Kind der Liebe. Roman - Maureen Duffy - E-Book
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Kind der Liebe. Roman E-Book

Maureen Duffy

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Beschreibung

Die britische Antwort auf »Bonjour Tristesse« Kit, ein scharfsinniger Teenager, ist eifersüchtig auf die Affäre der Mutter. Während des Sommerurlaubs in einer italienischen Villa schmiedet Kit Rachepläne, die in einem tragischen Unfall enden ... Eindeutig ist in diesem Roman nur die sommerliche Kulisse, zweideutig bleiben die Motive und Absichten – sowie Identitäten: Welches Geschlecht hat Kit, und was ist mit Ajax, der Affäre der Mutter? Ein sommerliches Leseabenteuer voller sprachlicher Raffinessen und Überraschungen.

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Seitenzahl: 298

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Maureen Duffy

Kind der Liebe

Roman

Aus dem Englischen von Katharina Herzberger

Reclam

Titel der englischen Originalausgabe:

Love Child

 

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist ausgeschlossen.

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962356

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

 

© Maureen Duffy 1971

 

Covergestaltung: © Suse Kopp, Hamburg

Coverabbildung: Umschlagabbildung: © T. S. Harris. All rights reserved 2025 / Bridgeman Images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962356-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011517-6

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Teil 1

Teil 2

Zitatnachweise

Zu dieser Ausgabe

Nachwort

Teil 1

»Schuf mir auch eine zweite Welt der Himmel

Aus einem fehllos reinen Chrysolith,

Ich gab sie nicht dafür.«

William Shakespeare, Othello

Ich war es, ich taufte die Liebschaft meiner Mutter. Wie Ihnen sicher auffällt, verwende ich den Genitiv statt des Dativs. Ich bin äußerst klug und habe in meinen jungen Jahren nun jenes Stadium der Intelligenz erreicht, in dem es wichtiger ist, recht zu haben, als gemocht zu werden. Außerdem verwende ich das Wort »taufen«, denn ich schrecke wohl vor »weihen« zurück – schließlich kann man auch anderem geweiht sein –, will diesem Akt jedoch einen gewissen Beigeschmack verleihen, der fehlt, wenn ich der Liebschaft meiner Mutter nur »einen Namen gab«: Wenn ich bloß ein Objekt benenne, wie auch Adam die Tiere benannte, obwohl es durchaus der Wahrheit entspricht, dass die Liebschaft meiner Mutter animalischer war als wir und zu unserem Objekt wurde.

»Die Liebschaft meiner Mutter« sage ich natürlich rückblickend. Damals hatten sie noch keine Affäre, worauf ich zur rechten Zeit eingehen werde, wenn auch nicht in der adäquaten narrativen Reihenfolge, aber ich beherrsche diese Disziplin und weiß, dass ich mir künstlerische Freiheit erlauben und die Zeit ganz nach meinem Geschmack zurechtrücken kann. Dazu habe ich eindeutig genug Proust gelesen, wohl auch zu meinem Untergang. Noch immer besitze ich die tyrannische Willkür eines Kindes, auf die ich mich berufe, um Ihnen zu erzählen, was und wie ich will, indem ich ganz nach meinem Ermessen auskoste oder abschweife, als säße ich an einem heißen Nachmittag zum Angeln unter einem Blätterdach dunkler Eichen und Ahorne, als wäre ich tief im Teich versunken, plitschte und platschte auf den Spuren eines buckligen Barschs zwischen den Kieseln, als träumte ich bei flirrender Hitze von zwei lila Libellen und der Sarabande ihrer eleganten Soixante-neuf vom Bachbett bis zur Wiese, um schließlich am vertrockneten Ufer aufzuwachen, bedeckt von Schweiß und schwerer Wärme, nur um Ihnen alles ganz genau zu erzählen.

Aber es muss einen Anfang geben. So betrat ich also das Wohnzimmer unseres Hauses in London, wo die einfallenden Lichtstrahlen blockiert wurden von einer verehrten, weil altehrwürdigen Akazie vor den hohen Steinfenstern, so dass sich Schatten in den Zimmerecken tummelten, als mein Vater sagte: »Wie sollen wir Sie also nennen, wenn Sie Ihren eigenen Namen nicht mögen? Kit, das hier ist meine neue Assistenz.«

Ich nahm meine Mutter wahr, die im schummrigsten Eck stand, am weitesten vom Tag entfernt, und plötzlich vor- und zurücktrat, wie ein überreizter Rassehund oder dieser kleine Jagdhund, den man in England Whippet nennt, ein Nervenbündel von Hund mit dünner Haut und ängstlich verschlossenen Anemonenaugen wie die eines Velázquez’schen Schoßhündchens. Die Liebschaft meiner Mutter erhob sich und lächelte im einzigen Flecken Sonnenlicht auf dem violetten Teppich. »Aias«, sagte ich.

Mein Vater runzelte die Stirn. »Das wäre ein Name für einen Hund oder hirnlosen Muskelprotz. Und mit ihm ging es nicht gut aus.«

»Ich meinte Aias den Kleinen«, sagte ich. »Außerdem erwartest du doch treue Dienerschaft, oder nicht?« Damals war ich nicht sonderlich subtil und wollte ihn intellektuell übertrumpfen.

»Mit dem ging es auch schlecht aus«, sagte meine Mutter aus dem Schatten heraus. »Er wurde wegen Gottlosigkeit ertränkt.« Sie konnte ich nie übertrumpfen.

»Aias passt sehr gut«, sagte die Liebschaft meiner Mutter und lachte.

