Nico ist krank vor Einsamkeit - Britta Frey - E-Book

Nico ist krank vor Einsamkeit E-Book

Britta Frey

5,0

Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Die Sonne schien durch einen schmalen Spalt ins Zimmer. Der Strahl fiel genau auf das Bett, in dem die junge Ärztin noch schlief. Sie schlug die Augen auf und fuhr hoch. Hanna Martens war es gewohnt, früh aufzustehen. Meistens ging sie noch vor dem Frühstück nach unten, um in der Kinderklinik nach dem Rechten zu sehen. Ihr fiel ein, daß Sonntag war. Lächelnd ließ sie sich zurückgleiten. Sie kuschelte sich zurecht und schloß die Augen. Einschlafen konnte sie nicht mehr. Der Sonnenstrahl kitzelte sie an der Nase, und sie dachte daran, daß Kay ihr versprochen hatte, an diesem freien Sonntag mit ihr den Wildpark zu besuchen. Hanna freute sich drauf. Energisch schlug sie die Decke zurück. Und als ihr Bruder die Küche betrat, roch es schon herrlich nach Kaffee. Trotzdem schnitt Dr. Kay Martens eine Grimasse. »Du machst einen Lärm, als müßtest du eine ganze Kompanie versorgen«, brummte er. »Griesgram, guten Morgen!« sagte Hanna ungerührt. Sie stellte gerade die frisch gerösteten Toastscheiben auf den Tisch.

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Kinderärztin Dr. Martens Classic – 5 –

Nico ist krank vor Einsamkeit

Mama und Papa haben niemals Zeit für mich

Britta Frey

Die Sonne schien durch einen schmalen Spalt ins Zimmer. Der Strahl fiel genau auf das Bett, in dem die junge Ärztin noch schlief. Sie schlug die Augen auf und fuhr hoch. Hanna Martens war es gewohnt, früh aufzustehen. Meistens ging sie noch vor dem Frühstück nach unten, um in der Kinderklinik nach dem Rechten zu sehen. Ihr fiel ein, daß Sonntag war. Lächelnd ließ sie sich zurückgleiten. Sie kuschelte sich zurecht und schloß die Augen. Einschlafen konnte sie nicht mehr. Der Sonnenstrahl kitzelte sie an der Nase, und sie dachte daran, daß Kay ihr versprochen hatte, an diesem freien Sonntag mit ihr den Wildpark zu besuchen.

Hanna freute sich drauf. Energisch schlug sie die Decke zurück. Und als ihr Bruder die Küche betrat, roch es schon herrlich nach Kaffee. Trotzdem schnitt Dr. Kay Martens eine Grimasse. »Du machst einen Lärm, als müßtest du eine ganze Kompanie versorgen«, brummte er.

»Griesgram, guten Morgen!« sagte Hanna ungerührt. Sie stellte gerade die frisch gerösteten Toastscheiben auf den Tisch. »Hast du schon auf die Uhr gesehen?«

»Es ist Sonntag!« Kay gähnte ungeniert, dann glättete er sich mit beiden Händen sein welliges, dunkles Haar.

»Genau!« mit blitzenden Augen nahm die Fachärztin für Kinderheilkunde vor ihm Aufstellung. »Und für diesen Tag hast du mir etwas versprochen.«

Kay lächelte. Seine Schwester strahlte bereits so viel gute Laune aus, er konnte sich ihr nicht entziehen. So schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Richtig, heute steht ein Ausflug auf dem Programm. Wir wandern nicht nur durch die Heide, wir besuchen auch den Wildpark. Keine Sorge, Schwesterherz, ich halte mein Versprechen! Ich bin gleich zurück.«

Wenig später hörte Hanna das Plätschern der Dusche. Sie trat ans Fenster und sah hinaus. Von hier aus sah man weit hinein in die Heide. Dieser Anblick faszinierte sie noch immer. Sie hatte es noch keine Sekunde bereut, daß sie sich zusammen mit ihrem Bruder dazu entschlossen hatte, mitten in der Lüneburger Heide eine Kinderklinik zu eröffnen. In dem Birkenschlößchen hatten sie einen wunderschönen Platz dafür gefunden. So hatten sie das Schlößchen umgebaut, und daraus war die Kinderklinik Birkenhain geworden. Sie und Kay waren gleichberechtigte Leiter. Das schönste war, daß sie sich nicht nur beruflich ausgezeichnet verstanden.

