Kinder der Wut - Nela Rywiková - E-Book

Kinder der Wut E-Book

Nela Rywiková

3,0

Beschreibung

»Nela Rywiková ist einer der interessantesten neuen Namen des tschechischen Krimis, der gerade eine Art Wiedergeburt erlebt.« Pavel Mandy, iLiteratura.cz Auf einem heruntergekommenen Bahngelände in Ostrava finden zwei Jungen eine Leiche, die wie eine Jagdtrophäe präpariert worden ist. Die Untersuchungen der Polizei führen in alle gesellschaftlichen Schichten der Stadt, in hohe politische Kreise und zu neureichen Unternehmern, zu Prostituierten und in zerrüttete Familien. Der Verdacht fällt bald auf Erik, einen alten Sonderling, der in Kneipen herumlungert und sich mit der Präparation von toten Tieren ein Zubrot verdient. Doch der Ermittler Adam Vejnar und seine neue Kollegin Zuzana Turková konzentrieren ihre Untersuchungen auf Verstrickungen zwischen einer Politikerin, einem Unternehmer aus der neuen „Elite“ der Stadt und einem ominösen Geschwisterpaar. In „Kinder der Wut“ verknüpft Nela Rywiková geschickt einen Mordfall in der Gegenwart mit einer deutsch-jüdischen Familiengeschichte, die viele Jahrzehnte zurückliegt, und zeigt, wie leicht ein Mensch Opfer von Wut, Geschichte und einer verdrängten Vergangenheit werden kann.

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Ähnliche


INHALTSVERZEICHNIS

I.

II.

III.

IV.

V.

1939–1943

VI.

VII.

VIII.

IX.

1945–1946

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

1947

1948

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

1948

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

1960

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

XXIX.

EPILOG

DANKSAGUNG

Er zog sich die Kapuze näher zum Hals heran. Sein älterer Kumpel laberte ständig irgendwas vor sich hin. Feiner Nieselregen fiel aus dem verhangenen Himmel, und die Kälte kroch einem in die Knochen. Er musterte seine auseinanderfallenden Schuhe, mit denen er durch die Pfützen watete. Die beiden schlängelten sich zwischen den Hochhäusern der Plattenbausiedlung hindurch. Der Spielplatz lag verlassen da, in den Fenstern schienen die warmen Lichter der Wohnzimmer und das Flackern der Bildschirme. Er stellte sich all die happy families vor, wie sie ihr warmes Abendessen verschlangen und dabei in die Glotze starrten.

Der kalte Wind trieb die beiden vorwärts, zu einem Unterschlupf hin. Er ließ sich führen. Sein Kumpel wusste von einem guten Ort. Sie kamen an einem Parkplatz vorbei, der an einem alten kaputten Zaun endete. Dahinter befanden sich die verlassenen Gebäude eines Güterbahnhofs. Das Vorhängeschloss am Tor hatte schon längst jemand aufgebrochen, so konnte jeder hineingelangen. Gleich hinter dem Tor lagen eine alte Matratze, ein ausgeschlachteter Monitor und ein kaputter Plastikstuhl. Das Grundstück gehörte der Bahn. Es war verödet, genau wie das Stellwerk, das sich wie ein Wachturm erhob. Jemand hatte ein kleines gemauertes Schutzdach daran angebaut, wo man sich bequem verstecken, kiffen oder sich ins Koma saufen konnte, ohne dass irgendjemand sich aufregte. Das Dach bot einen guten Schutz vor Regen und den Blicken zufälliger Passanten, vor allem vor den Hundebesitzern, die hier ihre Hunde straflos ihr Geschäft verrichten ließen.

Wie auf Kommando gingen plötzlich alle Straßenlaternen an. Der Bürgersteig wurde von gelbem Licht überflutet, das immer schwächer wurde, je weiter sich die Jungs von der Zivilisation entfernten. Sie kamen an einer verlassenen Bahnhofshalle vorbei, von der schon der Putz bröckelte. Daneben erhob sich das Stellwerk, ein Ziegelsteinbau mit großen Fenstern. Keines von ihnen war erleuchtet, aber offenbar hielt sich hier ab und zu jemand auf. Das Gebäude hatte ausgebesserte Fenster und ein schweres Gitter vor der Eingangstür. Aber man kam trotzdem hinein, das wusste der Kumpel sehr gut. Der Anbau bot Windschatten und ausreichend Privatsphäre für jeden, der sie nötig hatte und den die weggeworfenen Tablettenblister, Spritzen und benutzten Kondome, die alten stinkenden Lumpen, die schimmelige Matratze und die Schnapsflaschen nicht störten. Die beiden Jungs störte nichts von alldem. Wenn sie sich erst mal einen Joint gedreht und reingezogen hätten, würden sie sich fühlen wie im Paradies. Die Unordnung hielt sich in den dunklen Ecken versteckt, und sobald sie es sich bequem gemacht hätten, würden sie sie gar nicht mehr bemerken.

Ein Stück vor dem erhofften Zufluchtsort blieben die beiden stehen. Überall war es vollkommen finster, auch das Außenlicht war nicht angeschaltet. Normalerweise ließ es der Besitzer des Stellwerks brennen, damit Rowdys wie sie sahen, dass das Haus nicht leer stand. Aber jeder, der diesen Ort kannte, wusste, dass er das Halbdunkel des Anbaus straflos und ohne Furcht nutzen konnte. In Größe und Aussehen erinnerte alles an eine Bushaltestelle, aber ohne nervige Fahrgäste.

Die Außenlampe brannte diesmal nicht, sie schaukelte an mehreren Drähten wie ein Stück Fleisch an den Sehnen. Eine Fensterscheibe war komplett zersplittert und knirschte unter den Schuhsohlen der beiden Jungs. Fast sah es so aus, als hätte der Besitzer seine Festung vor Kurzem endlich verlassen. Aber das Gitter am Eingang war immer noch verschlossen und unversehrt.

– Alter, siehst du das? Vielleicht ist das endlich leer. Wir könnten es uns doch mal genauer ansehen, schlug Venca vor. In der Hoffnung, dass das ganze Stellwerk bald ihres sein könnte, ging er an derMauer entlang, auf den Eingang zu. Man musste nur zum Fenster reinklettern. Zu zweit würden sie das spielend schaffen.

Das wäre eine weitere super Tauchstation, wo sie sich vor den aufdringlichen Blicken, vor allem jedoch vor den Bullen verstecken könnten.

– Los, komm, befahl er. Tony, der Jüngere, hatte jedoch gerade keinen Bock auf ein Abenteuer. Er hatte nur total Bock auf einen Joint, aber das würde auch im Park, auf einer Bank oder auf dem Spielplatz bei den Neubauten gehen. Für einen Joint musste er doch nicht bis fast unter die Erde kriechen. Ihm gefiel der Ort nicht, an den sein Kumpel ihn mitgeschleppt hatte. Der war ein Junkie, ein Penner und eigentlich ein Wrack. Nervös blickte er um sich und verspürte Sehnsucht nach einem warmen Bett. Aber was nützte einem ein warmes Bett in einer Wohnung, in der sich eine ständig besoffene Mutter auf dem Boden wälzte? Hysterisch, voll Selbstmitleid und so verzweifelt, dass er am liebsten wegrennen würde, sobald er auch nur einen Blick auf sie warf.

Ihm war plötzlich bange wegen alldem, wegen seinem Kumpel, wegen der Mutter und auch wegen diesem seltsamen Haus. Er hatte Lust, abzuhauen, irgendwohin. Intuitiv blickte er um sich. Auf der einen Seite das Straßenbahndepot, auf der anderen Seite der alte Umschlagbahnhof, die Gleise und eine vierspurige Straße. Der Rest wurde von Bäumen überschattet, und hinter ihnen in der Ferne standen die Hochhäuser mit dem warmen Licht der gemütlichen Stuben. Aber er würde jetzt keine Memme sein, nicht dass sich Venca noch über ihn lustig machte. Lieber würde er sich mit ihm zudröhnen und beweisen, dass er Mumm hatte. Er würde es dieser ganzen beschissenen, stumpfsinnigen Gesellschaft, die rumblökte wie eine Schafherde, so richtig zeigen.