Mein Vater runzelte erneut die Stirn. Heute frage ich mich, ob er schon damals spürte, welchen Fehler er begangen hatte. Bei der Wahl seiner persönlichen Assistenzen, junger Männer wie Frauen, ist Schönheit mindestens so entscheidend wie der Rest. Es besteht Einvernehmen über die fließende Natur ihrer Pflichten, und das Gehalt, oder vielmehr der Lohn, ist ausgezeichnet. Besteht dieses Einvernehmen nicht bereits bei der Einstellung, ergibt es sich bald, wie ein Zuckerstückchen, das sich mit heißem Kaffee vollsaugt, bis es in der unerbittlichen Flüssigkeit zerschmilzt, selbst wenn nur eine seiner weißen Flächen die heiße Oberfläche berührt. Mein Vater ist heiß und stark und alldurchdringend. Er konsumiert sie. Seine Unsterblichkeit wird von ihrer Jugend genährt wie die Götter von Idunas goldenen Äpfeln. Sie beschweren sich nie. Vielleicht bezahlt er sie zu gut. Nur zweimal gab es Ärger. Tino wollte in Amerika bleiben, als seine Zeit gekommen war. Sein Ticket wurde gekauft. Er versuchte sich an Erpressung. Die Gesetzeslage in Massachusetts kannte er gut (wir hatten das Frühjahr auf der Farm verbracht, während mein Vater an einer Vorlesungsreihe für Tokio arbeitete). Er wurde per Brief seiner Mutter nach Hause beordert. Dann in Tokio (ein schlechtes Jahr) schluchzte die strohblonde Inge, sie sei schwanger. Natürlich war es nicht das Kind meines Vaters. Sie wurde gut versorgt. Mein Vater ist Diplomat und Ökonom. Er muss inspizieren, prognostizieren, ausbilanzieren. Es ist ihm gleichermaßen Beruf wie Berufung. Genau deshalb haben ihn im Laufe der Jahre die Regierungen der ganzen Welt, Financiers und Aufseher internationaler Organisationen engagiert und gepriesen. Warum scheiterte er an Aias? Altert er allmählich, zerfällt er?

Denn nur wegen seines Scheiterns landete Aias unter uns. Ich vermag nicht mehr zu sagen, ob ich dies gleich verstand oder nur beobachtete, wie die Liebschaft meiner Mutter lachte wie inmitten eines violetten Rampenlichts und dazu plötzlich die japanische Seerose im Glas aufblühte und die wogenden Akazienblätter hellgrüne Stäubchen auf den weißen Anzug sprenkelten; zu viel ist seither geschehen, aber Aias war eindeutig anders als die anderen, älter, klüger, ließ sich nicht von meinem Vater einschüchtern. Was war schiefgelaufen?

In der Regel sammelte mein Vater sie ohne große Mühe auf. Wenn er zu einem Lunch oder Empfang ins College geladen wurde, auf einer Feier Hof hielt, zog er sie an wie ein Faszinosum, musste ihnen nur in die Augen schauen und mit der ganzen Tiefe seiner Autorität sprechen, und schon gaben sie ihre Leben auf, um ihm für einige Monate zu dienen, bis sie blass und blutleer waren. Hatten Tino und Inge ihn verunsichert?

»Warum will Aias diesen Job?«, fragte ich meine Mutter später.

»Um zu reisen, vermutlich. Wir fahren ja nach Iticino. Warum fragst du?«

»Aias ist anders.« Ich schob eine Ecke der Jalousie nach oben und sah ein schweres schwarzes Taxi über den Platz huschen.

»Es ist zu früh, um sich gegen jemanden auszusprechen.«

»Ganz im Gegenteil, ich spreche mich dafür aus, sehr sogar. Das wird interessant.«

Wir sind international. Wir passen an keinen Ort und, wie ich manchmal meine, in keine Zeit. Unser Geburtsort ist irrelevant. Das Flugzeug landet vor irgendeinem verglasten Betonkomplex, wo alle Wege in die Sterne führen, um unsere Mutter in die nächstgelegene weißkaschierte Klinik oder Anstalt zu bringen und uns schmerzfrei ins Leben zu rufen. Ich wurde in Lausanne geboren.

Wir sind polyglott, polygam, polymorph und polyphon. Gemeinsam beherrschen wir sieben tote Sprachen: Mein Vater lernte in seiner Studienzeit in Uppsala Nordisch und Angelsächsisch, meine Mutter in ihrer Altgriechisch, Latein und Althebräisch, ich ergänzte noch Gälisch und sie Sanskrit; dazu fünf lebende, abgesehen von dem allgegenwärtigen Englisch und ein paar Fetzen Kantonesisch, Urdu und Yoruba von den Reisen meines Vaters. Das Konzept der Fremde existiert für uns nicht.

In meinem Umfeld waren alle schon mehrfach verheiratet, ausgenommen meine Mutter. Alle wechseln die Gestalt und bleiben doch ihrem Wesen treu. Ja oder Nein sagt niemand. Einsilbigkeit ist weder unterhaltsam noch widerlegbar.

Wir machen mir Angst. Unsere Existenz gleicht nicht der anderer Menschen, die von ihrer Zeit, ihrem Ort und ihrer Erziehung geprägt werden. Wir sind die Figuren eines Märchens: Es war einmal (wann genau?) in einem weit entfernten Land (wo genau?), in dem lebten ein reicher Mann und seine Frau (oder König und Königin?) und sie hatten ein … In den Zeitungen der polyglotten Welt lesen Sie über uns; wir starren Sie durch die Scheibe unseres Aquariums an. Und ich existiere weniger als alle anderen, denn ich bin zu jung und zu alt zugleich. Irgendwann werde ich wohl irgendwo an eine Universität gehen, vielleicht in New York, und vielleicht wird irgendeine Identität an mir hängen bleiben, ansonsten bastele ich sie mir aus einer Reihe schillernder Exzentrizitäten zusammen; früher, als kleines Kind, überzeugte ich andere durch Ungehorsam und Ungestüm von meiner Existenz, und mich selbst beinah davon, dass ich tatsächlich etwas sagte, wenn ich nur laut genug schrie. Doch eines Tages kam ich nicht umhin, mir zuzuhören, und da war nichts als Lärm. Jetzt verpuppe ich mich. Vielleicht lasse ich die Bauchmuskeln zucken, wenn sie meinen polierten Plastikpanzer anfassen. Falls Sie sich denn trauen. Ich bin die Chrysalis, meine Mutter der Chrysolith.

