Alles Glück für meinen Jungen - Britta Frey - E-Book

Alles Glück für meinen Jungen E-Book

Britta Frey

5,0

Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Ein langer Winter mit Eis und Schnee und klirrender Kälte war den ersten Strahlen eines wunderschönen Frühlings mit seinen wärmenden Sonnenstrahlen gewichen. Die Knospen der Blätter an den Bäumen und Sträuchern begannen sich zu entfalten, und die ersten Blütenkelche öffneten sich, brachten neue Freude in die Herzen der Menschen. Auch auf Gut Westerhoff merkte man überall den Frühling. Hagen Westerhoff unternahm schon seit einigen Tagen wieder jeden Morgen vor dem Frühstück seinen Morgenritt. Er war mit seinen fünfundsechzig Jahren noch rüstig und vital, trotzdem überließ er schon seit über einem Jahr alle Angelegenheiten betrefflich des Gutes seinem Schwiegersohn. Rüdiger Knudsen, der Mann seiner einzigen Tochter Paola, verstand eine Menge von der Landwirtschaft, und Hagen Westerhoff wußte, daß er keinen besseren Nachfolger für sich und das Gut hätte finden können. Er genoß seine morgendlichen Ausritte, und in dieser Herrgottsfrühe durch die Felder. Wiesen und Wälder zu streifen, machte ihn froh und glücklich. Jetzt, im Frühling, hatte Hagen Westerhoff sehr oft einen Begleiter auf seinen Ausritten. Es handelte sich um den dreizehnjährigen Oliver, der seinen Großvater liebend gern begleitete. Schon mit acht Jahren hatte Oliver von seinem Großvater ein Pferd geschenkt bekommen, damit er sich frühzeitig an das Reiten gewöhnen konnte. Natürlich war Oliver schon zu dieser Zeit von Pferden begeistert gewesen, und so war es auch geblieben. Rüdiger Knudsen war damals damit einverstanden gewesen und stolz darauf, daß sein Sohn Tiere, insbesondere Pferde, so sehr liebte wie er selbst. Nur Paola Knudsen war nicht damit einverstanden, daß Oliver ständig ausritt. Sie liebte ihren Jungen über alles und hatte ständig Angst, daß ihrem Einzigen einmal etwas passieren könnte. Unzählige Male war es in bezug auf diesen Punkt in den vergangenen Jahren zwischen Rüdiger und ihr zum Streit gekommen, doch stets war sie machtlos geblieben. Und wenn ihr Vater ihr auch immer jeden Wunsch erfüllt hatte, so war er, was Oliver und das Reiten betraf, immer auf Rüdigers und Olivers Seite gewesen. Rüdiger Knudsen trat gerade ans Schlafzimmerfenster, und er sah Oliver und seinen Schwiegervater gerade noch vom Hof reiten. Lächelnd wandte er sich Paola zu, die sich verschlafen in den Kissen rekelte. »Man sollte es kaum für möglich halten, Liebes, aber Oliver reitet mit jedem Tag besser.

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Kinderärztin Dr. Martens Classic – 12 –

Alles Glück für meinen Jungen

Ein Reitunfall entzweit die Eltern

Britta Frey

Ein langer Winter mit Eis und Schnee und klirrender Kälte war den ersten Strahlen eines wunderschönen Frühlings mit seinen wärmenden Sonnenstrahlen gewichen. Die Knospen der Blätter an den Bäumen und Sträuchern begannen sich zu entfalten, und die ersten Blütenkelche öffneten sich, brachten neue Freude in die Herzen der Menschen.

Auch auf Gut Westerhoff merkte man überall den Frühling. Hagen Westerhoff unternahm schon seit einigen Tagen wieder jeden Morgen vor dem Frühstück seinen Morgenritt. Er war mit seinen fünfundsechzig Jahren noch rüstig und vital, trotzdem überließ er schon seit über einem Jahr alle Angelegenheiten betrefflich des Gutes seinem Schwiegersohn.

Rüdiger Knudsen, der Mann seiner einzigen Tochter Paola, verstand eine Menge von der Landwirtschaft, und Hagen Westerhoff wußte, daß er keinen besseren Nachfolger für sich und das Gut hätte finden können.