– Vergiss es, wir durchkämmen das hier ein anderes Mal. Lass unslieber was kiffen, schlug er vor und ließ den älteren Kumpel vor dem Zugang zum Stellwerk stehen. Er selbst marschierte entschlossen zum Anbau, dessen Eingang in die Dunkelheit stierte wie der Höllenschlund.

Aber dann erstarrte er plötzlich. Er hatte das Gefühl, dass sich ein Blick in seinen Rücken bohrte und unsichtbare Hände nach seinen Schultern griffen.

– Jemand hier glotzt uns nach, schrie er, und zeigte in Richtung Zaun.

– Scheiß dir nicht in die Hosen, Alter, das sind die Ziggies, die kürzen da den Weg ab, die kommen nicht hierher, beruhigte ihn der erfahrene Venca. Die Schatten von drei Personen verschwanden schnell hinter dem Bahnhofsgebäude und kamen erst wieder im Gleisbett zum Vorschein, eilten über den Weg und verloren sich im Eingang des Wohnheims. Die Jungs beobachteten sie.

– Los, mach schon, verziehen wir uns nach drinnen, gleich ist es stockduster.

Sie zündeten sich eine selbst gedrehte Zigarette an und rauchten in langen Zügen. Der bekannte Marihuanaduft umwaberte sie, und beide beruhigten sich. Abwechselnd sogen sie den Rauch ein und genossen ihn lange. Zum Schluss standen sie da wie zwei Spießer, die auf den Bus zur Frühschicht warten. Vor ihnen lag ein bequemes Plätzchen, wo sie sich bald verkriechen, sich einen Schuss setzen und zum Mars katapultieren würden. Das war schließlich der Grund, warum sie hier waren. Tonys Kumpel schleppte jeden Frischling hierher. Das war der beste Ort für das Initiationsritual eines Junkie-Lehrjungen, die erste Begegnung mit der Realität des Lebens auf der Straße.

Inzwischen war es fast dunkel. Sie warfen die Kippe weg, den kleinen Rest, den man nicht mehr in den Fingern halten konnte. Sie hatten sich die Lippen verbrannt.

– Na los, sagte der Ältere wie zu sich selbst, trat in die Dunkelheit und steuerte die Ecke an, wo immer eine Matratze lag. Man konnte bequem auf ihr sitzen und letztlich auch schlafen, wenn man sich nur ordentlich mit der Jacke zudeckte und eins wurde mit der Wand daneben. Hinter sich hörte er die unsicheren Schritte des jüngeren Freundes.

Es war so finster, dass man die Hand vor Augen kaum sehen konnte. Zwischen den Wänden des Anbaus hing ein komischer Gestank, von dem Tony ganz übel wurde. Eine merkwürdige, sterile Mischung aus irgendwelchen Chemikalien. Ihm war klar, dass dieser Ort die legendäre Butze aller Sniffer und Junkies aus der ganzen weiten Umgebung war. Aus dem Augenwinkel linste er nach seinem Kumpel, ob der Chemiegestank auch ihm etwas ausmachen würde, aber der sah so aus, als sei alles normal. Tony schwor sich, kein beschissenes Weichei zu sein. Eine Zeit lang standen sie nur so herum und warteten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nach einer Weile konnten beide einen schimmernden Abfallhaufen in der Ecke erkennen und den Schatten eines alten Fahrrads.

Plötzlich erstarrten sie. Auf der rechten Seite zeichnete sich undeutlich der starre Umriss einer Gestalt ab, sie waren sich jedoch nicht sicher, ob das vielleicht nur eine Ausgeburt ihrer Phantasie war. Eine unangenehme Hallu, verursacht vom Dope. Beide schwiegen und überlegten das Gleiche. Ihre Gehirne hatten sich in dem Moment festgefahren, und man konnte nichts tun. Venca kicherte stumpfsinnig. Vielleicht, um das unangenehme Gespenst zu verscheuchen, das da vor ihm aufgetaucht war. Aber alles blieb unverändert. Der gespenstische Umriss stand weiter vor ihnen in der Dunkelheit. Sie blinzelten wie erschrockene Feldmäuse, die gerade aus dem Boden hervorgepflügt worden waren, und wagten nicht, sich zu rühren. Mein Gott, was hatten sie da für ein Schweinszeug gequalmt, ginges ihnen durch den Kopf. Die undeutlichen Umrisse wurden dunkler und nahmen klarere Konturen an, bis es schließlich keinen Zweifel mehr gab, dass es ein Mann war, der da vor ihnen stand. Sie hatten Angst, dass der Unbekannte sie am Schlafittchen packen und gegen die Wand schleudern könnte. Aber das Phantom bewegte sich nicht. Es sagte nichts, gab keinen Laut von sich. Es stand da wie ein Denkmal und schien riesig zu sein. Für einen Menschen war es vielleicht sogar zu groß.

Während sie nur vorsichtig auftraten und blind auf den Eingang zutappten, knirschte unter ihren Füßen der Müll. Venca tastete nach dem Feuerzeug in seiner Hosentasche. Das alles spielte sich innerhalb weniger Augenblicke ab, blitzte nur in einzelnen Bildern auf, dass es fast unwirklich schien, bis die Flamme des Feuerzeugs aufleuchtete.

– Scheiße, verdammte, hier ist jemand, hörte Tony Vencas gepresste Stimme. Ja, das war ihm auch klar, aber er hatte Angst, etwas zu sagen. Eigentlich war er auch gar nicht in der Lage dazu, er konnte nur stumm die Lippen bewegen, so sehr fürchtete er sich vor dem Unbekannten. In dieser Finsternis erkannte er nur den bedrohlichen Schatten von etwas Unbeweglichem und Monströsem. Der Typ schien unmenschlich groß zu sein. Warum zum Teufel sagte er nichts? Wenigstens irgendetwas.

– Heh?, rief sein Kumpel vorsichtig in Richtung des Unbekannten. Nichts. Stille. Der merkwürdige Schatten stand wie festgeklebt, gab keinen Laut von sich. Die Jungen wichen ein Stück zurück und starrten in die Finsternis. Im Schein der flackernden Lichtflamme bestand kein Zweifel mehr, dass es sich um die Gestalt eines Mannes handelte. Sie hatten jedoch Angst, näherzutreten. Die ungewöhnliche Stille war ihnen unheimlich. Sie hörten nur ihren eigenen Atem, schnell und flach.

Ohne zu bemerken, dass sie mittlerweile wieder am Eingang standen, hielten sie gut zwei Meter Sicherheitsabstand zu dem Mann. Jeder Unbekannte, der in einer Ecke dieses Stellwerks lauerte, war eine potenzielle Gefahr. Das war beiden Jungs klar.

– Scheiße, ich verpiss mich, zischte Tony und wollte sich schnell aus dem Staub machen. Aber sein Kumpel hielt ihn am Oberarm fest und schnaubte auf. Er hatte Angst, sich zu bewegen, und wartete ab, was der Typ tun würde. Sie standen sich gegenüber, aber keiner machte einen Mucks.

