E-Book 41- 50 - Britta Frey - E-Book

E-Book 41- 50 E-Book

Britta Frey

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Beschreibung

Sie ist eine bemerkenswerte, eine wirklich erstaunliche Frau, und sie steht mit beiden Beinen mitten im Leben. Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Alle Kinder, die sie kennen, lieben sie und vertrauen ihr. Denn Dr. Hanna Martens ist die beste Freundin ihrer kleinen Patienten. Der Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Es gibt immer eine Menge Arbeit für sie, denn die lieben Kleinen mit ihrem oft großen Kummer wollen versorgt und umsorgt sein. Für diese Aufgabe gibt es keine bessere Ärztin als Dr. Hanna Martens! Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen extrem liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! E-Book 41 - Krank vor Sehnsucht E-Book 42 - Sein größter Wunsch: Geborgenheit E-Book 43 - Wie Vater und Sohn E-Book 44 - Brüderchen und Schwesterchen E-Book 45 - Das Glück auf dem Christinenhof E-Book 46 - Wer hat Kirie gesehen? E-Book 47 - Rettung in letzter Minute E-Book 48 - Mein Bruder ist ein Held E-Book 49 - Deine Mami, du und ich E-Book 50 - Die vertauschte Tochter E-Book 1: Krank vor Sehnsucht E-Book 2: Sein größter Wunsch: Geborgenheit E-Book 3: Wie Vater und Sohn E-Book 4: Brüderchen und Schwesterchen E-Book 5: Das Glück auf dem Christinenhof E-Book 6: Wer hat Kirie gesehen? E-Book 7: Rettung in letzter Minute E-Book 8: Mein Bruder ist ein Held E-Book 9: Deine Mami, du und ich E-Book 10: Die vertauschte Tochter

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Inhalt

E-Book 41- 50

Krank vor Sehnsucht

Sein größter Wunsch: Geborgenheit

Wie Vater und Sohn

Brüderchen und Schwesterchen

Das Glück auf dem Christinenhof

Wer hat Kirie gesehen?

Rettung in letzter Minute

Mein Bruder ist ein Held

Deine Mami, du und ich

Die vertauschte Tochter

Kinderärztin Dr. Martens – Staffel 5 –

E-Book 41- 50

Britta Frey

Krank vor Sehnsucht

Ein elternloses Mädchen will nicht im Kinderheim leben

Roman von Frey, Britta

Mit ernstem Gesicht legte Cordula Wittmer den Hörer auf die Gabel zurück. Sie hatte gerade einen Anruf vom Jugendamt erhalten, in dem ihr ein Neuzugang angekündigt worden war.

Cordula Wittmer war die Leiterin des Kinderheimes »Haus Maria«. Sie war eine mittelgroße sechsundvierzig­jährige Frau mit dunklen, kurzgeschnittenen Haaren. Sie liebte Kinder sehr, und schon von Jugend an – sie war selbst elternlos aufgewachsen, war es ihr Anliegen gewesen, für Kinder dazusein, die einsam und verlassen waren. Cordula Wittmer war eine sehr warmherzige und mütterliche Frau, und sie besaß die Zuneigung der elternlosen oder von den Eltern vernachlässigten Kinder, die im Kinderheim lebten.

Durch das geöffnete Fenster ihres Büros drangen die hellen und fröhlichen Stimmen der spielenden Kinder an ihr Ohr.

Für Sekunden huschte ein weiches Lächeln über Cordulas Gesicht. Liebe und Zärtlichkeit, es war doch im Grunde gar nicht schwer, damit ein bißchen Glück in die Kinderherzen zu bringen. Und nun würde in kurzer Zeit schon wieder so ein armes Hascherl ins Heim gebracht und ihrer Obhut unterstellt.

Cordula Wittmer stand auf und trat an das geöffnete Fenster.

»Marion, kommen Sie doch bitte einen Augenblick in mein Büro!« rief sie einer jungen Kindergärtnerin zu, die mit ihrer Kollegin die spielenden Kinder beaufsichtigte.

»Ich komme sofort!« antwortete Marion Bruck, ein schlankes Mädchen.

Sie sagte etwas zu den Kindern, mit denen sie sich beschäftigt hatte, und kam auf das Haus zugeeilt.

Augenblicke später betrat sie Cordula Wittmers Büro und fragte: »Sie wünschen, Frau Wittmer?«

»Ich hatte vor wenigen Minuten einen Anruf vom Jugendamt, Marion. Wir bekommen noch heute einen Neuzugang. Erinnern Sie sich an den Artikel von dem schweren Verkehrsunfall, der vor fünf Tagen in der Zeitung stand?«

»Ja, natürlich. Es war doch ein junges Ehepaar, das dabei sein Leben lassen mußte.«

»Genau, Marion. Dieses Ehepaar hinterließ ein fünfjähriges Töchterchen. Da keine Verwandten auffindbar sind, wird man uns die Kleine, Annelie Feldner heißt sie, noch heute im Laufe des Nachmittags bringen. Das Mädchen ist gerade erst fünf geworden, und ich denke, daß ich es in Ihre Gruppe gebe. Versuchen Sie, dem Kind die Eingewöhnung so leicht wie möglich zu machen.«

»Selbstverständlich, Frau Wittmer. Wir werden es schon schaffen, daß es sich einlebt und sich auch wohl fühlt. In welches Zimmer soll es kommen?«

»Zimmer acht, zu Bettina und Ann-Christin. Ich werde unserem Hausmeister gleich die Anweisung geben, noch ein weiteres Bett in Zimmer acht zu stellen. Bereiten Sie dann alles andere vor. Ulla kann ja in der Zwischenzeit Ihre Gruppe übernehmen.«

»In Ordnung, ich sage Ulla rasch Bescheid.«

*

Die Kinder saßen im Speiseraum beim Mittagessen, als draußen ein Wagen hielt und der Fahrer durch anhaltendes Hupen auf sich aufmerksam machte.

Cordula Wittmer horchte auf und verließ den Speiseraum. Sie gab Marion ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Das wird Frau Olisch vom Jugendamt mit dem kleinen Mädel sein. Bitte, gehen Sie öffnen und führen Sie Frau Olisch mit der Kleinen ins Büro.«

Als Marion die Eingangstür öffnete, sah sie eine ältere Frau auf die Tür zukommen, die ein kleines, sich sträubendes Mädchen hinter sich herzog.

»Guten Tag, Frau Olisch, Frau Wittmer erwartet Sie in ihrem Büro«, sagte Marion höflich.

»Guten Tag, Marion. Sie glauben gar nicht, wie froh ich bin, die Kleine endlich hier abliefern zu können. Es war ein schönes Stück Arbeit, das können Sie mir glauben. Es ist schon ein Jammer, daß es keine Angehörigen gibt.«

Marion streckte dem kleinen Mädchen ihre Hand entgegen und sagte lächelnd: »Du bist also die Annelie Feldner. Ich bin Marion. Willst du mir nicht guten Tag sagen?«

Heftig schüttelte die Fünfjährige den Kopf und versteckte trotzig ihre freie Hand hinter ihrem Rücken.

»Sie ist wie ein verschrecktes Vögelchen und genauso widerspenstig, Marion«, flüsterte die Beamtin Marion leise zu.

»Es macht nichts, wir sind es ja von Neuzugängen gewohnt, Frau Olisch«, gab Marion ebenso leise zurück. »Wenn Sie mir bitte mit dem Kind in Frau Wittmers Büro folgen würden.«

Ohne auf die Abwehr der Fünf­jährigen einzugehen, faßte Marion nach ihrer Hand und sagte freundlich: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Annelie. Hier bei uns sind sehr viele Kinder, mit denen du jeden Tag spielen darfst. Und wir zwei werden uns schon vertragen, nicht wahr?«

»Ich will aber nicht hierbleiben, ich will zu meiner Mami und zu meinem Vati.«

Marion wollte die Kleine, die sich wie gehetzt umsah, weiter beruhigen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür des Büros und Cordula Wittmer stand in der Tür.

»Guten Tag, Frau Wittmer, hier bringe ich Ihnen das Mädchen.«

Cordula Wittmer kam nicht dazu, das kleine Mädchen zu begrüßen. Mit einem Ruck riß es sich los und lief davon.

»Kümmern Sie sich um das Kind, Marion. Ich erledige inzwischen mit Frau Olisch den Papierkram. Sie werden Annelie schon zur Vernunft bringen. Weit wird sie ohnehin nicht laufen. Kommen Sie bitte in mein Büro, Frau Olisch, damit wir es hinter uns bringen.«

Cordula Wittmer sah, daß Marion die Kleine erreicht hatte, und sie wußte, daß sie ohne Störung die schriftlichen Dinge erledigen konnte. Sie führte Frau Olisch in ihr Büro und wollte dann zuerst wissen: »Ist diese Tasche da das einzige Hab und Gut des Mädchens?«

»Nein, es sind noch zwei Koffer draußen im Wagen. Ich lasse sie gleich durch den Fahrer holen. Die Wohnung des Ehepaares Feldner werden wir im Laufe des Monats auflösen, die Möbel versteigern. Der Erlös kommt auf ein Sperrkonto, das dem Mädchen später zur Verfügung stehen wird.«

Als alle Formalitäten erledigt waren, fragte Cordula Wittmer: »Sie bringen mir Annelie Feldner sehr früh. Wäre es für das Kind nicht besser gewesen, wenn es noch einige Tage länger bei der Nachbarin der Eltern geblieben wäre? Ich meine, es wäre dann vielleicht eher mit dem Verlust fertig geworden. Immerhin wird diese Frau dem Kind doch in etwa vertraut gewesen sein.«

»Uns wäre es auch lieber gewesen, doch die Nachbarin ist eine Frau von über fünfundsechzig Jahren. Sie wurde mit der Annelie nicht fertig. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das Mädel in Ihre Obhut zu überstellen. Hier sind mehr Kinder in Annelies Alter.«

Cordula Wittmer war da nicht so sicher, doch sie behielt ihre Meinung für sich. Sie wußte so oder so, sie kannte es aus ihrer jahrelangen Erfahrung, daß auf sie und die Helferinnen im Heim keine leichte Zeit zukommen würde.

