Kip Parvati und der Schatten des Todes - Miguel Larrea - E-Book
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Kip Parvati und der Schatten des Todes E-Book

Miguel Larrea

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Beschreibung

Wenn der Tod an die Tür klopft... Kip Parvati größter Wunsch geht in Erfüllung: Er wird die Seefahrtsakademie der indischen Marine besuchen, um das Kapitänspatent zu erwerben. Doch bevor er sich auf den Weg machen kann, breitet sich eine unheimliche Epidemie aus, die von Tag zu Tag mehr Tote fordert. Kip Parvati muss seine Abreise verschieben und wird Assistent eines eigenbrötlerischen Arztes, der auf der Suche nach einem Gegenmittel ist. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

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Miguel Larrea

Kip Parvati und der Schatten des Todes

Aus dem Spanischen von Martin B. Fischer

Fischer e-books

Für Lucía, die uns die Zukunft bringt.

 

Meiner Mutter, endlich.

Da schob sich oben auf dem Damm, in einem wilden Funkenwirbel, eine altmodische Dampflokomotive heran. In dem Augenblick, als sie genau über Birds Kopf vorbeifuhr, war sie ein schwarzes Nashorn, das über einen düsteren Himmel galoppierte.

KENZABURŌ ŌE, Eine persönliche Erfahrung

Es war schon sehr heiß, obwohl es nach dem Kalender noch zwei Monate dauerte bis zur Regenzeit des Monsuns. Nur am Rand der kahlen Lichtung, wo es etwas Schatten gab, standen ein paar dürre Grasbüschel.

Eine junge indische Gazelle graste ein paar Schritte neben ihrer Mutter sorglos am Saum der Lichtung. Wenige Meter entfernt duckte sich ein Panther im Schutz des Unterholzes und spannte langsam und unmerklich die Muskeln unter seinem glänzenden Fell, ohne dabei seine smaragdgrünen Augen von der Beute abzuwenden. Er wartete den passenden Augenblick für den Sprung ab, als plötzlich der Wind drehte, eine Schar weißgesichtiger Affen oben in den Bäumen schrille Warnschreie kreischte und einen Schwarm Papageien aufscheuchte, so dass die Vögel wie grellgrüne Farbspritzer in den Himmel stoben.

Das Gazellenkitz blieb wie gelähmt stehen und sah zu seiner Mutter hinüber, die es mit einem hohl klingenden Ruf zu sich rief, gerade in dem Moment, als die Raubkatze sich entdeckt sah und auf ihre Beute lossprang. Die junge Gazelle spürte den Schatten des Todes, duckte sich instinktiv, wich mit einem Satz seitlich aus und lief ins Dickicht. Der Panther krümmte sich noch in der Luft und nahm nach der Landung die Verfolgung auf. Er setzte über herabgefallene Äste hinweg, wandte sich unter verschlungenen Lianen hindurch, sprang über Farne und Büsche, bis er hinter der leichtfüßigen Beute herjagend den Fahrweg kreuzte, der das Dorf Pararás mit Kabashi verband. Von einem lauten Schrei aufgeschreckt blieb er abrupt stehen, lief dann schnell zurück in den Urwald und ließ eine ockerfarbene Staubwolke am Rand der Straße zurück. Von links, kaum drei Meter entfernt, kam ein Junge auf einem Fahrrad heran, der den Schrei ausgestoßen hatte, als er den Panther erblickte. Das Raubtier blieb sprungbereit im Dickicht hocken und beobachtete argwöhnisch, wie der Junge weiterfuhr.

Die schwarzen Haare des Radfahrers wirbelten mit den Enden seines grünen Halstuches um die Wette. Er raste den abschüssigen Weg hinunter, keuchte noch immer nach dem überstandenen Schrecken und trat mit aller Kraft seiner nackten Füße in die Pedale. Noch ein paar Mal schaute er zurück, um zu sehen, wie die überraschte Raubkatze reagiert hatte. Als er sah, dass der Panther wieder heraus auf die Straße gekommen war, sich mitten auf den Weg gesetzt hatte und dem Fahrrad hinterherstarrte, ließ sich der Junge weiter den Hang hinunterrollen.

Er fuhr an jenem Aprilmorgen des Jahres 1921 noch eine Viertelstunde länger auf dieser Straße, begleitet vom Kreischen und Schreien des Urwalds, bis er in Kabashi ankam.

DIE MANDURI-INSELN

Die weiße Barkasse glänzte in der Sonne, während sie über das grüne Wasser glitt. Am Bug des Schiffes standen zwei Männer und beobachteten einen Schwarm Geier, der über den schroffen Klippen der Manduri-Inseln seine Kreise zog.

»Da sind sie, wie immer«, sagte einer von ihnen.

Ziro, so hieß der andere Mann, nickte mit düsterer Miene.

»Aber sie fressen sie wohl nicht«, meinte Rum, der erste Mann, der ins Gespräch kommen wollte. »Sie kommen herunter, nähern sich den Körpern, wahrscheinlich um an ihnen zu riechen, und dann steigen sie wieder auf.«

Der verhärmte Ausdruck Ziros wurde noch härter, während er den Vögeln zusah, die in weiten Bögen kreisten. Rum war zum Heck gegangen. Nun beobachtete er den Mann von dort aus und strich sich dabei mit den Fingern durch seinen dichten roten Schnurrbart. Neben ihm, an die Steuerbordwand gelehnt, stand sein Schwager Magor Parvati.

»Ziro hat während der ganzen Überfahrt noch nicht ein Wort gesagt«, meinte er in Paharis, der Sprache von Pararás.

»Wundert mich nicht«, sagte Magor mit seiner tiefen Stimme. »Mal sehen, wie es sein Bruder aufnimmt.«

»Na ja, … es ist keine leichte Aufgabe, ihm einen Brief zu bringen, in dem seine Frau ihm mitteilt, dass sie mit den Kindern ausgewandert ist.«

Magor wandte sein vom Wetter gebräuntes Gesicht dem Horizont zu. Dann kniff er die Augen zusammen und sagte: »Und was hätte sie sonst machen sollen?«

Rum schüttelte müde den Kopf: »Ja, was hätte sie sonst wohl machen können.«

Magor presste die Lippen zusammen und schaute hinüber zu dem massigen Basaltfelsen, der die grüne Inselgruppe der Maduris überragte.

»Seit wann ist sein Bruder denn schon hier?«

»Fast drei Wochen.«

»Schon ziemlich lange.«

»Hoffentlich bleibt er noch länger.«

»Ja, … natürlich.«

Magor zog ein rotschwarzes Tuch aus der Hosentasche, mit dem er Mund und Nase bedeckte, und verknotete es hinter dem Kopf. Rum sah ihm zu.

»Vielleicht hast du recht«, sagte er dann und vermummte sich ebenso wie sein Schwager.

»Diesmal bin ich gekommen, um Ziro zu begleiten, aber das ist das letzte Mal. Ich habe mir geschworen, nie mehr hierherzukommen.«

Lange bevor sie den notdürftig aus Baumstämmen zusammengezimmerten Landungssteg erreichten, bedeckten auch die anderen Besatzungsmitglieder die untere Hälfte ihres Gesichts.

Beim Entladen machte eine der drei Büffelkühe, die sie an Bord hatten, den Männern sehr zu schaffen, und das, obwohl alle Tiere jeweils mit einem Vorder- und einem Hinterbein aneinandergebunden waren. Kaum hatte das Boot den Steg erreicht, begann sie zu brüllen und wild die Augen zu verdrehen, so, als ob sie ihr Schicksal voraussah. Sie hob ihre große feuchte Schnauze in die Luft und bewegte den Kopf zitternd hin und her. Dann versuchte sie zurückzugehen. Die Kuh neben ihr muhte energisch und machte einen Schritt zur Seite, womit sie die dritte wegschob. Sogleich entstand ein Gerangel breiter brauner Rinderrücken, die aneinanderscheuerten, dazu das Gebrüll der Tiere und das Getrappel ihrer Hufe auf dem Schiffsdeck. Endlich gelang es Magor, Rum und einem dritten Mann, die Büffelkühe mit Knüffen in die Flanken und Schlägen an den Hals wieder auseinanderzubringen. Kurz darauf bemühte sich Magor, den Strick loszubinden, der die Beine der streitsüchtigen Büffelkuh zusammenhielt, als sie plötzlich ausschlug und mit dem Huf sein Knie traf.