Darüber hinaus kann ich nicht denken. Darüber hinaus steht Arbeit an und Sex, und beides verlangt traditionellerweise ein gewisses Maß an Engagement, falls ich überhaupt so lange lebe; falls wir so lange leben. Natürlich würde ich jetzt gehen – an die Universität, meine ich. Die Noten habe ich. Mit einer Lektüreliste könnte ich meinen Abschluss in wenigen Monaten machen, denn ich erinnere mich an alles und weiß genau, wo was steht. Aber ich bin zu jung. Meine Eltern haben sich ein Monster gezüchtet, ein weises Jesuskind der byzantinischen Kunst. Ich mag alles wissen, bin aber nicht mehr als ein Rechner mit ausgeklügelter Programmierung. Cogito ergo non sum.

Ich habe noch nie an das Herz geglaubt, genauer gesagt, ich habe noch nie an den Gegensatz von Intellekt und Emotion geglaubt, genauso wenig an die naturgegebenen Emotionen, über die sittsame Menschen verfügen sollen. Stattdessen hielt ich es für selbstverständlich, dass alle Personen in meinem Umfeld schon immer gleich waren – abgesehen von Anfällen altrömischer Qual oder Gefühlskoliken, verursacht von unterdrückten Bedürfnissen in zu engen, viktorianischen Kostümen –, dass im Privatleben Ruhe und Verstand herrschten, und zwar nicht aus tiefster Überzeugung, sondern weil niemand, trotz aller Meinungswechsel, mit Nachdruck etwas anderes behauptete. »Die Menschen sind von Zeit zu Zeit gestorben, und die Würmer haben sie verzehrt, aber nicht aus Liebe.« Ja, Catull mag um den Tod geworben haben wie ein Hund um Lesbias Liebe. Aber über ihn würde mein Vater nur sagen, er mache nicht einmal eine halbe Einheit in einer Statistik aus und sei keinen Dezimalpunkt im Diagramm wert. Die vielen Scheidungen in unserem Kreis geschahen nicht aus Leidenschaft, sondern weil das Paar des Zusammenlebens schlichtweg müde war; eine neue Beziehung bot den beiden eine praktische Bedeckung, um sich zu trennen und jeglichem Überdruss einen akzeptablen Fluchtweg zu eröffnen.

Meine Mutter hatte jung geheiratet, mein Vater einmal zuvor. Ich züchtete mir Halbgeschwister, mit denen ich in einer exotischen Nacht Inzest begehen könnte. Wie man sich über Tabus hinwegsetzen kann, ist faszinierend. Einmal übernachtete Roddy auf dem Weg nach Perugia für das Sommersemester bei uns. Da wurde es knapp, doch ich war zu jung und wusste es nicht besser, also schlug ich einen Angelausflug vor und watete zu weit ins Wasser, bis meine nassen Levi’s an mir klebten. Aber er hatte bereits weitergedacht und hielt mich nur bei Laune. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt meine Eltern sich arrangierten. Wohl irgendwann nach meiner Geburt. Er hatte Assistenzen und sie gelegentlich diskrete One-Night-Stands. Meine Mutter ist wunderschön und virtuos: Sie muss es nur wollen.

Aber meine Mutter ist auch hässlich. Ich habe sie verdorben. Alle Kinder verderben ihre Mütter bei der Geburt. Sie nehmen ihnen die straffen Muskeln, die schmalen Brustwarzen, an denen bisher nur Liebschaften hingen und keine tyrannisch-saugstarken Kinderlippen; sie werden starr und steif. Ich werde sie nie als das Mädchen sehen, das sie vor dem Einsetzen meiner Schwerkraft war, mondhell und auf völlig freier Umlaufbahn. Nun umkreist sie pflichtbewusst mich.

Das Gerede der anderen Kinder an meiner Schule über meine Eltern sagte mir vieles. Irgendwann hätte ich es ohnehin erfahren, aber das Gebrabbel meiner charmanten Spielgefährten über ihre jeweiligen Lebensverhältnisse drängte mir die Reflexion der meinigen mit unwiderstehlicher, halbwillkommener Gewalt ins Bewusstsein. Ihre Geschichten warfen mich auf den Rücken und überfluteten mich, bis ich die Zähne zusammenbeißen musste, um bei diesem neuen und so bitterlich interessanten Wissen nicht aufzuschreien, und als ich mich endlich aufrappelte, war ich verstört und schweißgebadet und umhüllte mich mit einem fadenscheinigen Verständnis, als wollte ich meine beschämende Ignoranz verstecken. Dass ich es nicht bemerkt hatte, schmerzte mich. Wie hatte ich so schrecklich unschuldig sein können?

»Es wird Zeit, dass du für eine Weile in die Schule gehst«, verkündete mein Vater eines Morgens, während er sein vitaminhaltiges Supermüsli aß. Seit ich sechs war und mich bei Tisch ausreichend zivilisiert benahm, aßen wir – außer bei ihren Dinnerpartys – gemeinsam.

»Warum?«, sagte ich. Meine Mutter hatte sich und ihr hartgekochtes Ei hinter einem Stapel Post versteckt, die sie nach und nach öffnete und jeden Brief zum Lesen hochhielt, aber ich spürte ihr Missfallen am Rande des Papiers entlangsickern. Sie waren nicht einer Meinung: Widerstand war der Mühe wert.