Es dauerte auch nur einige Minuten und Frau Olisch verabschiedete sich.

Cordula Wittmer ging noch mit hinaus, um von dem Fahrer die Koffer mit den Habseligkeiten des Mädchens ins Haus bringen zu lassen. Danach wollte sie sehen, wo Marion mit dem Mädel geblieben war.

Marion war hinter Annelie hergelaufen und hatte sie noch vor der Eingangstür eingeholt.

»Du kannst doch nicht einfach fortlaufen, kleiner Spatz. So geht es nicht. Weißt du was, wir gehen jetzt zu den anderen Kindern, die gerade zu Mittag essen. Du hast doch sicher auch Hunger, nicht wahr?«

Mit einem beruhigenden Lächeln faßte Marion nach Annelies Hand und ging mit ihr in den großen Speiseraum, wo die Kinder inzwischen beim Nachtisch angelangt waren.

Marion ging mit der Kleinen an den Tisch, an dem auch Bettina und Ann-Christin saßen, mit denen sie in Zukunft das Zimmer teilen würde. Sanft sagte sie: »Schau, das sind Bettina und Ann-Christin. Sie sind genauso alt wie du, und sie sind schon eine ganze Weile bei uns. Du wirst mit ihnen in einem Zimmer schlafen. Und ihr beiden, wollt ihr Annelie nicht begrüßen?«

»Willst du dich hier neben mich setzen, Annelie? Ich gebe dir auch von meinem Wackelpudding ab. Ich heiße Ann-Christin. Brauchst keine Angst zu haben. Hier sind alle lieb und nett. Wirst schon sehen.«

Die stupsnäsige Ann-Christin schob ihr Puddingschälchen quer über den Tisch auf Annelie zu.

»Ich mag deinen Pudding nicht. Ich will auch nicht hierbleiben. Ich will zu meiner Mami und zum Papi.«

Tränen rollten über die Wangen, der Fünfjährigen.

»Nicht weinen, kleiner Spatz. Du weißt doch, daß du nicht zu deiner Mami und zu deinem Vati kannst.« Liebevoll beugte sich Marion zu Annelie hinunter und wollte ihr mit einem Tuch die Tränen abtupfen.

»Ich will aber, ich will aber. Es ist überhaupt nicht wahr, was die Oma Buchan gesagt hat. Es stimmt nicht, daß man sie totgefahren hat. Ich will zu meiner Mami.«

Marion war innerlich doch ziemlich betroffen von diesem jähen Ausbruch der Fünfjährigen. Wenn wirklich jemand sich dem Kind gegenüber so geäußert hatte, so war das mehr als gedankenlos gewesen.

Marion konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mensch mit voller Absicht so grausam sein konnte. Ein paar Sekunden wußte sie nicht so recht, wie sie nun reagieren sollte, dann aber fuhr sie der Kleinen über den schwarzen Lockenkopf und sagte weich: »Wir beiden gehen jetzt erst einmal in dein neues Zimmer, Spatz, damit ich dir gleich zeigen kann, in welchem Bett du heute nacht schlafen wirst.«

Etwas überhastet zog sie Annelie mit sich. Sie wollte verhindern, daß eines der anderen kleinen Mädchen durch neugierige Fragen alles noch schlimmer machte.

Es war ein hübsch eingerichtetes, helles Zimmer, in das Marion Annelie brachte. Stumm sah sich die Kleine um.

»Muß ich hierbleiben? Auch wenn ich doch so gern zu meiner Mami möchte?«

»Komm, Spatz, setz dich einmal zu mir.«

»Warum?«

»Weil ich gern mit dir reden möchte.«

»Ich will aber nicht reden.«

»Dann hör mir wenigstens zu.«

Marion setzte sich auf eines der Betten, zog das Mädchen neben sich und legte liebevoll einen Arm um das Persönchen.

»Hör mir einmal gut zu, Annelie. Du kannst nicht zu deiner Mami und zu deinem Papi. Es ist nämlich so: Beide haben sich bei einem Unfall sehr weh getan. Es war so schlimm, daß sie nicht mehr gesund geworden wären, und so hat der liebe Gott im Himmel sie zu sich geholt. Sie sehen ganz genau, was du hier machst. Sie wollen ganz bestimmt nicht, daß du traurig bist. Hier bei uns ist jetzt dein neues Zuhause. Wenn du erst ein Weilchen bei uns bist, wird es dir bestimmt gefallen.«

»Ich möchte auch in den Himmel.« Tränen rollten nun unaufhaltsam über Annelies Wangen.

»Das geht aber nicht, Annelie.«

»Dann darf ich meine Mami und meinen Papi nie mehr wiedersehen?«

»Irgendwann wirst du alles verstehen. Jetzt mußt du aber nicht mehr weinen.«

In ihren Armen wiegte Marion das zierliche Mädchen hin und her. Sie wußte nicht, mit welchen Worten sie die Kleine noch trösten sollte. Die Zeit mußte helfen und das Mädchen alles vergessen lassen.

*

Nachdem Cordula Wittmer sich von Frau Olisch verabschiedet hatte, wollte sie nachsehen, wo Marion mit dem Mädchen geblieben war, denn sie selbst hatte Annelie noch nicht begrüßen können.

Auf halbem Weg kam ihr Marion entgegen. Sie war allein.

»Wo haben Sie die Kleine gelassen, Marion? Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, sie zu begrüßen. Von dem kleinen Zwischenfall im Speiseraum habe ich schon erfahren. Ich möchte aber gern Genaueres wissen.«

»Annelie ist eingeschlafen. Es war wohl alles ein wenig zu viel in den letzten Tagen. Wissen Sie etwas über eine Oma Buchan?«

»Nein, nicht genau. Ich weiß nur, daß sie in den vergangenen Tagen bei einer Nachbarin war, die aber wegen ihres Alters nicht mehr mit der Kleinen fertig wurde. Wie mir Frau Olisch sagte, ist sie ungefähr fünfundsechzig. Es könnte sein, daß es sich um die besagte Oma Buchan handelt. Warum wollen Sie das wissen?«

Mit knappen Worten berichtete Marion ihrer Vorgesetzten von dem Vorfall und dem, was diese Oma dem Kind gesagt haben sollte.

»Es ist mir unverständlich, daß es so gedankenlose Menschen gibt, Frau Wittmer.«

Erst zwei Stunden später wachte Annelie auf. Marion, die sich gerade im Zimmer aufhielt, lächelte und sagte: »Komm, Annelie, ich bringe dich jetzt erst einmal zu unserer lieben Frau Wittmer. Du bist heute mittag, als Frau Olisch dich zu uns brachte, so rasch davongelaufen, daß sie dir noch nicht einmal guten Tag sagen konnte. Frau Wittmer ist die Leiterin. Anschließend gehen wir zu Rosa in die Küche. Du hast bestimmt Hunger und Durst, nicht wahr?«

»Nur ein bißchen«, kam es leise über Annelies Lippen.

»Na, siehst du, dann müssen wir zu Rosa. Rosa ist nämlich unsere Köchin, die jeden Tag für alle Kinder das leckere Essen kocht.«

»Da muß sie aber viel kochen, ich habe doch viele Jungen und Mädchen gesehen. Viel mehr als bei uns im Kindergarten.«

»Ja, das muß sie, und sie kann das auch ganz prima. Doch jetzt komm, wir wollen Frau Wittmer nicht mehr warten lassen.«

Cordula Wittmer sah prüfend auf das kleine Mädchen, das sie ängstlich ansah.

»Du bist also Annelie Feldner? Ich freue mich, daß du bei uns bist«, sagte sie mit ihrer dunklen, warmen Stimme. »Ich bin Frau Wittmer, aber du darfst genau wie die anderen Kinder Tante Cordula zu mir sagen. Willst du mir nicht guten Tag sagen?«

Annelie, die ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, streckte Cordula nun zaghaft ihre Rechte entgegen und sagte leise: »Guten Tag.«

»Guten Tag, Annelie, und herzlich willkommen bei uns. Hast du deine neuen Freundinnen schon kennengelernt? Du weißt ja inzwischen von Marion, daß du mit der Bettina und der Ann-Christin zusammen in einem Zimmer schlafen wirst. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn ihr drei euch gut vertragt. Sie helfen dir bestimmt nachher, deine Koffer auszupacken.«

»Ich brauche nicht auszupacken.«

»So, und warum nicht? Du bekommst einen Schrank ganz für dich allein.«

»Ich will überhaupt nicht auspacken. Ich will doch…« Annelie brach ab, starrte Cordula Wittmer mit geweiteten Augen an und senkte dann den Kopf.

Cordula gab Marion ein verstohlenes Zeichen.

Daraufhin sagte diese mit fröhlicher Stimme: »Komm, Annelie, jetzt gehen wir zuerst zu Rosa in die Küche. Auspacken können wir später immer noch, dafür haben wir noch Zeit.«

Ohne Widerrede verließ Annelie mit Marion das Büro von Cordula Wittmer.

Die Köchin Rosa, klein und rund, konnte Annelie jedoch nicht dazu be wegen, etwas zu essen. Ohne ein Wort zu sagen, trank Annelie nur ein Glas Milch.

Später ließ sie es auch geschehen, daß Marion ihre Kleidung in den Schrank einräumte. Schweigend sah sie zu.