Er genoß seine morgendlichen Ausritte, und in dieser Herrgottsfrühe durch die Felder. Wiesen und Wälder zu streifen, machte ihn froh und glücklich.

Jetzt, im Frühling, hatte Hagen Westerhoff sehr oft einen Begleiter auf seinen Ausritten. Es handelte sich um den dreizehnjährigen Oliver, der seinen Großvater liebend gern begleitete.

Schon mit acht Jahren hatte Oliver von seinem Großvater ein Pferd geschenkt bekommen, damit er sich frühzeitig an das Reiten gewöhnen konnte. Natürlich war Oliver schon zu dieser Zeit von Pferden begeistert gewesen, und so war es auch geblieben.

Rüdiger Knudsen war damals damit einverstanden gewesen und stolz darauf, daß sein Sohn Tiere, insbesondere Pferde, so sehr liebte wie er selbst.

Nur Paola Knudsen war nicht damit einverstanden, daß Oliver ständig ausritt. Sie liebte ihren Jungen über alles und hatte ständig Angst, daß ihrem Einzigen einmal etwas passieren könnte. Unzählige Male war es in bezug auf diesen Punkt in den vergangenen Jahren zwischen Rüdiger und ihr zum Streit gekommen, doch stets war sie machtlos geblieben. Und wenn ihr Vater ihr auch immer jeden Wunsch erfüllt hatte, so war er, was Oliver und das Reiten betraf, immer auf Rüdigers und Olivers Seite gewesen.

Rüdiger Knudsen trat gerade ans Schlafzimmerfenster, und er sah Oliver und seinen Schwiegervater gerade noch vom Hof reiten. Lächelnd wandte er sich Paola zu, die sich verschlafen in den Kissen rekelte.

»Man sollte es kaum für möglich halten, Liebes, aber Oliver reitet mit jedem Tag besser. Er läßt es sich nicht nehmen, in aller Frühe aus den Federn zu kriechen und Vater zu begleiten. Ich bin sehr stolz auf unseren Sohn.«

»Wenn ich das schon höre«, antwortete Paola unwillig. »Sag bloß, Vater hat den Jungen schon wieder mitgenommen? Ihr denkt nur an euch. Wißt ihr überhaupt, welche Ängste ich ausstehe, wenn ich Oliver mit Vater unterwegs weiß? Oliver ist noch viel zu jung. Er sollte lieber mehr an die Schule denken. Wenn Vater schon nicht vernünftig ist, solltest du es wenigstens sein. Warum versteht ihr mich denn nicht? Ich habe doch nur dieses eine Kind.«

»Fang doch nicht schon wieder damit an, Paola. Du bist doch selbst auf dem Gut aufgewachsen. Ich kann dir nur wiederholen, was Vater dir schon oft gesagt hat. Deine Angst um Oliver ist völlig unbegründet. Wie soll aus dem Jungen später einmal ein richtiger Mann werden, wenn du ihn am liebsten in Watte packen würdest? Mit dreizehn Jahren ist Oliver schließlich kein Kind mehr. Du mußt endlich einsehen, daß das Reiten ihn glücklich macht. Er wird mit seiner Dicki sehr gut fertig. Die beiden verstehen sich, und außerdem ist Dicki lammfromm. Jetzt möchte ich über dieses Thema nicht länger mit dir diskutieren, und damit basta.«

Rüdiger verließ mit festen Schritten das Schlafzimmer und zog die Tür energisch hinter sich ins Schloß.

Der Gedanke, Oliver wieder mit dem Vater unterwegs zu wissen, ließ ihr Herz erneut heftig pochen. Sie stand auf und zog sich an. Obwohl Paola auf dem Gut aufgewachsen war, hatte sie schon immer Angst vor Pferden gehabt und noch nie auf dem Rücken eines dieser Tiere gesessen.

Auch an diesem Morgen flüchtete sie wie nach jeder Auseinandersetzung mit Rüdiger zu ihrer Vertrauten Hermine. Sie wurde von allen Menschen auf dem Gut liebevoll Minchen gerufen.