»Wir ziehen nach São Paulo, dann nach Kuba. An solchen Orten solltest du nicht wohnen, und außerdem wird es dir zu heiß.«

»Ich kann hierbleiben, bei Fantah.« Fantah hatte sich seit dem Tag meiner Geburt um mich gekümmert. »Oder zu Grand’mère ziehen.« Die Mutter meines Vaters nahm mich nur zu gern auf. Sie würde mir die Nordlichter zeigen, und ich würde mich im Warmen ans Fenster setzen und beobachten, wie sich der Schnee inmitten der shoppenden Menschenmenge auftürmte, dazu die scharfe, nahezu winterliche Dunkelheit, die Straßenlampen aufgereiht wie Lichterketten am Tannenbaum, der Himmel satinschwarz, einige schreiende Kinder auf ihren Schlitten. Sie würde mich lesen lassen, bis mir die Augen tränten.

»Du musst lernen, mit anderen Menschen umzugehen«, sagte mein Vater, »und dafür musst du dich mit ihnen umgeben. Du musst auf eine Schule gehen.« Da wusste ich, ich war geschlagen. Inflexibilität ist eines seiner liberalen Prinzipien. Etwas zu ungelenk blätterte meine Mutter um; sie war nicht einverstanden. In diesem Augenblick verstand ich zum ersten Mal, dass sie mich liebte. Sie wollte mich nicht gehen lassen. Wie ein Kind oder Tier hatte ich ihre Liebe bis zu diesem Zeitpunkt als selbstverständlich angesehen; jetzt verstand ich ihre Haltung ganz bewusst, und damit fielen auch Zweifel plötzlich in den Bereich des Möglichen.

Natürlich war bereits eine Schule für mich ausgewählt worden, ebenfalls auf Grundlage liberaler Prinzipien: Koedukation, freies Benehmen, die Gambit’sche Methode der Individualentwicklung, erfunden oder erarbeitet von Rektor Dr. Gambit, so die Broschüre. Mehr ließ sich für Geld nicht kaufen. Außerdem konnte man im Winter an den Alpenausläufern Ski fahren, im Sommer im schuleigenen Seeabschnitt schwimmen und durch Pinienwälder reiten. Ein halbes Dutzend Eltern mit internationalem Ruf empfahlen die Schule, die Gebühren waren dementsprechend. An einem Londoner Frühlingsmorgen verabschiedeten sie mich in Heathrow. So etwas wie ein Schuljahr kannte man in St. Gelbert nicht. Das zarthelle Aroma der Akazienblüten erfüllte das Wohnzimmer, es schien mir der destillierte Duft meiner Mutter zu sein und ausnahmsweise grabesernst.

Jetzt blicke ich zurück, wie auch der Mensch im Mittelalter auf unsere Vorfahren zurückgeblickt haben muss, und sehe mich am Fenster gleich hinter der Tragfläche sitzen. Ich war es gewohnt, allein zu reisen. Die Stewardess kümmerte sich gut um mich, meine Mutter hatte sicherlich diskret darum gebeten, mir vielleicht eines ihrer fliederfarbenen Kärtchen mit elegantem Eindruck vorausgeschickt. In Genf wurde ich von einer lächelnden perfekten Sekretärin in blauem Leinenanzug und weißer Bluse begrüßt, die uns höchst kompetent zum Zug nach St. Gelbert führte. Eine gewisse Zeit fuhren wir am Seeufer entlang, dann erreichten wir Lausanne, wo ich auf den Bahnhof starrte, der genauso eine Klinik hätte sein können. »Hier wurde ich geboren«, sagte ich.

»Ach ja? Ein sehr hübsches Städtchen.« Ihr englischer Akzent klang nach Kolonialeinfluss; ich tippte auf Südafrika.

»Seitdem bin ich nicht mehr hier gewesen. Mir bedeutet die Stadt nichts, oder nein, das stimmt nicht ganz: Ihre Bedeutung besteht für mich nur in einer Abwesenheit von Bedeutung.«

Etwas unsicher lächelte sie, und ich drehte mich wieder zum Fenster, vor dem eine immer dunklere Berglandschaft heranwuchs. In meiner Vorstellung pressten sich die Scheren des Stromabnehmers wie die Antennen eines stählernen Käfers an die Kabelschlinge, verteilten Funken in den Tälern, fraßen die Gleise nach und nach auf wie die Segmente eines gewaltigen Tausendfüßlers; es erinnerte mich an eine Geschichte, die mein Vater gern erzählte: Als die indigenen Völker Amerikas zum ersten Mal einen Zug sahen, hielten sie ihn für einen feuerspeienden Drachen, der seine Passagiere verschluckte. Die Steigung nahm zu, und der Zug wurde trotz aller Mühen langsamer. »Wir sind fast da.« Sie begann, an unseren Koffern zu zerren.

Vor dem kleinen Bahnhof drang die kalte Luft scharf in unsere Lungen, und ein dunkelblauer Mercedes stand bereit, vielleicht sollte er zu ihrem Anzug passen. Mit ihrer nun bereits vertrauten, heiteren Effizienz fuhr sie uns zur Schule. »Das ist dein Zimmer. Wahrscheinlich möchtest du gleich auspacken.« In der Broschüre war die Rede von getrennten Zimmern gewesen, also hatte ich gehofft, mich so retten zu können. Die Einrichtung war modern und notwendigerweise nüchtern, die Zentralheizung ausreichend. Ich begann auszupacken.

»Hi!« Eine Stimme ließ mich auffahren. Zwei Kinder, kaum älter als ich, waren auf leisen Turnschuhsohlen in mein Zimmer geschlichen. Der Junge streckte mir zuerst die Hand entgegen. »Ich bin Hollow.« Zumindest glaubte ich, dass er das sagte.

»Ich bin Jude«, tat es ihm das Mädchen nach.

»Kit.«

»Eigentlich steht bis zum Abendessen Französisch an, aber weil du neu bist, dürfen wir auf Englisch reden. Die Sex hat uns geschickt. Willst du ’ne Kippe?« Er hielt mir eine Packung Gauloises hin. Jude nahm eine und klappte ihr Feuerzeug auf.

