Kinder sind anders (Kinder fordern uns heraus) - Maria Montessori - E-Book

Kinder sind anders (Kinder fordern uns heraus) E-Book

Maria Montessori

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Beschreibung

Die zentralen Gedanken der genialen Erzieherin sind in diesem Buch niedergelegt. Die Entfaltung der Individualität des Kindes ist Montessoris oberstes Erziehungsziel. Sie betont den Selbstbildungstrieb der Kinder; die Erzieher sollen vor allem Hilfen zur Verfügung stellen. In der aktuellen bildungspolitischen Diskussion um die Fortentwicklung des Schulwesens finden die Grundgedanken der Montessori-Pädagogik immer stärkere Beachtung. Montessori hat sowohl moderne Unterrichtsformen als auch didaktisches Arbeitsmaterial entwickelt, die dem kindlichen Entwicklungs- und Forschungsdrang entgegenkamen und selbstbestimmtes Lernen ermöglichten. Sie definierte die Schüler- und Lehrerrolle neu, führte altersund leistungsgemischte Klassen ein. Ihre pädagogischen Prinzipien haben sich weltweit bewährt.

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Maria Montessori

Kinder sind anders

Mit einem Vorwort von Professor Ingeborg Waldschmidt

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien 1950 bei Garzanti, Mailand

unter dem Titel „Il segreto dell’infanzia“

© The Montessori-Pierson Publishing Company CV 2018

Für die deutsche Ausgabe

© 1952/2009 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Klett-Cotta-Design

Unter Verwendung eines Fotos von © Monkey Business

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: 978-3-608-94535-5

E-Book: 978-3-608-11063-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort für den deutschsprachigen Leser von Ingeborg Waldschmidt

Einleitung Kindererziehung als soziale Frage

Erster Teil

1. Das Zeitalter des Kindes

Die Psychoanalyse und das Kind

Das Geheimnis des Kindes

2. Der Erwachsene als Angeklagter

3. Biologisches Zwischenspiel

4. Das Neugeborene Die außernatürliche Umwelt

5. Die natürlichen Instinkte

6. Der geistige Embryo Die Fleischwerdung

7. Der Aufbau der kindlichen Seele

Die sensiblen Perioden

Einsicht in das Wirken der sensiblen Perioden

Beobachtungen und Beispiele

8. Der Ordnungssinn

Die innere Ordnung

9. Die Intelligenz

10. Die Kämpfe auf dem Weg des Wachstums Schlafen

11. Das Gehen

12. Die Hand

Elementare Handlungen

13. Der Rhythmus

14. Die Substitution der Persönlichkeit

Die Liebe zur Umwelt

15. Die Bewegung

16. Die Verständnislosigkeit

17. Die Schaukraft der Liebe

Zweiter Teil

18. Die Erziehung des Kindes

Die Ursprünge unserer Methode

19. Die Wiederholung der Übungen

20. Die freie Wahl

21. Die Spielsachen

22. Belohnungen und Strafen

23. Die Stille

24. Die Würde

25. Die Disziplin

26. Der Beginn des Unterrichts Schreiben – Lesen

27. Körperliche Parallelentwicklungen

28. Folgerungen

29. Kinder aus bevorzugten Gesellschaftsschichten

30. Die innere Vorbereitung des Lehrers

31. Abwegigkeiten

32. Fluchterscheinungen

33. Hemmungen

34. Heilungen

35. Die Abhängigen

36. Der Besitztrieb

37. Die Begierde nach Macht

38. Der Minderwertigkeitskomplex

39. Die Angst

40. Die Lüge

41. Seelenleben und Körper

Dritter Teil

42. Der Kampf zwischen Kind und Erwachsenem

43. Der Arbeitsinstinkt

44. Die beiden Arbeitsarten

Die Arbeit des Erwachsenen

Die Arbeit des Kindes

Vergleich zwischen den beiden Arbeitsarten

45. Die Leitinstinkte

46. Das Kind – unser Lehrmeister

47. Die Aufgabe der Eltern

48. Die Rechte des Kindes

Ecce Homo!

Anmerkungen

Informationen zur Autorin

Vorwort für den deutschsprachigen Leser

Kinder sind anders, anders als Erwachsene. Dieser offensichtliche und banale Vergleich bezieht sich auf den ersten Blick auf die physische Gestalt. Das ist aber natürlich nicht alles. Den Erwachsenen zeichnet ein reicher Erfahrungsschatz aus, an dem er sein und das Verhalten anderer ausrichten kann. Das Kind dagegen …

Maria Montessori führt den Leser in die Weltsicht des Kindes ein, verweist auf mangelndes Verständnis seitens des Erwachsenen und daraus resultierende Erziehungsfehler. In ihrem erstmals 1936 unter dem Titel Il segreto dell’infanzia veröffentlichten Buch beschreibt sie ihre Erfahrungen und Erkenntnisse, die sie in ihrem 1907 eröffneten Kinderhaus in Rom gewann. Erst 1952 erschien die erste deutsche Ausgabe im Ernst Klett Verlag in Stuttgart. Besonders im englischsprachigen Ausland war und ist das Buch sehr verbreitet (englischer Titel: The secret of Childhood) und gibt auch heute noch Anlass zu Diskussionen.

Maria Montessoris Erfahrungen und Anregungen sollen nun in einer Neuauflage dem deutschsprachigen Leserkreis erneut zugänglich gemacht werden. Hierbei drängt sich unweigerlich die Frage auf: Ist diese Pädagogik nach über 70 Jahren noch aktuell? Welche Aspekte sind im globalisierten Wettbewerb der Bildungssysteme übernehmenswert? Oder anders ausgedrückt: Was unterscheidet die Montessori-Pädagogik von der traditionellen Pädagogik und was hat die heutige Pädagogik von Maria Montessoris Theorien übernommen?

Der Auftrag jeder Pädagogik lautet, den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Wissen und die Charakterbildung der Kinder zu richten und danach das pädagogische Handeln auszurichten. Doch die gegenwärtige Realität sieht in den meisten Fällen anders aus. Nur noch bei einem guten Kinderarzt ist das einzelne Kind ein „Fall“. Demgegenüber ist es in der traditionellen Pädagogik ein Fall unter Fällen, es ist ein Durchschnittskind, das es so nie gegeben hat und auch nie geben wird. Was also unterscheidet die Montessori-Pädagogik von den meisten anderen pädagogischen Ansätzen?

Nimmt man einen sehr prägnanten Ausspruch Maria Montessoris zu Hilfe und leitet daraus ihre Forderungen an eine veränderte Erziehung ab, dann werden mehrere Akzentverschiebungen zur aktuellen staatlichen Pädagogik sichtbar: „Die menschliche Persönlichkeit muss in den Blick genommen werden und nicht eine Erziehungsmethode: Die Verteidigung des Kindes, die wissenschaftliche Erkenntnis seiner Natur, die Proklamation seiner sozialen Rechte müssen an die Stelle der zerstückelten Weisen, die Erziehung zu konzipieren, treten“ (1).

Maria Montessori vertritt eine entschieden andere Auffassung von der Bedeutung der Kindergruppe. Sie plädiert für eine altersgemischte und leistungsheterogene Zusammensetzung im Gegensatz zur leistungshomogenen und meist auch noch gleichaltrigen Gruppen-/Klassenzusammensetzung in Regeleinrichtungen.