Die langjährige Wirtschafterin war schon seit Paolas Kindertagen deren Vertraute. Mit all ihren Ängsten und Problemen war sie immer nur zu Minchen gegangen, obwohl sie ihren Vater zärtlich liebte.

Minchen, fünfundfünfzig Jahre alt, gutmütig und mollig, sah mit prüfendem Blick in Paolas blasses Gesicht, als sie die Küche betrat. Bevor sie eine Frage stellen konnte, sagte Paola niedergeschlagen: »Was soll ich denn nur machen, Minchen? Du bist die einzige, die mich versteht. Ich habe mich schon wieder mit Rüdiger gestritten.«

»Weshalb läßt du es auch immer wieder soweit kommen, Mädchen? Du weißt doch, daß es nicht gut für dich ist, Rüdiger immer wieder darauf anzusprechen. Es haben nun mal nicht alle Menschen eine solche Angst vor Pferden wie du, die drei kommen doch ganz gut mit Pferden zurecht. Dein Vater und dein Mann werden schon aufpassen, daß dem Oliver nichts geschieht. Und Oliver ist ein vernünftiger Junge, alles andere als leichtsinnig. Schau mal, du hast jetzt fünf Jahre um Oliver gebangt, und es ist immer alles gutgegangen. Weshalb sollte sich das jetzt, wo er immer erwachsener wird, ändern? Du machst dich selbst mit deiner unbegründeten Furcht fertig. Du mußt dagegen ankämpfen. Eines Tages wird Oliver das Gut übernehmen. Er muß doch dazu mit Pferden umgehen und sie auch reiten können. Komm, setz dich zu mir und trink einen Kaffee mit mir. Bis die anderen frühstücken, haben wir eine halbe Stunde Zeit für uns. Es ist ja gerade erst halb sieben durch, und der Tisch ist auch schon fertig gedeckt.«

»Ach, Minchen, du bist doch immer noch die Allerbeste. Wenn ich dich nicht hätte… Ich komme einfach nicht gegen diese Angst an. Wenn ihr auch alle darüber schweigt, so weiß ich doch, daß Mutter durch einen Sturz vom Pferd ums Leben gekommen ist. So, jetzt weißt du, weshalb ich mein Leben lang Angst vor Pferden hatte.«

Betroffen sah Minchen Paola an.

»Mädchen, ich hatte ja keine Ahnung, daß du davon weißt. Es ist immerhin über dreißig Jahre her. Ich war damals selbst noch blutjung und gerade hier auf dem Gut. Wir haben immer bewußt vermieden, dir davon zu erzählen. Wer hat es dir gesagt?«

»Das spielt keine Rolle, Minchen, und genau könnte ich es dir auch nicht mehr sagen. Ich weiß nicht mehr, wo ich es gehört habe. Aber ich weiß es eben, und das schon sehr lange.«

»Es war ein Unglücksfall, und niemand kann behaupten, daß dieses Unglück sich an Oliver wiederholen könnte. Es fallen viele Reiter vom Pferd, das kann schon mal passieren. Aber in den allerseltensten Fällen verliert man dadurch sein Leben oder verletzt sich ernsthaft. Weshalb hast du nie mit mir darüber gesprochen? Vielleicht hätten dein Vater und dein Mann dadurch deine Angst eher verstanden, und diese ständigen Reibereien wären überflüssig geworden.«

»Ich glaube, das hätte auch nichts geändert, Minchen. Bitte, behalte es für dich.«

»Natürlich, darauf kannst du dich verlassen. Gib dir jedoch auch ein wenig Mühe und zeig Oliver nicht immer, daß du Angst um ihn hast. Trink deinen Kaffee aus, ich werde mich jetzt um das Frühstück kümmern.«

*

Es vergingen einige Tage, und Paola blieb still und in sich gekehrt. Am Donnerstag kam Oliver strahlend aus der Schule.