Annelie reagierte erst, als Marion auch eine hübsche Puppe hervorholte.

Bettina und Ann-Christin, die in diesem Moment fröhlich ins Zimmer stürmten, blieben staunend vor Marion stehen, und die kleine stupsnäsige Ann-Christin bettelte mit sehnsüchtigen Augen: »Darf ich sie einmal halten, Marion?«

»Sie gehört Annelie, Ann-Christin. Du mußt sie fragen.«

»Ja, Annelie, darf ich sie einmal halten? Sie ist ja so süß. So eine schöne Puppe möchte ich auch haben.«

Nun erst sprang Annelie mit blitzenden Augen auf und sagte aggressiv: »Nein, du darfst sie nicht haben. Sie gehört mir ganz allein. Es ist meine Pamela, und meine Mami hat sie mir geschenkt. Geh weg da, es ist meine.«

Ehe Marion reagieren konnte, riß Annelie ihr die Puppe aus den Händen und drückte sie fest an sich.

»Sie ist überhaupt nicht lieb, Marion. Sie ist überhaupt keine Freundin. Komm, Bettina, gehen wir noch etwas zu Iris und Mia. Soll sie doch mit ihrer doofen Puppe glücklich werden.«

»Meine Pamela ist keine doofe Puppe, damit du es nur weißt!«

»Kinder, Kinder, was ist denn mit euch los? Ihr sollt euch doch nicht streiten. Du mußt auch vernünftig sein, Annelie. Ann-Christin wollte deine Puppe nur einmal halten. Es ist doch nichts dabei. Hier nimmt dir niemand etwas fort.«

Annelie gab keine Antwort, und die beiden anderen Mädchen liefen aus dem Zimmer.

*

Es folgte eine Zeit, in der sich Annelie in einer Weise veränderte, die die Erwachsenen im Kinderheim in tiefe Besorgnis stürzte. So sehr man sich im Kinderheim auch um das kleine Mädchen sorgte, es war alles umsonst. Selbst die liebevolle Zärtlichkeit Cordula Wittmers, die bei allen Kindern des Heims sehr beliebt war, wies Annelie zurück. Zuerst wurde sie noch aggressiver und abweisender, doch diese Phase dauerte nur wenige Tage. Ganz plötzlich wandte sich alles ins Gegenteil um. Sie wurde immer verschlossener.

Wenn die anderen Kinder spielten, saß sie mit traurigen, abwesenden Blicken abseits. Es gab keinen Streit mehr mit ihren beiden Zimmerkameradinnen, aber sie spielte auch nicht mit ihnen. An manchen Stunden kam es Marion vor, als lebte das kleine Mädchen in einer ganz anderen Welt. Marion hatte dabei kein gutes Gefühl.

Der Tag kam, an dem Annelie zum ersten Mal sogar das Essen verweigerte. Schon beim Frühstück bemerkte Marion, daß Annelie nur ihre Milch trank und das knusprige Frühstücksbrötchen zur Seite schob. Sie trat an den Tisch, beugte sich zu Annelie hinab und fragte sanft: »Schmeckt es dir heute nicht?« Schweigend schüttelte das Mädchen den Kopf.

»Soll ich dir ein anderes Brötchen bringen, vielleicht mit Marmelade oder Honig?«

Erneut schüttelte Annelie den Kopf.

»Du mußt aber etwas essen, Spatz. Du wirst uns sonst noch krank«, sagte Marion weich und schob den Teller mit dem Brötchen wieder vor Annelie hin.

»Ich mag aber nicht.« Annelies Augen füllten sich mit Tränen.

»Ist ja schon gut, wenn du einfach nicht willst.«

Marion drängte nicht weiter. Doch zum Mittagessen und auch zum Abendbrot wiederholte sich das gleiche Spielchen.

Da es mit liebevollem Zureden nicht ging, wollte Marion es mit Strenge versuchen und sagte mit ernster Miene: »Du hast den ganzen Tag nichts gegessen. So geht es nicht, Annelie. Sieh dich um, alle anderen sind schon fertig, und es schmeckt wirklich.«

Während die anderen Heimkinder lärmend und fröhlich lachend den Speiseraum verließen, sah Annelie Marion mit großen traurigen Augen an, aß aber trotzdem nicht.

Zehn Minuten wartete Marion ab, danach gab sie endgültig für diesen Tag auf. Als sie später mit ihren Kolleginnen bei Cordula Wittmer zusammentraf, war die erste Frage der Heimleiterin: »Hat Annelie das Essen heute abend erneut verweigert?«

Marion antwortete ernst: »Ja, Annelie ist weder mit gutem Zureden noch mit Strenge zum Essen zu bewegen. Sie wird immer schmaler und hinfälliger. Es ist zum Verzweifeln.«

»Wenn das morgen so weitergeht, werde ich mich mit Dr. Gürtler in Verbindung setzen, Marion. Ich mache mir um dieses Kind genau so große Sorgen wie Sie. So kann es einfach nicht weitergehen. Was machen wir bei diesem kleinen Mädchen falsch?«

»Annelie ist eben ein besonders schwieriger Fall. Wenn wir nichts mehr machen können, dann bleibt nur ein guter Kinderpsychologe.«

»Was heißt schon ein besonders schwieriger Fall? Schwierige Kinder haben wir immer dazwischen, und wir sind immer gut damit fertig geworden. Fühlen sich unsere Kinder im Haus Maria nicht wohl?«

»Natürlich, Frau Wittmer, wir alle können das nur bestätigen.«

»Wenn ich nur wüßte, was wirklich in diesem Kinderherzen vorgeht. Ich liebe meinen Beruf, meine Aufgabe, für die Kinder zu sorgen, die von ihren Eltern allein zurückgelassen oder verstoßen wurden. Ich liebe sie alle, Annelie eingeschlossen. Doch zum ersten Mal fühle ich mich hilflos.«

»Sie werden auch bei Annelie den richtigen Weg finden, Frau Wittmer.«

»Ich hoffe es, Marion. Auf jeden Fall werde ich mich schon morgen vormittag mit Dr. Gürtler in Verbindung setzen. Ich möchte mir nicht vorwerfen müssen, nicht alles getan zu haben. Er wird mir bestimmt einen guten Rat geben können. Hat noch jemand Fragen? Wenn nicht, möchte ich mich für heute zurückziehen. Ich wünsche Ihnen allen noch einen recht schönen Abend.«

Am nächsten Morgen – Annelie hatte erneut das Essen verweigert rief Cordula Wittmer Dr. Gürtler an und bat um sein Kommen.

Frank Gürtler, ein grauhaariger, älterer Arzt, der schon seit Jahren die Kinder im Heim betreute, war ein sehr verständnisvoller Mensch, zu dem die Kinder Vertrauen hatten.

Um halb zwölf fuhr Dr. Gürtler vor dem Kinderheim vor.

Cordula Wittmer, die den Arzt vom Fenster ihres Büros aus hatte kommen sehen, ging ihm entgegen.

»Danke, Herr Doktor, daß Sie so rasch gekommen sind«, begrüßte sie ihn.

»Wo haben wir denn das Sorgenkind?«

»Annelie ist in ihrem Zimmer. Soll ich sie holen lassen?«

»Nein, das muß nicht unbedingt sein. Ich kann sie auch dort untersuchen. Bringen Sie mich bitte hin.«

Annelie lag auf ihrem Bett, als Cordula Wittmer mit dem Arzt das Zimmer betrat.

Frank Gürtler war bestürzt, als er sah, wie sehr sich das kleine Mädchen seit seinem letzten Besuch im Kinderheim verändert hatte.

»Würden Sie mich bitte ein paar Minuten mit dem Kind allein lassen, Frau Wittmer?«

»Selbstverständlich, Herr Doktor.«

»Danke.«

Frank Gürtler trat an das Bett und beugte sich über das Mädchen.

»Hallo, Annelie, kennst du mich noch?« fragte er und fuhr ihr sacht der den schwarzen Lockenkopf.

»Wir zwei wollen uns einmal in aller Ruhe unterhalten. Du sagst mir, wo dir etwas weh tut, und ich sage dir, was wir dagegen tun können. Einverstanden…?«

»Mir tut überhaupt nichts weh«, kam es leise, aber abweisend über Annelies Lippen.

»Wenn dir nichts weh tut, warum willst du dann nichts essen und trinken? Du bist richtig dünn geworden, seitdem ich dich zum letzten Mal gesehen habe. Ich werde dich einmal gründlich untersuchen, danach werden wir weitersehen.«

Die Untersuchung ergab keinerlei Hinweise auf eine organische Erkrankung. Erneut fragte Frank Gürtler freundlich: »Möchtest du mir nicht sagen, warum es dir nicht mehr schmeckt, Annelie? Ich möchte auch gern wissen, was dich so traurig macht. Hier sind so viele Kinder, mit denen du spielen kannst. Sie sind doch alle sehr lieb. Du darfst mir alles sagen, was du willst. Ich will dir doch nur heften.«

»Ich will auch in den Himmel zu meiner Mami und zu meinem Papi. Sie sind doch ganz allein«, kam es stockend über Annelies Lippen, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen.

»Das geht nicht, das bestimmt unser Herrgott im Himmel oben. Du mußt nicht weinen. Weißt du, deine Mami und dein Papi passen von oben auf dich auf. Sie wünschen sich bestimmt, daß du hier unten ein fröhliches und gesundes Mädchen bist.«

»Gar nicht wahr, du lügst. Überhaupt nicht können sie mich sehen. Sie sind ja tot. Du kannst ruhig wieder gehen. Ihr seid alle böse.«

Der Ausbruch kam für den Arzt unerwartet und so heftig, daß er im ersten Moment nicht wußte, was er dem kleinen Mädchen darauf erwidern sollte. Als Annelie erneut hemmungslos zu weinen begann, war er ratlos.