Ihr Gegenüber rührte sich nicht, atmete vielleicht nicht einmal. Der Typ gab kein Geräusch von sich, keinen Laut, keinen Atemzug. Erst jetzt in der absoluten Stille und nach mehreren Sekunden, die länger schienen als ein ganzer Tag, wurde den beiden bewusst, dass der Gestank von dem Mann ausging. Ein intensiver, chemischer, dabei irgendwie muffiger Geruch. So wie er im Krankenhaus, in einem Leichenhaus, einem Seziersaal herrschen könnte, aber nicht hier. Von wegen Sniffer. Es war dieses Monster hier, das die Luft verpestete. Venca nahm all seinen Mut zusammen, ging in den Anbau und trat bis auf einen Schritt an den Schatten des Mannes heran. Als er erneut das Feuerzeug klicken ließ, wurde ihm flau im Magen. Im Schein der Flamme sah er seltsame Augen, stumpf, leblos und starr. Einen ordentlich gezogenen Scheitel und ein bleiches, starres Gesicht wie das einer Schaufensterpuppe. Es hatte einen verkrampften Ausdruck, war eine deformierte Grimasse, unheimlich und abstoßend. Der nackte Körper war reglos und steif, ein erstarrtes Lebewesen, wie eine Jagdtrophäe aus einer Vitrine. Keine Puppe, sondern ein merkwürdiger Zombie. Wenn sich das Monster jetzt bewegte, würden sich die beiden in die Hosen pinkeln oder vielleicht noch schlimmer.

Es dauerte eine Weile, bis das Gehirn ein Signal in die unteren Extremitäten gesandt hatte. Sobald das geschehen war, stürmten die Jungslos. Erst ein paar Meter vor der Straßenbahnhaltestelle machten sie halt. Dort stand eine kleine Menschenansammlung und ahnte nicht, dass sich nur wenige Meter von ihnen entfernt eine Leiche befand.

I.

Pavel zitterte wie Espenlaub. Er brauchte unbedingt eine Kippe, hatte aber keinen Heller mehr. Die letzte Fluppe, die er gefunden hatte, war schon aufgeraucht, und hier unter dieser Bank lag wie zum Trotz keine einzige herum. Er schlotterte vor Kälte. Die kalten Abende ließen ahnen, dass der Sommer vorbei war. Unter der Jeansjacke trug er nur ein T-Shirt, das er seit mehreren Tagen nicht mehr gewechselt hatte.

Er zog ein altes klappriges Handy, das er von seiner Schwester geerbt hatte, aus der Hosentasche und versuchte, dem Gerät wenigstens eine SMS abzuringen.

Das Guthaben ist aufgebraucht, blinkte das grünliche Display ihm entgegen. Pavel fluchte und schob die Hände unter die Achseln, um sich zu wärmen.

Die Plattenbauten versanken langsam im Abendlicht, in der Nähe spazierten nur ein paar Leute mit Hunden herum und schenkten ihm keine Beachtung. Es war zu kalt, als dass jemand sich länger hier draußen aufhalten und darüber nachdenken würde, warum diese Jammergestalt dort schon eine Stunde lang nur so auf der Bank saß.

Er war wütend auf sich. Obwohl er bald dreißig wurde, zitterte er vor seinem Alten noch immer wie ein kleines Kind. Er hatte dem Vater versprochen, sich einen Job zu suchen, aber bisher war ihm nichts Vernünftiges untergekommen. Deshalb hatte er sich seit fast einem Monat nicht mehr zu Hause blicken lassen. Er schlief bei Kumpels, im Park, bei Erik … Aber sein Alter hatte recht. Er war ein bekloppter Versager, der sich von seiner Schwester aushalten ließ. Andere Kerle in seinem Alter hatten schon ihre eigene Bude, eine Karre und zwei Bälger. Und er hatte nicht mal einen vernünftigen Job. Er verstand nicht, wie es möglich war, dass sein Alter und seine Schwester wussten, wie man sich durchs Leben schlug, und nur er so eine Missgeburt war, die sich von einer Wand gegen die andere schleudern ließ. Jeden Job, den der Vater oder die Schwester ihm besorgten, jede Chance hatte er total vermasselt. Nirgendwo hatte er es ausgehalten und die Familie schließlich noch in Schwierigkeiten gebracht. Auch diesen Rockefeller hatte seine Schwester ihm zugeschanzt. Er war ein paarmal bei ihm gewesen. Hatte ihm eingeredet, dass er zweiundzwanzig sei, und ihm einen geblasen. In den Arsch ficken ließ er sich nicht, aber ihm einen zu blasen, war für Pavel halbwegs okay. Er war ja kein blutiger Anfänger mehr. Und der Typ zahlte gut. Pavel musste sich immer duschen und umziehen, die Klamotten konnte er dann behalten. Der Typ war so nervös und gespannt wie eine Saite. Er hatte ein bisschen Schiss vor dem, weil der immer so abweisend war. Gab Befehle wie auf dem Schlachtfeld und er führte sie aus, ohne mit der Wimper zu zucken. – Wenn jemand davon erfährt, lasse ich dich umbringen, verstehen wir uns? Er hatte nur genickt wie ein Esel. Wenn sein Alter davon erfuhr, würde er selbst es übernehmen, Pavel umzubringen.

Er stand von der Bank auf, die Kälte war nicht länger auszuhalten. Nicht weit von hier wohnte Erik, er könnte wieder bei ihm übernachten oder sich Geld leihen, das wäre nicht zum ersten Mal. Erik war ganz locker. Aber vielleicht auch etwas zu sehr, der ließ sich von jedem ans Bein pinkeln. So wie der wollte Pavel nicht enden, auch wenn er bereits auf dem besten Wege dahin war. Aber anders als Erik hatte er noch die Chance, etwas aus sich zu machen. Erik hatte ganze Jahrzehnte lang nur gesoffen bis zur völligen Abstumpfung, und obwohl er inzwischen weit über sechzig war, erlaubte er jedem, ihm in den Hintern zu treten. Pavel fühlte sich genauso wenig imstande, jemandem zu sagen, dass er ihn am Arsch lecken sollte. Auch jetzt saß er nur blöd herum, hatte die Fäuste geballt und erzählte sich selbst, was er seinem Alten sagen wollte. Den sollte er endlich in einem Altenheim vergammeln lassen, da gehörte der sowieso schon längst hin. Aber immer, wenn die Situation eskalierte, ließ er sich nur als missratenen Wichser beschimpfen.

Schließlich hielt er es nicht länger aus und stiefelte los zu Erik. Er schlängelte sich zwischen den Autos auf dem Parkplatz hindurch und steuerte auf den Zaun am Umschlagbahnhof zu. Dahinter wohnte Erik.

Im Erdgeschossfenster des Bahnstellwerks brannte Licht. Pavel tigerte hin und her, bevor er an die Tür klopfte. Ein Schlüssel knirschte im Schloss und Pavel wurde von gemütlichem Licht und Wärme überflutet, auch wenn sich von der Werkstatt an sich nicht gerade sagen ließ, dass sie gemütlich war. Ausgestopfte Hunde und Katzen, steife Tiere, die den Anschein erwecken sollten, noch immer putzig zu sein, glotzten ihm aus den Regalen entgegen. Erik bat ihn herein, aber Pavel zögerte plötzlich weiterzugehen, er konnte sehen, dass Erik mit etwas beschäftigt war. Und er fand es eklig, die abgezogene Haut irgend so eines Wiesels anzustarren, das Erik gerade in der Mangel hatte.

– Erik, ich muss mir zwei Hunderter von dir leihen. Morgen kriegste sie zurück, ich schwörs dir.

Ohne langes Gerede zog Erik seine Geldbörse heraus und gab sie Pavel, damit er sich selbst nehmen konnte, was er brauchte. Erik wusste, dass er ihm das Geld nicht zurückgeben würde, aber es war ihm egal. Er mochte ihn, Pavel war schlau, ein Profi im Mariáš, er hatte nur das Pech, in einer Familie geboren zu sein, wo der Vater ein despotischer Schinder war. Pavel hatte es nicht leicht. Erik hing nicht am Geld. Es war nur Staub, der schnell verwehte; ein nicht zurückgezahltes Darlehen hier und da machte ihm deshalb nichts aus. Anders als Pavel fehlte es ihm eigentlich an nichts.