»Falls du so was hast, solltest du es immer bei dir tragen. Hier geht vieles verloren. Also, was können wir dir erklären?«

»Eigentlich alles. Wie ist es hier so?«

»Ziemlich schrecklich, wie fast überall, aber dafür lassen sie uns halbwegs in Ruhe. Letztes Halbjahr haben sie ein halbes Dutzend Leute rausgeschmissen, weil sie im Dorf geklaut haben. Aber solange du nicht total bescheuert bist, geht das schon in Ordnung.«

»Ja, man kann hier so komisch sein, wie man will.«

»Du siehst nicht gerade bescheuert aus.« Gekonnt klopfte Jude die Asche von ihrer Zigarette.

»Die Schule darf es nur nicht mit den Gendarmen zu tun kriegen – das ist das Wichtigste. Gambit hat Todesangst vor einer Schulschließung. Er würde dich eher eigenhändig verkaufen.«

»Wir sind eine ziemlich wilde Truppe, aber solange sich alles auf dem Schulgelände abspielt, ist es ihm egal.«

»Wo warst du vorher?« Hollow stellte die Frage, vor der ich mich gefürchtet hatte.

»Ach, irgendwo und nirgendwo. Zuletzt in London. Meine Eltern fliegen jetzt nach Kuba.«

»Die meisten von uns sind von jeder Schule auf dem Planeten geflogen. Meine letzte hat direkt dicht gemacht«, sagte Jude. »Das war alles sehr exotisch, alle Mädchen wie Kamelien, und sehr sorgsam durchdacht. Die Schulleiterin … oder sollte ich eher Direx sagen …?« Sie verdrehte die Augen, bis man nur noch weiß sah. Mir fiel auf, dass sie ein Fahrtenmesser am Gürtel trug wie eine Pfadfinderin.

»Ich leite den Schulrat«, sagte Hollow. »Wir haben hier alles selbst in der Hand.«

»Was bedeutet ›Hollow‹ überhaupt?«, fragte ich.

»Spitzname für Holofernes. Das sagt dir was, oder? Und Jude ist kurz für Judas. Da war mir gleich klar, dass wir copains werden müssen, weil sie mich ansonsten auffrisst. Wir schmeißen den Laden hier gemeinsam. Du solltest Kit lieber sagen, bei wem man vorsichtig sein muss.« Er nickte Jude zu.

»Der erste Kandidat ist Von Vörst. Er hält sich für den letzten echten Preußen. Sein Vater ist ein westdeutscher Fabrikbesitzer, ein bisschen zwielichtig und sehr protzig. Vörst verabscheut ihn und hält sich ans alte Regime, hat immer ein Maschinengewehr unter dem Bett. Dann gibt es noch Staboul. Sein Vater ist einer dieser kleinen arabischen Ölprinzen. Er hat schreckliche Angst vor einem Attentat, also schießt er lieber, bevor er Fragen stellt.«

»Ja, und bei Dara musst du vorsichtig sein. Sie erzählt immer, sie sei belästigt worden.«

»Sogar der Hund der Hausmutter musste dran glauben, weil Dara behauptet hat, er hätte sie genötigt. Miststück. Und dann gibt es noch Anna Louise, ihr alter Vater ist so reich, dass sie ständig befürchtet, gekidnappt zu werden. Sie ist ganz putzig, aber steht immer unter Strom.«

Im Stockwerk unter ihnen ertönte ein Gong. Hollow stemmte sich aus dem Bett. »Ich muss nachschauen, ob was passiert ist.«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich.

»Na dann, bis später.« Er driftete aus dem Zimmer, die Daumen in den Gürtel eingehakt.

»Was für ein Problem hat der denn?«

»Keins. Die lösen sich alle in Luft auf. Meistens ist er einfach ein bisschen high. Du musst auf seine Augen achten.«

»Und du?«

Sie lachte und zog ihr Messer hervor. Sie drückte es flach auf ihre Handfläche, dann zeigte sie auf mich. »Du bist hübsch. Ich mag dich.« Sie warf das Messer so fest, dass es zitternd im Pinienholz des Türrahmens stecken blieb, bevor sie es sich zurückholte und wieder in den Gürtel schob.

Der Stundenplan war ausnehmend einfach. Vormittags gab es Seminare in allen traditionellen Fächern, die besuchen konnte, wer wollte; nachmittags gab es Winter- oder Sommersport, wie im Prospekt angegeben. Nach drei Wochen erkannte ich mich kaum wieder. Als Wiedererkennungsmerkmal hatte ich mir einen gestelzten britischen Akzent zugelegt und empfand eine dringliche, sonderbare Gier nach Unterricht und Lehre, die kein Mitglied des Kollegiums befriedigen konnte. In Wahrheit trug ich eine Maske meiner selbst, weshalb ich kein Selbst mehr besaß. Ich weigerte mich, das geringste Interesse an den Freizeitaktivitäten zu zeigen. Spiele waren etwas für junge und unreife Geister; doch ich war plötzlich sehr alt.

»Du bist verrückt und genial«, lobte mich Hollow in seinem üblichen, klischeebeladenen Jargon. »Du könntest ein Vermögen machen.«

»Ach, Geld! Ich bin doch kein Museumsstück.«

Hollow war dürr und hatte die übergroßen Gelenke eines Arthrosepatienten. Wenn er bei Sitzungen den Richterhammer schwang, waren seine Hände so groß und rau wie die eines texanischen Rinderauktionators, vielleicht stammte er sogar von einem ab. Hollow herrschte über alles, denn wenn er high war, konnte er die gefährlichsten Slalompisten bewältigen und zwischen den gewaltigen Bäumen umherhuschen, als seien sie nichts als Geisternebel oder Schnee, der bei jeglicher Berührung schmilzt. Es hieß, er sei einmal gestürzt und habe sich die Lunge mit einer gebrochenen Rippe punktiert, aber sei einfach wieder aufgestanden, um den Lauf zu Ende zu bringen, auch wenn er dabei blutrote Beeren in den weißen Schnee hustete.