»Sie hat’s mir zerschmettert! Das Mistvieh hat mir das Knie gebrochen!«, schrie er und wälzte sich vor Schmerzen auf dem Deck. Er keuchte, legte den Kopf auf den Boden und riss sich das Tuch vom Gesicht.

»He! Mach keinen Blödsinn, Magor!«, warnte ihn Rum, hob das Tuch auf und band es seinem Schwager wieder um. Der Verletzte fluchte mit zugekniffenen Augen.

Rum, Ziro und noch ein Mann trugen Magor hinunter in die Kajüte und legten ihn in eine Koje. Dort ließen sie ihn liegen und gingen nach oben, um den anderen Besatzungsmitgliedern zu helfen, die Lebensmittel an Land zu bringen.

Während sie Dutzende von Kisten und Fässern, Säcken und dazu die drei Rinder auf den Steg brachten, sah ihnen vom Strand aus eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen schweigend zu. Sie saßen oder lagen im Schatten der Palmen, um sich vor der Mittagshitze zu schützen. Einige von ihnen bedeckten ihre hageren Leiber mit Kleiderfetzen, andere hatten nicht einmal das, um ihre geschundenen Körper zu verbergen. Unter den wenigen aufrecht stehenden Menschen war eine noch recht jung aussehende Frau, die ein paar Schritte nach vorn machte und aus dem Schatten der Palmen trat.

»He! Ihr da!«, rief sie mit heiserer Stimme. »Ich bin die Frau von Ziad Rasha. Bei Allah! Bitte, wisst ihr etwas von ihm?« Über die weite Entfernung und das Meeresrauschen waren ihre Worte schwer zu verstehen. Andererseits bewahrte die Entfernung die Männer auch davor, die Pusteln und Eiterblasen genau zu erkennen, die ihr Gesicht entstellten. Die Männer schauten einander an.

»Kennt sie einer von euch?«, fragte Rum auf Arabisch, nachdem er ächzend eine schwere Holzkiste abgestellt hatte.

»Ja, ich«, antwortete einer leise. »Das ist Vhida Rasha. Wir kennen ihren Mann, Ziad. Er ist vor ungefähr einem Monat mit den drei Kindern nach Nainkara ausgewandert.«

»Nach Nainkara?!«, fragte nun ein anderer der Leute aus Kabashi erstaunt. »Rasha ist nach Nainkara gegangen? So weit? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Je weiter weg, desto besser«, entgegnete der Erste.

»Hallo, bitte, wisst ihr denn nichts von ihnen?«, war nun wieder die verzweifelte Stimme der Frau zu hören.

»Sagst du es ihr?«, fragte einer den anderen.

»Und was soll ich sagen?«

»He, sag mal, wie heißt sie noch mal?«, fragte Rum dazwischen.

»Vhida Rasha.«

Rum formte mit seinen Händen einen Trichter vor seinem Mund und schrie durch das Tuch hindurch zu der Frau hinüber: »Vhida! Vhida Rasha, Ziad schickt dir viele Grüße. Es geht ihm gut und die Kinder sind alle gesund. Er hat viel Arbeit. Er hat Obst, Gemüse und Reis zu den Lebensmitteln beigesteuert, die wir euch hier bringen. Ich soll dir Grüße ausrichten und dir sagen, dass er dich liebt!«

Die Frau dankte mit einer Handbewegung und ging mit gesenktem Kopf wieder zu den anderen Menschen zurück, die sich unter den Palmen aufhielten. Es sah aus, als wollte sie sich unter ihrer grauen Decke vor dem Himmel verbergen.

Die Männer auf dem Steg sahen Rum völlig entgeistert an.

»Was ist denn los?«, stieß er hervor, und noch bevor sie etwas sagen konnten, lief er in Richtung Strand und rief: »Alle mal zuhören! Der Statthalter Bundha lässt euch sagen, dass sie große Fortschritte machen bei dem Arzneimittel, das sie entwickeln! Ihr dürft die Hoffnung nicht aufgeben!«

Zwischen den regungslosen Körpern unter den Palmen war ein erregtes Murmeln zu hören.

»So, das ist das Letzte«, keuchte Ziro und stellte ein Fässchen mit Maisöl ab. Er wischte sich mit dem Ärmel seines roten Hemdes den Schweiß von der Stirn. Dann musterte er von fern die Leute, die sich unter den Palmen zusammendrängten.

»Siehst du ihn, Rum?«

»Nein, sie sind zu weit weg.«

»Letzte Woche habe ich ihm einen Brief geschickt, dass ich heute mit dem Boot komme. Wo kann er nur stecken?« Ziro lief ein paar Schritte auf dem Steg in Richtung Strand und rief: »Rhais Boshoa, bist du da?! Rhais Boshoa! Ich bin’s, dein Bruder Ziro!«

Einige Leute am Strand wechselten ein paar Worte miteinander, und dann trat ein kräftiger junger Mann, der sich auf einen Stock stützte, aus der Gruppe heraus. Er trug nur einen Lendenschurz und ein offenes, ausgeblichenes Hemd. Sein rechtes Bein steckte bis zur Hälfte des Oberschenkels in einem dreckigen Verband. Der junge Mann schüttelte den Kopf und bewegte dabei einen Arm hin und her.

»Ich bin Ziro Boshoa, aus Pararás! Kennst du meinen Bruder Rhais?«

Der Mann am Strand antwortete etwas, aber die Windböen trugen die Worte davon.

»Was hast du gesagt?!«, rief Ziro.

Der andere blähte seine Brust und hielt seine Hände an den Mund: »Er ist nicht mehr da!«

Ziro runzelte verwirrt die Stirn. »Was soll das heißen, er ist nicht mehr da? Wohin ist er denn ge…?«, rief er und verstummte plötzlich. Er schaute die anderen Männer auf dem Steg flehend an, so, als ob er fragen wollte, ob sie etwas anderes verstanden hatten. Sie blickten zu Boden. Ziro drehte sich wieder um, dem Mann am Strand zu, dessen Hemd im Wind flatterte. Er hob den Arm und wollte etwas sagen, aber er brachte nur unverständliches Gestammel hervor. Er senkte den Kopf und bedeckte seine Augen mit der Hand. Rum ging zu ihm und legte ihm den Arm um die Schultern. Dann zog er ihn weg und brachte ihn langsam zurück zum Schiff. Die anderen Männer sahen auf die Planken des Holzstegs, als sie vorbeigingen.

»Los, fahren wir«, sagte Rum zu ihnen.

Die Barkasse entfernte sich vom Strand, ihr Bug schlug auf die Wellen, und die Leute am Strand kamen in Bewegung. Einige von ihnen hinkten aus dem Schatten der Palmen hervor und liefen zum Steg.

EIN ALTER FREUND, EIN LIBANESE UND EIN FEINER HERR

Als er in Kabashi ankam, fuhr der Radler langsamer und legte sich die Worte zurecht, die er vor ihr sagen würde. Er gelangte in das arabische Viertel und rollte die abschüssige Straße hinunter. Auf dem Kopfsteinpflaster klapperten alle lockeren Teile des Fahrrads. Er bemühte sich, den in der Sonne dösenden Hunden auszuweichen, einem mit Fischernetzen beladenen Karren, der sich schwerfällig den Hang hinaufquälte, und den vielen Männern mit langen Bärten und weißen Kutten, die auf der Straße liefen.