Erst hielt Pavel einen Zweihundertkronenschein zwischen den Fingern, aber nach kurzem Zögern griff er sich einen Fünfhunderter.

– Ich gebs echt zurück, brabbelte er, aber beiden war klar, dass das nur leeres Gerede war. Erik winkte ab.

– Haste vielleicht auch noch ne Kippe? Bittend schaute er Erik an.

– N-n-nimm dir die g-ganze, stotterte Erik und reichte ihm eine Schachtel Start, in der noch zehn Zigaretten waren. Pavel zog drei heraus und gab ihm den Rest zurück.

– Nein, Erik, das reicht mir, echt, danke. Bist n wirklicher Kumpel. Er wankte zurück und wich aus der Tür, um möglichst schnell zu verschwinden. Um ein Nachtquartier zu bitten, traute er sich nicht. Außerdem war es ihm peinlich, dass er schon wieder herumbettelte. So bestätigte er nur aufs Neue die Worte seines Vaters, dass er ein nutzloser Parasit sei. Irgendwann würde er dem Alten endlich beweisen, dass er was draufhatte, er hatte nur noch nicht den richtigen Job gefunden.

Erik hielt ihn zurück.

– Ich hab was für d-dich. Komm mal mit.

Sie stiegen die Treppe ins Obergeschoss hoch, wo Eriks Wohnung war, vollgestellt mit lauter Krempel. Er zeigte in die Ecke, wo ein Computer stand.

– D-den hab ich neben einer M-mülltonne gefunden. D-der sieht g-gut aus, oder?

Erik hatte keine Ahnung von Computern, aber Pavel hatte an der Berufsschule ein bisschen was mitgekriegt, bevor sie ihn endgültig rausgeschmissen hatten, weil er dort maximal montags und mittwochs erschienen war. So stand Pavel am Ende nur mit einem Lehrbrief da, auf das Abi hatte er verzichtet. Aber Computer interessierten ihn.

– Hm, hast du schon versucht, ihn anzuschalten? Er betrachtete das Gerät mit Kennermiene, nachdem er das Gehäuse aufgeklappt hatte.

– Ich h-hab auf dich ge-gewartet, bekannte Erik, der immer mal wieder etwas von Wert heranschleppte. Ein Handy, einen Computer oder ein Küchengerät. Es tat ihm leid, die Sachen einfach so an den Mülltonnen liegen zu lassen. Mit der Zeit hatte er einen ganzen Haufen unnützen Zeugs zusammengetragen, das sich in seinem Wohnzimmer stapelte. Vieles davon konnte Pavel reparieren und dann für ein paar Mäuse verkaufen.

– Das wird was! Pavel nickte fachmännisch. – Ich bringe einen Lötkolben mit, dann kriegen wir das wieder hin. Mann, mit meinem Alten hab ich mich wieder in die Wolle gekriegt, der ist jetzt irgendwie stinkig auf mich. Ich muss den eine Weile schmoren lassen, sagte Pavel, der nicht zugeben wollte, dass er sich mit seinem Vater beinahe wieder geprügelt hätte.

Er winkte kurz zur Verabschiedung und lief dann hinaus in die Dunkelheit. Am ersten Kiosk kaufte er sich eine ganze Schachtel Zigaretten und lud sein Handyguthaben auf. Dann tippte er eine kurze Antwort auf die SMS, die gestern gekommen war.

Ich kann heute um neun oder morgen um fünf.

Er hatte nicht mal bis zehn gezählt, schon war die Antwort da.

Heute am üblichen Ort.

Pavel verzog das Gesicht. Geiler Bock … Aber wenigstens hätte er ein paar Tage Kohle für was zu Beißen und für Alk. Hauptsache, er würde nicht wieder schwach werden und die ganze Kohle in den Spielautomaten werfen wie beim letzten Mal. Er sprang schnell in eine Straßenbahn, wo er sich etwas aufwärmen konnte. Nach einer Fahrt quer durch die ganze Stadt kam er an dem feudalen Sitz einer Bau- und Maklergesellschaft an, wo um diese Zeit keiner mehr war, nur noch der Eigentümer. Pavel klingelte ihn mit dem Handy an. Ein paar Sekunden später hörte er den Türöffner. Er lief durch den leeren Empfangsbereich und den bekannten Flur, dann stieg er die Treppe ins Dachgeschoss hoch. Dort hatte der Eigentümer sein privates Arbeitszimmer mit einer kleinen Küche, nur wenige Personen hatten hier Zutritt. Es war viel kleiner als sein Büro und lange nicht so protzig eingerichtet. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt, in dem sich eine unauffällige Tür zu einem kleinen Zimmer befand. Das diente als Kämmerchen für ein- und mehrmalige Geliebte beiderlei Geschlechts. Ein ganz raffiniertes Kuschelkabinett. Dort dominierte ein großes Bett, dahinter waren ein Kleiderschrank und links ein Miniatur-Badezimmer. Pavel stellte sich vor, dass Hotelzimmer etwa so aussehen müssten. Gegenüber vom Bett hingen ein großer Fernseher und ein DVD-Player, außerdem ein Wandregal voller Hardcore-Pornos.

Der Mann musterte ihn von oben bis unten, dann nickte er in Richtung Bad. Pavel nahm wahr, wie er etwas in seinem Kalender notierte, ein strenger Blick jedoch reichte und schon setzte er sich in Bewegung. Die beiden sprachen nie viel. Pavel hätte auch gar nicht gewusst, worüber er sich mit dem Typen unterhalten sollte. Für beide war sowieso alles glasklar. Am Anfang sagte der Kerl immer nur, was er wollte, und weitere Worte waren überflüssig. Zum Schluss schob er die vereinbarte Kohle rüber und der Handel war abgeschlossen.

Pavel zog seine Klamotten aus, sie stanken nach Schweiß und nach Kneipe. Auf dem Wannenrand lagen ein sauberes Handtuch, eine Zahnbürste und Zahnpasta, außerdem ein T-Shirt und Unterwäsche.

Er sah sich in dem Bad um. Heute bin ich zum letzten Mal hier. Den ganzen Scheiß hier muss ich mir doch nicht antun. Auf einem Board unter dem Waschbecken stand ein Flakon mit Damenparfüm. Pavel schnupperte daran und stellte es wieder zurück. Außer dem Parfüm gab es im Bad jedoch nichts von Wert.

Er hörte, wie hinter der Badezimmertür ein Telefon klingelte und öffnete sie einen Spalt, um mitzubekommen, was draußen vor sich ging. Pavel wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund wollte er nicht den Überblick verlieren. Er konnte spüren, dass der Typ heute nervöser war als sonst. Erst nach mehrmaligem Klingeln nahm er ab und sprach dann eine Weile mit jemandem. Er gab kurze, abgehackte Befehle und seine Stimme klang gereizt. Während des Gesprächs warf er eine Pille ein und spülte mit Wasser nach. Er hatte wohl Kopfschmerzen. Mit der Hand massierte er sich die Stirn und die Schläfen. Im Zimmer waren seine Schritte zu hören, wie er auf und ab ging.

Pavel schloss leise die Tür und glitt unter die Dusche. Er ließ den heißen Wasserschwall über sich laufen und zögerte den Augenblick heraus, wann er wieder herauskommen müsste. Am liebsten wäre er dort stehen geblieben, bis er sich auflösen und durch den Abfluss wegfließen würde, irgendwohin in die Kanalisation, wo er sowieso hingehörte. Das Glas beschlug und nach einer Weile hörte er, wie jemand laut gegen die Tür schlug. Das Signal, dass er zu lange duschte. Er erschrak. Sofort drehte er die Wasserhähne zu, trocknete sich ab und ging nur in Boxershorts in den Raum, wo der Typ, noch immer bekleidet, hinter einem kleinen Tisch saß und etwas ins Telefon tippte. Er hob den Blick über den Rand seiner Brille.

