsten, wirkte aber glücklich. Ihre Finger umschlossen das weiße Päckchen. Darin ihr iPhone samt fünfhundert Medienkollegen. In einem Briefumschlag. Fest eingewickelt in durchsichtiges Klebeband. Eine kleine Mumie voller roter Stempel.

Unter dem heiligen Versprechen, das Päckchen erst wieder in China zu öffnen, hatte es ihr Herr Chung feierlich überreicht. Mir schwante, dass diese Anweisung für Thanh nur Ansporn war, baldmöglichst dagegen zu verstoßen.

Die Straße, eine Autobahn eher, wirkte noch breiter, als sie war, weil außer uns niemand darauf fuhr. Abgesehen von einigen Radfahrern. Ab und zu überholten wir Fußgänger.

Die linke Seite des Betonbands säumten, erhöht und etwas zurückgesetzt, Wohnblöcke. Graubraun. Manche bewohnt, andere ohne Scheiben in den Fenstern. Bei genauem Hinsehen entpuppten sich diese Hausgerippe als Baustellen. Hölzerne Gerüste klammerten sich an die Außenwände. Nirgends Kräne. Nur zweimal ein Flaschenzug.

Auf einmal brach die Häuserreihe ab, und der Blick verlor sich in braunem Land. Dann rechts zartes Kronengrün an spirilligen Stämmen. Es begleitete uns über Kilometer. Dahinter wie versteckt Wohnhäuser. Sechs Stockwerke hoch, die Fassade immer schmucklos, mal blassgrün, mal blassrosa. Keine Bruchbuden, keine Paläste. Und in dem Wäldchen davor: Ackerfurchen. Manchmal bildeten sie ein kleines Feld im Schatten der grünen Kronen, dann wieder durchzogen sie einfach die Baumreihen, ohne an Linientreue zu verlieren. Regelmäßig leuchteten auf den Erdwällen Blumen.

Mein Hirn versuchte unablässig das, was da vor der Fensterscheibe ablief, mit den Vorstellungen von diesem Land und Erinnerungen an andere Länder abzugleichen. Nichts passte aufeinander. Trotz all des Schurkenstaatgetöses in den Medien daheim und der um Sachlichkeit bemühten Vorbereitung war dieses Land ein unbeschriebenes Blatt, auf das sich nun die erste Zeile schob, wie Schreibmaschinenanschläge.

Ich wandte mich zu Herrn Rym um: »Sind das zwischen den Bäumen Ackerflächen oder Blumenbeete?«

»Sehr schön, nicht wahr?«

Gekonnt zirkelte der Fahrer, der zunächst einen so hutzelhaften Eindruck gemacht hatte, um die Schlaglöcher im Beton. Herr Chung drehte sich zu uns um: »So. Wir hatten leider vor kurzer Zeit schlimme Ungewitter gehabt. Aber unser Fahrer ist früher bei unserer Volksarmee gefahren. Er fährt sehr sicher.«

Wir lobten ihn. Er hieß Herr Pak. Und war zweiundsechzig.

Herr Chung drehte sich zurück.

»Sagt mal«, rief Thanh, »ihr seht so wahnsinnig jung aus. Wie alt seid ihr eigentlich?«

Herr Chung drehte sich wieder zu uns.

»Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt.«

»Und du?« Thanh drehte sich zu Herrn Rym um.

»Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt.«

»Ihr könntet meine Söhne sein!«

»Wie hoch ist Ihr Alter?«, fragte Herr Chung.

»Na, das steht doch in euren Unterlagen«, sagte Thanh.

Herr Chung drehte sich zurück zu seinen Unterlagen – wenn die Dreherei die nächsten Tage so weiterging, würden wir alle einen Wirbelsäulenschaden erleiden.

Herr Chung rechnete. Dann platzte er heraus: »So alt?!«

»Wie alt?«, kam es von hinten. Herr Chung nannte die Siebenundvierzig in Landessprache. Herr Rym entfuhr ein koreanisches »Nee, oder?!« Alle fanden, dass ich älter aussah als Thanh. Ich war Mitte dreißig.

Unsere Fahrt über die Autobahn endete an einem Metallzaun in Olivgrün. In dessen Mitte prangte ein roter Stern mit fünf Zacken und einem Metallring drum herum. Bewacht wurde der Zaun von einem düster dreinblickenden jungen Mann in olivgrüner Uniform. Hinter seiner Schulter ragte ein Gewehrlauf auf. Sein Stahlhelm war zu groß.