Er bremste ab, bevor er in die Gasse der Kunsttischler einbog, und sog durch das Tuch vor seiner Nase den würzigen Duft des Sandelholzes ein. Einige der Werkstätten hatten noch nicht geöffnet. Ein Mann, der vor der Tür seines Ladens einen Tee trank, sah ihn missmutig an.

»Manche Leute stehen spät auf«, meinte der Radfahrer mit einem Blick auf den heruntergezogenen Rollladen neben dem Händler.

»Und manche stehen gar nicht mehr auf«, gab der Händler verbittert zurück.

Der Radfahrer fuhr durch das Westtor in den neuen Teil der Stadt und bog in den Fußgänger- und Wagenverkehr auf der grau gepflasterten Bunda-Allee ein. Er war erstaunt, als er die Straße heute sah: Es war sehr ruhig. Die Leute liefen allein oder zu mehreren umher, mit hängenden Köpfen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, lustlos, ziellos. Wenn sich zwei unterhielten, dann eher heimlich, die Köpfe nah beieinander, um die Worte des Gegenübers durch den Mundschutz verstehen zu können. Der Radfahrer bemerkte viele geschlossene Türen und Fenster, die mit gekreuzten Brettern vernagelt worden waren.

Als er in das Viertel der Fischer kam, sah er angewidert einer Ratte mit nassem Fell nach, die beim Überqueren der Straße ihre Hinterbeine nachzog und mit blutiger Schnauze über das Pflaster stolperte. Ein junger Hund sprang laut kläffend um sie herum, traute sich aber nicht, sie zu beißen. An den Straßenecken und an den Mauern der verrammelten Häuser sah er noch mehr tote Ratten liegen.

Beim Einbiegen auf die Palaststraße wurde der Radfahrer von einem Trupp Packesel überrascht, die Lehmziegel transportierten und eine Staubwolke hinter sich zurückließen. Sie wurden von zwei Jungen und einem Mann angetrieben, die mit den safrangelben Turbanen der Bergvölker bekleidet waren und Haselruten schwenkend und laut rufend zwischen den Tieren daherliefen. Der Junge stieg von seinem Fahrrad und stellte sich an den Rand der Straße, um die Lasttiere mit ihren ausladenden Tragkörben vorbeizulassen. Während die Esel weitertrabten, erkannte er auf der weithin sichtbaren Uhr des Palastes, dass es bis zu seiner Verabredung noch eine Stunde war. Also ziemlich viel Zeit, sagte er sich und gelangte zum Hauptplatz von Kabashi, der von Schatten spendenden Bäumen umstanden und mit Cafés und Läden verschiedenster Art gesäumt war.

Er lehnte das Fahrrad an einen Feigenbaum und nahm das Tuch ab, um sich mit dem Handrücken den Schweiß vom Gesicht zu wischen. Nachdem er kurz die Auslagen des größten Geschäfts am Platze betrachtet hatte, »Handelswaren Saman«, band er sich das Tuch wieder um und trat ein.

Ein dünner Mann, dem der rechte Arm fehlte, saß mit dem Rücken zur Tür an einem Tisch, auf dem ein aufgeschlagenes Geschäftsbuch lag. Er unterhielt sich ruhig mit einem anderen Mann, der ihm am Tisch gegenübersaß und seinen Arm auf einen Stapel farbiger Stoffballen stützte. Dieser trug sein dunkles Haar sorgsam gekämmt und zeichnete sich durch seine gemessenen Gesten aus. Sein Mund war durch einen Atemschutz aus Leinen verdeckt.

In der Luft im Laden, die durch die schwerfälligen Deckenventilatoren kaum bewegt wurde, vermischte sich der Duft von Zimt und Kurkuma, Weihrauch und Kaffee. Der Junge beobachtete die beiden Männer eine Zeitlang und ließ seinen Blick dann ruhig über die Wände des Ladens schweifen: Da hingen Knoblauchzöpfe, dort getrocknete Paprikaschoten, da hinten Tierhäute; die Regale waren voll von Gläsern mit Keksen und Gebäck, allerlei Nüssen und Trockenfrüchten, in Sirup eingelegtem Obst …

Er entdeckte einen jungen Mann ohne Mundschutz, der in einer Ecke des Raumes Werkzeuge aufräumte und ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Dann fiel sein Blick auf ein Brett mit großen Gläsern, in denen in Essig eingelegtes Gemüse aufbewahrt wurde. Daneben standen hohe Glastöpfe, in denen Honig in verschiedenen Goldtönen schimmerte.

Der Mann am Tisch, der sein Gesicht mit dem Tuch aus Leinen schützte, hob einen Arm, während er zu dem Einarmigen sprach, den man nur von hinten sah. Er deutete auf den Jungen, der mit den Werkzeugen beschäftigt war.

»He, du!«, rief er, »bring mir diese Rolle purpurnen Stoff da!« Dabei zeigte er auf einen Ballen, der kaum zwei Meter von ihm selbst entfernt lag. Der Junge sah ihn vom anderen Ende des Ladens aus kurz an. Er hielt eine große Lederschere in der Hand.

»Lass nur, Anil, ist nicht nötig«, sagte der Einarmige.

»Doch, doch, ich möchte, dass du ihn dir gut ansiehst«, entgegnete der andere und wandte sich wieder dem jungen Mann zu. »Die Rolle da, Junge. Bring sie mir!«

»Aber ich sehe sie ja gut von hier. Lass es, Anil, es ist nicht nötig.«

»Aber ja doch, Mensch, ich will, dass du dir die Güte der Baumwolle aus der Nähe ansiehst. – Na los, bring mir den Stoff her, Junge!«

Der Junge bei den Werkzeugen starrte ihn an. Seine Nasenflügel bebten.

»Du brauchst ihn nicht zu holen, Anil«, versetzte der Einarmige trocken. »Es ist nicht nötig, Ulan, ich sehe den Stoff auch von hier gut, und außerdem kenne ich diese Art von Gewebe.«

»Wie du meinst, Saman, ganz wie du meinst.«

Nachdem er dieses Gespräch mit angehört hatte, lief der Junge mit dem grünen Halstuch im Geschäft umher und gelangte schließlich an den breiten Ladentisch, an dessen einem Ende auf einigen Feigenblättern Gebäck mit Pistazien und Honig ausgestellt war. Er stützte die Hände auf den kalten Marmor der Theke und schaute sich das Gebäck an. Dann zog er das Tuch vom Gesicht, ergriff schnell ein Stück und steckte es in den Mund. Er schloss genussvoll die Augen, bis ihn plötzlich jemand an der Schulter packte. Es war der Ladengehilfe, der eben noch mit den Werkzeugen hantiert hatte. Die große Lederschere hielt er auch noch in der Hand. Er war größer und kräftiger und sah den anderen mit ernstem Blick an. Sein Gesicht wurde beherrscht von einer kantigen Adlernase.

»Ich habe dich gesehen«, warnte er auf Arabisch mit fremdländischem Akzent.

Der überraschte Kunde schluckte den Rest des Gebäcks hinunter und besah sich sein Gegenüber: Der Ladengehilfe war fast ein Kopf größer als er selbst, wobei ihn sein kräftiges Kraushaar noch größer erscheinen ließ, und er trug hohe Stiefel aus rötlichem Leder.

»Sei gegrüßt«, sagte der Kuchenesser schließlich und schob sich das grüne Tuch wieder über Mund und Nase. »Ich habe dich auch gesehen«, fügte er dann hinzu. Der Gehilfe runzelte die Augenbrauen, und seine schwarzen Augen funkelten, als ob er direkt ins Feuer sähe. »Ich habe dich beobachtet, wie du ein Stück Kuchen genommen hast«, sagte er dann und deutete mit dem Kinn auf das Gebäck.