Weitere (für Montessori bis zu ihrem Lebensende) besonders wichtige und entscheidende Schwerpunkte in der Erziehung aller Altersgruppen sind die im Vergleich zur traditionellen Erziehung veränderten Ziele. Hier sind einige Akzentsetzungen zu nennen:

Förderung einer extrem intensiven Form der Konzentration – Maria Montessori nennt sie Polarisation der Aufmerksamkeit,

die durch die Altersmischung initiierte Zusammenarbeit der Kinder und

die Achtung der Würde jedes Kindes – unabhängig vom Alter.

Maria Montessori setzt die Priorität in der Forderung nach Leistung nicht wie sonst üblich auf äußere Anreize wie Zensuren, Belohnungen, Bestrafungen, Versprechungen, Lob und Tadel und den gesamten Katalog pädagogischer Verheißungen, sondern auf den Leistungswillen, der in jedem Kind schlummert. Diese Prämisse ist dem Willen jedes Kindes vergleichbar, sitzen, laufen und sprechen zu lernen. Ergebnis all dieser pädagogischen Entscheidungen ist eine (Selbst-)Disziplin, die vom Kind selbst aus geht, bezogen auf die örtlichen, zeitlichen und personenbezogenen Gegebenheiten. Denn ein Kind, das sich angenommen und geliebt fühlt, rebelliert nicht. Es fühlt sich gut und ist eins mit seiner Um- und Mitwelt. Das Kind ist dann – in Montessoris Sprache – normalisiert.

Es schmücken sich allerdings auch pädagogische Einrichtungen mit dem Namen Montessoris, die wichtige Bestandteile der Pädagogik nicht praktizieren. Die für die Montessori-Pädagogik essenzielle „freie Wahl der Arbeit“ wird vielerorts falsch verstanden. Wer jedoch die Montessori-Pädagogik allein auf materialgestütztes und -geleitetes Lernen und eine gute Ausstattung der vorbereiteten Umgebung reduziert, verkennt ihr pädagogisches Konzept, das ja gerade auf der selbsttätigen Entfaltung der Bildungskräfte im Kind beruht. Das attraktive (Entwicklungs-)Material hat seinen berechtigten und zur „Freiarbeit“ unbedingt notwendigen Stellenwert, das Entscheidende ist aber die veränderte Haltung und Rolle des Erziehenden, sein Zurücktreten hinter der Eigentätigkeit des Kindes. Die Persönlichkeit des Erwachsenen ist es, die – wie in allen pädagogischen Handlungsfeldern – über Erfolg und Misserfolg von Erziehung entscheidet. Sein Engagement für das Kind und seine dienende Rolle im Erziehungsprozess sind bei der erfolgreichen Umsetzung von Theorie und Praxis untrennbar aneinander gekoppelt.

Montessoris Pädagogik macht das einzelne Kind zum „Fall“. Sie betont wie mit einem roten Faden durchgängig durch ihr gesamtes Werk die Einzigartigkeit jedes Kindes, des aus ihm hervorgegangenen Jugendlichen und des Erwachsenen. Das Kind baut sich einerseits selbst auf („Baumeister seiner selbst“), teilweise auf Kosten und mit Unterstützung der Umwelt in einer vorbereiteten Umgebung, andererseits arbeitet es an der Ausgestaltung der Zukunft der Menschen mit. All die Sorgfalt und Energie, die wir als Erwachsene in das Kind, nicht in die Kinder, investieren, wird sich in der Zukunft auswirken. Die Erwachsenen leben jetzt, die Auswirkungen ihrer Anstrengungen zeigen sich jetzt und in naher Zukunft. Das Kind im Sinne Montessoris baut die fernere Zukunft auf.

Kinder sind anders – anders als Erwachsene sie oft sehen (möchten). Die von Maria Montessori prägnant herausgearbeiteten Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern beziehen sich nur vordergründig auf körperliche und geistige Gegebenheiten wie Körpergröße, Kraft, Lebenserfahrung, Verhaltensweisen, Einstellungen und vieles andere mehr. Beim Kind sind diese Qualitäten noch nicht oder noch nicht ausreichend entwickelt, es wird sie sich aber seinem eigenen „Bauplan“ gemäß erarbeiten. Der Erwachsene – das gilt für Eltern, Erzieher und Lehrer – kann dabei nur als Unterstützer, Helfer und Handlanger tätig werden.

Maria Montessori formulierte die Überlegenheit des Erwachsenen sehr krass, indem sie sagte: „Der Erwachsene ist egozentrisch – nicht egoistisch.“ Er will das Kind so formen, wie er es sich wünscht, dabei soll es ihm meist ähnlich werden. Das Kind ist jedoch eine eigenständige Person mit eigenem Willen, eigenen Wünschen und Vorstellungen, die es zu respektieren und zu fördern gilt. Diesen Gedanken führt Montessori in zahlreichen Beispielen in diesem Band aus.

Heutzutage ist in der westlich geprägten Welt menschliches Handeln meist körperfern und kopfgesteuert, d. h., wir hantieren mit vorgefertigten Produkten, produzieren selbst kaum noch etwas (drastisch zu sehen an Fertigmahlzeiten). Die Hand spielt viel zu selten eine wichtige Rolle. Die sinnliche Wahrnehmung der Realität wird sehr oft durch die Aufbereitung seitens der Medienwelt ersetzt: Das Fußballspiel wird im Fernsehen statt im Stadion angeschaut; der Bauernhof im Bilderbuch statt im Original. Wir sprechen dann von einem Leben aus zweiter Hand. Andere Menschen erzählen uns per Sprache und/oder Bildern von der Welt. Das eigene Erleben wird oft auf ein Minimum reduziert. Dieses Problemfeld wird mit dem Schlagwort der „Veränderten Kindheit“ bezeichnet. Die herkömmliche Pädagogik reagiert auf die sich ständig verändernde Lebenssituation der heutigen Kinder äußerst vage. Wir müssen erst wieder lernen, die Dinge in die Hand zu nehmen und unseren Sinnen etwas zu tun zu geben, denn „die Hand ist das äußere Organ des Gehirns“ (Kant). Maria Montessori hat diesen Zusammenhang von eigenem Erleben/Handeln und Geist/Gehirn bereits vor 100 Jahren erkannt und zum Grundsatz ihrer komplexen Pädagogik gemacht. Ihr Akzent liegt auf dieser Reihenfolge: erst hantieren, dann abstrahieren – nur so verankert sich das Gelernte im Gehirn. Dieses Gebot gilt ganz besonders für Kinder.

Die alltägliche elterliche Erziehung und deren Maßnahmen sind oft geprägt von Sorge und Angst, dem Kind könnte etwas zustoßen. Montessori-Pädagogik vermittelt und zielt ganz bewusst auf die Selbstständigkeit des Kindes und gibt ihm Sicherheit im Umgang mit der materiellen Umgebung, aber auch bei der Kommunikation im zwischenmenschlichen Bereich.

Neueste Forschungsergebnisse der Universität von Milwaukee/USA (2006) (2) belegen die gleichwertigen oder besseren Schulleistungsergebnisse der Montessori-Schüler im Vergleich mit herkömmlich unterrichteten Schülern. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Montessori-Pädagogik international etablieren konnte. Die Internationalität belegt auch der Teilnehmerkreis der Tagung anlässlich der 100-Jahr-Feier der Montessori-Bewegung in Rom im Jahr 2007: Es nahmen 1200 Vertreter aus 46 Nationen teil. Im Ganzen gesehen wird diese Pädagogik heute in 121 Ländern mit sehr unterschiedlichen Gesellschaftssystemen praktiziert. Die Montessori-Pädagogik ist demnach absolut unverdächtig bezüglich religiöser und/oder weltanschaulicher Indoktrination.