Er atmete erleichtert auf, als es nun an der Tür klopfte und Cordula Wittmer wieder ins Zimmer trat.

»Kann ich helfen, Herr Dr. Gürtler?«

»Ja, rufen Sie bitte jemand, der das Kind beruhigt. Ich möchte mich gern einen Augenblick mit Ihnen unterhalten.«

»Einen Moment bitte.«

Cordula drückte auf den Rufknopf, der sich in jedem Zimmer unter dem Lichtschalter befand, und schon Augenblicke später kam Marion eilig herein.

Auf dem Weg in das Büro der Heimleiterin informierte Dr. Gürtler sie über die letzten Minuten mit Annelie.

Nachdem Cordula Wittmer dem Arzt in ihrem Büro einen Platz angeboten hatte, fragte sie geradeheraus: »Sie haben die Kleine erlebt. Was raten Sie uns in diesem Fall?«

»Für mich ist es eine Aufgabe für eine gute Kinderpsychologin, Frau Wittmer. Ich denke dabei an die Kinderklinik Birkenhain. Sie haben doch schon mehrfach Kinder in der Klinik behandeln lassen. Mir fällt da vor allen Dingen Ihre Cousine Christina ein, deren kleine Tochter mehrere Jahre hier im Kinderheim gelebt hatte. Soviel ich weiß, arbeitet in Birkenhain eine hervorragende Kinderpsychologin. Heißt sie nicht Dr. Andergast? Soll ich die Angelegenheit mit Frau Dr. Martens abklären?«

»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das für mich übernehmen würden, Herr Dr. Gürtler. In Birkenhain sind die Kinder immer gut aufgehoben. Ich hoffe nur, daß man dort einen freien Platz für Annelie hat.«

»Ich bin überzeugt, daß auf jeden Fall Platz für Annelie da sein wird. Kann ich von hier aus mit der Kinderklinik telefonieren? Ich denke, daß bei dem Mädel nicht länger gewartet werden darf. Wenn ich auch keine organische Erkrankung habe feststellen können, ihr Allgemeinzustand ist nicht unbedenklich.«

»Selbstverständlich können Sie telefonieren. Soll ich solange hinaus gehen?«

»Nein, Frau Wittmer, das ist nicht notwendig. Wenn Sie mir die Telefonnummer der Kinderklinik geben würden? Ich habe sie nicht im Kopf.«

Hastig suchte Cordula die Nummer der Klinik aus dem Telefonregister und reichte sie dem Arzt, der sofort wählte.

*

Dr. Hanna Martens hatte die hohe Glastür, die in den Behandlungstrakt führte, noch nicht erreicht, als Martin Schriewers von der Aufnahme her rief: »Telefon für Sie, Hanna! Es ist Herr Dr. Gürtler.«

Mit raschen Schritten eilte Hanna zurück und nahm von Martin den Hörer an.

»Hier ist Dr. Martens, guten Tag. Was kann ich für Sie tun, Herr Doktor?«

»Guten Tag, Frau Dr. Martens, ich rufe vom Kinderheim ›Haus Maria‹ an. Wir haben hier einen sehr schwierigen Fall, bei dem wir die Hilfe einer Kinderspychologin benötigen. Es handelt sich um ein fünfjähriges Mädchen, das erst vor wenigen Tagen seine Eltern verloren hat. Organisch ist das Mädchen gesund. Noch, würde ich sagen, denn es ißt seit gestern morgen nicht mehr. Ich möchte Sie bitten, das Mädel für einige Zeit in der Kinderklinik aufzunehmen, falls Sie noch über freie Plätze verfügen. Wenn Sie es sehen, werden Sie meine Sorgen verstehen.«

»Selbstverständlich haben wir Platz, Herr Dr. Gürtler. Soll das Mädel geholt werden?«

»Das ist nicht erforderlich, Frau Dr. Martens. Da ich mich im Augenblick im Heim befinde, kann ich die Kleine selbst zu Ihnen in die Klinik bringen. Ich könnte Ihnen dann mehr berichten.«

»Einverstanden, Herr Doktor, ich erwarte Sie mit dem Mädchen. Wann werden Sie hier sein?«

»So in eineinhalb Stunden, Frau Dr. Martens.«

»In Ordnung. Sind die anderen Heimkinder gesund?«

»Bis auf die üblichen Wehwehchen bin ich im Augenblick sehr zufrieden. Noch einmal vielen Dank, daß Sie die Kleine bei sich in der Klinik aufnehmen. Wir besprechen uns später.« Nachdenklich legte Hanna den Hörer auf die Gabel. Sie wußte genau, daß es sich um ein Problemkind handeln mußte, wenn Dr. Gürtler um die Aufnahme einer Patientin bat. Da würde wohl wieder etwas auf sie zukommen.

*

Frank Gürtler wandte sich nach Beendigung des Gesprächs mit Dr. Hanna Martens Cordula Wittmer zu.

»Sie haben mein Gespräch ja mitverfolgen können. Als ich sagte, daß ich Annelie umgehend in die Klinik bringe, habe ich Ihnen doch nicht vorgegriffen, nicht wahr, Frau Wittmer?«

»Auf keinen Fall, Herr Doktor. Ich bin erleichtert darüber. Je eher das Mädel die richtige Behandlung bekommt, um so besser wird es sein. Ihre Entscheidung war schon richtig. Ich werde sofort die Anweisung geben, daß die für den Klinikaufenthalt notwendigen Sachen zusammengepackt werden. Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit eine Erfrischung anbieten?«

»Wenn Sie ein Glas Mineralwasser haben, sage ich nicht nein. Kann ich Ihr Telefon noch einmal benutzen? Ich möchte gern meine Frau informieren, daß ich heute später komme. Da heute Mittwoch ist, halte ich ja am Nachmittag keine Sprechstunde ab und habe somit Zeit für die Fahrt nach Ögela.«

»Selbstverständlich können Sie telefonieren. Wenn Sie mich ein paar Minuten entschuldigen, sage ich nur rasch Marion Bescheid und sorge für Ihre Erfrischung.«

Mit raschen Schritten verließ Cordula Wittmer ihr Büro und lief hinauf zu den Schlafräumen. Als sie Annelies Zimmer betrat, sah sie mit Erleichterung, daß es Marion gelungen war, das Mädchen zu beruhigen. Es spielte friedlich mit seiner Puppe.

»Alles in Ordnung, Marion?«

»Für den Augenblick ja.«

»Gut. Ich möchte Sie nämlich bitten, für Annelie einen Koffer zu packen. Erst einmal alles, was das Mädchen für einen Aufenthalt von zwei, drei Wochen in der Klinik benötigt. Dr. Gürtler hat sich mit Birkenhain in Verbindung gesetzt und bringt Annelie persönlich in die Klinik. Bereiten Sie Annelie bitte so behutsam wie möglich auf die Veränderung vor.«

Voller Mitleid sah Marion auf Annelie, die für nichts anderes Augen hatte als für ihre Puppe Pamela. So konnte sie in den nächsten Minuten ungestört einen Koffer packen. Erst als sie damit fertig war, ging Marion zu dem kleinen Mädchen. Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und sagte liebevoll: »Hör mir einmal zu, Spatz, ich möchte dir etwas sagen. Der Herr Doktor macht jetzt eine kleine Fahrt mit dir in seinem Wagen. Er bringt dich für kurze Zeit in eine Kinderklinik, in der auch so kranke Kinder sind, wie du es bist. Es gibt dort eine sehr liebe Ärztin und viele nette Schwestern. Erst wenn du wieder ganz gesund bist, kommst du zurück zu Tante Cordula und zu mir. Nun, was sagst du dazu?«

»Ich will nicht.« Heftig schüttelte Annelie den Kopf.

»Es geht aber nicht anders, Spatz.«

»Warum?«

»Weil du in der Klinik gesund wirst.«

»Warum?«

»Weil wir möchten, daß du wieder ein fröhliches Mädchen wirst. Komm, wir ziehen dir nun dein Jäckchen über und bürsten deine hübschen Locken, danach gehen wir zu Tante Cordula ins Büro. Dort wartet Dr. Gürtler auf dich.«

»Fährst du mit mir, Marion?«

»Nein, ich bleibe hier. Du darfst mir jedoch glauben, daß in der Kinderklinik sehr liebe Schwestern sind. Aber ich komme dich ganz bestimmt einmal besuchen. Natürlich nur, wenn du es gern möchtest. Nun, was meinst du dazu?«

Annelie gab keine Antwort, und Marion hatte mit einem Mal das Gefühl, als ob sie für das kleine Mädchen überhaupt nicht mehr vorhanden war. Die eben noch klaren Augen waren trüb, und es schien, als wäre Annelie mit ihren Gedanken weit fort.

Ohne Gegenwehr ließ sie sich die leichte Jacke überstreifen und anschließend das Haar bürsten. Auch als Marion Annelie danach zu Cordula Wittmer ins Büro führte, ließ sie es geschehen.

»Hallo, Annelie, da bist du ja wieder. Wir zwei werden jetzt eine kleine Reise antreten. Doch das weißt du ja schon von Marion, nicht wahr?« sagte Frank Gürtler in gewollt fröhlichem Ton.

Annelie reagierte überhaupt nicht, sondern sah auch durch ihn hindurch.

»Es hat keinen Sinn, Herr Dr. Gürtler. Annelie hat die Jalousien dicht gemacht, wie man so schön sagt. Sie läßt keinen an sich heran«, sagte Marion leise, nur für den Arzt und Cordula verständlich.