»Hallo, Schwesterchen, träumst du?« Bereits völlig angekleidet erschien der vierunddreißigjährige Kinderchirurg wieder in der Küche. »Los, los! Nun stecke auch ich voller Tatendrang.«

»Bitte!« Hanna hatte sich ihrem Bruder zugedreht, mit einer einladenden Geste wies sie auf den gedeckten Tisch. »Wie immer sorge ich für dein leibliches Wohl.«

»Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde!« Zufrieden ließ Kay sich am Frühstückstisch nieder. Er streckte die Beine von sich, besann sich dann aber und griff nach der Kaffeekanne. Er füllte zuerst Hannas Tasse, dann die seine. Unter munterem Geplänkel begannen die beiden zu frühstücken. Das Klingeln des Telefons riß sie aus der Sonntagsstimmung. Sie sahen sich an. Beide wußten, was dies bedeuten konnte.

»Ich gehe schon«, sagte Kay. Er zögerte auch keine Sekunde mehr, sondern eilte hinaus in den Flur. Hanna begann den Tisch abzuräumen. Wenig später stand Kay wieder in der Tür.

»Wir müssen operieren«, sagte er. »Jedenfalls meint dies Kollege Frerichs. Du weißt, er hat heute Dienst.«

»Du meinst doch nicht den kleinen Frank?«

Kay nickte. »Offensichtlich ist die Appendizitis fortgeschritten. Unser Assistenzarzt befürchtet einen Durchbruch.«

»Ich habe gestern schon vermutet, daß es sich um eine Blinddarmentzündung handelt«, meinte Hanna. Sie wählte den im allgemeinen Sprachgebrauch üblichen Ausdruck. »Nur gut, daß wir noch nicht unterwegs sind.«

»Ich wäre vorher sowieso noch einmal auf die Station gegangen und hätte nach Frank gesehen. Auch mir schien es wie ein Wunder, daß die akuten Schmerzen plötzlich aufhörten. Die Operation wird nicht einfach, der Junge ist erst vier Jahre alt.«

»Ich weiß! Gestern habe ich noch über eine Stunde an seinem Bett gesessen. Geh schon, ich komme gleich nach.«

Kay nickte, dabei bedachte er seine Schwester mit einem warmen Blick. Er wußte, daß sie sich auf den Sonntagsausflug gefreut hatte. Kein Wort der Klage darüber, daß dieser nun ins Wasser fiel. Sie war sofort bereit zur Hilfe.

Der kleine Frank war bereits ins Untersuchungszimmer gebracht worden. Wimmernd lag er da. Schwester Trude, die liebevoll auf ihn einsprach, beachtete er gar nicht.

»Er scheint arge Schmerzen zu haben«, sagte der junge Assistenzarzt mit besorgter Miene. »Hoffentlich ist es noch nicht zum Durchbruch gekommen.«

Schwester Trude trat zur Seite, sie machte so dem Chef Platz. »Es ist meine Schuld«, klagte sie sich selbst an. »Ich habe Frank nicht ernst genommen. Er wollte den Tee nicht trinken, hat nach seiner Mama geweint.«

»Schon gut, Schwester Trude, wir haben alle gehofft, daß der Kleine nur zu viel unreife Äpfel gegessen hat.« Der Kinderchirurg beugte sich über den Jungen. Seine Hände betasteten den Bauch.

»Mami«, jammerte der Kleine.

»Guten Morgen, Frank!« Unbemerkt von den Anwesenden hatte Dr. Hanna Martens den Untersuchungsraum betreten. Dem Assistenzarzt und der Schwester nickte sie kurz zu. Bei ihrer Stimme hatte Frank den Kopf gewandt. Sein zaghaftes Lächeln erlosch sofort wieder.