– Setz dich, zieh dir die aus … Mit einer Handbewegung bedeutete er, dass Pavel sich die Boxershorts ausziehen sollte. Direkt vor seinem Schreibtisch war ein Stuhl vorbereitet. Er kam sich vor wie bei einem Verhör, mit dem Unterschied, dass er hier nackt war. Der Kerl lehnte sich in den Sessel zurück, setzte die Brille ab und sah Pavel unverwandt an.

– Du holst dir erst mal einen runter, und dann bläst du mir einen, sagte er ganz mechanisch, so als würde er gerade einen Wodka an der Bar ordern. Pavel hatte kalte und schwitzige Hände. Er spürte, dass sein Penis schlaff war und er Probleme haben würde, irgendetwas daran zu ändern. Er war nervös und wütend. Routiniert begann er seinen Schwanz zu reiben, schaffte es aber nicht, ihn steif zu kriegen. Der Typ beobachtete ihn eine Zeit lang. Er sah nicht so aus, als sei er zufrieden. Er glotzte ihn an wie einen Fernseher, eine Minute vor dem Einschlafen. Pavel schwitzte und rieb sein Glied immer weiter, bis es zu schmerzen begann. Das führte doch nirgendwohin. Er verstand nicht, was dieser Perversling nur daran fand. Das Telefon klingelte und Pavel atmete auf. Er wurde etwas langsamer, aber der Typ gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er gefälligst nicht Däumchen drehen sollte. Er war für den anderen eine Ware, für die dieser bezahlte. Innerlich kochte Pavel vor Wut, er fühlte sich so erniedrigt, dass er gleich losheulen könnte. Der Typ telefonierte mit einer Hand und steckte sich die andere in die Hose. Er musterte Pavel. Dann beendete er schnell das Gespräch.

– Komm her, bellte er unverhofft, sodass Pavel hochsprang. Der Typ drückte Pavels Kopf unter den Tisch. Die ganze Zeit über, in der Pavel ihn befriedigen musste, hielt er seinen Kopf fest gepackt. Pavel bekam keine Luft und ihm war übel. Der Typ begann zu stöhnen, seine Spannung löste sich und er presste Pavels Kopf nicht länger wie ein Schraubstock. Ein fetter Samenerguss, dem er gerade so ausweichen konnte, beendete Pavels Leiden.

Jeder Besuch bei diesem geilen Schwein war eklig, aber heute spürte Pavel, wie er sich selbst anwiderte. Er hatte gedacht, dass er sich daran gewöhnen würde, stattdessen wurde es immer schlimmer. Es war der Typ, der sich daran gewöhnt hatte, und der benahm sich immer mehr so, als sei Pavel ein Gegenstand. Pavel war für ihn nichts weiter als ein wertloser Stricher.

– Geh dich abspülen, wir sind noch nicht fertig, ächzte er, und Pavel verschwand im Bad, wo er unendlich lange Wasser in seinen Mund fließen ließ. Er tat Zahncreme auf seinen Finger und putzte sich die Zähne, wurde den widerlichen Nachgeschmack aber nicht los. Die Zahnbürste ließ er unangetastet auf dem Wannenrand liegen. Das war seine kleine Geste des Widerstands, damit der Typ kapierte, dass nicht alles so sein würde, wie er es diktierte. Wenn der sich vor dem Jungen von der Straße so ekelte, dann sollte er sich doch ein anderes Opfer suchen, am besten gleich eines, das für ihn ein Vollbad in Desinfektionsmittel nahm. Einen Moment später hörte Pavel, wie das Telefon erneut klingelte, es folgte ein Türenschlagen. Der Herr Unternehmer hatte heute ja keine ruhige Minute. Wahrscheinlich war er darum so nervös und gereizt.

Pavel warf sich schnell seine Klamotten über. Er öffnete die Badtür einen Spalt und schaute sich im Zimmer um, das leer war. Auch im Arbeitszimmer schien keiner zu sein. Vorsichtig machte er auch die Tür zum Flur auf, aber er sah nirgends Licht, die Stimme des Typen konnte er aus einem Büro nebenan hören. In seinem herrischen und gereizten Tonfall antwortete er auf irgendetwas. Pavel spürte, dass der Kerl müde und ziemlich wütend war und er ihm als Befriedigungsautomat dienen sollte, damit sich der Typ abreagieren konnte von seiner stressigen Arbeit. Aber der Besuch heute hatte sich wohl nicht so entwickelt, wie der Typ sich erhofft hatte. Offenbar wollte er auch nicht, dass Pavel oder irgendjemand anderes etwas von dem Gespräch mitbekam. Normalerweise nahm er in Pavels Anwesenheit kein Blatt vor den Mund oder ignorierte das Telefon einfach. Heute war er aus dem Arbeitszimmer geflüchtet, um sich absolute Privatsphäre zu sichern, und hatte seinen besonderen Gast ganz sich selbst überlassen.

Pavel beschloss, dass es am besten wäre, so schnell wie möglich abzuhauen. Er schaute sich in dem verlassenen Arbeitszimmer um. Auf dem Tisch verstreut lagen Papiere. Er hatte nicht die Absicht, den Bittner jemals wiederzusehen. Bevor er die Flucht antrat, kramte er schnell die Schreibtischschubladen durch, in denen er Schlüssel, zwei teure Sonnenbrillen, ein Deo, irgendein Etui und eine Uhr mit dem Monogramm MB fand. Er steckte alles in seine Jackentasche, und bevor er aus der Tür stürmte, durchsuchte er noch schnell die Taschen des Jacketts, das an einem Kleiderständer hinter der Tür hing. Er fischte ein Portemonnaie heraus und steckte es unter sein T-Shirt. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er ließ alle Türen offen und lief die Treppen zum Ausgang hinunter. Um keine Geräusche zu machen, trug er seine Schuhe in der Hand. Er spürte seinen Pulsschlag und wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lief er ins Erdgeschoss, wo er den rettenden Ausgang erblickte. Aber die Glastür war zugeschlossen. Verzweifelt, so als würde es brennen, rüttelte er an der Klinke, aber die Tür gab nicht nach.

Langsam wurde er panisch, er hätte losheulen können. Plötzlich fiel ein Lichtschein in den Flur. Dann hörte er Schritte, die über die Treppe näher kamen. Er hetzte in den Flur zurück und suchte kurz Zuflucht im Schatten der Treppe. Die Gedanken jagten nur so durch seinen Kopf und unwillkürlich begann er vor lauter Stress zu hecheln.

Am Ende des Flurs erkannte er eine Tür mit dem Symbol eines pinkelnden Männchens. Voller Hoffnung steuerte er darauf zu. Er stieß die Tür auf und ihm gegenüber im Dunkeln schimmerte ein rettendes Fenster. Geschickt hing er es aus, schwang sich hoch und versuchte, mit den Füßen voran herauszuklettern. Er schnaufte und die vollen Hosentaschen behinderten ihn in seinen Bewegungen. Trotzdem dankte er Gott für seine noch immer jungenhaft schmale Figur. Dann hörte er eine Stimme, die nach ihm rief. Mit angespannten Muskeln zwängte er sich durch das kleine Fenster. Er landete auf dem Rücken und musste nach Luft ringen. Mechanisch sprang er auf und rannte los in die Dunkelheit, direkt in Richtung Straßenbahnhaltestelle, die er schon sehen konnte.

Ihn würde keiner verfolgen. Der Rockefeller würde keinen Skandal riskieren und sich keine unnötigen Probleme aufhalsen wollen. Er war schließlich ein anständiger, unbescholtener Bürger, dessen Gesicht einem aus Zeitungsanzeigen entgegengrinste. Auf der Handfläche balancierte er ein kleines Häuschen, das er anderen Geldsäcken zum Verkauf anbot. Dafür bürgte er mit seiner eigenen Fresse.