»Was ist vorgefallen, Marion?«

»Nicht viel, Herr Doktor.« Mit kurzen Worten informierte Marion ihn über das kurze Gespräch mit Annelie. Zum Schluß sagte sie: »Mit einem Mal war sie wie weggetreten. Können Sie nichts dagegen tun?«

»Ich fürchte nein, Marion. Da sie ruhig ist, halte ich es nicht für angebracht, ihr Medikamente zu geben. Ich möchte da den Ärzten der Kinderklinik nicht vorgreifen. Es wird am besten sein, wenn ich mich jetzt mit dem Mädel auf den Weg mache. Wir sind in etwa einer Stunde in Ögela, dann wird man sich um das Mädchen kümmern.«

Dr. Frank Gürtler verabschiedete sich von der Leiterin des Kinderheimes.

Marion ging noch mit zum Wagen und half Annelie hinein. Der Arzt verstaute den Koffer und verabschiedete sich auch von Marion. Nur wenige Augenblicke später fuhr er davon. Marion sah dem Wagen noch einen Moment nach und ging dann ins Haus zurück.

Es waren da ja auch die anderen Kinder, um die sie sich kümmern mußte. Trotzdem wußte sie, daß Annelie ihr fehlen würde. Sie hatte sie während der vergangenen Tage trotz ihrer Widerspenstigkeit liebgewonnen. Wichtig war nur, daß man ihr in der Kinderklinik helfen konnte.

*

Hanna war ins Klinikgebäude zurückgekommen. Sie blieb kurz an der Aufnahme stehen und wollte wissen: »Ist Dr. Gürtler inzwischen angekommen?«

»Nein, bis jetzt noch nicht, Hanna. Nur Ihr Bruder hat nach Ihnen gefragt. Im Augenblick ist er in seinem Sprechzimmer. Er wollte warten, bis Sie wieder hier sind und danach seine Mittagspause machen.«

»Danke, Martin, ich werde ihn sofort aufsuchen und über unsere neue Patientin informieren. Sollte Dr. Gürtler in der Zwischenzeit kommen, rufen Sie mich.«

»Du hast es ja heute eilig gehabt, ins Doktorhaus zu gehen. Was war los?«

»Ich hatte kurz zuvor ein Gespräch mit Dr. Gürtler, Kay. Er rief mich vom Kinderheim ›Haus Maria‹ aus an. Es ging wieder um eines dieser Problemkinder aus dem Heim. Er bat mich, das Kind, es ist fünf Jahre alt, für eine Weile in der Klinik aufzunehmen und zu behandeln. Eigentlich müßten sie jeden Augenblick hier eintreffen. Es ist vorrangig ein Fall für Frau Dr. Andergast.«

Hanna erklärte Kay den Sachverhalt.

»Ein armes, bedauernswertes Kind, Hanna. Es ist immer schlimm, in so jungen Jahren ein so einschneidendes Erlebnis wie den Verlust der Eltern verkraften zu müssen. Man kann nur wünschen, daß die Kleine keinen dauerhaften seelischen Schaden erlitten hat.«

Bevor Hanna darauf antworten konnte, klingelte das Telefon.

Hanna nahm den Hörer hoch und hörte Martin Schriewers sagen: »Herr Dr. Gürtler ist mit der kleinen Patientin angekommen.«

»Danke, Martin, ich komme sofort.«

Schon an der Tür fragte Hanna: »Warum kommst du nicht mit, Kay? Du kannst dir dann selbst ein Bild machen.«

»Das kann ich immer noch machen. Es irritiert das Kind nur noch mehr, wenn zu viele neue Gesichter auf es zukommen. Außerdem verziehe ich mich jetzt ins Doktorhaus. Meine Mittagspause ist längst fällig.«

»Gut, Kay, bis später dann.«

Mit raschen Schritten verließ Hanna das Sprechzimmer ihres Bruders.

Heißes Mitleid stieg in der jungen Ärztin auf, als sie das kleine Mädchen an Dr. Gürtlers Seite sah. Wie ein Häufchen Elend saß es neben dem Arzt auf einem Sessel in der Besucherecke.

»Guten Tag, Frau Dr. Martens. Da bin ich also mit der kleinen Patientin«, begrüßte Dr. Frank Grütler Hanna mit ernstem Gesicht. »Sie sehen ja, in welcher Verfassung sich das Kind befindet. Es hat während der ganzen Fahrt nicht ein einziges Wort gesprochen. Genauso, wie Sie es hier sehen, war es, als ich vom Kinderheim aus abfuhr.«

Hanna beugte sich zu dem Mädel und sagte mit weicher Stimme: »Guten Tag, kleiner Spatz. Willst du mir nicht sagen, wie du heißt? Ich bin Frau Dr. Martens, und du wirst einige Zeit bei uns bleiben.«

Annelie sah nicht hoch. Sie reagierte überhaupt nicht.

Hanna sah Frank Gürtler an, der sagte: »Die Kleine heißt Annelie Feldner. Entschuldigen Sie, daß ich versäumt habe, Ihnen schon den Namen des Kindes zu sagen. Es war alles so hektisch.«

»Halb so schlimm, Herr Doktor. Ich werde zuerst dafür sorgen, daß die Kleine untergebracht wird, danach stehe ich Ihnen gern für ein Gespräch zur Verfügung. Hat Annelie heute schon irgendwelche Medikamente bekommen?«

»Nein, ich habe ihr keine Medikamente verabreicht, weil es mir nicht unbedingt angebracht erschien.«

»Gut, dann entschuldigen Sie mich für kurze Zeit.«

»Ich werde hier auf Sie warten, Frau Doktor.«

»Komm, Annelie, ich lasse dich jetzt in ein hübsches Zimmer bringen. Es wird dir ganz bestimmt bei uns gefallen.«

Hanna hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu reden, denn auch jetzt reagierte Annelie nicht.

Hanna faßte die Hand des Mädchens und führte es aus der Halle ins Behandlungszimmer. Von dort aus rief sie Schwester Laurie telefonisch von der Krankenabteilung herunter.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die junge Schwester mit einem Rollstuhl erschien. Auch sie sah voller Mitgefühl auf Annelie.

Schwester Laurie bekam noch einige Anweisungen von Hanna, die zum Schluß sagte: »Wenn Sie alles erledigt haben, bitten Sie Frau Dr. Andergast in mein Sprechzimmer. Sie bleiben dann solange bei der Kleinen, bis ich entschieden habe. Alles klar?«

»Alles klar, Frau Doktor. Wie heißt unsere kleine Patientin eigentlich?«

»Sie heißt Annelie Feldner.«

»Guten Tag, Annelie, ich bin Schwester Laurie. Ich werde jetzt jeden Tag auf dich aufpassen. Setz dich in den Stuhl hier, und ich fahre dich darin hinauf in dein neues Zimmer. Was meinst du, werden wir zwei uns vertragen?«

Als Annelie auch bei ihr nicht reagierte, sagte Schwester Laurie in gewollt munterem Ton: »Du hast also keine Lust, mit mir zu sprechen, Annelie? Nun, es macht nichts. Du kennst mich ja noch nicht. Es wird schon noch werden.«

Daß überhaupt nichts an das Mädchen herankam, machte die junge Schwester innerlich sehr betroffen. Sie ließ sich davon jedoch nichts anmerken.

Sie tauschte einen kurzen Blick mit Hanna und fuhr Annelie hinaus. An der Tür wandte sie sich noch einmal Hanna zu und fragte: »Hat man für die Kleine Sachen mitgebracht, Frau Dr. Martens?«

»Doch, Schwester Laurie, der Koffer steht noch in der Halle bei Herrn Dr. Gürtler. Ich lasse ihn gleich durch Karsten auf die Station hinaufbringen.«

Nachdem sich hinter Schwester Laurie und Annelie die Tür geschlossen hatte, ging Hanna in die Ambulanz und gab dem Pfleger den Auftrag, Annelies Koffer auf die Krankenstation zu bringen.

Erst danach ging sie zu Dr. Gürtler zurück. Durch ihn erfuhr sie nun alle Einzelheiten, die zu Annelies Einweisung ins Kinderheim geführt hatten.

Bestürzung kam in ihr auf, als sie erfuhr, daß höchst wahrscheinlich eine unbedachte Äußerung einer alten Frau die Ursache für den erbarmungswürdigen Zustand des kleinen Mädchens gewesen war.

Als Frank Gürtler sich von Hanna verabschiedete, fragte er: »Da es mich sehr interessiert, ob Sie der Kleinen helfen können, kann ich mich doch sicher hin und wieder nach ihrem Befinden erkundigen, nicht wahr?«

»Wann immer Sie wollen, Herr Dr. Gürtler. Ich möchte Sie nur noch darum bitten, im Kinderheim Bescheid zu sagen, daß man in der ersten Zeit von Besuchen absehen soll. Wenn wir Erfolg haben wollen, müssen wir die Kleine vor allem, was vor dem heutigen Tag liegt, abschirmen.«

»Ich werde Frau Wittmer informieren und ich wünsche Ihnen, daß Sie dem Mädchen helfen können.«

*

Dr. Wenke Andergast, die in einem langen und ausführlichen Gespräch mit Hanna über die Vorgeschichte informiert worden war, nahm sich liebevoll der kleinen Patientin an. Zwar gelang es ihr, Annelie zum Essen zu überreden, doch was den seelischen Zustand des Mädchens betraf, kam auch sie zunächst nicht einen Schritt weiter.

Es war der dritte Tag nach Annelies Einlieferung in die Kinderklinik.

Schwester Laurie, die sich viel in dem kleinen Einzelzimmer aufhielt, sah, daß Annelie eingeschlafen war, und verließ leise das Zimmer.