Herr Chung kramte aus der Innentasche seines Jacketts ein Mäppchen, entnahm diesem ein zusammengefaltetes Blatt Papier und reichte es durchs Busfenster. Der Soldat nahm es entgegen, schaute aber nicht drauf. Stattdessen beäugte er uns. Besonders Thanh schien ihm nicht geheuer. Ich hatte sie schon entspannter lächeln sehen. Im Augenwinkel bemerkte ich, wie die kleine Mumie zwischen ihren Jeansschenkeln verschwand. Hinter uns atmete Herr Rym angestrengt durch die Nase.

Unser Soldat gab das Papier, ohne uns aus den Augen zu lassen, einem zweiten Soldaten. Der las. Seine Lippen formten still kleine Ohs und Ahs.

Das Papier zitterte im Wind. Wir im Wagen.

Dann wanderte das Papier zurück zu unserem Wachsoldaten, zu Herrn Chung, ins Mäppchen und wieder in die Jacketttasche.

Ein Befehl wurde gebrüllt. Unser Soldat schob den Zaun, der auf kleinen Rädern stand, ratternd beiseite. Herr Pak gab Gas.

Herr Chung drehte sich zu uns um: »So, als Erstes besichtigen wir den Triumphbogen am Kim-Il-sung-Stadion.«

»Och, nee!«, entfuhr es Thanh. Ich legte ihr eine Hand aufs Knie und erklärte Herrn Chung: »Wir hatten nicht damit gerechnet, dass wir die schönsten Sehenswürdigkeiten schon am Anfang besuchen. Wir dachten, wir fangen mit den … ähm … weniger spektakulären an.«

Kein Mensch verstand, was ich damit sagen wollte. Zumindest lenkte ich von Thanh ab.

»Können wir nicht erst ins Hotel?« Thanh schüttelte meine Hand ab.

»Der Triumphbogen liegt direkt an unserem Wegesrand.« Wenn Herr Rym sprach, spürte man seinen Atem im Nacken. »Es ist kein Umweg und sehr schön.«

Wir schwiegen. Auf der Straße war es voller geworden, und immer wieder überholten wir olivgrüne Lastwagen mit langer Motorhaube, auf deren Pritschen Säcke oder Menschen schaukelten. Die Säcke weiß und prall, die Menschen olivgrün oder braun. Die meisten trugen Arbeitskleidung, ein paar Uniform, die Frauen oft Kopftücher. In den wettergegerbten Gesichtern lag tiefe Müdigkeit.

Am Horizont tauchten weiße Plattenbauten auf. Und direkt vor uns ein olivgrüner Zaun mit einem roten Stern in der Mitte. Herr Chung griff in sein Jackett. Unsere Papiere wurden ein zweites Mal überprüft.

Die Lastwagen hatten einige hundert Meter zuvor die Autobahn verlassen müssen. Jetzt sahen wir sie auf einem Parallelweg stehen. Militärposten kontrollierten jeden einzelnen mit Unterbodenspiegeln.

Japanische Gangster

Hunderte Menschen waren unterwegs auf Pjöngjangs breiten Bürgersteigen. »Und alle in Gummistiefeln«, sagte Thanh.

»Immerhin«, flüsterte ich, ohne daran zu denken, dass Flüstern verdächtig war, »es macht farbenfrohe Füße.« Im Geiste hörte ich Herrn Rym sagen: »Sehr schön, nicht wahr?!«

Wir kamen auf sieben Gummistiefelfarben: Olivgrün (eine Farbe, die hier sehr verbreitet war), Schwarz, Weiß, Gelb, Grün, Pink und Lila.

Die Menschen stiefelten stoisch, Aktentaschen in der Hand oder volle Rucksäcke auf dem Rücken. Modisch herrschte Vielfalt: Anoraks, Anzüge, dunkle Röcke, Dreiviertel-Mäntel, Kunstlederjacken. Fast wie bei uns. Nur dass auf unseren Gehwegen nicht Tausende neben leeren Fahrbahnen herlaufen.

Bei den wenigen Fahrzeugen in den Straßen handelte es sich um Lastkraftwagen, Kleinbusse und Geländewagen. Und dunkle Limousinen. »Guck mal, ’n Mercedes!« Thanh deutete auf eine S-Klasse der vorletzten Generation.

»Da auch«, deutete ich auf ein metallicgrünes Modell aus den späten Siebzigerjahren. In Suaheli heißen Politiker wabenzi – Männer im Mercedes-Benz. Klein- oder Kompaktwagen vom Format eines Corsa oder Golf, wie sie normalerweise die breite Masse besitzt, fehlten im Straßenbild Pjöngjangs.