Pavel lief bis zur nächsten Haltestelle, erst da kam er wieder zu Atem. Er sprang in die erste Straßenbahn, die auf der Mittelinsel anhielt. Als er das Portemonnaie hervorzog, fand er knapp tausendfünfhundert Kronen darin. Für die Uhr könnte er auch den einen oder anderen Tausender kriegen, und den Rest der Sachen würde er später verticken oder vielleicht könnte er sie ja auch mal selber gebrauchen.

II.

Pavel schleppte einen vollen Rucksack mit Essen, und schon als er die Haustür aufschloss, hörte er, wie der Vater auf den Fernseher einschimpfte.

– Dreh dich doch in den Bankrott, du Penner!, schallte es durch das Treppenhaus, sogar durch die geschlossene Wohnungstür. Zum Glück wohnten im Haus nur ein paar Rentner, die an die Ergüsse des Vaters und anderen Krach gewöhnt waren. Das Haus grenzte an eine Kneipe, von der vor allem im Sommer bis tief in die Nacht Lärm und die Stimmen der Betrunkenen hinüberhallten. Diejenigen, die das gestörte hatte, waren schon längst weggezogen.

Als Pavel die Wohnung betrat, drehte sich der Vater nicht einmal um. Er stierte in den Fernseher, in dem ein Mann das Glücksrad in Schwung brachte. Die Luft in der Wohnung war abgestanden und muffig, es roch nach Alter und Krankheit. Pavel erwähnte das dem Vater gegenüber nicht, öffnete aber auch nicht das Fenster. Er wollte ihn nicht reizen, denn es schien so, als ob er in guter Stimmung war, und das kam nicht oft vor. Der Vater hatte Pavel begnadigt und ihn nach einem Monat wieder bei sich wohnen lassen, weil er sich endlich einen Job auf dem Schrotthof gesucht hatte. Aber wenn er keine Miete zahlte, würde er ihn wieder rauswerfen.

– Haste Wurst mitgebracht?, fragte er Pavel, ohne seinen Blick von der Mattscheibe zu lösen. Nee, die Wurst hatte er vergessen, was nun? Pavel wurde panisch.

– Ja, ja, log er. Er schlich ins Bad und tippte die Nummer seiner Schwester ins Handy.

– Sister, hol Wurst ein und tritt beim Alten an! Aber mach hinne, sonst krieg ich hier Stress, nuschelte er hastig und kontrollierte aus dem Augenwinkel, dass der Vater ihn nicht sehen oder hören konnte. Aber der Fernseher dröhnte und der Vater amüsierte sich, weil das arme Würstchen in der „Glücksrad“-Sendung wirklich seinen Bankrott herbeigedreht hatte.

Seine Schwester hatte keine solche Heidenangst vor dem Vater, Pavel allerdings schon. Er war es ja auch, der immer die Prügel bekam. Gegen seine Tochter hob der Vater selten die Hand. Sie war ein Wunschkind und dazu gewieft, was ihr eine Art natür-lichen Respekt einbrachte. Pavel jedoch erfüllte die Vorstellungen des Vaters von einem richtigen Sohnemann nicht, und das ließ ihn der Vater seit seiner Kindheit auch spüren. Dabei hatte Pavel in letzter Zeit manchmal das Gefühl, dass der Vater auch ihn ein wenig schätzte. Gott, was würde er dafür geben.

– War Šarina gar nicht hier?

Der Vater bedeutete mit einer Handbewegung, dass Pavel ihn nicht stören sollte. Der Mann im Fernsehen hatte gerade eine Menge Geld verloren und der Vater weidete sich am Anblick des Spielers, dem das Glück zwischen den Fingern zerronnen war.

Pavel packte den Einkauf aus und stopfte die Lebensmittel in den Kühlschrank. In der Spüle stapelte sich das Geschirr. Was nicht in die Spüle hineingepasst hatte, stand mitsamt verschimmelten Essenresten auf dem Herd.

– Hat Šarina hier überhaupt mal sauber gemacht?, ärgerte Pavel sich, als er einen schimmeligen Käse aus dem Kühlschrank nahm und versuchte, ihn in den vollen Mülleimer zu stopfen.

– Komm schon, hilf mir!, brüllte der Vater, während er versuchte, aus dem Sessel hochzukommen. Pavel sprang herbei und zog den Vater hoch, der griff seinen Stock und stieß Pavel schnell weg, um ihm zu verstehen zu geben, dass er seine Hilfe so sehr nun auch wieder nicht brauchte.

– Die hat andere Sorgen als hier sauber zu machen. Du machst den ganzen Tag nichts anderes als Bockmist, da kannst du dich ja wohl auch mal um deinen Papa kümmern, oder etwa nicht?, brummte er. Pavel warf die alten Lebensmittel in eine Plastiktüte und ließ einen Strahl heißes Wasser über das Geschirr laufen. Der Vater schlurfte durch die Küche und guckte aus dem Fenster. Er war nicht rasiert und trug schmuddelige Kleidung. Offensichtlich hatte er die Wohnung seit Tagen nicht verlassen.

Nervös klopfte er mit dem Stock auf den Boden und stieß Schmatzlaute aus, wenn er seine dritten Zähne im Mund kreisen ließ.

– Ich hab mich bei Bekannten erkundigt, wie das mit einem Platz im Altersheim ist, machte Pavel einen vorsichtigen Versuch. Der Vater durchbohrte ihn mit einem wütenden Blick.

– Ich hab euch doch nicht dafür großgezogen, dass ihr mich in ein beschissenes Altenheim steckt. Das würde dir so passen, was? Die ganze Bude für dich allein. Pavel senkte den Blick. Er hatte die Nase voll von dem Terror seines Alten, von dem Gestank und den schmutzigen Klamotten, vom Schimmel und dem ganzen verfaulten Zeug. Der Vater kam schon lange nicht mehr allein zurecht in der Wohnung, den Abfall ließ er einfach auf den Boden fallen und langsam bekam er es nicht mal mehr hin, auf die Klospülung zu drücken. Für alles mussten Pavel und Šárka herhalten. Eigentlich eher Pavel, weil Šárka das Geld nach Hause brachte, das war ihre Aufgabe. Alles andere musste Pavel erledigen. Auch als ihre Mutter noch gelebt hatte, war es nicht sehr viel besser gewesen. In den letzten drei Jahren hatte sie nicht mehr die Kraft gehabt, sich um den Haushalt und um den Vater zu kümmern, und so hatten sie zusammen in der muffigen Wohnung voller Schmutz und Unordnung gelebt. Eines Tages wurde sie in die Onkologie gebracht, von dort war sie nicht mehr zurückgekehrt. Nur der Alte war wie Koschtschei der Unsterbliche. Fünfundsechzig Jahre auf dem Buckel, zwanzig Zigaretten und eine halbe Flasche Rum jeden Tag, und dennoch unverwüstlich. Nicht mal der Sensenmann wollte ihn haben, es war zum Verzweifeln. Für Pavel würden sich viele Probleme klären. Aus dem Flur war das Klimpern eines Schlüssels zu hören. Šárka warf eine Packung Wurst auf den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Pavel wehte ein starker Parfümduft entgegen.

– Mein Gott, was ist das hier für ein Gestank. Kannst du dem Papa nicht wenigstens mal das Fenster aufmachen?, fuhr sie Pavel an und öffnete es sperrangelweit.

Ihr aufgeblasenes Gehabe nervte ihn. Sie sprach mit ihnen beiden, als seien sie Abschaum, nur weil sie es hinkriegte, Geld ranzuschaffen. Egal, wie. Geld war nämlich das Einzige, wofür sie sich wirklich interessierte.