Sie ging ins Schwesternzimmer und sagte zu Schwester Tina: »Die Kleine schläft jetzt, Tina. Ich mache eine halbe Stunde Mittagspause und gehe hinunter in die Kantine. Sei bitte so nett und schau ab und zu bei Annelie nach, ob noch alles in Ordnung ist.«

»Geh nur, Laurie. Ich paß schon auf. Außerdem, wenn die Kleine schläft, besteht ja wohl kein Grund zur Sorge.«

»Danke, Tina, ich werde mich auch beeilen.«

Schwester Laurie ging beruhigt hinunter in die Kantine, um etwas zu essen.

Noch keine fünf Minuten waren vergangen, als sich oben auf der Krankenstation leise eine Zimmertür öffnete und ein kleines Mädchen, im Nachthemd und barfuß, aus dem Zimmer kam und den Gang entlang zur Treppe huschte. Ohne von jemandem gesehen zu werden, denn während der Mittagszeit war es immer sehr ruhig, erreichte das Mädchen die Eingangshalle. Einen Moment später lief es durch die erste Tür, die es erreichte, ins Freie hinaus. Es war die Tür, die in den Klinikpark führte.

Im Doktorhaus hatte man gerade die Mittagszeit beendet. Hanna saß mit ihrer Mutter bei einem abschließenden Mokka, und beide unterhielten sich über das Sorgenkind Annelie Feldner.

»Weißt du, Mutti, ich fürchte, es wird eine ganze Weile dauern, bis sich die Kleine wieder in ihrem Leben zurechtfinden wird. Frau Dr. Andergast hat ja nun wirklich große Erfahrungen auf dem Gebiet der Kinderpsychologie. Sie bemüht sich sehr um Annelie, doch der Panzer um diese kleine Kinderseele ist noch zu dicht. Ich mache mir große Sorgen um das Kind.«

»Ich kann verstehen, daß dir das Schicksal dieses kleinen Mädchens sehr nahe geht, Hanna. Weißt du was, ich gehe gleich mit dir hinüber. Vielleicht gelingt es mir, daß die Kleine wieder Zutrauen faßt. Manchmal hilft nur sehr viel Liebe und Verständnis gegenüber allen medizinischen Maßnahmen. Laß es mich wenigstens versuchen. Vielleicht erschrecken die vielen weißen Kittel das Kind ja auch noch. Es ist hier in einer völlig ungewohnten Umgebung.«

»Möglich, Mutti. Versuch dein Glück bei Annelie. Du bist für die anderen Kinder die liebe Oma Bea. Warum solltest du es nicht auch für Annelie werden? Ich bin die Letzte, die dagegen Einwände hat. Meinetwegen können wir gehen, denn für mich wird es sowieso Zeit.«

»Gut, Hanna, ich sage eben der Füchsin Bescheid, daß ich schon jetzt mit dir hinüber in die Klinik gehe.«

Da Jolande in diesem Moment den Raum betrat und wissen wollte, ob Hanna oder ihre Mutter noch einen Wunsch hätten, sagte Hanna lächelnd: »Wir lassen dich jetzt allein, Füchsin. Meine Mutter geht schon jetzt mit mir in die Klinik hinüber.«

»Wann kommen Sie zurück, Frau Martens?« fragte Jolande Hannas Mutter.

»Kann ich nicht genau sagen. Machen Sie sich ein paar freie Stunden. Tut Ihnen auch mal gut. Bis später.«

Als Hanna mit ihrer Mutter durch das schmale Tor den Klinikpark betrat, sagte Bea Martens plötzlich aufgeregt: »Siehst du das, Hanna? Da hinten rechts vom Hauptweg, das ist doch ein Kind, ein kleines Mädchen.«

Hanna starrte verblüfft in die von der Mutter gewiesene Richtung.

»Das ist ja… Um Himmels willen, das ist ja Annelie!«

Schon lief Hanna mit langen Schritten los, bis sie das Kind erreicht hatte.

»Annelie, Kind, was machst du denn hier? Wo willst du hin? Du mußt doch brav in deinem Bettchen liegen.« Trotz heftiger Gegenwehr hob Hanna die federleichte, zierliche Person hoch.

»Ich muß doch meine Mami und meinen Papi suchen. Laß mich runter.«

Wild begann Annelie um sich zu schlagen, so daß Hanna große Mühe hatte, sie auf ihrem Arm festzuhalten.

Nur wenige Sekunden dauerte der Ausbruch, dann fiel Annelies Kopf haltlos gegen Hannas Schulter, und verzweifeltes Weinen schüttelte den Körper.

Bea Martens, die Hanna und Annelie nun erreicht hatte, sah erschüttert auf das zarte Mädchen, das Hanna auf ihren Armen trug, als sei es ein Baby.

Das war sie also, die fünfjährige Annelie Feldner.

»Soll ich dir helfen, Hanna?«

»Nein, laß nur, Mutti, sie ist ja federleicht. Ich schaffe das schon. Ich verstehe nicht, wie es ihr gelingen konnte, aus ihrem Zimmer zu entwischen. Schwester Laurie läßt sie doch kaum einmal aus den Augen.«

»Du wirst es schon erfahren, Hanna. Wichtig ist ja erst einmal, daß die Kleine wieder in ihrem Bett ist.«

»Was ist denn hier los?«

Kay, der ebenfalls wieder in die Klinik wollte, war mit langen ausgreifenden Schritten nähergekommen.

Kay nahm seiner Schwester das immer noch schluchzende Mädchen ab und trug es in die Klinik. Dort herrschte ein aufgeregtes Durcheinander, denn vor wenigen Augenblicken hatte man das Verschwinden Annelies entdeckt.

Schwester Tina kam völlig aufgelöst auf ihn, Hanna und die Mutter zugelaufen und rief aufgeregt aus: »Gott sei Dank, da ist Annelie ja. Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte.«

Hanna folgte Kay und ihrer Mutter hinauf auf die Krankenstation, wo Kay das Mädchen in seinem Zimmer auf das Bett legte.

»Laß mich ruhig mit Annelie allein, ich werde mich um sie kümmern«, bat Bea Martens und drängte Kay zur Seite. »Zu viele Menschen wären jetzt nicht gut für sie.«

Hanna und Kay fanden schnell heraus, daß keine der Schwestern eine Schuld an dem Zwischenfall trug. Sie gaben jedoch die Anweisung, daß in Zukunft immer jemand in Annelies Nähe sein mußte, damit sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen konnte.

*

Behutsam tupfte Bea Annelie die Tränen aus dem Gesicht, danach wusch sie ihr die vom Barfußlaufen verschmutzten Füße und deckte sie zu. Liebevoll tätschelte sie ihre Wangen und sagte weich: »Du dummes, kleines Mädchen. Du darfst doch nicht einfach fortlaufen. Wir machen uns doch alle Sorgen um dich. Gefällt es dir denn hier nicht?«

Annelie, die alles stumm über sich ergehen lassen hatte, sah Bea Martens mit ihren großen, ausdrucksvollen Augen nur schweigend an.

»Kannst du nicht reden, Annelie?«

»Wer bist du denn?« wisperte sie leise.

»Ich bin die Oma Bea, und ich werde mich jetzt jeden Tag um dich kümmern. Du gefällst mir nämlich«, antwortete Bea mit warmer Stimme.

»Eine Oma? Ich, ich habe keine Oma. Ich habe überhaupt niemanden mehr. Ich bin ganz allein«, kam es leise über Annelies Lippen, und erneut glänzte es verdächtig in ihren Augen.

»Du bist nicht allein, du kleiner Spatz. Du hast ja mich. Wenn du möchtest, bin ich deine Oma Bea, und ich komme dich jeden Tag ganz lange besuchen. Du mußt mir nur versprechen, nicht mehr fortzulaufen.«

»Eine Oma, für mich?«

»Ja, eine Oma für dich, kleiner Spatz.« Seltsam berührt über den andächtigen Ausdruck in den dunklen Augen beugte sich Bea über Annelie und hauchte einen sanften Kuß auf die Kinderstirn.

Ein Zittern durchlief das zierliche Mädchen. Erschrocken dachte Bea: Habe ich etwas Falsches gemacht? Doch da sagte Annelie leise: »Das hat meine Mami auch immer gemacht.«

Es lag eine so verzweifelte Sehnsucht in diesem Satz, daß Bea Martens nicht anders konnte. Zärtlich nahm sie Annelie in ihre Arme und sagte weich: »Es wird alles wieder gut, mein kleiner Spatz.«

Bea Martens erkannte sofort, daß hier ein kleines Mädchen krank vor Sehnsucht nach seinen Eltern war. Ein Mädchen, das den Verlust noch immer nicht begreifen konnte oder wollte, ihn einfach nicht in ihr junges Leben einordnen konnte. Mehr aus seelischer Erschöpfung schlief Annelie schließlich in Bea Martens’ Arm ein.

Sanft ließ diese Annelie in die Kissen gleiten und deckte sie behutsam zu. Eine Weile beobachtete sie das schlafende Kind voller Mitleid, und die verschiedensten Gedanken bewegten sich dabei hinter ihrer Stirn. Die Zeit, in der sie ihren Lebensgefährten verloren hatte, erschien vor ihrem inneren Auge.

Wie schwer war es für sie als erwachsener Mensch gewesen, den herben Verlust zu verkraften. Um wieviel schwerer mußte es für ein fünfjähriges Kind sein, den Verlust beider Eltern hinnehmen zu müssen. Aus einem behüteten Leben in ein Kinderheim zu gelangen, war ein harter Schicksalsschlag.

Bea Martens war so in ihre Gedanken versunken, daß sie völlig überhörte, daß jemand das Zimmer betrat. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Hanna fragte leise: »Alles in Ordnung, Mutti?«

Bea zuckte zusammen und fand in die Realität zurück.