»Ja, die sehen gut aus – und sie schmecken sogar noch besser, als sie aussehen.«

»Und sie kosten einen halben Dirham.«

»Ach, du dachtest, ich wollte sie stehlen?«, stellte der mit dem grünen Tuch belustigt fest, nahm noch ein Stück Gebäck, hob das Tuch an und biss ab. »Du bist wohl nicht von hier, was?«, fragte er mit vollem Mund. »Du hast so einen komischen Akzent.«

»Was geht dich das an?«

Der andere sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Neugierde an, ohne auf den harschen Ton einzugehen. Er aß in Ruhe den Kuchen auf, bevor er die Hand in seinen Beutel aus Büffelleder steckte und darin herumwühlte. »Na komm schon, nimm dir selbst auch ein Stück und gib mir einen halben Dirham raus«, meinte er dann und legte eine Zwei-Dirham-Münze auf den Ladentisch.

Der drohende Ausdruck verschwand aus dem Gesicht des Gehilfen, aber er schien verwirrt zu sein. »Na los, nimm dir ein Stück, statt mich anzuknurren!«

Der Angesprochene wollte schon wieder die Stirn runzeln, aber der entwaffnende Blick des Kunden bewegte ihn nun doch zu einem etwas gezwungenen Lächeln. »Ich dachte, du wolltest den Kuchen stehlen.«

»Ach, woher denn, ich …«

»Na, ja«, unterbrach ihn der Gehilfe, »gerade dieses Gebäck ist sehr beliebt bei Langfingern, wie Saman sagt, und weil ich dich ja nicht kenne, ich meine …«

»Anil!«, rief ihn der einarmige Mann vom Tisch.

»Was wünschst du, Saman?«, antwortete der Angesprochene.

Der Einarmige wandte sich um und nahm die Lesebrille ab. Da entdeckte er den Jungen mit dem grünen Halstuch. Sogleich sprang er auf und lief auf ihn zu. »Na so eine Überraschung, wen haben wir denn da!?«

Der Gehilfe sah die beiden verwundert an. Der Junge umarmte den Ladeninhaber herzlich und grüßte: »Salam Aleikum, Rajid.«

»Aleikum Salam, Bandahai«, erwiderte der Einarmige den Gruß auf Arabisch und Paharis. Sie klopften einander freundschaftlich auf den Rücken, bevor der Ladenbesitzer dem Jungen ins Gesicht sah und meinte: »Du bist gewachsen!«

Der andere lachte: »Aber du hast mich doch vor gerade vier Monaten das letzte Mal gesehen. Ich glaube kaum, dass ich da viel gewachsen bin.«

»Aber ja! Du bist gewachsen! Schau, jetzt bist du schon größer als ich! Aber nicht so groß wie der da«, und er zeigte auf seinen Gehilfen. »Das ist Anil. Er ist jetzt seit fast vier Monaten bei mir und geht mir im Laden zur Hand.« Er lächelte. »Anil, das ist Kip Parvati.«

Der Gehilfe senkte beschämt den Blick. Kip reichte ihm die Hand. »Grüß dich. Wir haben uns schon kennengelernt, Rajid. Und mir scheint, Anil ist ein sehr zuverlässiger Angestellter.

Der Gehilfe drückte die dargebotene Hand und murmelte leise: »Schön, dich kennenzulernen, Kip.«

»Ich freue mich auch, Anil.«

Inzwischen war der Mann, mit dem Rajid Saman gesprochen hatte, vom Tisch aufgestanden. Er war hochgewachsen, fast so groß wie Anil. Seine elegante Tunika war auf der Brust mit feinen schwarzen Stickereien verziert.

»Das ist also Kip Parvati«, sagte er mit tiefer Stimme und kam zu den anderen herüber. »Der Junge, der die berühmte Perle gefunden hat und reich geworden ist.«

»Genau der«, entgegnete Rajid. »Kip, das ist Ulan Torbahna, der beste Händler mit Leinen- und Seidenstoffen in diesem Teil der Welt. Und dazu der Hersteller der besten Gewänder in dieser Gegend.«

»Ich danke dir für das Kompliment, Saman, aber du übertreibst etwas«, sagte der Tuchhändler und reichte Kip eine sehnige Hand mit schlanken Fingern. Er trug einen Goldring mit einem schwach glänzenden Obsidian.

»Bandahai, Ulan«, grüßte Kip und drückte die dargebotene Hand.

»Es ist mir ein Vergnügen, Kip Parvati. Ich habe schon viel von dir gehört.«

»Kommt, setzen wir uns ein Weilchen«, schlug Rajid vor und ergriff Kip am Arm, um ihn hinüber zum Tisch zu führen. »Anil, hol doch eine der guten Teekannen, eine von Afhian, und Gläser für uns alle.«

»Sofort, Saman, ich bin schon unterwegs«, antwortete der Ladengehilfe und verschwand.

»Saman, ich werde den Tee wohl nicht genießen können«, entschuldigte sich Ulan. »Ich muss noch ein paar andere Kunden besuchen, bevor ich nach Orgal zurückfahre.«

»Tja, da kann man nichts machen«, sagte Rajid und gab ihm die Hand. »Dann bis zum nächsten Mal.«

»Lebe wohl, Ulan«, verabschiedete sich auch Kip von ihm.

Um zur Tür des Ladens zu gelangen, musste der Tuchhändler zwischen langen Reihen von Säcken hindurchgehen, die mit Hülsenfrüchten, Kartoffeln, duftenden Gewürzen, Tee und Kaffeebohnen gefüllt waren. Der feine Stoff seines sandfarbenen Gewandes bauschte sich bei jedem Schritt.

»Der ist aber elegant«, fand Kip, als der Händler den Laden verlassen hatte.

»Ja, sein Gesicht ist immer glatt rasiert und das Haar geölt und nach hinten gekämmt, so dass es aussieht wie heißes Pech. Und dazu die Tunika zu hundert Dirham. Das ist ein bedeutender Händler. Etwas zu geldgierig vielleicht, aber das ist ja nichts Ungewöhnliches bei diesem Beruf.«

Sie gingen zum Tisch und setzten sich einander gegenüber. »Wie geht’s deiner Familie, Kip?«

»Danke, gut, alle sind wohlauf. Und deine Familie?«

»Bis jetzt auch gut, aber ich mache mir Sorgen. Es gehen Gerüchte um, dass sie die Stadt schließen könnten. Das machen sie bei einer Seuche, steht in der Zeitung. Sie haben es in Orgal gemacht, vor hundertsiebzig Jahren, als die Beulenpest wütete. Ich möchte, dass meine Frau und die Kinder so schnell wie möglich von hier weggehen.«

»Und du bleibst hier?«

»Ich kann doch den Laden nicht aufgeben«, sagte Rajid verzagt. »Die Krankheit ist ganz plötzlich gekommen, und nun habe ich den Laden voller Waren und muss alle meine Zulieferer bezahlen. Alle wollen gleich ihr Geld, sie gehen vielleicht ein bisschen mit dem Preis runter, aber bezahlen soll ich sie sofort.« Er klang beunruhigt und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Sie wollen ihr Geld und dann aus Kabashi verschwinden. Ulan hat mir wenigstens zehn Tage mehr eingeräumt, bis ich ihn bezahlen muss, aber wenn er sein Geld dann nicht kriegt, muss ich ihm hohe Zinsen zahlen. Seine Stoffe verkaufen sich normalerweise sehr gut, aber jeden Tag gibt es weniger Leute hier, und damit habe ich auch weniger Kunden … Es ist ein Teufelskreis.« Er warf einen Blick hinaus auf die Straße. »Den armen Anil muss ich sicher auch bald entlassen. Ich bin sehr knapp bei Kasse, aber ich habe gerade noch genug, damit meine Familie abreisen kann, bevor sie die Stadttore schließen. Meine Frau will mich nicht allein lassen, aber ich habe keine ruhige Minute, solange sie mit den Kindern noch hier in Kabashi ist.«

»Vielleicht solltest du auch gehen. Wer weiß, es kann um das Geschäft oder um das Leben gehen, Rajid.«

»Aber dieses Geschäft ist mein Leben! Und das meiner Familie. Und außerdem werden die Läden geplündert, wenn die Besitzer sie verlassen.«

Kip seufzte und sah hinauf zum Deckenventilator, der ihm Luft zufächelte.