»Ich habe keine Hausaufgaben auf, Vati. Darf ich nachher mit Dicki ausreiten?«

»Darfst du, Oliver, aber erst nach dem Mittagessen, verstanden?«

»Klar doch, Vati. Wo ist denn Opa?«

»Opa ist im Stall. Er sieht nach Wanja. Sie wird vielleicht heute ihr Fohlen bekommen.«

»Ich geh mal hin, ja?«

»Nichts da, junger Mann, geh dir die Hände waschen. Minchen hat das Essen fertig. Opa wird zum Essen auch ins Haus kommen. Also marsch, du weißt, daß Mutti nicht gern wartet.«

»Ach, Vati, du hast mir aber versprochen, daß ich auch einmal zuschauen darf.«

»Darfst du auch, aber später, das hat noch Zeit.«

Mit leisem Maulen trollte Oliver sich.

Direkt nach dem Mittagessen zog es Oliver mit Gewalt zu Dicki, die ihn freudig wiehernd begrüßte.

»Oliver! Komm doch bitte noch einmal ins Haus!« drang da die Stimme seiner Mutter an sein Ohr.

Bittend sagte Oliver zu seinem Vater.

»Kannst du Dicki schon mal den Sattel auflegen? Ich muß noch mal kurz zu Mutti ins Haus.«

»Gut, ich mach das schon, Oliver. Geh nur, und laß Mutti nicht unnötig warten. Wenn du gleich wiederkommst, ist Dicki fertig, und du kannst sofort losreiten. Aber du kennst ja Mutti. Sei besonders vorsichtig, wenn du allein ausreitest, hörst du?«

»Klar, Vati, ich reite doch immer vorsichtig. Ich habe aber keine Angst wie Mutti.«

Schon drehte er sich um und rannte los.

Bevor Rüdiger jedoch damit fertig war, die Sattelgurte festzuziehen, rief der Stallknecht Jost aufgeregt aus einem der Pferdeställe: »Herr Knudsen, schnell, kommen Sie! Da stimmt mit der Wanja etwas nicht!«

Mitten in der Bewegung hielt Rüdiger inne und rannte mit ausgreifenden Schritten in das Innere des Pferdestalles.

»Warum hast du mich gerufen, Mutti? Ich wollte doch mit Dicki ausreiten.«

»Du wolltest, Oliver. Aber zuerst ziehst du dir etwas anderes an. Du willst ja wohl nicht mit den Schulsachen ausreiten, oder doch?«

»Entschuldige, Mutti, das habe ich glatt vergessen. Natürlich ziehe ich mich um.«

Schon eilte Oliver davon, um dem Wunsch der Mutter Folge zu leisten. Nur wenige Minuten später lief Oliver im Reitzeug auf den Hof zu seiner Dicki. Er stieg in den Sattel, ohne zu wissen, daß der Sattel noch nicht richtig fest war. Er winkte seiner Mutter und seinem Großvater noch zu, die gerade aus dem Haus traten, und preschte fröhlich davon.

An der geöffneten Stalltür rief Hagen Westerhoff: »Rüdiger! Jost! Wo seid ihr? Seid ihr im Stall?«

»Ja, Vater, wir sind hier hinten. Bitte, komm, wir brauchen Hilfe.«

Mit festen Schritten stapfte der hagere Mann mit dem vollen grauen Haar in den Stall, wo seine Hilfe dringend benötigt wurde. Mit äußerster Anstrengung gelang es den drei Männern, der Stute zu helfen, ihr Fohlen zur Welt zu bringen. Es war ein Hengstfohlen, und Hagen wünschte, daß Oliver ihm später einen Namen geben sollte.

Es war eine gute halbe Stunde vergangen, als Hagen Westerhoff und Rüdiger das Stallgebäude verließen.

Sie hörten ein Pferd herangaloppieren und wandten die Köpfe in die entsprechende Richtung.

»Da hat es aber jemand eilig«, bemerkte Rüdiger, »es wird ja wohl nicht Oliver sein, der da so wild heranprescht.«

Alarmiert sagte Hagen Westerhoff: »Merkwürdig, es ist doch nicht Olivers Art, seine Dicki so anzutreiben.«

In diesem Moment kam Dicki mit hängenden Zügeln und losem Sattel auf den Hof galoppiert, ohne Oliver.