In ihrem Buch versucht Maria Montessori an anschaulichen und prägnanten Beispielen vorzuführen, inwiefern sich ihre Pädagogik an der Einzigartigkeit und am jeweiligen Entwicklungsstand des einzelnen Kindes orientiert. Auch wenn sich heute vielleicht nicht jede Leserin und jeder Leser angesprochen fühlt – Montessoris Konzept ist nach wie vor im Gespräch – und das weltweit und seit über 100 Jahren.

Lit.:   (1) Maria Montessori: Über die Bildung des Menschen, Freiburg 1966, S. 16   (2) Angeline Stoll Lillard: Montessori: The Science behind the Genius, Oxford University Press, 2005; sowie Angeline Stoll Lillard, Nicole Else-Quest: The Early Years: Evaluating Montessori Education; Science 29 September 2006, Vol. 313. no. 5795, pp. 1893– 94.

Berlin, im Januar 2009

Ingeborg Waldschmidt

EinleitungKindererziehung als soziale Frage

Schon seit etlichen Jahren ist, ohne dass jemand eigentlich die Initiative dazu ergriffen hätte, eine weit verbreitete Bewegung im Gange, deren Bemühungen dem Kinde gelten. Sie entwickelte sich in derselben Weise, in der auf vulkanischem Boden ein Ausbruch zustande kommt: ganz von selber bilden sich da und dort Feuerherde. Große Bewegungen beginnen in der Regel so. Zweifellos ging der erste Anstoß zu der Bewegung, die sich der Kinder annehmen will, ursprünglich von der Wissenschaft aus. Die Hygiene war es, die den Kampf gegen die Kindersterblichkeit aufnahm und nachwies, welche Bürden dem Kind in der Schule aufgelastet wurden und wie es dadurch zu einem Martyrium verdammt war, das so lange dauerte wie die Kindheit selbst; denn mit dem Ende der Schulzeit ist ja das Kindesalter zu Ende.

Es waren unglückliche Kinder, mit denen sich die Schulhygiene zu befassen hatte: niedergedrückte Gemüter, ermüdete Verstandeskräfte, krumme Schultern und eingezwängte Brustkörbe, vorbestimmte Opfer der Tuberkulose.

Jetzt endlich, nach vielen Jahren des Studiums, sind wir dahin gelangt, das Kind als ein menschliches Wesen anzusehen, das von der Gesellschaft und schon zuvor von denjenigen Personen zu einer falschen Entwicklung genötigt worden ist, die ihm das Leben gegeben haben und erhalten. Was sind Kinder? Eine dauernde Störung für den von immer schwereren Sorgen und Beschäftigungen in Anspruch genommenen Erwachsenen. Es ist kein Platz für sie in den engen Häusern der modernen Stadt, in denen sich die Familien zusammendrängen. Es ist kein Platz für sie auf den Straßen, denn die Fahrzeuge beanspruchen immer mehr Raum, und die Gehsteige sind voll von eiligen Menschen. Die Erwachsenen haben keine Zeit, sich um die Kinder zu kümmern, denn auf ihnen lasten dringende Pflichten. Vater und Mutter sind beide gezwungen zu arbeiten, und wo die Arbeit fehlt, da bedrückt und schädigt die Not erst recht Kinder wie Erwachsene. Es gibt kaum einen Zufluchtsort, wo das Kind das Gefühl haben kann, dass sein Seelenzustand Verständnis findet, wo es die ihm angemessenen Betätigungen ausüben darf. Es muss brav sein, sich ruhig verhalten, es darf nichts berühren, was ihm nicht gehört. Alles ist unantastbares, ausschließliches Eigentum des Erwachsenen und für die Kinder verboten. Was gehört ihm? Nichts. Vor einigen Jahrzehnten gab es noch nicht einmal einen Stuhl für Kinder. Von daher stammt der berühmte Ausdruck, der heute nur noch metaphorische Bedeutung hat: „Ich habe dich auf den Knien gehalten.“

Setzte sich das Kind auf die Möbel der Erwachsenen oder auf den Fußboden, wurde es gescholten; setzte es sich auf die Treppenstufen, wurde es gescholten; es musste jemand kommen und es auf die Knie nehmen. Das ist die Situation des Kindes, das in der Umwelt der Erwachsenen lebt: ein Störenfried, der etwas für sich sucht und nichts findet, der eintritt und sogleich fortgewiesen wird. Seine Lage ähnelt der eines Mannes, dem die bürgerlichen Rechte und das Recht auf seine Umwelt aberkannt worden sind: Es ist ein an den Rand der Gesellschaft verwiesenes Wesen, das jedermann ohne Respekt behandeln, beschimpfen und strafen darf, dank einem von der Natur verliehenen Recht: dem Recht des Erwachsenen.

Ein seltsames seelisches Phänomen bewirkt, dass der Erwachsene sich scheut, eine passende Welt für sein Kind zu schaffen. Auch im sozialen Organismus hat es keinen Platz, denn so wie der Mensch seine Gesetze ausarbeitet, hat er die eigenen Erben ohne Gesetze und somit außerhalb des Gesetzes gelassen. Schutzlos überlässt er sie dem tyrannischen Instinkt, der im Herzen eines jeden Erwachsenen in Bereitschaft liegt. So ist es in der Tat, obgleich gerade das Kind bei seinem Eintritt in die Welt neue Energien mitbringt, deren regenerierender Hauch die stickigen Gase verjagen sollte, die sich von Generation zu Generation jeweils im Laufe eines Menschenlebens voller Irrtümer immer wieder angesammelt haben.

Erst in unseren Tagen ist in dieser seit Jahrhunderten blind und gefühllos gebliebenen Gesellschaft eine neue Bewusstheit für das Schicksal des Kindes aufgebrochen. Die Hygiene ist herbeigeeilt, wie man sich zum Schauplatz einer Katastrophe drängt. Sie nahm den Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit auf. Deren Opfer waren bis dahin so zahlreich, dass es aussah, als hätten sich die Überlebenden gerade noch aus der Sintflut gerettet. Als zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Hygiene allmählich ins Volk drang, war es um das Leben des Kindes anders bestellt. Die Schulen erfuhren eine derartige Verwandlung, dass diejenigen, die sich auch nur zehn Jahre lang von den Neuerungen ausschlossen, plötzlich den Eindruck machten, als seien sie schon hundert Jahre alt. Auf den Wegen der Sanftmut und der Duldsamkeit hielten die Grundsätze einer neuen Erziehung ihren Einzug in die Familien wie auch in die Schulen.

Nicht nur die Fortschritte der Wissenschaft haben wichtige Ergebnisse herbeigeführt. Da und dort begannen Menschen, einzig von ihrem Gefühl geleitet, in derselben Richtung zu wirken. Viele Reformatoren von heute beschäftigen sich mit dem Kind; in den Ateliers der Städteplaner werden Gärten für die Jugend vorgesehen; bei der Anlage von Plätzen und Parks schafft man Spielplätze für Kinder; man denkt an die Kinder bei der Errichtung von Theatern, man veröffentlicht Bücher und Zeitungen, man organisiert Reisen, man baut Möbel in angemessener Größe für sie. Da sich endlich eine bewusste Ordnung der Klassen entwickelt hat, ist der Versuch unternommen worden, die Kinder zu organisieren, ihnen den Sinn für soziale Disziplin und die hieraus erwachsende Würde des Individuums beizubringen, wie dies in Organisationen von der Art der „Pfadfinder“ und der „Kinderrepubliken“ der Fall ist. Die politisch-revolutionären Reformen unserer Tage versuchen, sich der Kinder zu bemächtigen, um aus ihnen fügsame Werkzeuge für ihre Pläne zu machen. Zum Guten wie zum Schlechten, sei es in der Absicht, ihnen ehrlich zu Hilfe zu kommen, sei es mit dem Vorsatz, sie als Werkzeug zu benützen, immer ist heute von den Kindern die Rede. Sie sind ein soziales Element in der Welt geworden und infolge der ihnen zukommenden Bedeutung setzen sie sich überall durch. Das Kind ist nicht länger bloß jenes Mitglied der Familie, das des Sonntags in seinem besten Kleid folgsam an der Hand des Vaters spazieren geht und darauf achtet, das Sonntagskleid nicht schmutzig zu machen. Nein, das Kind ist eine Persönlichkeit geworden, die in die soziale Welt eingedrungen ist.