– Mach zu, es zieht!, bellte der Vater los. Sein Blick glitt zu der Wurstpackung.

– Hier stinkt es wie im Affenhaus. Šárka ließ das Fenster weit offen und der Vater protestierte nicht länger.

– Aber Pavel hat doch schon Wurst gekauft, oder nicht?

– Ich habs vergessen, druckste er. Ihn überkam wieder ein Anflug von Panik, er fürchtete einen Wutausbruch des Vaters, was zur Folge hatte, dass er in diesem Moment nicht glaubwürdig lügen konnte.

– Und ich hab dich ja bloß mehrmals daran erinnert. Du hast nur Mist in der Birne, und dann behauptest du noch, dass du sie gekauft hast, wo du sie doch gar nicht gekauft hast. Du bist ein Schisshase, ein Lügner und ein Schmarotzer. Der Vater wurde puterrot. Wegen der kleinsten Banalität konnte er völlig ausflippen, und niemand wusste im Voraus, was ihn diesmal in Rage versetzen würde.

– Na dann hat er eben die Wurst vergessen, mein Gott, ist doch nichts weiter passiert, nahm Šárka ihren Bruder halbherzig in Schutz. Sie war genervt von dem ewigen Herumgestreite. Achtlos schob sie dem Vater die Wurst hin, so wie man einem bissigen Hund einen Knochen hinwirft.

– Dir kanns ja egal sein, du wohnst nicht mit dem zusammen. Andauernd geht hier was schief. Schon zwei Mal hat er den Schlüssel verschlampt! Wenn hier jemand einbricht, dann ist das sein Werk. Und überhaupt, auch die fünfhundert Kronen, die weg sind, das war er, der die geklaut hat, brüllte der Vater Pavel an und spuckte dabei ein Stück von dem Brötchen aus, an dem er gerade kaute.

– Ich hab nichts genommen, verteidigte sich Pavel schwach.

Šárka schwieg und betrachtete ihre Strumpfhosen, ob sie nicht eine Laufmasche hatten. Solche Szenen hatte sie schon Hunderte Male erlebt. Das war nichts Neues. Wenn Pavel noch einmal den Mund aufmachte, würde der Vater ihn rauswerfen und Pavel würde aufstehen und wieder für eine Woche verschwinden. Dann würde er im Büßerhemd auf der Türschwelle erscheinen, was den Vater nur wieder in seiner Meinung bestärken würde, dass Pavel ein totaler Schwächling sei. Und der Vater würde resignieren und Pavel wieder eine Weile bei sich wohnen lassen. Er tolerierte ihn, genau wie die Motten im Schrank und die Schaben in der Speisekammer. Auch wenn Pavel sie hundertmal bitten sollte, Šárka würde ihn nicht bei sich wohnen lassen. Sie wollte nicht, dass irgendjemand mitbekam, was für ein Loser ihr Bruder war. Die Familie konnte man sich eben nicht aussuchen, das war das größte Pech.

– Ihr könnt mich mal. Träge erhob sie sich, um zu gehen. Aber der Vater wollte nicht, dass sie fortging. Lieber beruhigte er sich wieder.

– Setz dich. Pavel, mach uns nen Kaffee!

Pavel bemerkte, dass Šárka ein teures Kleid trug und eine neue Handtasche hatte.

– Hat dir das dein Boyfriend gekauft? Er zeigte auf die Handtasche aus Krokodillederimitat.

– Kümmer dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten, wies sie ihn zurecht.

– Gehst du noch mit dem? Mit diesem Geldsack?, fragte der Vater Šárka und goss ihnen beiden ein Glas Bier ein. Schwer zu sagen, wen er im Sinn hatte. Egal, ob sie zustimmte oder verneinte, beides wäre die Wahrheit. Pavel kochte einen Kaffee und begann, das seit mehreren Tagen nicht gespülte Geschirr abzuwaschen.

– Ein Kerl ist nur dann ein echter Kerl, wenn er weiß, wie man Kohle macht. Sonst ist er ein Scheißdreck.

– Ja, ja. Solche Weisheiten hatte sie schon oft gehört. Šárka fuhr sich mit der Hand durch das dichte Haar und gähnte laut. Bei ihrem Anblick musste der Vater an ihre Mutter denken. Sie hatte genauso schwarzes und dichtes Haar gehabt, das bis zu ihrer Taille wallte. Mandelaugen in der Farbe von Bitterschokolade. Von der Mutter hatte sie die zarte Haut geerbt, die auch ohne Sonne so goldig war wie im Hochsommer. Niemand wusste, dass sie zur Hälfte Zigeunerin* war, jeder sah in ihr nur die exotische Schönheit mit dem wohlgeformten Körper.

Pavel ähnelte eher dem Vater. Unter seiner Mütze lugten borstige Haare hervor, die an rostige Drahtstifte erinnerten. Er hatte große und schreckhafte Augen wie ein kleiner Junge, obwohl er siebenundzwanzig war. Auch seine Barthaare wollten nie richtig sprießen, nur ein merkwürdiger, rötlicher Flaum. Als wäre er physisch nie erwachsen geworden. Deshalb würde nie jemand sein wahres Alter erraten.

In ihrer Familie hatte immer die Mutter das Sagen gehabt. Jetzt hatte Šárka ihren Platz eingenommen. Sie war genauso gewieft und verstand es, sich durchzusetzen im Leben. Das schätzte der Vater. Wie eine Katze konnte sie sich in jemandes Gunst schleichen und, falls es mal schlecht lief, auf allen vieren landen, sich die Wunden lecken und erneut angreifen, wenn nötig.

– Und auf die anderen solltest du scheißen. Sei nicht wie ein Aasgeier, so was kann sich rächen, sinnierte der Vater weiter.

– Ja, ja. Šárka zog eine angewiderte Miene. Auf die Ratschläge ihres Vaters konnte sie gut verzichten, auf den reichen Liebhaber jedoch nicht. Schließlich war er es, der die Handtasche und die neuen High Heels hatte springen lassen.

Pavel stellte vor Šárka und den Vater Tassen mit Kaffee hin, den er auf dem Weg von der Küchenzeile verkleckert hatte. Der Vater schmatzte angewidert und schlürfte am Kaffee. Dann zog er zischend die Luft ein, weil er sich die Lippen verbrannt hatte

– Heiß wie Hölle, fluchte er. Šárka schob den Kaffee voller Ekel von sich. Auf solchen billigen, türkisch gebrühten hatte sie keinen Appetit.

– Die wollen doch alle nur mal ordentlich bumsen und sich ausquatschen. Was ich mir immer für Gelaber anhören muss. Der eine ist genervt von seiner Alten, bei dem anderen gehen die Geschäfte den Bach runter, mit all dem Zeugs labern die mich voll. Andererseits, man weiß ja nie, wozu die Informationen mal gut sein können. Stimmt doch, Pavel, oder? Sie blinzelte ihrem Bruder zu, der in diesem Moment dachte, dass ihm das Herz stehen bleibt. Seine Schwester spielte mit ihm wie die Katze mit einer Maus. Klar, er musste sich auch eine Menge langweiliges Gelaber anhören. Nur ihm erzählte keiner etwas direkt, so wie der Šarina. Aber er bekam viele Telefongespräche mit.

Von seinen Nebenverdiensten bei dem Rockefeller durfte der Vater jedoch niemals Wind bekommen. Der würde ihn sonst totschlagen, und das wusste die Schwester ganz genau. So hatte sie ihn in der Hand und trieb schadenfroh ihre Spielchen mit ihm. Er war wütend auf sie. Glücklicherweise fand sie das bald schon langweilig und piesackte Pavel nicht länger. Sie ließ den Vater, der seine braune Brühe schlürfte, am Tisch sitzen und wandte sich dem Bruder zu, um ihm mit dem Geschirr zu helfen. Voller Hingabe polierte sie an ein und demselben Teller herum.