Fassungslos starrte Rüdiger auf das Pferd. Siedendheiß fiel ihm ein, daß er mit der Sattelbefestigung noch gar nicht zum Ende gekommen war, als er so dringend zu Wanja gerufen wurde. Vor lauter Sorge um die fohlende Stute hatte er gar nicht mehr an Dicki gedacht.

»Rüdiger, der Junge…! Nicht auszudenken, wenn ihm etwas passiert ist! Komm, wir müssen uns sofort auf die Suche nach Oliver machen. Ich reite mit Jost, komm du bitte mit dem Wagen nach.«

»Was ist passiert? Weshalb kommt Dicki denn ohne Oliver zurück?« hörten die beiden Männer die beunruhigte Stimme Josts hinter sich.

»Reib Dicki trocken, Jost. Ich sattle in der Zwischenzeit Wotan und Albany. Wir müssen den Jungen suchen. Ihm muß etwas passiert sein.«

Jost nickte und begann, sich um die dampfende Dicki zu kümmern, während Hagen Westerhoff in den Stall lief.

Rüdiger hastete zum Haus, um die Wagenschlüssel zu holen. Ihm war schlecht vor Sorge um den Jungen, denn wenn ihm etwas passiert sein sollte, so trug er allein die Schuld. Er hoffte, von Paola unbemerkt das Haus wieder verlassen zu können, doch Paola kam schon die Treppe heruntergehastet.

»Wo ist Oliver? Ich habe vom Fenster aus gesehen, daß Dicki ohne ihn zurückgekommen ist. Was ist geschehen?«

Paolas Stimme war schrill vor Angst, und ihre Rechte krallte sich schmerzhaft in seinen Arm.

Energisch befreite Rüdiger sich aus dem schmerzhaften Griff seiner Frau, und ohne sich noch weiter um sie zu kümmern, hastete er mit langen Schritten aus dem Haus. Augenblicke später fuhr er vom Hof des Gutes.

*

Es war kein kleines Gebiet, das nach Oliver abgesucht werden mußte, doch Hagen kannte durch seine Morgenritte mit Oliver dessen Lieblingsplätze. Dahin strebten er und Jost nun, während Rüdiger mit dem Wagen nur auf den Wegen bleiben konnte. Doch Rüdiger fuhr so, daß er seinen Schwiegervater und den Stallknecht stets im Blickfeld hatte.

Knirschend biß Rüdiger die Zähne aufeinander. An die Möglichkeit, daß Oliver etwas passiert sein könnte, wollte er einfach nicht denken. Wie sollte er Paola sonst unter die Augen treten?

Plötzlich zuckte Rüdiger zusammen und hätte fast die Gewalt über sein Auto verloren. Heftig sah er seinen Schwiegervater winken. Gleich darauf stieg Hagen vom Pferd und beugte sich zur Erde.

Er hat Oliver gefunden, schoß es Rüdiger durch den Kopf, ihm ist etwas zugestoßen.

Kalter Schweiß brach ihm aus, er trat das Gaspedal durch, um schnell zur Stelle oben am Birkenwäldchen zu gelangen, von wo aus sein Schwiegervater ihm heftig zuwinkte.

Augenblicke später war er dort. Er brachte den Wagen zum Halten. Die letzten Meter mußte Rüdiger ein holpriges Stück Acker laufen, und er langte atemlos bei seinem Schwiegervater an.

Wie vom Schlag getroffen starrte er sekundenlang auf die leblose Gestalt am Boden hinunter.

»Nun tu doch was, Rüdiger!« herrschte Hagen seinen Schwiegersohn mit scharfer Stimme an.

Rüdiger fing sich wieder und kniete sich neben seinen Jungen. Er legte sein Ohr auf dessen Brust und horchte nach dem Herzschlag.