Nun hat offenbar die ganze Bewegung zur Förderung des Kindes eine bestimmte Bedeutung. Wie zuvor gesagt wurde, ist sie weder von Initiatoren auf den Plan gerufen oder geleitet worden, noch wurde sie von irgendeiner Organisation in geordnete Bahnen gelenkt; so müssen wir denn sagen, dass die Stunde des Kindes ganz von selbst angebrochen ist. Als Folge zeigt sich in seiner ganzen Bedeutung ein außerordentlich wichtiges Problem: die soziale Frage des Kindes.

Es empfiehlt sich, die Tragweite dieser Bewegung richtig zu bewerten: Ihre Bedeutung ist ungeheuer, für die Gesellschaft sowohl als für die Kultur, für die ganze Menschheit. Alle diese unabhängig voneinander entstandenen Bemühungen sind ein unverkennbares Zeichen dafür, dass keiner von ihnen eine gewollte konstruktive Bedeutung zukommt: Sie sind lediglich der Beweis dafür, dass rings um uns ein wirklicher und universeller Drang nach einer großen sozialen Reform entstanden ist. Diese Reform ist dermaßen wichtig, dass sie eine neue Zeit und eine neue Ära der Zivilisation ankündigt; wir sind die letzten Überlebenden einer bereits überwundenen Epoche, in der die Menschen einzig daran dachten, für sich selber eine einfache und bequeme Umwelt zu schaffen, eine Umwelt für Erwachsene.

Heute befinden wir uns an der Schwelle einer kommenden Ära, in der es nötig sein wird, für zwei verschiedene Menschheiten zu arbeiten: für die erwachsene und für die kindliche. Und wir sind auf dem Wege zu einer Kultur, die zwei scharf voneinander unterschiedene soziale Umwelten wird vorbereiten müssen: die Welt des Erwachsenen und die des Kindes.

Die Aufgabe, die unser harrt, liegt nicht in der starren und äußerlichen Organisation der bereits angebrochenen sozialen Bewegungen. Es handelt sich nicht darum, eine Koordinierung der verschiedenen öffentlichen und privaten Initiativen zugunsten der Kinder zu fördern. In diesem Fall würde ja lediglich eine Organisation der Erwachsenen vorliegen, die den Zweck hätte, dem Kind von außen her zu Hilfe zu kommen.

Hingegen dringt die soziale Frage des Kindes mit ihren Wurzeln in das innere Leben ein und gelangt bis zu uns Erwachsenen, rüttelt unser Gewissen wach und erneuert uns. Das Kind ist nicht ein fremder Mensch, den der Erwachsene bloß von außen her nach objektiven Gesichtspunkten ansehen kann. Es stellt das wichtigste Element im Leben des Erwachsenen selber dar: das Element des Aufbaus.

Alles Gute und alles Böse des Menschen im reifen Alter ist eng verknüpft mit der Kindheit, in der es seinen Ursprung hat. Alle unsere Irrtümer übertragen wir auf unsere Kinder, in denen sie unaustilgbare Spuren hinterlassen. Wir werden sterben, doch unsere Kinder werden an den Folgen des Bösen leiden, das ihren Geist für immer entstellt hat. Der Kreislauf ist geschlossen und lässt sich nicht unterbrechen. Auf das Kind einwirken heißt, den empfindlichsten Punkt eines Ganzen anrühren, das seine Wurzeln in fernster Vergangenheit hat und sich auf die grenzenlose Zukunft zu bewegt. Auf das Kind einwirken heißt, den zartesten und vitalsten Punkt anrühren, an dem alles sich entscheiden und erneuern kann, wo alles von Leben strotzt, wo die Geheimnisse der Seele beschlossen liegen, weil dort sich der Aufbau des Menschen vollzieht.

Bewusst für das Kind arbeiten und diese Arbeit bis ans Ende fortführen mit der grandiosen Absicht, das Kind zu retten, würde so viel bedeuten wie die Enträtselung des Geheimnisses der Menschheit selbst, so wie bereits so viele Geheimnisse der äußeren Natur enträtselt worden sind.

Die soziale Frage der Kindheit gleicht einem jungen Pflänzchen, das eben erst aus dem Erdreich hervorzusprießen begonnen hat und uns durch seine Frische entzückt. Aber wir werden bald dessen innewerden, dass dieses Pflänzchen starke und tief wirkende, nur schwer auszureißende Wurzeln hat. Da heißt es graben, tief graben, um zu entdecken, dass diese Wurzeln sich in alle Richtungen weithin ausbreiten und eine Art Labyrinth bilden. Um sie auszuroden, wäre es nötig, die ganze Erde abzutragen.

Diese Wurzeln sind ein Symbol für das Unterbewusste in der Geschichte der Menschheit. Es gilt, unendlich viel Statisches und Erstarrtes im menschlichen Geist zu beseitigen, das ihn daran hindert, das Kind zu verstehen und zu einer intuitiven Kenntnis der kindlichen Seele zu gelangen.

Die auffallende Blindheit des Erwachsenen, seine Gefühllosigkeit Kindern gegenüber – den Früchten seines eigenen Lebens –, haben sicher tiefe Wurzeln, die sich durch die Generationen erstrecken, und der Erwachsene, der zwar Kinder gern hat, sie aber dennoch unbewusst nicht voll anerkennt, fügt ihnen unbeabsichtigt ein Leid zu. Daran, als an einem Spiegel unserer Irrtümer, sollten wir unser Verhalten prüfen. Dies alles enthüllt einen universellen, wenngleich bisher wenig beachteten Konflikt zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die soziale Frage des Kindes führt uns an die Gesetze heran, nach denen der Mensch gebildet ist, und hilft uns, selbst ein neues Bewusstsein zu entwickeln und folglich unserem eigenen sozialen Leben eine neue Richtung zu geben.

Erster Teil

1. KapitelDas Zeitalter des Kindes

Die Fortschritte, die im Laufe weniger Jahre in der Pflege und Erziehung der Kinder erzielt wurden, haben einen so schnellen und überraschenden Verlauf genommen, dass sie eher mit einem Erwachen des Gewissens als mit der Entwicklung der Hilfsmittel erklärt werden müssen. Es handelt sich nicht nur um jene Fortschritte, die der Kinderhygiene zu verdanken sind, wie sie sich gerade in den letzten zehn Jahren des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat; vielmehr begann die Persönlichkeit des Kindes selbst sich unter neuen Gesichtspunkten kundzutun und höchste Wichtigkeit zu erlangen.

Heute ist es unmöglich geworden, in irgendeinen Zweig der Medizin, der Philosophie oder auch der Soziologie einzudringen, ohne dabei zu berücksichtigen, welches Licht die Kenntnis des kindlichen Lebens darauf zu werfen vermag.