Er saß am Rand der Aulabühne, ließ die langen Beine baumeln wie ein Insekt oder eine Puppe; alle anderen fläzten oder hockten sich hin, ihre Kleidung und Haltung ungepflegt, aggressiv. Ich stand hinten, die Arme verschränkt und bewusst ruhig; Jude lehnte am Bühnenrand wie Hollows Bodyguard, die Hüfte nach vorne geschoben, das Messer bedrohlich unauffällig am Bein.

»Wir müssen hier mal richtig aufräumen«, begann Hollow im besten Gangsterton. »Die meisten von uns können ansonsten nirgendwohin, und es liegt an uns, alles am Laufen zu halten. Also müssen wir uns um etwas Disziplin bemühen, und das beginnt meiner Meinung nach damit, alle Offensivwaffen auszuhändigen.«

»Was passiert damit?«, fragte ein kleiner Knirps, dessen Mutter – eine Sängerin – seine Anwesenheit und sein Alter so peinlich war, dass er schlicht nicht weiterwuchs. Während ich mich umsah, fühlte ich mich wie eine Art Peer Gynt in der Halle des Bergkönigs, auch wenn ich mich kaum von den anderen unterschied und alle sich auf die gleiche Art in sich zurückgezogen hatten.

»Wir schließen sie ein.«

»Und wer passt auf den Schlüssel auf?«, fragte Anne Louise. »Und hat dann Zugriff auf all diese Waffen!«

»Das mache ich«, sagte Hollow.

»Warum sollten wir dir vertrauen?«, rief Staboul, und Von Vörst knurrte zustimmend. Ausnahmsweise waren sie sich einig.

»Weil ich an Pazifismus glaube. Ich brauche eure Waffen nicht, Mann.«

»Du glaubst vor allem an Dekadenz«, sagte Von Vörst. Er war ein dünner, steifer Junge, das geschorene Haar mit Peroxid betupft, um es arisch blond zu halten. Staboul trug einen Mantel aus Schafspelz, ein Kopftuch und ein gezwirntes Goldband samt passender Hose und Hemd.

»Wir sind hier demokratisch«, sagte Hollow. »Also sollten wir abstimmen.« Alle Hände hoben sich, außer Stabouls und Von Vörsts. »Mehrheitsbeschluss.«

»Ich gebe meine Waffe ab, wenn er es auch tut.« Staboul schob den Kopf in Richtung des Preußen. »Ich vertraue ihm nicht.«

»Warum sollte ich mich dem kollektiven Willen ignoranter, verweichlichter Kinder beugen? Die Masse sollte angeführt werden, nicht regieren.«

»Weil wir dich dazu bringen werden«, sagte Hollow. »Du bleibst hier, während Jude und Kit dein Waffenlager in Beschlag nehmen.«

Mit finsterem Blick sah sich Von Vörst nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber wir schlüpften bereits durch die Tür, während die anderen ihn umzingelten, allesamt liliputanisch genug, um Gulliver gemeinsam zu stürzen. Ich sah noch, wie sich sein Geist gegen die Erniedrigung sträubte.

Seine Waffe ließ sich schnell finden, selbst im Schutz des Bettzeugs war die Form unverkennbar. Jude entfernte das Laken, um das tote, glänzende Ding zu enthüllen, so schön wie polierte Knochen und so gleichgültig wie selbstgefällig in seiner Existenz. Um sich zu aktivieren, schien es keinen Menschen zu benötigen. Jeden Augenblick hätte es aus eigenem Willen Tod speien können. Wir mochten es zwar erfunden haben, aber es schien mehr Für-sich-Sein auszustrahlen, diesen Eigensinn aller dreidimensionaler Artefakte, als die lebenden, atmenden Menschen, die es erschaffen hatten, mitsamt ihrem konstanten Bedarf, das Leben zu bewahren, mitsamt ihrer gegenseitigen Abhängigkeit, ihrem Auf und Ab der Bedürfnisse. Jude ließ das Laken fallen wie bei einer Enthüllungsfeier und legte einen Finger auf den Abzug.

»Vorsicht!« Ich wusste, sie würde die Waffe auf mich richten.

»Die ist nicht geladen, du Angsthase. Wir müssen noch die Patronenclips finden.«

»Warum? Die sind doch nichts wert, ganz ohne das Gerät.« Ich wählte das Wort sorgfältig aus meinem Arsenal.

»Er könnte sie aufbrechen, eine kleine Menge Schießpulver anhäufen und dann: Puff!«

»Molotowcocktails.«

»Für die braucht man kein Pulver.«

»Ich meinte das Prinzip, nicht das Rezept.«

»Schau noch mal unter seinem Bett nach«, bedeutete sie mir mit dem kurzen Lauf.

Ich ließ mich auf alle viere sinken. Der erstickende Gestank von Von Vörsts Bettwäsche lag schwer auf mir. Er schlief nur mit einem Laken, Bettdecken waren ihm zu unmännlich. Ich stellte mir vor, wie ein harter, männlicher Kuss auf seine knochigen Gliedmaßen traf, und fragte mich, ob er auch Masturbation für den Untergang seiner Männlichkeit hielt. Plötzlich schob sich etwas zwischen meine Pobacken, und ich wusste sofort, was es war, hatte es unbewusst wohl schon erwartet.

»Mach schneller«, sagte Jude.