– Bist du vollkommen übergeschnappt, du Idiot? Wo hast du die Sachen von dem Bittner?

Pavel zuckte nur mit den Schultern.

– Einen Teil von dem Zeugs habe ich schon vertickt, gab er zu. Es hatte keinen Zweck, alles abzustreiten. Šárka kannte ihn gut und ahnte, dass diese Antwort kommen würde. Es war sonnenklar, dass er die Sachen verkauft hatte und das Geld schon längst durch die Eingeweide eines Spielautomaten gerutscht war.

– Dann sieh zu, dass du die Sachen zurückkriegst und das Geld auch. Der Bittner zahlt doch gut, ich verstehe nicht, warum du so einen Scheiß baust. Du bist ja total bekloppt, zischelte sie und achtete darauf, dass der Vater nichts von ihrem Gespräch mitbekam. Aber der saß schon wieder wie festgetackert vor seiner Glotze.

– Ich steh nicht auf Kerle und mich ekelt das.

– Ekel hin, Ekel her, du brauchst die Kohle, oder? Ich werde nicht für dich malochen gehen, bis ich tot umfalle. Ich kann mir auch eine andere Arbeit vorstellen, aber ich mache das hauptsächlich für dich, falls du das noch nicht mitgekriegt hast, also bring das ja wieder in Ordnung, sonst seht ihr von mir keinen Heller mehr, weder du noch das Alterchen. Und da kannst du einen drauf lassen, dass der ausflippt und dich wieder auf die Straße setzt. Das hatten wir ja schon eine ganze Weile nicht mehr …

Pavel wurde von Zorn gepackt. Er hatte keinen um Hilfe gebeten. Er brauchte nur Kohle für die blöden Automaten. Šárka guckte kurz nach dem Vater im Wohnzimmer, aber der war ganz in sein Bier und die Glotze versunken. Der Adamsapfel an seinem Greisenhals hüpfte auf und ab.

– Der Bittner will die Sachen zurückhaben, kapiert? Er war total sauer, ich musste mich echt ins Zeug legen, um ihn zu beruhigen. Wortlos verschwand Pavel in seinem Zimmer. Kurz darauf war er zurück und übergab seiner Schwester eine kleine Plastiktüte.

– Was ist das? Bevor Pavel antworten konnte, hatte sie in die Tüte geschaut, in der sich ein Herrendeo und ein Etui befanden. Sie  öffnete es und darin lagen drei Spritzen. Šárka verzog das Gesicht.

– Das ist alles? Und was ist mit der Uhr?, zischelte sie.

– Den Rest habe ich schon vertickt. Ich brauchte die Kohle, fügte er hinzu, als würde ihn das irgendwie entschuldigen.

Sie schmiss das Geschirrtuch auf die Küchenzeile und sah auf ihre Dolce-&-Gabbana-Uhr, die sie von einem ihrer Liebhaber bekommen hatte. Dieser Besuch hier hatte sie echt auf die Palme gebracht. Der Bittner würde im Kreis springen vor Wut, sie hatte ihm versprochen, die Sachen zurückzubringen. Es machte keinen Sinn, noch länger hierzubleiben. Sie hatte getan, was nötig war, und mehr Zeit wollte sie nicht mit den beiden verbringen. Da erschien es ihr sinnvoller, im Park Tauben zu füttern, als länger in dieser stinkigen Küche herumzusitzen.

– Na, egal, ich muss los. Einen Kaffee trinke ich das nächste Mal. Die unangerührte Tasse ließ sie auf dem Tisch stehen und verabschiedete sich eilig. Der Duft ihres teuren Parfüms blieb in der Küche zurück.

* Dem Verlag ist bewusst, dass der historische Begriff „Zigeunerin“ eine von Klischees überlagerte Fremdbezeichnung der Mehrheitsgesellschaft ist, die von den meisten Angehörigen der Minderheit als diskriminierend abgelehnt wird. Die Übersetzerin und der Verlag haben sich nach sorgsamer Abwägung gleichwohl dafür entschieden, den in der Originalfassung gebrauchten Begriff „cikánka“ für die deutsche Fassung mit „Zigeunerin“ zu übersetzen. Wir bitten insoweit unsere Leserinnen und Leser um Verständnis.

III.

Pavel saß am Tisch und nippte an seinem Bier. Die Männer würden erst in einer Stunde kommen, aber er wollte sich nicht auf der Straße herumtreiben, und zu Hause war es nicht mehr zum Aushalten. Sollte sich doch seine Sister um den Alten kümmern. Pavel starrte auf das Fußballspiel und qualmte eine Zigarette nach der anderen. Zigarettenrauch hing unter der Decke und aus dem Aschenbecher quollen die Kippen. Der Wirt knallte ein weiteres Bier vor ihn hin und trug den überfüllten Aschenbecher fort. Nun fiel die Asche von der Zigarette auf die rote Tischdecke der Brauerei Ostravar und sengte kleine Löcher in sie hinein. Pavel war das egal, er konzentrierte sich auf den Elfmeter, als würde er ihn selbst schießen müssen.

Erik und zwei seiner Kumpane setzten sich zu ihm.

– Hast du die Karten?

– Ja, stieß er hervor, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

Das Fußballspiel war schon lange vorbei. Pavel verfolgte gebannt eine Blondine, die von einem Duschgel schwärmte und es mit kreisenden Bewegungen auf ihrem glatten gebräunten Körper verteilte. Mit einer Fernbedienung peilte der Wirt das Fernsehgerät an, das Schwarz des Bildschirms weckte Pavel aus seiner Hypnose.

– Na dann gib aus, befahl der Professor und wischte die Asche von der Tischdecke. In der Tischmitte klimperten die hingeworfenen Münzen. Alle starrten in ihre Karten, schwiegen und tranken von ihrem Bier. Der Professor legte seine Karten ab.

– Pfff, atmete Kotrba erleichtert auf, als er den König und den Schellenunter erblickte. Der Professor strich das Geld ein. Erik starrte ins Leere und kümmerte sich nicht weiter um das Spiel. Zum Zeichen, dass er nicht wisse, was mit Erik los sei, zuckte Pavel nur mit den Schultern.

– Eh, Alter, was ist denn los mit dir?, dröhnte Kotrba.

Erik holte tief Luft und seufzte. Er nippte an seinem Bier und wischte sich nicht einmal den Schaum aus seinem Bart, wie es sonst seine Angewohnheit war.

– N-nichts, gib aus, i-ich nehme ab, brabbelte er anstelle einer Antwort.

Erik stotterte, deshalb sprach er langsam und auch nur mit Menschen, die er gut kannte. Wegen seines Stotterns hatte er als Kind Demütigungen und Hänseleien ertragen müssen.

Die nächste Runde taugte genauso wenig wie die davor.

– Mensch, Erik, mach doch mal was, das kann ja keiner mitansehen. Wenn du so weitermachst, verlierst du dein ganzes Geld. Pavel tat so, als würde er sich ernsthaft aufregen. Erik winkte nur unbestimmt ab.

– Ivo, bring uns noch eine Runde. Erik nickte dem Wirt zu. Kaum hatte der Wirt ein Glas mit einer goldig schimmernden Flüssigkeit vor ihm abgestellt, schon kippte er es hinunter, ohne mit den anderen anzustoßen.

– N-noch eine, befahl er, bevor der Alkohol sein Blut verdünnen konnte.

– Für mich nicht!, wehrte Kotrba ab, und der Professor gab mit einer Handbewegung zu verstehen, dass auch ihm ein Kurzer genügte. Sie beobachteten Erik. In so einer Stimmung hatten sie ihn noch nie gesehen, und dabei spielten sie schon seit mehr als fünf Jahren zusammen Karten.

– Erik, mach keinen Quatsch, sauf nicht so viel, redete Kotrba ihm gut zu.