Ihre Wichtigkeit lässt sich annähernd mit dem klärenden Einfluss vergleichen, den die Embryologie auf unser gesamtes biologisches Wissen und auf unsere Kenntnis von der Entwicklung lebender Wesen gehabt hat: nur dass wir im Falle des Kindes anerkennen müssen, dass dieser Einfluss auf alle die Menschheit betreffenden Fragen unendlich größer ist.

Nicht das physische Kind ist es, das einen mächtigen, ja entscheidenden Anstoß zum Besserwerden der Menschen geben kann, sondern das psychische. Der Geist des Kindes kann vielleicht einen wirklichen Fortschritt der Menschen und unter Umständen sogar den Anbruch einer neuen Kultur herbeiführen.

Die schwedische Schriftstellerin und Dichterin Ellen Key sagte schon, unser Zeitalter werde das Zeitalter des Kindes sein.

Wer die Geduld hätte, in historischen Dokumenten zu stöbern, würde eine eigenartige Übereinstimmung dieses Gedankens mit der ersten Thronrede des Königs von Italien Viktor Emmanuel III. finden, die dieser im Jahre 1900 hielt. Bei seiner Thronbesteigung nach der Ermordung seines Vaters sprach der König von der neuen Ära, die fortan anheben sollte, und bezeichnete sie als „das Jahrhundert des Kindes“.

Höchst wahrscheinlich stellen solche wie prophetische Ausblicke anmutende Sätze einen Reflex jener wissenschaftlichen Einsichten dar, die in dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts dahin geführt hatten, uns das leidende Kind zu zeigen, das zehnmal mehr als der Erwachsene dem Tod durch Infektionskrankheiten ausgesetzt ist und das in der Schule gequält wird.

Niemand aber konnte damals wissen, dass das Kind ein Lebensgeheimnis in sich birgt, das imstande ist, einen Schleier von den Mysterien der menschlichen Seele zu heben, dass es etwas Unbekanntes in sich trägt, aus dem der Erwachsene die Möglichkeit gewinnt, seine individuellen und sozialen Probleme zu lösen. Dieser Gesichtspunkt ist es, der zur Grundlage einer neuen Richtung der Kinderforschung werden kann und der wichtig genug ist, das ganze soziale Leben der Menschheit zu beeinflussen.

Die Psychoanalyse und das Kind

Die Psychoanalyse hat ein bis dahin unbekanntes Forschungsfeld eröffnet, indem sie es uns ermöglichte, in die Geheimnisse des Unterbewussten einzudringen, aber sie hat keines von den uns bedrängenden praktischen Problemen des Lebens gelöst; immerhin vermag sie das Verständnis für den Beitrag, den die geheime Natur des Kindes zu leisten imstande ist, einigermaßen vorzubereiten.

Man kann sagen, die Psychoanalyse habe die Rinde des Bewusstseins durchbrochen, die in der Psychologie ebenso für eine Grenze gegolten hatte wie in der antiken Geschichte die Säulen des Herkules – eine Grenze, jenseits derer der Aberglaube das Ende der Welt wähnte.

Die Psychoanalyse hat jene Schranke überschritten und ist in den Ozean des Unterbewussten eingedrungen. Ohne diese Entdeckung wäre es schwierig, den Beitrag zu erläutern, den das Seelenleben des Kindes für das vertiefte Studium der menschlichen Probleme liefern kann.

Man weiß, dass das, was später die Psychoanalyse wurde, zunächst nichts weiter war als eine neue Technik zur Heilung geistiger Erkrankungen. Sie bildete also anfangs einen Zweig der Medizin. Der wahrhaft erleuchtende Beitrag der Psychoanalyse bestand in der Entdeckung des Einflusses, den das Unterbewusstsein auf die Handlungen der Menschen ausübt. Es handelte sich hierbei um das Studium bestimmter psychischer Reaktionen jenseits des Bewusstseins, die verborgene Tatsachen und niemals erwartete Realitäten ans Licht brachten und damit alle altüberlieferten Vorstellungen umstürzten. Es enthüllte sich auf diese Weise die Existenz einer unbekannten, außerordentlich großen Welt, mit der, wie man wohl sagen kann, das Schicksal des Individuums eng verbunden ist. Doch konnte die Psychoanalyse diese unbekannte Welt nicht völlig erforschen. Eine Angst, vergleichbar dem Aberglauben der Griechen, hielt Freud in den Grenzen des Krankhaften fest.

Schon seit den Zeiten Charcots1, im 19. Jahrhundert, war das Unterbewusste auf dem Gebiet der Psychiatrie aufgetaucht.

Unter dem Druck einer gewaltigen inneren Spannung, hervorgerufen durch die Mischung verschiedenster Elemente, bricht in gewissen Fällen schwerer geistiger Erkrankung das Unterbewusste zur Oberfläche durch und wird damit offenbar. Die seltsamen Erscheinungen des Unterbewussten, die so sehr mit den Kundgebungen des Bewusstseins kontrastieren, wurden daher lange Zeit einfach als Krankheitssymptome angesehen. Freud beschritt den umgekehrten Weg: Mit Hilfe einer sorgfältig ausgearbeiteten Technik erwarb er die Möglichkeit, in das Unterbewusstsein einzudringen; aber auch er beschränkte sich fast ausschließlich auf das Feld des Krankhaften. Denn welcher normale Mensch wäre bereit gewesen, sich den schmerzhaften Untersuchungen der Psychoanalyse zu unterziehen, die einer Art operativen Eingriffs in die Seele gleichkommen? So kam es, dass Freud seine psychologischen Folgerungen aus der Behandlung von Kranken ableitete und auf Grund seiner Beobachtungen an diesen zu den Grundsätzen seiner neuen Psychologie gelangte. Freud ahnte wohl, dass es jenseits der Säulen des Herkules den offenen Ozean gebe, aber er erforschte ihn nicht; und da in der Meerenge zumeist unruhige See herrschte, nahm er an, dass auch der Ozean von Stürmen aufgewühlt werde.

Darum konnten die Theorien Freuds nicht befriedigen, und auch seine Technik der Krankheitsbehandlung war nicht völlig zufriedenstellend, da sie keineswegs immer zur Heilung der „Seelenkrankheiten“ führte. So kommt es, dass die gesellschaftlichen Überlieferungen, in denen uralte Erfahrungen ihren Niederschlag gefunden haben, sich wie eine Mauer vor einigen Verallgemeinerungen der Freudschen Theorien erhoben haben. Eine wirklich leuchtende neue Wahrheit hingegen hätte diese Tradition zu Fall bringen müssen, wie die Wirklichkeit stets den Schein zu Fall bringt. Doch zur Erforschung dieser ungeheuren Wirklichkeit gehört wohl mehr als eine Technik der klinischen Behandlung oder eine Ableitung von Theorien.

Das Geheimnis des Kindes

Die Aufgabe, in dieses weite, unerforschte Feld einzudringen, fällt vielleicht anderen Zweigen der Wissenschaft zu und setzt einen anderen Ansatz der Begriffe voraus. Es handelt sich ja darum, den Menschen von seinen Ursprüngen an zu studieren, dabei in der Seele des Kindes ihre Entwicklung unter den Zusammenstößen mit der Umwelt zu entziffern und so in das dramatische oder tragische Geheimnis der Kämpfe einzudringen, denen man es zuzuschreiben hat, wenn die Seele des Menschen entstellt und verdüstert blieb.