»Wie soll ich denn suchen, wenn du mir das Ding in den Arsch schiebst?« Wieder wählte ich meine Worte sorgsam, ließ sie kalt herabfallen, um mein Gleichgewicht zu wahren und jegliche Panik zu unterdrücken. Sie lachte, nahm die Mündung aber weg. »Hier sind sie.« Ich lag flach auf dem Bauch und zwang mich weiter unters Bett, um den Pappkarton an der Wand zu fassen zu kriegen. Ich zog ihn zu mir heran und kroch wieder hinaus, keuchend und erhitzt. Er war voller Munition. Zusammen kehrten wir in die Aula zurück, Jude trottete hinter mir her wie eine Gefangene. Ich stellte den Karton auf die Bühne.

»Ihr seid Abschaum«, sagte Von Vörst. »Wie die Hunde streunt ihr durch die Gegend, lauter Gesocks, aber wir arbeiten daran, allein und geheim, euch eines Tages zu zerstören, selbst wenn wir den gesamten Planeten zerstören und von vorne beginnen müssen, nur mit den Reinsten und Stärksten.«

»Ich hoffe, deine Rakete steht schon bereit, Vater Noah«, sagte Hollow. »Schließt sie weg.«

»Sie gehören mir, aber ich erwarte nicht, dass ihr so etwas wie Besitztum respektiert.«

»Du kannst sie wiederhaben, wenn du uns verlässt«, sagte Hollow. »Und jetzt deine.« Er nickte Staboul zu, der seine Pistole aus dem Holster nahm und sie ihm mit dem Griff voran reichte. »Und die auch.« Hollow zeigte auf die überkreuzten Patronengurte. Staboul nahm sie ab und hinterließ tiefe Raupenspuren im dreckigen Schnee seines Schafspelzes.

»Jetzt der Rest.« Nach und nach kamen alle nach vorne wie gerettete Seelen in einem evangelikalen Gottesdienst und ließen ihre Waffen auf den Stapel neben dem Schrank fallen, Schleudern, Schlagringe, ein als Schlagstock verwendeter Baseballschläger, eine mit Eisen überzogene Lanze, gefertigt aus einem gebrochenen Skistock.

»Und was ist mit ihr?«, fragte Staboul.

»Jude?«

Widerwillig wurde ihr Messer hervorgezogen und dem Haufen hinzugefügt. Irgendwie wirkte sie so kleiner. »Und sie auch«, sagte Jude.

»Komm schon, Dara.« Hollows Ton war bestimmt.

»Ich hab Angst.« Sie zitterte sichtlich.

»Wir passen auf dich auf.« Hollow streckte ihr die Hand entgegen, bis sie schließlich eine heimtückische Stahlnadel von ihrem Gürtel löste.

Vorsichtig packten wir alles in den Schrank. Dann verschloss Hollow feierlich die Türen und band sich den Schlüssel mit einem Schnürsenkel um den Hals.

Als ich an diesem Abend im Bett lag, eine Hand in meiner Pyjamahose, um mich sanft zu streicheln, dachte ich an den verschlossenen Schrank und an Von Vörst, der sich in der Dunkelheit zu seinen Waffen schlich, doch dann wurde mir klar, dass er sie nicht zurückfordern würde, dass er durch die Zeremonie gebunden war wie alle anderen, aber dass sie jetzt andere Masken finden mussten, um sich selbst zu schützen, ihre selbst auferlegten Panzer und großen Schnapper, die ihre weichen Leiber verdeckten. Es gibt ein kleines Krustentierchen namens Einsiedlerkrebs, das seinen verletzlichen Bauch in den verlassenen Festungen anderer Schalentiere versteckt. Zwickt sein Zuhause wie ein zu klein gewordener Schuh, ist es an der Zeit, und sein verkrampfter Magen stößt Rülpser aus, lässt den Krebs nach Luft schnappen, die Augen aufreißen, und seine Scheren werden taub und blau. Er muss weiterziehen, muss sein Hinterteil aus der Behausung zerren und den rauen Meeresgrund nach einer geräumigeren Unterkunft absuchen, während über ihm die Schrecken schweben, jederzeit bereit zu Angriff und Verzehr. Dieser furchterregende Augenblick im Leben des Krebses wiederholt sich immer wieder, bis er eines Tages zu groß und langsam wird. Ein solcher Augenblick spielte sich jetzt im gesamten Gebäude ab. Ich fragte mich, ob die patroullierende Belegschaft davon wusste, während sie an jeder Tür innehielt, ob sie die Seufzer hörte, das Geraschel einsamer und verletzlicher Kinder, die sich zum Trost in die Dunkelheit flüchteten. In den nächsten Tagen sollten sie aggressiver, schärfer werden, während sie sich neue Taktiken einfallen ließen, um sich vor den anderen und vor sich selbst zu verteidigen. Meine Hand bewegte sich schneller, bis ich kurz darauf schaudernd und zitternd im Schlaf versank.

Am nächsten Morgen schlief ich lange, verpasste die gemeinschaftliche Frühstücksvöllerei, die Tische voller Konfetti aus Cornflakes und Zucker, die Milchpfützen und den Geruch muffiger Kinder, die gerade aus dem Bett gefallen waren, die obszönen Spiegeleier mit den gelben Pupillen unter einem trüben Fettschleier im zerfetzten Eiweiß. Ich begab mich ins Literaturseminar, das sich an diejenigen richtete, die Aufnahmeprüfungen in Englisch absolvieren wollten, auch wenn ich zu jung dafür war. Wir lasen Shakespeares Othello, das ich sowohl in einer Variante aus der Oper kannte, zu der mich meine Eltern in Mailand mitgenommen hatten, als auch als Stück selbst, das ich als Schulproduktion auf einem abgeschiedenen Campus gesehen hatte, an dem mein Vater einen Vortrag über unterentwickelte Länder hielt: »Der Feigenbaum ohne Früchte – Wie wir unsere Abfälle nutzen können«.