»Du musst es ja wissen, Rajid. Überleg es dir gut«, gab er mit ernster Stimme zu bedenken. »Als ich heute in Kabashi angekommen bin, hat alles ziemlich traurig ausgesehen. Die Leute sind besorgt, sie haben Angst. Die Stadt ist zu einer Falle geworden, zu einer tödlichen Falle.«

Die beiden saßen schweigend am Tisch und sahen sich an.

»Wir gehen alle fort«, meinte Kip nach einer Weile.

Rajid zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Meine Familie und die von meinem Onkel Rum.«

»Ist die Krankheit denn auch schon bis Pararás gekommen?«

»Es hat vier Fälle gegeben, vor zwei Wochen, in zwei Nachbarfamilien. Und es heißt, die Seuche kann jeden Tag ausbrechen.«

»Wahrscheinlich. Hier hat es vor ungefähr zwei Monaten angefangen. Und seitdem hat es nicht mehr aufgehört. Im Gegenteil, die Fälle nehmen ständig weiter zu«, stellte Rajid fest. »Und ihr? Wann geht ihr weg? Und wohin?«

»Sie fahren in drei Tagen nach Vinuhet, nahe der persischen Grenze. Die Bergluft soll verhindern, dass die Krankheit sich entwickelt.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört. Aber du hast gesagt, sie fahren. Was ist mit dir? Fährst du denn nicht mit?«

»Ich habe vor, nach Bombay zu gehen, um die Aufnahmeprüfung an der indischen Seehandelsschule zu machen.«

»Dann lernst du also, wie man ein richtiger Seemann wird – wie schön!«

»Ja, wenn alles gutgeht, … wenn alles so funktioniert, wie ich’s mir vorstelle«, lächelte Kip. »Endlich, Rajid, endlich wird mein Traum wahr. Ich wollte schon als kleiner Junge Seemann werden.«

»Ich weiß. Du hast es mir ja schon oft genug erzählt. Wie lange dauert denn die Ausbildung?«

»Wenn ich die Aufnahmeprüfung bestehe – was ich natürlich hoffe –, dann drei Jahre ab dem Sommer.«

Rajid lehnte den Kopf zurück. »Mann, ich werde dich vermissen, Kip. Ich habe mich schon gewundert, dich heute hier zu sehen. Du bist ja immer am Lernen, sagt mir dein Vater jedes Mal, wenn ich ihn sehe … Was macht er eigentlich so, dein Vater?«

»Mein Vater? Dem geht’s gut, er fährt auf der neuen Ungeduld zusammen mit Rum und meinem Bruder Soros zum Fischen aus. Alle sagen, das Boot ist wunderbar, und das stimmt auch: Wenn du hart am Wind segelst, bist du schneller als mit jedem anderen Boot aus Pararás. Es hat genau die richtige Länge, ist robust und dabei leicht. Ziro, der auch ein gutes Boot hat, ärgert sich jedes Mal schwarz, wenn sie an ihm vorbeifahren. Aber mit meinem Vater an den Segeln und Rum an der Pinne, da sehen die anderen die Ungeduld nur noch von hinten!« Kip lachte laut auf. Doch nach einer kurzen Pause wurde er wieder ernst. »Nein, meinem Vater geht es gut, er macht sich nur Sorgen wegen der Krankheit, klar, wie alle hier. Der Entschluss, wegzugehen, ist ihm nicht leichtgefallen. Am Ende haben ihn meine Mutter und Onkel Rum überzeugt. Heute ist er mit Rum, Ziro und ein paar anderen zu den Manduri-Inseln rausgefahren, um den dort ausgesetzten Leuten Lebensmittel zu bringen. Mein Vater war schon ein paar Mal dort, denn aus Pararás will niemand zu den Inseln fahren. Er erzählt jedes Mal schlimme Sachen; wie sie dort hausen, von der Krankheit und so. Einmal, als ich auf der Bank vor dem Haus gesessen und gelesen habe, konnte ich durch das offene Fenster mit anhören, wie er meiner Mutter von seiner ersten Fahrt zu den Inseln erzählt hat. Da schwamm eine Leiche im Wasser, als sie mit dem Boot näher kamen. Damit sie sie nicht ins Boot zu hieven brauchten, beschlossen sie, die Leiche mit dem Bootshaken heranzuziehen und so bis zum Strand zu schleppen, wo die Kranken sie dann begraben konnten. Mein Vater sollte die Leiche mit dem Bootshaken heranholen. Sie schwamm mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Als er mit dem Haken nach einem Halt in den Kleidungsfetzen suchte, hat sich der Körper auf einmal umgedreht, und man konnte das Gesicht sehen. Mein Vater sagte, das war das Schrecklichste, was er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, das Gesicht soll so zerfressen gewesen sein, dass es aussah wie die Gedärme einer Kuh. Das hat er gesagt. Meine Mutter hat geschrien vor Ekel. Und dann hat sie meinem Vater gesagt, dass wir aus Pararás fortgehen müssen, weil jeden Tag mehr Leute krank werden. Aber mein Vater hat gar nicht auf sie geachtet, er hat weitererzählt, wie sie an den Steg gekommen sind, wie sie die Leute gesehen haben, die Kranken, die Ausgestoßenen, wie er sagt. Sie haben ihm vom Strand aus zugerufen, er soll die Leiche bloß draußen im Meer treiben lassen, sie hätten schon genug mit ihren eigenen Toten zu tun.«

»Das muss wirklich übel da sein, auf den Inseln«, murmelte Rajid.

»Ganz sicher. Und dann werden immer mehr Leute dahin geschickt. Viele haben Verwandte dort. Ziro fährt oft mit auf die Inseln, um seinen kranken Bruder zu sehen, der auch dort ist. Der hat früher hier in Kabashi gelebt.«

»Wie heißt er denn?«

»Mit Familiennamen Boshoa und sein Name, warte mal …«

»Rhais, das muss Rhais Boshoa sein. Den kenne ich gut. Er kommt oft hier vorbei, weil er mit einer Cousine meiner Nachbarin verheiratet ist und weil seine Kinder mit meinen zusammen in die Schule gehen. Ein sympathischer Kerl, erzählt immer lustige Witze. Jetzt, wo du es sagst, fällt mir wieder ein, dass er mal gesagt hat, er sei aus Pararás. Ich wusste nicht, dass er die Krankheit bekommen hat.«

»Ziro hat es sehr getroffen, er hat nur den einen Bruder.«

»Das Schlimmste ist, dass sie kein Mittel gegen die Seuche finden«, sagte Rajid. »Sie müssten doch eigentlich alles versuchen. Ulan Torbahna, der Tuchhändler, hat mir gesagt, er kenne einen Arzt, der sicher ein Mittel finden würde, um die Krankheit zu besiegen. Ulan meint, man müsste ihn fragen, diesen Arzt, denn der habe vor langer Zeit in Orgal viele Leute gesund gemacht, und er habe auch seinen Sohn geheilt, den sie schon für tot erklärt hatten und den kein anderer Arzt heilen konnte.«

»Und wo soll dieser Arzt sein?«, fragte Kip. »Hat er schon versucht, ein Heilmittel zu finden?«

»Das glaube ich kaum, denn sonst würden es die Kranken ja schon verabreicht kriegen. Er soll irgendwo in der Gegend von Orgal leben, wo genau, weiß ich auch nicht.«

»Aber wenn er so ein guter Arzt ist, dann müsste er doch hier in Kabashi sein, wo die meisten Kranken sind.«

»Ulan sagt, der Mann sei vor dreißig Jahren aus Kabashi verschwunden, und er soll aus irgendeinem Grund geschworen haben, nie wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen.«

»Er will nie wieder zurückkommen? Warum das denn?«

»Genau das habe ich Ulan auch gefragt, aber er wusste es nicht. Es gibt nur Gerüchte darüber.«

»Eine komische Geschichte«, wunderte sich Kip.