Die Psychoanalyse hat bereits an dieses Geheimnis gerührt. Eine der eindrucksvollsten, aus der Anwendung ihrer Technik sich ergebenden Entdeckungen bestand in der Erkenntnis, dass die Psychose ihren Ursprung im fernen Kindesalter haben kann. Aus dem Unterbewussten heraufbeschworene Erinnerungen erzählten dem Forscher von seltsamen Leiden in der Kindheit, die ganz anders aussahen als alle bis dahin bekannten; so weit waren sie von allen herrschenden Vorstellungen entfernt, dass ihre Aufdeckung zu der eindrucksvollsten und revolutionärsten Botschaft der Psychoanalyse geworden ist. Es waren lang dauernde und beharrliche Leiden rein seelischer Art und niemand hatte sie je zuvor als Fakten gewertet, die hätten imstande sein können, sich in psychischen Erkrankungen Erwachsener auszuwirken. Sie ergaben sich aus der Unterdrückung der spontanen Tätigkeit des Kindes durch den Erwachsenen, der die Befehlsgewalt über das Kind hat, und diese Unterdrückung hängt daher mit demjenigen Erwachsenen zusammen, der den größten Einfluss auf das Kind ausübt: mit der Mutter.

Es gilt, genau zwischen den zwei Schichten zu unterscheiden, auf die die Psychoanalyse mit ihrer Tiefenforschung gestoßen ist: die eine, die oberflächlicher gelagerte, ist jene, in der sich der Konflikt zwischen den Instinkten des Individuums und den Bedingungen der Umwelt abspielt, an die dieses Individuum sich anpassen muss. Dieser Konflikt kann gelöst werden, da es nicht schwerfällt, die störenden unterbewussten Ursachen in das Feld des Bewusstseins emporzuheben. Dann aber gibt es eine tiefer liegende Schicht, die Schicht der Kindheitserinnerungen, bei denen der Konflikt sich nicht zwischen dem heranwachsenden Menschen und dem ihn umgebenden sozialen Milieu abspielt, sondern zwischen dem Kind und der Mutter – oder, allgemein gesprochen, zwischen dem Kind und dem Erwachsenen.

Dieser letztere Konflikt steht eng in Verbindung mit schwer heilbaren Krankheiten; ihm wurde keine größere Wichtigkeit beigemessen als die einer einfachen Anamnese oder einer Deutung vermuteter Krankheitsursachen.

Immerhin ist für alle Krankheiten, auch die physischen, nunmehr die Wichtigkeit gewisser Vorfälle im Kindesalter erkannt worden und es hat sich erwiesen, dass diejenigen Krankheiten, deren Verursachungen im Kindesalter liegen, die schwersten und am wenigsten heilbaren sind. So kann man sagen, in der Kindheit liege die Werkstatt der Prädispositionen.

Während diese Erkenntnis jedoch in Bezug auf die physischen Krankheiten bereits zur Entwicklung neuer Wissenschaftszweige wie der Kinderhygiene, Jugendpflege und schließlich Eugenik geführt und eine praktische soziale Bewegung zur Reform der körperlichen Behandlung der Kinder hervorgerufen hat, ist die Psychoanalyse nicht zu ähnlichen Ergebnissen gelangt. Die Feststellung der Ursprünge schwerer psychischer Störungen beim Erwachsenen im Kindesalter sowie der frühen Prädispositionen, welche die Konflikte der Erwachsenen mit der Außenwelt erschweren, hat keine entsprechende praktische Aktion für das Leben des Kindes im Gefolge gehabt.

Dies vielleicht darum, weil die Psychoanalyse sich einer bestimmten Technik der Sondierung des Unterbewussten verschrieben hat. Dieselbe Technik, die bei Fällen von Erwachsenen zu Entdeckungen führt, wird beim Kind zu einem Hindernis. Das Kind, das sich schon seinem Charakter nach nicht für diese Technik eignet, braucht sich nicht an seine Kindheit zu erinnern: es lebt ja darin. Man muss es eher beobachten als sondieren, und zwar von einem psychischen Gesichtspunkt aus, der es gestattet, die Konflikte aufzuzeigen, durch die das Kind in seinen Beziehungen zum Erwachsenen und zur sozialen Umwelt hindurchgeht. Es ist klar, dass diese Betrachtungsweise uns aus dem Feld der psychoanalytischen Techniken und Theorien heraus- und in ein neues Feld der Beobachtung des Kindes in seinem sozialen Dasein hinführt.

Es handelt sich hier nicht darum, die schwierigen Engpässe der Analyse kranker Individuen zu beschreiten, sondern sich in der weiten Wirklichkeit des menschlichen Lebens zu bewegen und dabei zur Psyche des Kindes zu gelangen. Praktisch angefasst, begreift dieses Problem das ganze menschliche Leben von der Geburt an in sich. Noch ist jene Seite im Buch der Menschheitsgeschichte unbekannt, auf der die ersten Abenteuer der Menschenseele erzählt werden: das sensible Kind, das auf die ersten Hindernisse stößt und sich in unüberwindliche Konflikte mit dem Erwachsenen verstrickt sieht – mit jenem Erwachsenen, der stärker ist als das Kind und es beherrscht, ohne es zu verstehen. Auf diesem unbeschriebenen Blatt sind die Leiden noch nicht aufgezeichnet worden, die das bis dahin unversehrte, zarte Seelenleben des Kindes aufwühlen und in dessen Unterbewusstsein einen herabgeminderten Menschen vorbereiten, verschieden von dem, den die Natur gewollt und vorgezeichnet hat.

Diese schwierige Frage wird wohl von der Psychoanalyse beleuchtet, steht aber mit ihr in keinem direkten Zusammenhang. Die Psychoanalyse handelt hauptsächlich von Erkrankungen und deren medizinischer Heilung; die Frage nach dem Wesen der Kinderseele aber hat im Verhältnis zur Psychoanalyse vorbeugenden Charakter, denn es handelt sich hier um die normale und allgemeine Art des Umganges mit einem Teil der Menschheit, dem Kinde, eines Umganges also, der dazu beitragen soll, Schwierigkeiten und Konflikte und demnach auch deren Folgen – eben die seelischen Krankheiten, mit denen die Psychoanalyse zu tun hat – zu vermeiden, desgleichen auch jene einfachen moralischen Gleichgewichtsstörungen zu verhüten, an denen nach Ansicht der Psychoanalytiker fast die gesamte Menschheit leidet.

Rings um das Kind tut sich somit ein neues Feld für die wissenschaftliche Forschung auf, das von der Psychoanalyse unabhängig und ihre einzige Parallele ist. Es handelt sich dabei im Wesentlichen darum, dem kindlichen Seelenleben zu Hilfe zu kommen, und zwar im Bereich des Normalen und der Erziehung. Einerseits gilt es, noch unbekannte psychische Tatsachen im Leben des Kindes zu ergründen, andererseits den Erwachsenen selbst zu erwecken, der dem Kinde gegenüber eine irrige, vom Unterbewusstsein her bestimmte Haltung einnimmt.

2. KapitelDer Erwachsene als Angeklagter

Wenn Freud im Zusammenhang mit den tiefsten Ursprüngen der beim Erwachsenen zutage tretenden seelischen Störungen von Unterdrückung spricht, so ist dies an sich bezeichnend genug.

Das Kind kann sich nicht so frei entwickeln, wie es für ein im Wachstum begriffenes Lebewesen erforderlich wäre, und zwar deshalb, weil der Erwachsene es unterdrückt. Das Kind steht isoliert in der menschlichen Gesellschaft da. Wer auf das Kind Einfluss ausübt, ist für dieses nicht im abstrakten Sinne ein Vertreter der Welt des Erwachsenen, sondern verkörpert sich sogleich in derjenigen Person, die ihm am nächsten steht. An erster Stelle ist dies die Mutter, dann folgt der Vater, schließlich jeder andere Lehrer und Erzieher.