»Sie schläft, wie du siehst. Komm, gehen wir hinaus, damit wir sie nicht wecken. Sie braucht diesen Schlaf.«

Auf Zehenspitzen verließen Hanna und ihre Mutter das Krankenzimmer.

»Ich habe für uns eine Erfrischung besorgen lassen, Mutti. Setzen wir uns ein paar Minuten ins Ärztezimmer. Man kann sich da besser unterhalten. Schwester Laurie kann so lange bei Annelie sein.«

Die Tür zum Schwesternzimmer stand offen. Hanna sah ins Zimmer und sagte: »Bitte, übernehmen Sie ein paar Minuten, Schwester Laurie.«

»Wird gemacht, Frau Doktor.«

Im Ärztezimmer fragte Hanna: »War es sehr schwierig, die Kleine zu beruhigen?«

»Wie man es nimmt. Ein armes Hascherl, die Annelie. Sie ist krank vor Sehnsucht nach ihren Eltern. Sie will es einfach nicht wahrhaben, daß sie nicht mehr zurückkommen. Erfreulich an der ganzen Sache ist, daß sie mit mir geredet hat. Ich glaube, ich habe einen Weg gefunden, der ihr helfen wird. Ich werde mich wohl in der kommenden Zeit sehr viel um Annelie kümmern.«

»Wie meinst du das, du hast einen Weg gefunden?«

»Nun, man muß dieses Persönchen einfach liebhaben. Ich bin mir jetzt schon sicher, daß es ein bißchen Zutrauen zu mir gefaßt hat.«

Erstaunt hörte die junge Ärztin zu, was ihre Mutter erzählte.

»Das ist ja wunderbar, Mutti«, entfuhr es ihr erleichtert, als diese schwieg. »Etwas Schöneres kann uns doch überhaupt nicht passieren. Du darfst dabei nur nicht vergessen, daß Annelie ja wieder ins Kinderheim zurück muß.«

»Das ist ja wohl im Augenblick noch nebensächlich, oder? Erst muß ihre kleine Welt wieder in Ordnung kommen. So, und nun haben wir genug über dieses Thema geredet. Ich werde jetzt Schwester Laurie wieder ablösen. Ich möchte bei Annelie sein, wenn sie wieder wach wird. Übrigens, habt ihr klären können, warum sie fortgelaufen war? Liegt schuldhaftes Verhalten einer Schwester vor?«

»Nein, auf keinen Fall, Mutti. Annelie war eingeschlafen, und Schwester Laurie ging in die Kantine, um ihre Mittagsmahlzeit zu sich zu nehmen. Sie bat vorher Schwester Tina, hin und wieder nach Annelie zu sehen. Normalerweise kann man ja wohl ein schlafendes Kind eine Weile allein lassen, und es waren kaum zehn Minuten. Natürlich wird dafür gesorgt, daß sich ein solcher Zwischenfall nicht wiederholt. Wir wissen ja alle, daß unsere Schwestern sehr verantwortungsbewußt sind.«

»Eben, Hanna. Ich hätte mich auch sehr gewundert, wenn Nachlässigkeit mit im Spiel gewesen wäre. So, und nun gehe ich zu Annelie zurück.«

*

Für Hanna war es wie ein kleines Wunder. Mit ihrer Warmherzigkeit erreichte Bea Martens, daß Annelie langsam wieder Interesse an ihrer Umwelt fand.

Als Hanna am Morgen nach dem Zwischenfall das Zimmer betrat, bemerkte sie sofort die Enttäuschung in Annelies dunklen Augen.

»Guten Morgen, Annelie. Ich freue mich, daß dir dein Frühstück heute geschmeckt hat. Nur brav weiter so.«

Mit mißtrauischen Blicken beobachtete Annelie die junge Ärztin, ohne eine Antwort zu geben.

»He, kleines Fräulein, willst du heute auch noch nicht mit mir reden?« fragte Hanna mit fröhlicher Stimme.

»Wo ist Oma Bea?«

»Deine Oma Bea schläft vielleicht noch, es ist ja gerade erst acht Uhr.«

»Woher weißt du das?«

»Woher ich das weiß, Annelie? Deine Oma Bea ist meine Mutti, und sie wohnt mit mir in einem Haus. Heute nachmittag kommt sie dich besuchen. Sie hat es dir doch versprochen.«

»Sie soll aber jetzt kommen. Kannst du es ihr nicht sagen?«

»Du magst die Oma Bea wohl, oder?«

Annelie nickte heftig, und in ihre Augen trat ein sehnsüchtiges Leuchten.

»Weißt du, Annelie, heute vormittag kann die Oma Bea noch nicht zu dir kommen. Du mußt dich noch eine Weile bis dahin gedulden. Spiel mit deiner Puppe und schau dir Bilderbücher an. Wenn du nach dem Mittagessen geschlafen hast, kommt die Oma Bea zu dir.«

»Du sagst ihr aber, daß ich auf sie warte, nicht wahr?«

»Natürlich sage ich es ihr. Jetzt will ich aber zuerst nachsehen, ob du dich gestern nicht erkältet hast.«

»Ich bin nicht erkältet.«

»Wir werden es gleich sehen. Wenn man einfach mit bloßen Füßen nach draußen geht, kann man ganz doll krank werden. Wir möchten doch beide nicht, daß das passiert, oder?«

Hanna war noch dabei, Annelie gründlich zu untersuchen, als Wenke Andergast das Zimmer betrat.

Lächelnd sagte die hochgewachsene, blonde Ärztin zu Hanna: »Unser Sorgenkind scheint ja heute recht munter zu sein, wie ich sehe. Gibt es dafür einen besonderen Anlaß? Ich hatte ja gestern nachmittag frei und war nicht im Haus.«

»Es gab einen Zwischenfall, und danach kam meine Mutter ins Spiel.«

Hanna klärte Wenke Andergast auf und sagte zum Schluß: »Sie sehen also, Frau Dr. Andergast, daß solch ein Zwischenfall auch sein Gutes haben kann. Ich überlasse das Mädel jetzt wieder Ihnen. Übrigens, es hat heute zum ersten Mal einigermaßen vernünftig gefrühstückt. Auch ein großer Schritt voran.«

»In der Tat, Frau Dr. Martens. Wir können uns demnach nur wünschen, daß es jetzt so weiter geht.«

Hanna wandte sich noch einmal Annelie zu und sagte: »Bleib brav, Annelie, ich komme später noch einmal zu dir.«

Sie war schon an der Tür, als Annelie ihr zurief: »Aber nicht vergessen, meine Oma Bea soll kommen.«

»Ich vergesse es ganz bestimmt nicht.«

»Wie geht es unserem Spatz, Hanna?« war Bea Martens erste Frage, als Hanna zum Mittagessen ins Doktorhaus kam.

»Wenn du Annelie meinst, hast du ja einen dicken Stein im Bett. Sie hat mich schon heute morgen gefragt, wann ihre Oma Bea kommt. Doch im Ernst, Mutti, ich freue mich, daß sie durch dich wieder Interesse an ihrer Umwelt zeigt. Wenn ich da an die vergangenen Tage denke, war sie heute geradezu lebhaft. Dich scheint sie ja wirklich schon in ihr kleines Herz geschlossen zu haben.«

»Ich werde gleich nach dem Essen zu der Kleinen hinübergehen, Hanna. Muß sie eigentlich den ganzen Tag im Bett bleiben? Du sagtest doch, daß ihr organisch nichts fehlt. Ich möchte wissen, ob ich sie ein Weilchen mit in den Klinikpark nehmen kann.«

»Gegen ein halbes Stündchen an der frischen Luft ist an und für sich nichts einzuwenden. Du kannst ja mit Frau Dr. Andergast darüber reden, weil sie Annelies Behandlung übernommen hat. Ich möchte sie nicht übergehen.«

»Natürlich. Ich wende mich nachher an sie. Jetzt werde ich erst mal bei Jolande in der Küche nachfragen, ob wir essen können.«

»Können wir, Frau Martens. Das Essen steht schon auf dem Tisch«, kam die fröhliche Stimme Jolandes von der Tür her, die die letzten Worte Bea Martens noch mitbekommen hatte.

Während der Mahlzeit sagte Jolande aus ihren Gedanken heraus: »Man kann richtig neidisch werden, wenn du soviel über die Kinder in der Klinik redest, Hanna. Ob ich es hier im Doktorhaus einmal erleben werde, daß so junges Volk Leben in die Bude bringt? Was sagen Sie, Frau Martens? Wäre es nicht pfundig, so ein oder zwei Enkelkinder zu betreuen?«

»Wem sagen Sie das, Jolande? Hanna hört ja nicht auf mich. Mir wäre es schon recht, wenn sie…«

»Mutti, nicht schon wieder«, unterbrach Hanna ihre Mutter lachend. »Ich fühle mich solo ganz wohl. Ich bin ganz galant und laß dem Herrn von nebenan den Vortritt. Ich habe noch jede Menge Zeit, um mich fest zu binden. Und du, Füchslein, sollst lieber an dich denken. Es gibt noch andere als deinen Heinz. Wir sind eben beide Töpfchen, die ihre Deckelchen noch nicht gefunden haben.«

Mit vergnügtem Schmunzeln beobachtete Bea Martens die beiden im Charakter so unterschiedlichen Frau. Es war schön, täglich mitzuerleben, wie gut sich Hanna und die Füchsin verstanden. Manchmal, wenn Kay auch kam, ging es recht lustig zu. Über das wunderbare Verhältnis zwischen Kay und Hanna war Bea Martens besonders glücklich.