»Kann man wohl sagen – aber wir sollten von etwas Schönerem sprechen, Kip«, schlug Rajid vor. »Mein Vater hat mir erzählt, dass du schon Englisch und Hindi sprichst, das sind dann mit Arabisch und Paharis bereits vier Sprachen. Damit erschließt sich dir die Welt, Kip.«

Kip machte eine ablehnende Handbewegung. »Ja, ich lerne viel, jeden Tag sechs Stunden. Seitdem mein Vater von seiner dreijährigen Abwesenheit zurückgekehrt ist und statt meiner auf der Ungeduld mit Onkel Rum ausfährt, habe ich wieder Zeit zum Lernen – den ganzen Tag! Heute bin ich nur hier, weil ein besonderer Tag ist.«

Rajid sah ihn neugierig an.

»Ich bin gekommen, um mit Vishata zu sprechen«, erklärte Kip.

»Ach so, du kommst, um deine Schuld einzufordern.«

»So ungefähr, ja«, stimmte ihm Kip zu.

»Vishata hält ihr Wort bestimmt. Man merkt jetzt schon, dass sie ein Wort mitredet, bei der Verwaltung der Region. Ganz anders als ihr Vater. Vishata hat eine Schule für vierzig Kinder bauen lassen, nachdem die letzte beim Monsun eingestürzt war. Alle Kinder bekommen da umsonst eine warme Mahlzeit. Na ja, jetzt gerade nicht, wegen der vermaledeiten Seuche. Aber bisher war es so, und die Eltern haben ihre Kinder immer hingebracht. So hatten sie zu Hause einen hungrigen Mund weniger zu füttern, und dazu lernen die Kleinen noch was. Vishata hat gute Absichten. Wir haben wirklich Glück, dass sie solchen Einfluss auf ihren Vater hat.«

In diesem Moment kam der Ladengehilfe mit einem Tablett zurück. Darauf brachte er eine silberne Teekanne und kleine Gläser. Er trat an den Tisch und schenkte Kip und Rajid Tee ein.

»Danke, dir, Anil«, sagte Rajid. »Setz dich zu uns.«

»Ich danke dir, Saman«, antwortete er, setzte sich zu den beiden und schenkte sich auch ein.

»Du musst den Mund und die Nase bedecken, wie oft soll ich dir das noch sagen, Anil.«

»Ich weiß, Saman«, gab er mit einem schiefen Lächeln zurück, das seine großen weißen Zähne sehen ließ, »es ist nur so unbequem.«

»Nun schau dir den an. Meinst du etwa, ich finde es bequem, damit herumzulaufen?! Aber wir müssen es machen, um uns zu schützen und auch die anderen, falls wir uns selbst schon angesteckt haben.«

»Ich trage den Mundschutz auch nicht gern. Heute habe ich mir das Tuch nur umgebunden, weil ich nach Kabashi gekommen bin. In Pararás trägt fast niemand ein Tuch vor dem Mund«, meinte Kip.

Rajid Saman sah ein, dass er sich vergeblich bemühte. Er deutete auf seinen Gehilfen und fragte Kip: »Anil ist aus dem Libanon. Weißt du, wo das liegt?«

»So ungefähr«, antwortete Kip, »im Westen, am Mittelmeer.«

Rajid schlug sich begeistert auf den Schenkel: »Da hast du’s, Kip! Lernen lohnt sich eben doch. Ich hatte keine Ahnung davon, als Anil mir gesagt hat, wo er herkommt. Man merkt, dass du etwas gelernt hast.«

Anil nickte: »Ja, der Libanon ist am Anfang des Mittelmeers oder an seinem Ende, kommt darauf an, von wo man kommt.«

»Auf jeden Fall weit weg, egal, von wo man kommt.«

Anil stimmte ihm zu: »Weit weg, ja.«

»Er hat ein paar Monate beim Staudamm am Schwarzen Fluss gearbeitet«, erklärte Rajid weiter.

Der junge Libanese nickte wieder: »Das war harte Arbeit, Kip. Viel härter als die hier. Und die Vorarbeiter waren ein paar räudige Hunde im Vergleich zu Saman.«

Rajid legte den Kopf schief, doch er wandte nichts gegen dieses etwas seltsame Kompliment ein. Dann hob er sein Glas. Die anderen taten es ihm nach und sahen einander dabei aus den Augenwinkeln an. Sie stellten ihre Teegläser wieder auf den Tisch und schauten sich ins Gesicht.

»Wie bist du …?«

»Wie konntest du …?«

Beide begannen ihren Satz gleichzeitig und brachen ab, als sie es merkten. Dann mussten sie lachen.

»Ich wollte wissen, wie du vom Libanon bis hierher gekommen bist«, fragte Kip.

»Ich erzähle es dir gern, solange es Saman nichts ausmacht, die Geschichte noch einmal zu hören.« Er sah Rajid an, der wohlwollend den Kopf schüttelte. »Und ich wollte, dass du mir erzählst, wie du den Rosa Mond gefunden hast, die große Perle. Saman hat es mir zwar schon erzählt, aber ich würde gern deine Version hören.«

»Uiii, das sind zwei lange, lange Geschichten«, schaltete sich Rajid ein. »Wer fängt an? Du, Anil? Na los, komm schon!«

Da sprang Kip so plötzlich auf, dass sein Stuhl zu Boden fiel.

»Was ist denn los, Kip?«, fragte Rajid erschrocken. »Du kannst auch anfangen, wenn du unbedingt willst.«

»Geht die Uhr da richtig?«

Rajid warf einen Blick auf die Wanduhr. »Die ist so pünktlich wie die Nacht, wenn die Sonne untergeht.«

»So ein Mist!«, rief Kip und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Er sah Rajid vorwurfsvoll an: »Und wir erzählen hier Geschichten!«

»Aber was ist denn los?«, fragten Anil und Rajid fast gleichzeitig.

»Leb wohl«, sagte Kip und gab Anil die Hand.

»Aber Kip, warum so eilig?«, wollte Rajid wissen.

»Ich muss los, Rajid, ich hätte vor genau zwei Minuten bei Vishata sein sollen.«

»Was, bei der Tochter des Statthalters?«, fragte Anil ungläubig.

»Stimmt. Dann ist es besser, du gehst«, sagte Rajid, aber Kip hörte ihn gar nicht mehr, weil er schon aus der Tür stürzte und sich auf sein Fahrrad schwang.

EIN ALTES VERSPRECHEN

Der Palast bot einen imposanten Anblick. Die Sonne schien auf seine weiße Marmorfassade und ließ die Bronzetüren des Hauptportals gleißen. Einige Meter vor dem Tor saßen zwei Wachsoldaten mit dunkelgrünem Wams und Turban auf einer Bank im Schatten einer uralten Akazie und unterhielten sich. Sie waren mit langen Gewehren bewaffnet.

Als Kip in die Nähe der Akazie kam, unterbrachen die beiden Wachen ihr Gespräch. Kaum war er vom Fahrrad gestiegen, da stand einer von ihnen auf und sprach ihn an: »He, du, Junge! Was machst du da?«

Kip lehnte sein Rad an den Baum und grüßte: »Salam Aleikum.«

»Aleikum Salam«, antwortete der Soldat. »Ich habe gefragt, was du hier machst. Du kannst nicht so einfach daherkommen und dein Fahrrad da anlehnen.«

Der andere Wachsoldat kam nun auch heran. Er war älter als sein Kamerad.

»Ich komme, um Vishata zu sehen«, erklärte Kip.

Der jüngere Soldat musterte ihn: seine nackten Füße, seine Hosen und das Hemd aus weißer Baumwolle, den kleinen Beutel, den er über der Schulter trug.