Die Aufgabe, die diesen Erwachsenen von der Gesellschaft zugeteilt wurde, ist gerade das Gegenteil von Unterdrückung: Sie sollen das Kind erziehen und weiterbilden. So erwächst aus der seelischen Tiefenforschung eine Anklage gegen jene, die bisher für die Behüter und Wohltäter des Menschengeschlechtes galten. Sie alle werden plötzlich zu Angeklagten, und da so ziemlich alle Menschen Väter und Mütter sind und die Zahl der Lehrer und Erzieher groß ist, erweitert sich diese Anklage auf den Erwachsenen schlechthin, auf die menschliche Gesellschaft, die für die Kinder verantwortlich ist. Es ist etwas Apokalyptisches an dieser überraschenden Anklage, so als riefe die geheimnisvolle und schreckliche Stimme des Jüngsten Gerichtes: „Was habt ihr mit den euch anvertrauten Kindern getan?“

Man ist geneigt, sich zu verteidigen, zu protestieren: „Wir haben unser Möglichstes getan! Wir lieben die Kinder, wir haben für ihre Pflege jedes Opfer gebracht!“ In Wirklichkeit aber stehen zwei einander widersprechende Auffassungen da, von denen die eine bewusst ist, die andere jedoch aus dem Unterbewussten emporsteigt. Wir kennen die Argumente, mit denen der Erwachsene sich verteidigt; sie sind uralt, tief eingewurzelt und daher uninteressant. Viel interessanter ist die Anklage, besser gesagt, der Angeklagte selbst – jener Erwachsene, der sich eifrig zu schaffen macht, um Pflege und Erziehung der Kinder zu verbessern, und sich dabei immer tiefer in einem Irrgarten auswegloser Probleme verliert. Dies darum, weil er den Irrtum nicht kennt, den er in sich selbst trägt.

Wer für das Kind eintritt, muss dauernd diese anklagende Haltung gegen den Erwachsenen einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht walten lassen noch Ausnahmen machen.

Und plötzlich wird diese Anklage ein Mittelpunkt von außerordentlichem Interesse. Sie richtet sich nämlich nicht gegen bewusste Unterlassungsgründe, die eine demütigende Unzulänglichkeit der Erzieher verraten würden, sondern gegen unbewusste Irrtümer. Damit dient sie einer erweiterten Selbsterkenntnis und macht den Menschen reicher, wie denn alles das Wesen des Menschen bereichert, was zu irgendwelchen bis dahin unbekannt gebliebenen Entdeckungen im seelischen Bereich führt.

Zu allen Zeiten hat deshalb die Menschheit ihren Fehlern gegenüber eine zwiespältige Haltung eingenommen. Jedermann ärgert sich über seine bewussten Fehler, während die unbewussten ihn anziehen und faszinieren. Unbewusster Irrtum enthält einen Schritt zur Vervollkommnung über die bis dahin bekannten Grenzen hinaus, und seine Erkenntnis erhebt auf ein höheres Niveau. Der Ritter des Mittelalters war stets bereit, jedes kleinste Wort der Anklage, das sein bewusstes Handeln betraf, zum Anlass für einen Zweikampf zu machen; gleichzeitig aber warf er sich demütig vor dem Altar nieder und erklärte: „Ich bin ein Sünder und bekenne vor aller Welt meine Schuld.“ Die biblische Geschichte gibt interessante Beispiele für dieses Verhalten der Menschen. Was veranlasste das Volk von Ninive, sich um Jonas zu scharen, was rief die Begeisterung hervor, mit der alle, vom König bis zum Bettler, dem Propheten nachfolgten? Jonas schalt sie verhärtete Sünder und verkündigte ihnen, Ninive werde untergehen, wenn sie sich nicht bekehrten. Und wie redete Johannes der Täufer am Ufer des Jordans die Menge an? Mit welchen gewinnenden Worten lockte er sie in solchen Scharen herbei? „Natterngezücht“ nannte er sie alle.

Welch ein geistiges Phänomen: Menschen, die herbeieilen, damit sie hören, wie jemand sie anklagt; und wir sehen diese Menschen enthusiastisch ihre eigene Schuld bekennen. Es gibt harte und beharrliche Anklagen, die das Unbewusste aus seiner Tiefe emporziehen und es mit dem Bewussten verschmelzen. Alle geistige Entwicklung besteht in solchen Eroberungen des Bewusstseins, welches etwas in sich aufnimmt, das zuvor außerhalb von ihm war. Nicht anders spielt sich der Fortschritt der Zivilisation auf der Bahn immer neuer Entdeckungen ab.

Wollen wir nun das Kind anders behandeln als bisher und wollen wir es vor Konflikten bewahren, die sein Seelenleben gefährden, so ist zuvor ein grundlegender, wesentlicher Schritt erforderlich, von dem alles Weitere abhängt: Es gilt, den Erwachsenen zu ändern. Dieser Erwachsene behauptet ja, bereits sein Möglichstes zu tun, das Kind zu lieben, ihm jedes Opfer zu bringen. Damit gesteht er, an der Grenze seiner bewussten Fähigkeiten angelangt zu sein, und es bleibt ihm somit nichts anderes übrig, als den Schritt über den Bereich des Bekannten, Willentlichen und Bewussten hinaus zu versuchen.

Unbekanntes gibt es auch im Kinde. Von einem Teil seines Seelenlebens haben wir bisher nichts gewusst und diesen gilt es zu erforschen. Es sind da wesentliche Entdeckungen zu machen, denn es gibt nicht nur das Kind, das von Psychologen und Erziehern beobachtet und studiert worden ist; es gibt auch ein von niemandem beachtetes Kind – beide in derselben Person. Dieses verborgene und verkannte Kind gilt es ausfindig zu machen und dazu bedarf es einer Begeisterung und Opferwilligkeit ähnlich jener, mit der die Goldsucher in die fernsten Länder vordringen. Alle Erwachsenen müssen an diesem Entdeckerwerk mithelfen, ohne Unterschied des Standes, der Rasse oder der Nation; handelt es sich doch um nichts Geringeres als um die Auffindung eines für den moralischen Fortschritt der Menschheit unerlässlichen Elements.

Bisher hat der Erwachsene das Kind und den Halbwüchsigen nicht verstanden und deshalb liegt er mit ihnen in ständigem Kampfe. Das kann nicht dadurch anders werden, dass der Erwachsene mit der Vernunft neue Kenntnisse erwirbt, dass er gewisse Bildungsmängel beseitigt. Nein, es handelt sich darum, einen völlig anderen Ausgangspunkt zu finden. Der Erwachsene muss den in ihm selber liegenden, bisher unbekannten Irrtum entdecken, der ihn daran hindert, das Kind richtig zu sehen. Kein Schritt nach vorwärts ist möglich, solange diese vorbereitende Erkenntnis nicht gewonnen ist und solange wir nicht die Haltungen erworben haben, die sich aus ihr ergeben.