»Es tut so weh, so weh! Tante Doktor, jetzt mußt du meine Mami rufen.«

Hanna unterdrückte einen Seufzer. Es war die Großmutter gewesen, die Frank gestern abend noch in die Klinik gebracht hatte. Liebevoll strich sie dem Kleinen durch das weizenblonde Haar. »Du bist sehr tapfer«, meinte sie. »Deine Omi und deine Mami können sehr stolz auf dich sein.«

»Dann kommt Mami aber auch zu mir?« Die großen Augen des Jungen waren auf die Ärzte gerichtet, sie füllten sich mit Tränen.

Was sollte sie sagen? Die Großmutter des Kleinen hatte ihr erzählt, daß Frank seit zwei Monaten bei ihr lebte, da sich seine Eltern getrennt hatten. Da Frank in den letzten Tagen öfter über Bauchschmerzen geklagt hatte, hatte sie versucht, ihre Tochter in der Stadt zu erreichen, aber sie hatte mit ihren Versuchen keinen Erfolg gehabt.

»Ich werde auch immer ganz brav sein«, sagte Frank, und die Tränen rollten ihm jetzt über die Wangen. »Au!« rief er dann. Dr. Kay Martens hatte fester zugedrückt. Jetzt richtete er sich wieder auf.

»Ich werde operieren! Hanna, würdest du assistieren? Und Schwester Trude, bitte sehen Sie zu, ob Sie Dr. Dirksen erreichen können.« Sein Blick heftete sich auf den Assistenzarzt. »Wenn sie nicht zu erreichen ist, müssen Sie die Anästhesie vornehmen.«

Hartmut Frerichs nickte. »Ich habe so etwas schon befürchtet.«

»Geht schon«, drängte Hanna. »Ich kümmere mich inzwischen um den Kleinen.« Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben die Liege. Die Hand des Kindes behielt sie in der ihren. »Frank, du mußt mir jetzt gut zuhören. Der Onkel Doktor wird gleich nachsehen, was in deinem Bauch los ist.« Sie sah die Angst in seinen Augen, tätschelte ihm die Wange. »Ich verspreche dir, daß du davon nichts spürst. Du wirst einschlafen.«

»Wirst du dem Onkel Doktor helfen?« Fest umklammerte der Kleine die Hand der Ärztin.

»Ja, das werde ich tun, und dann werde ich an deinem Bettchen sitzen bleiben, bis du wieder aufwachst.« Hanna lächelte. Sie hatte sich bereits gestern lange mit dem Kind unterhalten und so sein Vertrauen gewonnen.

»Du gehst wirklich nicht weg?«

»Nur für ein paar Minuten. Ich will deine Omi anrufen. Sie muß doch wissen, was mit dir passiert ist.«

Trotz seiner Schmerzen nickte der Kleine jetzt ernsthaft. »Omi kommt mich ganz sicher besuchen. Und Mami, rufst du die auch an?«

»Frank…«‚ begann Hanna ganz vorsichtig, doch da drehte der Kleine bereits den Kopf zur Seite. Er schluchzte. »Mami ist weggefahren. Sie hat mich vergessen.«

Seine Worte schnitten Hanna ins Herz. Spontan beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Dann kam auch schon Schwester Trude zurück und berichtete, daß im OP bereits alles hergerichtet sei. Die Ärztin hob den kleinen Patienten eigenhändig auf die fahrbare Liege. Während er in den OP hinübergerollt wurde, sprach sie noch liebevoll mit ihm.

*

Nico Möller schlich mit gesenktem Kopf durch das Haus. Er hatte sich auf den Sonntag gefreut. Nun verkroch er sich in seinem Kinderzimmer. Mit seinem Teddybären im Arm stieg er wieder ins Bett. Dort stöberte ihn das Kindermädchen auf. Entsetzt schlug es die Hände zusammen.