Bea Martens blickte auf die Uhr und fragte: »Hast du Annelie gesagt, wann ich zu ihr komme?«

»Habe ich, Mutti. Du kannst ruhig noch entspannen. Ich habe der Kleinen gesagt, daß du kommst, wenn sie ihr Mittagsschläfchen gehalten hat. Du hast also noch Zeit.«

»Haben wir noch etwas zum Naschen im Haus, Jolande? Ich möchte Annelie eine Kleinigkeit mitnehmen.«

»Es sind mindestens vier Tafeln Schokolade da. Eine Tafel Kinderschokolade ist auch dabei. Soll ich sie holen?«

»Legen Sie die Kinderschokolade heraus, bevor ich in die Klinik hinübergehe.«

»Mach ich, Frau Martens. Ich habe sogar noch hübsches Geschenkpapier.«

»Ich für meinen Teil lasse euch jetzt allein, ich habe noch einen Hausbesuch zu machen. Wir sehen uns später drüben in der Klinik, Mutti.«

*

Ein weiches Lächeln auf den Lippen, ging Bea Martens eine Stunde später den Gang der Krankenstation entlang. Sie hatte vorher noch mit der jungen Kinderspychologin gesprochen, die keine Einwände gegen einen Spaziergang an der frischen Luft hatte, zumal der Tag sehr warm war.

Schwester Laurie kam mit einem Glas Tee aus der Teeküche. Als sie Bea Martens sah, sagte sie freundlich: »Sie werden schon sehnsüchtig erwartet, Frau Martens. Der Tee hier ist für Annelie. Würden Sie ihn bitte mit ins Zimmer nehmen?«

»Natürlich, Schwester Laurie, geben Sie nur her.«

Als Bea Martens die Tür öffnete, sah ihr Annelie mit großen Augen entgegen und sagte leise: »Du hast mich ja doch nicht vergessen, Oma Bea. Ich hatte solche Angst.«

»Aber, aber, mein kleiner Spatz, wie sollte ich dich denn vergessen? Ich habe dir doch versprochen, daß ich heute mittag wieder zu dir komme. Wie geht es dir? Hast du auch brav zu Mittag gegessen?«

Bea Martens trat an Annelies Bett und hauchte einen sanften Kuß auf die Kinderstirn.

Zwei weiche Arme schlangen sich um ihren Hals, und mit glänzenden Augen wisperte Annelie: »Du bist eine ganz, ganz liebe Oma.«

»Und du ein lieber, kleiner Spatz. Schau her, ich habe dir auch etwas mitgebracht.«

Aus ihrem Taschenbeutel zauberte Bea Martens die in buntes Geschenkpapier gewickelte Tafel Schokolade und eine ihrer Stoffelpuppen hervor und legte sie auf Annelies Bettdecke.

»Ganz für mich allein, Oma Bea?« In den Augen Annelies leuchtete es auf.

»Ja, ganz allein für dich, mein Spatz. Gefällt sie dir?«

»Danke, Oma Bea, die Puppe ist ja so süß. Sie bekommt auch gleich einen Namen. Hilfst du mir?«

»Nenn sie doch einfach Stoffelinchen. Oder gefällt dir der Name nicht?«

»Doch, er ist hübsch.« Selig drückte Annelie das kleine Püppchen an sich.

»Bleibst du jetzt ganz lange bei mir, Oma Bea?«

»Eine Weile schon. Was hältst du davon, wenn wir zwei etwas nach draußen in den Park gehen? Ich helfe dir beim Anziehen, und dann gehen wir.«

»Darf ich denn? Wird die Frau Doktor nicht böse sein?«

»Nein, sie wird nicht böse. Ich habe sie doch gefragt. Nun, möchtest du?«

Heftig nickte Annelie, und es ging ihr nicht rasch genug, in ihre Kleidung zu kommen.

Als Annelie fertig angezogen und gekämmt war, sagte Bea Martens: »So, Spatz, jetzt sagen wir noch Schwester Laurie Bescheid, damit sie nicht denken muß, du seist wieder davongelaufen, danach können wir gehen.«

Schwester Laurie stand mit der Oberschwester vor der Teeküche, als Bea Martens mit Annelie an der Hand aus dem Krankenzimmer trat.

Beide lächelten, als Annelie mit strahlenden Augen sagte: »Ich gehe jetzt mit meiner Oma Bea spazieren. Ich laufe aber nicht weg, ganz ehrlich nicht.«

»Du bist ein braves Mädchen, Annelie.« Sanft fuhr Schwester Elli über Annelies schwarzen Lockenkopf und tauschte einen Blick des Verständnisses mit der Mutter Hanna Martens’, die freundlich sagte: »In einer halben Stunde bringe ich Annelie wieder zurück.«

»Nun komm auch, Oma Bea«, drängelte Annelie, und lächelnd ließ sich Bea Martens von der Kleinen mitziehen.

Die beiden Schwestern sahen ihnen nach, bis sie an der Treppe waren, dann sagte Schwester Elli nachdenklich: »Wer hätte das vor ein paar Tagen gedacht? Wohl niemand.«

»Ich freue mich für die Kleine.«

»Ich auch, aber trotzdem muß man auch an die Zukunft des Mädchens denken. Wie wird es reagieren, wenn der Tag kommt, an dem es zurück ins Kinderheim muß? Und der Tag wird früher oder später kommen. Die Kleine klammert sich sehr an Frau Martens, darum habe ich so meine Bedenken in dieser Angelegenheit.«

In Bea Martens bestanden diese Bedenken nicht. Sie freute sich über Annelies strahlende Augen, die ihre Hand nicht losließ, als sie wenig später den gepflegten Klinikpark betraten.

Sie erklärte der Kleinen die verschiedenen Blumen, die in hübschen Rabatten blühten, und aufmerksam hörte sie ihr zu.

Damit es für Annelie, die noch immer körperlich geschwächt war, nicht zuviel wurde, zog sie sie zu einer im Schatten stehenden Bank und sagte liebevoll: »Jetzt wollen wir uns erst einmal ein bißchen ausruhen, Spatz.«

»Wer wohnt denn dort in dem Haus, Oma Bea?« Annelie, die sich aufmerksam umgesehen hatte, zeigte auf das Doktorhaus, das am Ende des Parks durch die Bäume und Sträucher leuchtete.

»Dort wohne ich mit meinen beiden großen Kindern. Mit der Frau Doktor, die du ja schon kennst, und mit dem Herrn Doktor, den du auch schon gesehen hast.«

»Nimmst du mich einmal mit, Oma Bea?«

»Wir werden sehen… Vielleicht. Soll ich dir jetzt eine hübsche Geschichte erzählen?« lenkte Bea Annelie ab.

»Kannst du das denn?«

»Aber sicher kann ich das. Was möchtest du hören?«

»Vom Hasen und dem kleinen Igel. Meine Mutti hat mir die Geschichte auch immer erzählt.«

Ein Schatten lief über das Kindergesicht, den Bea Martens jedoch über sah. Sie begann sofort mit dem Erzählen, damit erst gar keine Traurigkeit in Annelie aufkommen konnte. Es gelang ihr, sie abzulenken.

Als es Zeit wurde, Annelie in ihr Zimmer zurückzubringen, fragte diese: »Gehen wir morgen nachmittag auch wieder in den Park, Oma Bea?«

»Wenn das Wetter so schön bleibt, ja. Und wenn du immer tüchtig ißt, nehme ich dich auch einmal mit in die Heide. Wir besuchen dann den alten Schäfer Vinzenz, der hat ganz viele Heidschnucken, auf die er aufpassen muß.«

»Heidschnucken, was ist das?«

»Das sind wollige Schafe.«

»Au ja, die möchte ich gern sehen, Oma Bea. Ich esse jetzt immer ganz viel, damit ich mit dir in die Heide gehen darf«, beteuerte Annelie mit glänzenden Augen.

»Damit würdest du mir eine große Freude machen. Jetzt wird es Zeit für uns, du mußt ins Bett zurück.«

*

Die Tage vergingen, und es war eine Freude, mit anzusehen, wie sehr sich Annelie veränderte. Das Wichtigste für sie war ihre Oma Bea, an die sie ihr kleines Herz verschenkt hatte. Dabei vergaß Bea Martens nicht, sich auch weiter um die anderen kleinen Patienten zu kümmern.

Inzwischen wurde Annelie auch Hanna gegenüber immer zutraulicher. Hanna dachte nicht gern an den Tag, an dem Annelie entlassen werden konnte.

Drei Wochen nach Annelies Einlieferung in die Kinderklinik besprachen Hanna und Dr. Wenke Andergast ihre Entlassung.

»Wann werden Sie dem Mädel sagen, daß es ins Kinderheim zurückkommt, Frau Dr. Martens?«

»Das wird meine Mutter übernehmen, Frau Dr. Andergast. Ich muß ehrlich sagen, daß ich sehr froh darüber bin. Ich hoffe nicht, daß noch einmal ernsthafte Probleme auftreten.«

»Das glaube ich auch nicht. Die Kleine hat sich sehr gut gefangen. Meiner Meinung nach würde es nur schaden, wenn wir sie noch länger hierbehalten würden.«

»Das ist mir klar. Ich werde noch heute im Kinderheim anrufen und mit Frau Wittmer einen Termin ausmachen, wann man Annelie abholen kann. Wenn ich nur sicher wäre, damit das Richtige zu tun. Mir ist die Kleine sehr ans Herz gewachsen. Es wird etwas fehlen, wenn sie nicht mehr auf der Krankenstation herumgeistert.«

Hanna blieb noch eine ganze Weile nachdenklich allein in ihrem Sprechzimmer zurück. Sie hatte plötzlich ein ungutes Gefühl. Annelie war während der letzten Wochen so glücklich gewesen, es wäre schade, wenn sich das erneut ändern würde.