»Gott sei Dank, er lebt, Vater.«

»Das habe ich auch schon gemerkt. Wir müssen ihn in die Kinderklinik bringen. Das liegt am nächsten, und dort gibt es gute Ärzte. Ein Glück, daß du mit dem Wagen da bist. Ich weiß, daß es vielleicht nicht gut ist, wenn wir den Jungen transportieren, aber wir können ihn doch hier auch nicht einfach so liegenlassen und unnütze Zeit verstreichen lassen, bis der Krankenwagen da ist.«

»Du hast recht, wir bringen ihn gleich zur Klinik.«

Rüdiger hatte Oliver schon mit aller Vorsicht auf seine Arme gehoben. Immer noch war Oliver bewußtlos. Hagen nahm seinem Schwiegervater den Autoschlüssel ab und ging ihm voraus zum Auto.

*

In der Kinderklinik Birkenhain lief alles seinen gewohnten Gang. Niemand konnte sich von Kay und Hanna Martens Mitarbeitern über zu wenig Arbeit beklagen, denn das Haus war vollständig belegt. Das schöne Frühlingswetter wirkte sich auch auf die Gemüter des Personals aus. Der jungen Chefärztin schien es, als seien die Menschen um sie herum noch lebhafter, aufgeschlossener und fröhlicher als sonst ohnehin schon.

Der Frühling gab allen neue Kraft, neuen Auftrieb. Das kam ja auch den kleinen Patienten zugute.

Als Hanna an diesem Tag aus ihrer Mittagspause im Doktorhaus in die Klinik kam, wartete ihr Bruder Kay schon auf sie.

»Gibt es etwas Besonderes, Kay?« erkundigte sie sich bei ihm.

»Nein, das nicht, aber ich wollte dir sagen, daß ich im Laufe des Nachmittags noch nach Celle fahren werde, um etwas für die Fahrt zu unseren Eltern zu besorgen. Soll ich dir etwas mitbringen?«

»Du wolltest doch erst am Wochenende fahren. Weshalb diese Eile?«

»Was heißt hier Eile, Hanna? Erledigt ist erledigt. Du weißt ja selbst, wie schnell im Notfall unsere Pläne immer wieder über den Haufen geworfen werden. Zudem haben wir heute schon Donnerstag. Das Wochenende ist schneller da, als wir uns versehen. Also, brauchst du etwas?«

»Nein, danke. Aber es ist lieb von dir, daß du an mich gedacht hast. Ich muß jetzt gehen, mich bewegen. Wenn ich weiterhin jeden Mittag ins Doktorhaus hinübergehe und mich von der Füchsin verwöhnen lasse, dann werde ich aufgehen wie ein Hefekloß. Ich glaube mittlerweile fast, daß sie mich mästen will.«

In diesem Moment läutete auf Kays Schreibtisch das Telefon. Noch immer lächelnd nahm Kay den Hörer ab. Sein Gesicht wurde schlagartig ernst, und aufmerksam hörte er dem zu, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde.

»Ja, gut, ich weiß dann Bescheid. Wir werden das verletzte Kind erwarten. Vielen Dank für den Anruf.«

Kay legt den Hörer auf die Gabel zurück und blickte seine Schwester an. »Es gibt Arbeit für uns, Hanna. Meine Fahrt nach Celle werde ich wohl verschieben müssen.«

»Wer war das denn?«

»Der Anruf kam vom Gut Westerhoff. Es handelt sich bei dem verletzten Kind um einen dreizehnjährigen Jungen. Er ist von seinem Pferd geworfen worden. Der Mann am Telefon hörte sich sehr beunruhigt an. Er teilte uns mit, daß man mit dem Jungen auf dem Weg zur Klinik sei. Dann werden wir mal alle nötigen Vorbereitungen treffen. Der Mann konnte nicht sagen, um welche Verletzungen es sich handelt.«

Alles, was in solchen Fällen zu tun war, war durch das eingespielte Team rasch vorbereitet, und Hanna eilte nun in die Notaufnahme, um das verletzte Kind in Empfang zu nehmen. Als sie seinen Wagen an der Notfallaufnahme vorfahren hörten, eilten auch schon Schwester Dorte und der Pfleger Karsten mit der Trage hinaus. Hanna folgte ihnen mit raschen Schritten.