»Nico, was tust du bloß? Wie kannst du nur angezogen wieder ins Bett gehen?«

Der fünfjährige Junge antwortete nicht, er kroch nur noch tiefer unter die Decke. Energisch zog Gudrun Jung die Bettdecke zurück. »Was soll das? Ich suche dich bereits seit einiger Zeit. Wir wollen doch einen Spaziergang machen.«

»Ich bin müde!« Enger zog Nico seinen Bären an sich.

Gudrun bekam Mitleid mit dem Kleinen. Zusammengekrümmt, wie ein Häufchen Elend lag er im Bett. Sie strich ihm über den blonden Lockenkopf. »Nico, schlafen kannst du nach dem Mittagessen. Jetzt wollen wir hinaus an die frische Luft. Die Sonne scheint.« Sie strich ihm über die Wange. »Du siehst in letzter Zeit so blaß aus.«

»Ich will nicht spazierengehen! Ich will in den Wildpark.« Trotzig blitzten die blauen Augen jetzt Gudrun, an.

»Aha!« Gudrun verstand. Sie setzte sich auf den Bettrand. »Nico, du bist doch ein vernünftiger kleiner Junge. Heute geht es nicht. Dein Papi und deine Mami müssen arbeiten. Sie sind in die Firma gefahren.«

»Sie haben es mir aber versprochen.« Jetzt füllten sich die blauen Augen mit Tränen.

Gudrun nahm den Kleinen in die Arme. »Deine Mami hat auch gesagt, daß es nächsten Sonntag ganz sicher der Fall sein wird. Da macht ihr dann einen Ausflug in die Heide.« Sie fuhr mit der Hand unter sein Kinn, hob so sein Köpfchen an. »Das hat deine Mami doch ganz fest versprochen.«

»Ich glaube es nicht!« Nico bäumte sich auf, er entzog sich den Armen des Kindermädchens. »Mami und Papi lügen!«

»Nein, sie haben nur sehr viel Arbeit. Du weißt doch, daß sie dem Opa helfen.«

»Ich mag Opa nicht!« Mit einer heftigen Bewegung warf Nico sich aufs Bett zurück. »Ich mag auch das Pony nicht, das Opa mir geschenkt hat.«

Gudrun unterdrückte einen Seufzer. Nico gab nicht zu Unrecht dem Großvater die Schuld, daß seine Eltern kaum für ihn Zeit hatten. Gustav Tilden war der Besitzer einer Elektrofirma, und seine Tochter und sein Schwiegersohn waren leitende Angestellte in dieser Firma.

»Es ist ein ganz liebes Pony«, versuchte Gudrun ihn zu trösten. »Wenn du willst, können wir ihm Zucker bringen.«

»Na gut!« Nico richtete sich auf. »Das Pony ist lieb«, gab er zu. »Es freut sich immer, wenn ich komme.«

»Dann wollen wir ihm doch die Freude machen und es besuchen.«

Nico nagte an seiner Unterlippe. »Ist es sonst traurig?« fragte er.

Gudrun nickte.

»Ich habe ihm aber nicht versprochen zu kommen. Ich wollte heute doch in den Wildpark«, meinte Nico.

»Nächsten Sonntag klappt es ganz bestimmt. Da haben deine Mami und dein Papi den ganzen Sonntag für dich Zeit.« Gudrun erhob sich. Sie streckte ihm die Hand hin. »Dann wollen wir jetzt zum Pony gehen. Wenn du willst, kannst du auch auf ihm sitzen. Deine Mami will zum Mittagessen nach Hause kommen. Du kannst ihr dann erzählen, was du alles getan hast.«

Jetzt hatte Gudrun die richtigen Worte gefunden, der Kleine rutschte vom Bett. »Ich will nicht nur aufsitzen, ich will richtig reiten. Mami wird staunen, wenn ich ihr das erzähle.« Unternehmungslustig begannen seine Augen zu glänzen.

»Einverstanden«, stimmte Gudrun erleichtert zu. »Du mußt mir dann aber auch helfen, dem Pony den Sattel aufzulegen.«

»Das mache ich! Ich kann es! Das letzte Mal hat es mir Gottlieb gezeigt.«

Gudrun lächelte. Sie holte ein Taschentuch hervor, putzte Nico die Nase. Der Vormittag schien gerettet. Sie konnte den Kleinen gut verstehen. Der Ausflug in den Wildpark war von seinen Eltern nun schon zum zweiten Mal verschoben worden. Bereits vorigen Sonntag hatte es deswegen viele Tränen gegeben.