Diese innere Einkehr ist gar nicht so schwierig, wie es den Anschein hat. Denn unser Irrtum ist uns zwar nicht bewusst, aber er bewirkt doch in uns eine ständige, schmerzhafte Beklemmung, und das Bedürfnis nach Abhilfe weist uns bereits den Weg. Wer sich den Finger verstaucht hat, empfindet das Bedürfnis, ihn ausgestreckt zu halten, denn er weiß instinktiv, dass er diesen Finger nicht gebrauchen darf, wenn der Schmerz sich legen soll. So spüren wir auch den Drang, unser Gewissen auszurichten, sobald wir erkannt haben, dass wir uns falsch verhalten; denn mit dem Augenblick dieser Erkenntnis werden das Bewusstsein unserer Unzulänglichkeit und der Kummer darüber unerträglich, die wir bis dahin ertragen haben. Von da an ist alles ganz einfach: Sobald in uns die Überzeugung erwacht ist, dass wir uns überschätzt und uns mehr zugetraut hatten, als wir zu leisten berufen und in der Lage sind, interessiert es uns und wird es uns möglich, die Wesenszüge solcher Seelen zu begreifen, die, wie die Seelen der Kinder, von den unseren verschieden sind.

Der Erwachsene ist in seinem Verhältnis zum Kind egozentrisch – nicht egoistisch, aber egozentrisch. Alles, was die Seele des Kindes angeht, beurteilt er nach seinen eigenen Maßstäben und dies muss zu einem immer größeren Unverständnis führen. Von diesem Blickpunkt aus erscheint ihm das Kind als ein leeres Wesen, das der Erwachsene mit etwas anzufüllen berufen ist, als ein träges und unfähiges Wesen, dem er jegliche Verrichtung abnehmen muss, als ein Wesen ohne innere Führung, das der Führung durch den Erwachsenen bedarf. Schließlich fühlt sich der Erwachsene als Schöpfer des Kindes und beurteilt Gut und Böse der Handlungen des Kindes nach dessen Beziehungen zu ihm selbst. So wird der Erwachsene zum Maßstab von Gut und Böse. Er ist unfehlbar, nach seinem Vorbild hat sich das Kind zu richten und alles im Kinde, was vom Charakter des Erwachsenen abweicht, gilt als ein Fehler, den der Erwachsene eilends zu korrigieren sucht.

Mit einem solchen Verhalten glaubt der Erwachsene um das Wohl des Kindes eifrig, voll Liebe und Opferbereitschaft besorgt zu sein. In Wirklichkeit aber löscht er damit die Persönlichkeit des Kindes aus.

3. KapitelBiologisches Zwischenspiel

Mit der Veröffentlichung seiner Entdeckungen über die Zellteilung zeigte Wolff den Prozess auf, in dem Wesen entstehen, und wies durch direkte Beobachtungen nach, dass es in der Keimzelle eine Zielstrebigkeit auf eine vorherbestimmte Form hin geben müsse. Wolff war es, der mit einigen philosophischen Vorstellungen – wie denen von Leibniz und Spallanzani – über die Präexistenz der fertigen Form im Keim aufräumte. Die philosophische Schule der Zeit nahm an, dass im Ei, also im Ursprung, das Wesen, das sich später daraus entwickeln soll, bereits geformt vorhanden sei, wenngleich unvollkommen und in winziger Ausdehnung. Diese Vorstellung war durch Beobachtung des Pflanzensamens entstanden, der tatsächlich, zwischen den beiden Keimblättern verborgen, ein vollständiges Pflänzchen enthält. An diesem sind bereits Wurzel und Blätter erkennbar, die sich dann nur weiterentwickeln, sobald der Same im Erdreich heranreift. Man vermutete also, dass der Vorgang bei Tieren und Menschen ein ähnlicher sei.

Als Wolff jedoch nach der Entdeckung des Mikroskops beobachten konnte, wie sich ein lebendes Wesen in Wirklichkeit heranbildet (er begann mit dem Studium des Vogel-Embryos), fand er als Ursprung eine einfache Keimzelle, in der, wie sich mittels des Mikroskops jetzt feststellen ließ, keinerlei Form vorgebildet war. Die Keimzelle (entstanden aus der Verschmelzung zweier Zellen) besteht lediglich aus Zellhaut, Protoplasma und Zellkern wie jede andere Zelle auch. Sie stellt also die einfache Zelle in ihrer primitiven Form dar, ohne dass eine Spur von irgendwelchen Differenzierungen wahrnehmbar wäre. Jedes lebendige Wesen, ob Pflanze, ob Tier, entstammt einer solchen einfachen Zelle. Was man vor der Entdeckung des Mikroskops gesehen hatte, nämlich das Pflänzchen im Samen, ist in Wirklichkeit ein Embryo, der sich bereits aus der Keimzelle herausentwickelt und schon seine erste Phase hinter sich gebracht hat, wenn der Samen in die Erde versenkt wird.

Aber die Keimzelle hat eine höchst eigentümliche Eigenschaft: Sie teilt sich sehr schnell in immer neue Hälften und teilt sich nach einem vorherbestimmten Plan, ohne dass sich von diesem Plan in der ursprünglichen Zelle auch nur die geringste materielle Spur finden ließe. Lediglich der Zellkern enthält winzige Körperchen, die Chromosomen, die die Träger der Erbmasse bilden. Verfolgt man die ersten Entwicklungsstufen des Tieres, so sieht man, wie die ursprüngliche Zelle sich in zwei teilt, wie diese sich ihrerseits halbieren und so fort, bis eine Art leerer Ball entsteht, die sogenannte „Morula“, die sich dann einstülpt, so dass eine doppelwandige Höhle mit einer Öffnung, die „Gastrula“, entsteht. Durch fortgesetzte Vervielfältigungen, Einstülpungen und Differenzierungen bildet sich ein komplizierter Organismus mit vielerlei Organen und Geweben heraus. Die ganz einfache, klare, jeder erkennbaren Struktur bare Keimzelle arbeitet also und führt mit gehorsamer Genauigkeit einen immateriellen Befehl aus, den sie in sich trägt, gleich einem getreuen Diener, der seinen Auftrag auswendig kennt und ihn durchführt, ohne ein Dokument bei sich zu führen, das diesen geheimen Auftrag verraten könnte: Der Bauplan lässt sich nur aus der unermüdlichen Tätigkeit der Zellen erkennen, wenn das Werk bereits getan ist. Nichts anderes ist zu sehen als dieses Werk selbst.

Eines der ersten Organe, die sich im Embryo der Säugetiere und somit auch des Menschen herausbilden, ist das Herz, besser gesagt ein Organ, das zum Herzen werden soll – ein Bläschen, das sogleich nach einem vorherbestimmten Rhythmus zu pulsieren beginnt. Es schlägt zweimal in der Zeit, die das Herz der Mutter für einen Schlag benötigt. Und es wird unermüdlich zu schlagen fortfahren, denn es stellt den Lebensmotor dar, der alle sich bildenden Gewebe unterstützt, indem er ihnen die erforderlichen Stoffe zuführt.

Das Wunderbare an dieser heimlichen Aufbauarbeit liegt darin, dass sie sich ganz von sich aus vollzieht. Wir haben es hier tatsächlich mit dem Wunder der Schöpfung zu tun. Diese weisen Lebenszellen irren sich nie und besitzen die Fähigkeit, sich grundlegend umzuwandeln, sei es in Knorpelzellen, sei es in Hautzellen, sei es in Nervenzellen; und jedes Gewebe nimmt seinen ihm zukommenden Platz ein. Dieses Schöpfungswunder bildet eine Art Geheimnis des Universums und spielt sich in größter Heimlichkeit ab. Die Natur umgibt es mit undurchdringlichen Schleiern und Hüllen und nur sie vermag diese Hüllen zu zerreißen: wenn sie ein reif gewordenes Wesen hervorbringt, das als neugeborenes Geschöpf in die Welt tritt.

Aber dieses neugeborene Geschöpf ist nicht nur ein materieller Körper. Es wird seinerseits zu einer Art Keimzelle,