»Unsere Herrin Vishata, sagst du?«

»Genau«, sagte Kip, nahm den Beutel von der Schulter und zog einen ziemlich abgegriffenen hellbraunen Umschlag hervor, auf dem ein blau-goldenes Wappen prangte. »Und zwar jetzt gleich. Ich bin spät dran.«

Der Soldat betrachtete Kip einen Augenblick und nahm den Umschlag bedächtig an sich, als ein Automobil vorbeifuhr, aus dem ein Mann mit einem Megaphon rief: »Achtung! Achtung! Wer infiziert ist oder meint, es zu sein, ist verpflichtet, sich bei den Gesundheitsbehörden von Kabashi zu melden. Es ist seine Pflicht, sich so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu begeben. Die Sicherheit aller hängt davon ab. Wer versucht, die ärztliche Kontrolle zu umgehen, oder Kranke versteckt, wird vor Gericht gestellt und nach dem neuen Erlass über die Gesundheitskontrolle verurteilt. Achtung! Achtung! Wer infiziert ist oder meint …«

Kip wandte sich erneut an den Soldaten: »Bitte, Herr!«

Der Soldat lenkte seinen Blick von dem davonfahrenden Auto wieder auf den Jungen. Der andere Soldat hatte Kip die ganze Zeit beobachtet und flüsterte seinem jungen Kameraden nun etwas ins Ohr. Der zuckte mit den Schultern und sah Kip erstaunt an, während der ältere zum Eingangsportal ging, eine kleine Tür öffnete und dahinter verschwand.

»Hören Sie«, rief Kip ungeduldig. »Ich glaube nicht, dass es Frau Vishata gefallen wird, ihre kostbare Zeit zu verlieren, während Sie mich hier festhalten.«

Der Soldat gab ihm den Umschlag zurück, während man hörte, wie sein Kamerad im Palasthof jemanden herbeirief.

»Hier entlang«, sagte er dann und wies auf die kleine Tür im großen Portal. »Mein Kamerad wartet schon.«

Kip warf einen Blick auf sein Rad. »Und was mache ich damit?«

»Keine Angst, ich behalte es im Auge«, versprach der Soldat freundlich.

Der ältere Soldat war wieder an die Tür gekommen und ließ Kip ein. Dann schloss er die Tür hinter ihm von außen.

Der Junge befand sich in einem von Säulen umstandenen Innenhof aus weißem Marmor. Er machte unruhig ein paar Schritte vorwärts, bis er in der Mitte des Hofes stand, wo das Wasser in einem kleinen Brunnen in der Sonne glitzerte. Kurz darauf erschien der ältere Wachsoldat wieder, diesmal kam er aus einem Gang auf der anderen Seite des Hofes. Er war in Begleitung eines Dieners in sandfarbenem Gewand. Die beiden traten in den Hof, und Kip lief auf sie zu.

»Kip Parvati?«, fragte der Diener mit krächzender Stimme.

»Ja, Herr«, erwiderte Kip und reichte ihm den Umschlag. Der Mann nahm ihn und warf einen kurzen Blick auf das Wappen.

»Ich habe schon auf Sie gewartet. Folgen Sie mir, bitte«, sagte er dann und ging voran.

Während er dem Diener folgte, hatte Kip kaum Zeit, die prächtigen Wandteppiche und die Kronleuchter zu bewundern, mit denen alle Räume geschmückt waren. Seine nackten Füße wurden von weichen Teppichen umschmeichelt. Trotz allem beeindruckten ihn die hohen Decken und die Jadekuppel über der Eingangshalle nicht mehr so sehr wie bei seinem ersten Besuch in Bundas Palast vor zwei Jahren. Auch die Freitreppe, die er hinter dem Diener emporstieg, und die Wachen mit ihren langen Lanzen, die in den endlosen Gängen strammstanden, waren ihm schon vertraut. Durch viele Türen und vorbei an zahllosen Lanzenträgern gelangten sie schließlich zu einer geschnitzten Tür, die der Diener öffnete. Sodann wich er seitlich aus, um Kip einzulassen. »Bitte«, sagte er und neigte den Kopf, »ich werde die Herrin von Ihrem Kommen unterrichten.«

Kip blieb allein in einem mit rotem Zedernholz getäfelten Empfangssaal. Sein Blick fiel auf die große Wanduhr, und er atmete tief durch, um seine Unruhe zu überwinden: Er hätte schon vor einer Viertelstunde hier sein sollen.

Er ging hinüber zum Kamin und stellte staunend fest, dass er sowohl aufrecht als auch der Länge nach ohne Schwierigkeiten hineinpasste. Vor dem Kamin standen zwei mit schwarzem Leder bezogene Sessel und ein kleiner Mahagonitisch mit filigraner Einlegearbeit aus verschiedenen Hölzern und Elfenbein. Er strich mit der Hand vorsichtig über die Tischplatte. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, setzte er sich in einen der beiden Sessel und betrachtete den ungeheuren Perserteppich, der einen großen Teil des Fußbodens bedeckte. Bald stand er wieder auf und ging zu einem Spiegel mit Goldrahmen, der an einer Wand hing. Vor dem Spiegel stehend, fuhr er sich ein paar Mal mit beiden Händen durch die dunklen Haare und versuchte, einen Fleck von seinem Hemd wegzureiben. Dann lief er quer durch den Saal zu den Fenstern, durch die man auf die Hauptstraße von Kabashi sah. Die meisten Häuser hatten vernagelte Fenster und Türen. Für die Tageszeit waren sehr wenige Menschen unterwegs.

Klappernde Absätze und das Geräusch einer sich öffnenden Tür riefen ihn wieder in den Raum zurück. Eine junge Frau von etwa zwanzig Jahren in einer granatfarbenen Tunika mit Brokatstickerei betrat den Saal mit entschlossenem Schritt. Hinter ihr machte jemand die Tür wieder zu.

»Salam Aleikum, Vishata, es ist mir eine Ehre und eine wirkliche Freude, Euch wiedersehen zu dürfen«, sagte Kip, indem er einige Schritte nach vorn machte und sich leicht verbeugte. Die junge Frau lächelte knapp und bot ihm ihre Hand zum Kuss.

»Aleikum Salam, Kip Parvati, du kommst zu spät.«

»Ich weiß, Herrin, es tut mir sehr leid«, entschuldigte sich Kip und blickte zu Boden. »Ich hatte ein Problem mit …«

»Lass gut sein. Ich will keine Erklärungen von dir, aber du sollst wissen, dass ich es hasse zu warten.« Kip wagte nicht, sie anzusehen, und biss sich auf die Lippen.

»Die Peitsche meiner Lakaien hat die Haut von mehr als einem Rücken zerfetzt, weil man mich weniger als eine Minute warten ließ«, sprach sie mit unbarmherziger Stimme.

Kip sah sie erschrocken an. Seine Augen trafen auf ihren eisigen Blick. Doch dann prustete sie los und lachte laut auf. Kip verzog sein Gesicht, als er Vishatas herausforderndes Lächeln sah.

»So! Du glaubst das also? Du glaubst das wirklich, dass ich so etwas tun könnte?«

Kip schüttelte verwirrt den Kopf. »Nein, ich meine, ich …«

»Das war ein Witz, Kip Parvati«, lachte Vishata. »Ich freue mich, dich zu sehen. Sei willkommen. Setz dich.« Sie wies auf einen Stuhl. Kip dankte ihr und nahm Platz.

Sie setzte sich in den anderen Sessel, ihm gegenüber. Dann zog sie ihre Sandalen aus, lehnte sich zurück und nahm die Füße hoch, indem sie die Beine kreuzte. Kip konnte sehen, dass ihre Fußsohlen mit Pflanzenmotiven aus Henna verziert waren. Ihre Fußnägel hatten die gleiche Farbe wie ihre Tunika. An den Zehen beider Füße trug sie Goldringe. Sie sah sich um und nahm von einem kleinen Tisch neben ihrem Sessel ein Glöckchen, das sie kurz klingeln ließ. Während sie warteten, rutschte Kip an den Rand des Sessels und setzte sich ganz aufrecht hin. Da kam auch schon der Diener, der Kip in den Palast geführt hatte.