Gudrun, die gerade erst zwanzig Jahre alt geworden war, fühlte mit dem Kleinen. Sie ärgerte sich über das Ehepaar Möller, das nicht einmal sonntags Zeit für seinen Jungen fand. Dabei war Nico ein entzückendes Kind. Mit seinen blonden Locken und den blauen Augen sah er wie ein Engelchen aus. Er war ein aufgeweckter Junge, für sein Alter sehr reif und trotzdem anschmiegsam.

Während Gudrun Jung mit dem Jungen hinaus auf die Weide ging, saß seine Mutter in der Firma hinter ihrem Schreibtisch und war bemüht, eine Statistik auszuwerten. Sie war so vertieft in ihre Arbeit, daß sie Zeit und Raum vergaß. Erst das Schließen der Tür ließ sie hochfahren. Ihr Vater nickte ihr zu.

»Gut, daß ich dich antreffe. Ich möchte mit dir und Lutz etwas besprechen. Könnten wir zusammen essen gehen?«

Seine Tochter runzelte die Stirn. »Ist es schon so spät?« Sie sah auf die Uhr und erschrak. »Ich wollte mittags zu Hause sein.«

»Ruf an und sag, daß du noch zu tun hast«, schlug Gustav Tilden vor.

»Ich habe es aber versprochen. Nico war sehr enttäuscht, daß wir mit ihm heute wieder nicht in den Wildpark gegangen sind.« Astrid Möller war unentschlossen. »Wahrscheinlich haben sie bereits gegessen.«

»Anschließend hält dein Sohn seinen Mittagsschlaf«, brummte Gustav Tilden. »Das kann er auch ohne dich tun. Astrid, es ist wirklich wichtig. Es geht um das Zweigwerk in Amerika. Ich möchte euch da einen Vorschlag machen.«

»Wenn es sein muß! Ich bin hier auch noch nicht fertig. Dabei ist diese Statistik sehr wichtig. Du mußt sie dir unbedingt einmal ansehen. Einen Moment, Papa, ich rufe nur rasch zu Hause an.« Astrid griff nach dem Telefonhörer.

»Es tut mir leid«, sagte sie, als sich das Kindermädchen meldete. »Ich muß noch etwas mit meinem Vater besprechen. Daher werde ich mit ihm zu Mittag essen. Geben Sie Nico ein Küßchen von mir. Ich werde versuchen, zu Hause zu sein, wenn er seinen Mittagsschlaf beendet hat.«

»Na, siehst du«, meinte Gustav Tilden zufrieden, als seine Tochter den Hörer auf die Gabel zurücklegte. »Nun haben wir Zeit. Wir können in Ruhe alles besprechen, damit ist dein Mann sicher auch einverstanden.«

»Dann wollen wir uns beeilen, ich möchte wirklich nicht zu spät nach Hause kommen.«

»Ich weiß nicht, was du willst«, murrte der Fabrikbesitzer. »Dein Sohn ist doch bei dieser Gudrun gut aufgehoben. Wie ich mich selbst überzeugen konnte, ist dieses Mädchen zwar noch sehr jung, aber sie ist sehr nett.«

»Stimmt! Wir haben auch lange gebraucht, um jemanden zu finden, den Nico mag.« Sie seufzte. »Nico kann sehr eigensinnig sein.«

Gustav Tilden hatte nicht die Absicht, sich über seinen Enkel zu unterhalten. Ein anderes Problem brannte ihm unter den Nägeln, also wehrte er ab: »Nico ist schon in Ordnung. Er ist ein intelligentes Bürschchen, um ihn brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Das tue ich aber!« Astrid faltete ihre Hände im Schloß. »Ich sollte mehr Zeit für ihn haben.«

Gustav Tilden zuckte die Achseln. Für ihn gab es nur die Firma. »Ich sehe nach deinem Mann. In einer halben Stunde holen wir dich dann zum Essen ab.« Ehe seine Tochter noch etwas sagen konnte, zog er sich zurück.