»Und schon hier begegnet uns das Konzept des leidenschaftlichen Negro, einem einfachen Mann, dessen Gefühle stürmischer sind als die der gebildeteren Venezianer, was ihn zu einem hervorragenden General macht, allerdings auch zu einem Instrument für Iago. Seine übermäßige Eifersucht ist eine primitive Reaktion, die zu einer primitiven Lösung führt: Mord. Das soll nicht heißen, dass Shakespeare Rassist war, sondern dass er die konventionellen Vorstellungen seiner, und unserer, Zeit nutzte, um daraus große Dramen zu machen.«

»War Leontes schwarz?«

»Entschuldige, Kit, ich verstehe nicht ganz …?«

»Ich dachte nur gerade, dass Leontes ein schwächeres Motiv hat als Othello, außerdem wurde er nicht von Iago provoziert, und doch sind seine Aktionen und Reaktionen sogar noch brutaler und irrationaler.«

»Ja, durchaus. An dieser Stelle sollten wir wohl eher Iagos Motiv berücksichtigen.«

»Sein Motiv dient doch sicherlich nur dem Zweck, seine invertierte sexuelle Angst vor und seinen Hass auf Othello zu rationalisieren. Es sei denn, wir betrachten Othello und Iago als zwei Seiten einer Persönlichkeit.« Ich hatte mitbekommen, wie meine Eltern dieses Thema beim Frühstück diskutierten.

»Ja, daran werden wir bis zur nächsten Stunde zu kauen haben.« Der Gong erlöste ihn.

Nachmittags war das Gebäude verlassen, die Kinder und Angestellten fort auf den kalten Schneepisten, bis auf die Hausmutter, die in ihren Wohnräumen neben dem Krankenzimmer blieb, weshalb es mich überraschte, den Nebelhornklang eines gedämpften Saiteninstruments aus Judes Zimmer zu hören. Ich klopfte.

»Wer ist da?«

»Kit.« Pause.

»Du kannst reinkommen.« Ich öffnete die Tür. »Und jetzt schließ ab. Wenn du herumschleichst, könnten andere das Gleiche machen.«

»Ich habe niemanden gesehen. Ich wusste nicht mal, dass du hier bist, bis ich das Cello gehört habe. Und selbst, also, ich meine, ich wusste nicht …«

»Das weiß niemand. An einem Ort wie diesem würden sie mich für einen Weichling halten, wenn ich verrate, mich für etwas so Zivilisiertes wie Musik zu interessieren.«

Ich fand, damit lag sie falsch, widersprach aber nicht. Mir schien es, als würde St. Gelbert’s alles akzeptieren, solange man es nur mit ausreichend Großtuerei vermittelte; noch hatte niemand versucht, hinter meine Maske zu blicken. Alle waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Aber vielleicht musste Jude es geheim halten.

»Ich hole mir mein Messer.«

»Wie?«

»Ich habe Hollow den Schlüssel abgenommen, als er high war.«

»Wird ihm das nicht auffallen?«

»Ich bringe ihn einfach bei seinem nächsten Trip zurück. Heute Abend.«

»Aber du wirst das Messer nicht herumtragen können.«

»Nein, aber ich will nicht, dass es bei dem ganzen Rest herumliegt. Ich brauche es.«

»Das denken sie doch alle.«

»Wann lassen sich deine Eltern scheiden?« Sie schlug mir die Frage so hart ins Gesicht, dass ich blinzelte und beinahe zurückgewichen wäre.

»Gar nicht.«

»Natürlich. Warum würden sie dich ansonsten hierherschicken. Du wirst sitzen gelassen wie der Rest von uns, damit sie sich in Ruhe trennen können.«

»Mein Vater hat schon eine Scheidung hinter sich.«

»Na und? Hollow hat drei Daddys und zwei Mommys.«

»Und du?« Ich versuchte, den Spieß umzudrehen.

»Ich bin ein Kind der Liebe. Ein Wunschkind. Meine Eltern haben sich aus dem ganzen Chaos ausgeklinkt.«

»Und warum bist du dann hier?«

»Meine Mutter ist bei einem Autounfall gestorben. Mein Vater reist viel.«

»Das tut mir leid.«

»Du kannst dir selbst leidtun. Kuba! Reno oder Las Vegas.«

»Sie lügen mich nie an. Wenn irgendetwas wäre, würden sie mir Bescheid geben.«

»Alle Erwachsenen lügen. Schau sie dir genau an und achte auf die Pausen. Sie können es uns bloß nicht sagen, weil sie die Regeln selbst aufgestellt haben und niemand wissen darf, wenn sie dagegen verstoßen, und außerdem müssen wir so erzogen werden, dass auch wir uns an die Regeln halten. Eine Sauerei! Warum wirft man nicht einfach alles weg und fängt von vorne an. Aber schau sie dir genau an, hör ihnen zu. Dann fällt es dir auch auf. Bald wirst du zum alten Gambit gerufen, und dann verkündet er dir die schlechten Neuigkeiten mit Grabesmiene.«

»Das würden sie mir selbst sagen.«

»Nicht die. Wart’s nur ab. Du wirst schon sehen, dass sie genauso sind wie der Rest.«

»Warum bist du so verdammt herzlos?« Das war ein Fehler, aber sie hatte mich verletzt.

»Weil du so kindisch bist. Du denkst, du wüsstest alles, dabei hast du es bloß aus Büchern. Du läufst hier hocherhaben rum und machst dich über alle lustig, verabscheust sie alle, aber ich kenne dich genau.«

»Das kannst du gar nicht«, sagte ich. »Das kann niemand!« Aber ich hatte Angst. Jude war zu mächtig. Ihre Macht durchfuhr mich und zwirbelte mein Zwerchfell zu einem Knoten aus Schrecken.

»Ich wette, du masturbierst nicht mal.«

Ich war froh, dass sie den Fachbegriff benutzt hatte anstatt des St. Gelbert’schen Jargons, dem meine vierwöchige Bekanntschaft mit den phrases idiomatiques möglicherweise noch nicht gewachsen war. »Natürlich tue ich das. Für wen hältst du mich denn?«