»Deiner Familie geht es gut?«

»Ja, Herrin, vielen Dank. Bei uns ist niemand krank.«

Der Diener kam unauffällig näher und machte eine Verbeugung.

»Bring uns den Tee, bitte.«

»Herrin …«, murmelte er, senkte den Kopf und verschwand wieder. Vishata wandte sich wieder Kip zu. »Nun, da habt ihr Glück.«

»Das stimmt, Herrin.«

»Hier in Kabashi richtet die Krankheit schweren Schaden an.«

»Ich weiß. In Pararás gab es bisher nur vier Kranke innerhalb von drei Tagen, vor etwa zwei Wochen. Seitdem ist niemand mehr erkrankt, aber es heißt, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Seuche auch zu uns kommt.«

Sie nickte: »Das scheint nur logisch, es sei denn, wir finden schnell ein Gegenmittel und es gelingt uns, sie einzudämmen. Ich nehme an, du weißt, dass wir eine Gruppe von Ärzten einberufen haben, die damit beschäftigt sind, einen Impfstoff gegen die Krankheit zu finden. Nur gibt es leider bisher noch keine größeren Erfolge zu vermelden. Da nun die Zahl der Kranken jeden Tag zunimmt, werden wir bald die Tore der Stadt schließen müssen.«

»Und dann kann keiner nach Kabashi hinein und keiner hinaus?«

»Genau das heißt es, ja.«

»Wann wird das geschehen, Herrin?«

»Das kann ich dir noch nicht mit Sicherheit sagen, aber es wird nicht mehr lange dauern. An einem der nächsten Tage. Es besteht kein Zweifel mehr, dass es sich um eine Epidemie handelt. Es gibt bisher hundertzweiundachtzig bekannte Krankheitsfälle, aber die Zahl der Kranken steigt immer schneller. Und viele sind schon gestorben.«

Kip war besorgt. »Ich hoffe, die Ärzte finden so schnell wie möglich ein Heilmittel.«

Vishata verzog die Mundwinkel. »Hoffen wir es, ja. Im Moment bleibt uns nichts anderes übrig, als die Kranken auf die Manduris zu schicken. Die beiden Säle des Krankenhauses sind hoffnungslos überfüllt, und jetzt wird die Schule so umgeräumt, dass die Zweifelsfälle dort in Quarantäne gebracht werden können. Wir lassen die Häuser der Leute verschließen, die Anzeichen der Krankheit zeigen, so lange, bis man sieht, ob sie krank sind oder nicht. Aber niemand will auf die Inseln geschickt werden, klar. Und nur ganz wenige geben zu, dass sie krank sind, oder gehen freiwillig zur Untersuchung.« Sie verstummte und blickte auf die goldene Teekanne, die der Diener lautlos gebracht hatte. Kip nutzte die Gelegenheit, um ihr Gesicht zu betrachten: die hohen Backenknochen, die vollen Wangen und die kleinen, nachdenklichen grünen Augen.

»Nun denn«, meinte Vishata schließlich. »Du wirst wohl kaum hierhergekommen sein, um über dieses Thema zu sprechen, oder? Sicher bist du wegen des Versprechens hier, das ich dir vor zwei Jahren gab, als du mir zusammen mit deinem Freund Rajid diese wunderbare Perle gebracht hast.«

Kip räusperte sich und nickte. »Ja, Herrin, ich bin wegen des großzügigen Versprechens hier, das Ihr mir gegeben habt, und auch wegen der Seuche …«, gab Kip zögernd zu, »denn mein Vater hat, wie viele andere auch, beschlossen, wegen der Krankheit in die Berge zu gehen. Viele sagen, dass man weit weg von der Küste sicherer ist. Nachdem ich die Schule beendet hatte, vor über einem Jahr, habe ich angefangen, Hindi und Englisch zu lernen und mich auf die Fächer vorzubereiten, die bei der Aufnahmeprüfung an der Seehandelsschule in Bombay wichtig sind. Und ich …«

»Du glaubst, dass du bereit bist für das Examen?«

»Ja, Vishata, ich glaube, das bin ich, und deshalb …«

»Deshalb willst du nach Indien gehen, um die Aufnahmeprüfung zu machen, statt mit deiner Familie in die Berge zu ziehen.«

Kip nickte zustimmend. Die jungte Frau lächelte und sagte: »Ich bin mir sicher, dass du bereit bist, Kip Parvati, das sehe ich in deinem Gesicht. Vor zwei Jahren, nachdem du mir den Rosa Mond geschenkt hattest, habe ich dir im Beisein meines Vaters versprochen, dass wir dir die Studien auf der Seefahrtsschule bezahlen würden, die du aussuchst.« Kip presste die Lippen zusammen. »Verbessere mich, falls ich etwas Falsches gesagt habe«.

»Nein, nein, es ist alles richtig, Vishata.«

»Gut. Die Bundas halten ihr Wort immer, so dass ich also nur darauf warte, dir geben zu können, was ich versprochen habe.«

Kip blieb stumm und schaute sie mit großen Augen an.

»Du kannst also anfangen, deine Reise nach Bombay zu planen, damit du so schnell wie möglich abreisen kannst. Und das würde ich dir raten, denn wie gesagt, wird die Stadt bald abgeriegelt.«

Kip stand auf. Sein Gesicht strahlte. »Vishata, Herrin, ich weiß nicht, wie …«

Sie winkte ab. »Ich muss mit meinem Vater sprechen, um die Höhe deiner monatlichen Unterstützung festzulegen. Und du musst mir mitteilen, wie hoch die Studiengebühren sind.«

»Man kann auch ein Stipendium beantragen – und ich bin ja gut vorbereitet.«

»Umso besser. Aber wenn nicht, brauchst du dir auch keine Sorgen zu machen. Das Wichtigste ist, dass du in die Seefahrtsschule gehen kannst. Komm in zwei Tagen wieder, und wir geben dir einen ersten Zuschuss für deine Reise. Am besten kommst du nachmittags um fünf, denn vormittags trifft sich der Ärzterat, und das kann lange dauern.«

Kip atmete tief ein. »Das mache ich.« Er sah sie dankbar an. »Vishata, ich …«

»Nein, nein, lass das. Ich erfülle ja nur mein Versprechen. Du brauchst mir nicht zu danken, Kip Parvati.«

»Na gut, ich wollte trotzdem sagen, dass ich …«, versuchte es Kip noch einmal, doch sie unterbrach ihn mit einer ablehnenden Handbewegung. »Ich hasse es, wenn mir die Leute übermäßig danken. Ich habe schon mehr als einen auspeitschen lassen, weil er mir zu überschwänglich danken wollte«, schimpfte sie wütend.

DURCHKREUZTE PLÄNE

Das Haus stand im Schatten eines mehr als hundert Jahre alten Mangobaums. An einem der dicksten Äste war eine einfache Schaukel aus einem Brett und zwei alten Segelleinen angebracht, auf der ein Junge saß. Er wurde von einem anderen, etwa zehn Jahre alten Jungen angestoßen. Beide sahen Kip ziemlich ähnlich.

»Bandahai!«, grüßte Kip in Paharis.

»Bandahai, Kip!«, antworteten ihm seine Brüder.

»Wie war’s im Palast?«, fragte der ältere von beiden. »Was haben sie dir gesagt?«

Kip lehnte sein Fahrrad an die gekalkte Mauer des Hauses und strahlte die beiden an. »Es ist gut gelaufen, sehr gut sogar.«

»Ja? Wirklich? Dann fährst du also nach Indien?«, fragte der große Junge und hörte auf, seinen Bruder anzuschubsen.

»Sieht ganz so aus«, lachte Kip. »Ist Mutter zu Hause?«