*

Astrid Möller legte die Karte, die ihr der Kellner gereicht hatte, zur Seite. »Ich möchte nicht viel essen, nur eine Kleinigkeit«, sagte sie.

»Du mußt dir schon Zeit nehmen«, rügte ihr Vater. »Ich sagte doch, daß ich mit euch etwas zu besprechen habe.«

»Du mußt dir nur anhören, was Papa zu sagen hat. Es ist sehr interessant«, meinte auch Lutz.

»Ach so! Er hat mit dir schon gesprochen?« Astrid sah ihrem Mann ins Gesicht. Erst jetzt fiel ihr auf, wie aufgekratzt er war.

»Kinder, zuerst wollen wir bestellen«, mischte sich Gustav Tilden ein. »Ihr seid natürlich meine Gäste.«

Astrid zuckte die Achseln, sie ergab sich in ihr Schicksal. Allerdings war sie nun doch neugierig geworden. Sobald der Kellner den Tisch verlassen hatte, fragte sie: »Willst du mir nicht verraten, worum es geht, Pa?«

Gustav Tilden räusperte sich: »Es geht um das Zweigwerk in den USA. Du hast dich damit noch nicht befaßt. Lutz dagegen war schon zweimal dort. Er kann meinen Ausführungen daher besser folgen.«

»Na gut, dann hätte ich ja nach Hause gehen können.« Ärgerlich zerknüllte Astrid ihre Serviette. Ihre Laune war nicht die beste. Sie hatte wegen Nico ein schlechtes Gewissen. Heute hatte sie sich wirklich um ihren Sohn kümmern wollen, doch die Woche über hatte sie so viel zu tun gehabt, daß die Statistik, an der sie arbeitete, liegengeblieben war.

Lutz griff über den Tisch und legte seiner Frau die Hand auf den Arm. »Nur langsam! Es geht dich sogar sehr viel an. Ich will gleich vorausschicken, daß ich von dem Vorschlag deines Vaters begeistert bin. Diese Aufgabe reizt mich wirklich.«

»Tut mir leid!« Astrid entzog ihm ihren Arm. »Ich verstehe kein Wort.«

»Gleich, mein Kind«, mischte sich wieder ihr Vater ein. »Wir wollen zuerst in Ruhe essen. Du weißt, ich halte sehr viel von einem guten Essen.«

Astrid seufzte. Essen war wirklich die einzige Leidenschaft, der sich ihr Vater noch hingab. Seit dem Tod ihrer Mutter – und dies war nun schon zehn Jahre her – hatte er nur die Fabrik im Kopf. Durch seinen Einsatz liefen die Geschäfte blendend. Oft hatte Astrid ihn in Verdacht, daß er im Büro übernachtete.

Das Essen wurde schweigend eingenommen, alle drei hingen ihren Gedanken nach. Hin und wieder sah Astrid ihren Mann an. Sie war beunruhigt. Ihr wurde auch bewußt, daß sie in letzter Zeit kaum Zeit füreinander gehabt hatten. Jeder ging seiner Arbeit nach. Wenn sie einmal früh nach Hause kam, dann hatte er sicher länger im Büro zu tun. Nicht, daß sie sich beklagen wollte, sie liebte ihre Arbeit, ihre Selbständigkeit. Um nichts in der Welt hätte sie diese gegen ein biederes Hausfrauendasein eingetauscht.

Gustav Tilden schob den Teller zurück, er zündete sich eine Zigarre an. Sofort sah seine Tochter auf die Uhr. »Schon gut, mein Kind!« Er räusperte sich. »Ich werde jetzt zur Sache kommen.« Heftig zog er an der Zigarre, paffte eine dicke Rauchwolke in den Raum.

»Wie du weißt, schätze ich deinen Mann sehr. Du hast mit ihm wirklich eine gute Wahl getroffen.«