Kirschblütentage - Nancy Salchow - E-Book

Kirschblütentage E-Book

Nancy Salchow

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Beschreibung

Zu Herzen gehend, nostalgisch, wunderbar – eine Geschichte über das, was im Leben wirklich zählt! Eine Plastikrose mit einer Uhr in der Mitte, ein Teelichthalter aus grünem Glas, ein altes Buch – drei von vielen Dingen, die die zerstrittenen Eltern Jasmin und Vincent und ihre heftig pubertierenden Kinder plötzlich überall im Haus finden. Gegenstände, die Erinnerungen wecken an die unbeschwerte Anfangszeit ihrer Ehe. Aber diese Funde sind kein Zufall. Sorgfältig hat Emilia, die kürzlich verstorbene Großmutter, in ihren letzten Tagen diese Spuren gelegt. In der Hoffnung, ihre auseinanderbrechende Familie wieder zusammenführen zu können. Doch ist der Zauber der Erinnerung stark genug? Von Nancy Salchow sind außerdem bei Knaur eBook und feelings folgende Titel erschienen: »Die Wildrosen-Insel« und »Nur eine Stimme entfernt«.

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Seitenzahl: 348

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Nancy Salchow

Kirschblütentage

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

Kapitel 1EmiliaVincentKeaPhilippJasminKapitel 2VincentKeaJasminKapitel 3PhilippKeaVincentKapitel 4JasminVincentKeaJasminPhilippKapitel 5VincentJasminKapitel 6VincentPhilippJasminKapitel 7VincentKapitel 8KeaJasminPhilippKapitel 9JasminVincentJasminKapitel 10PhilippJasminKapitel 11VincentKeaVincentKapitel 12PhilippJasminVincentKapitel 13Jasmin
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Kapitel 1

Emilia

Sie sprach nicht gern von Regen, wenn er derart sachte daherkam. Echter Regen, so wie sie ihn kannte und liebte, zeigte sich in flüssigen Fingern auf Fensterglas und knöcheltiefen Pfützen an Bordsteinkanten. Die hauchdünnen Streifen, die an diesem Nachmittag ihre fast unsichtbaren Spuren auf der Scheibe hinterließen, waren hingegen eher eine Ahnung als ein Zustand.

Emilia ließ ihren Kopf auf das Kissen sinken, während das Fenster und die Ahnung von Regen in ihrem Augenwinkel verschwammen. Sie war dankbar dafür, dass sie die ersten Anzeichen des Frühlings noch einmal erleben durfte, bevor ihr Leben seine letzte Jahreszeit vollenden würde.

Durch das Fenster hindurch hatte sie mehrere Schneeglöckchen neben der Auffahrt erspäht und dabei eine kindliche Vorfreude verspürt. Über das Wachsen und Gedeihen, über Formen, Farben und Gerüche, die sie so vermutlich nie mehr wahrnehmen würde. Dennoch war sie voller Zuversicht.

Denn in den wenigen Stunden, in denen man sie jetzt noch allein zu Hause ließ und ihre Kraft es ihr erlaubte aufzustehen, inspizierte sie die Räume im unteren und oberen Stockwerk auf ihre ganz eigene Weise.

Jemand anderes würde es vermutlich als willkürliches Verstreuen alberner Sentimentalitäten betrachten, sie selbst jedoch wusste, dass es weit mehr war. Sie hatte es sich zu ihrer letzten Aufgabe gemacht, Erinnerungsstücke, Gegenstände und Briefe im gesamten Haus zu hinterlassen, die Erinnerungen an glückliche Tage in sich trugen. Tage, die weit hinter ihr lagen und die sie doch, wann immer sie ihre müden Augen schloss, noch immer ganz deutlich vor sich sah.

Feuchtes Gras unter nackten Füßen. Das Kreischen übermütiger Kinder. Kirschkerne im Sand. Der Geruch verbrannter Steaks, das Resultat sich ständig wiederholender lebhafter Familiengespräche auf der Terrasse, bei denen der Rest der Welt – und manchmal eben auch der Grill – ausgeblendet wurde.

Sie schaute zur Kommode hinüber, die neben dem Bett stand, und begutachtete das einzige Bild, das darauf plaziert war. Sie war sich nicht mehr sicher, wann genau es entstanden war, erkannte aber an den noch recht kindlichen Gesichtszügen ihrer Enkel Kea und Philipp, dass die Aufnahme mindestens vier Jahre her sein musste. Ihre Schwiegertochter Jasmin und ihr Sohn Vincent standen hinter den Kindern, die Hände auf deren Schultern, auf den Lippen ein Lächeln, von denen eines das andere anzustecken schien. Während Emilia die ihr so vertrauten Gesichter musterte, wuchs in ihr die Vermutung, dass das Foto noch etwas älter war. Viel zu lange war es her, dass sie in derart strahlende Augen geschaut hatte. Aber wann war das Strahlen verlorengegangen? Wann hatte die Familie aufgehört, eine Einheit zu sein? Eine wahrhaftige Einheit, keine, die der seit Jahren kranken Großmutter nur vorgespielt wurde, weil sie sich um sie sorgte? Und wie hatte dieser langsame Zerfall stattfinden können, ohne dass es jemandem auffiel? Der Zerfall einer Familie, die einst so voller Kraft und Zusammenhalt gewesen war.

Emilia wandte ihren Blick vom Foto ab. Sie wollte sich nicht ängstigen. Nicht jetzt. Dazu hatte sie zu viel Sorgfalt in die Auswahl der Gegenstände investiert, zu viel Behutsamkeit beim Hinterlassen der Spuren.

Am meisten Kraft hatte sie jedoch das Schreiben des Briefs gekostet, den sie danach noch unzählige Male gelesen hatte, bevor sie ihn schließlich am ihrer Meinung nach geeignetsten Ort plazierte. Zeilen, die sie mit so viel Herzblut geschrieben hatte, dass sie sie mittlerweile auswendig kannte.

Meine Lieben,

während ich Euch diese Zeilen schreibe, habe ich nicht den blassesten Schimmer, wann oder ob Ihr sie überhaupt jemals lesen werdet, noch weiß ich, ob derjenige, der diesen Brief finden wird, seinen Inhalt für sich behalten oder mit den anderen Familienmitgliedern teilen wird.

Es tut weh, daran zu denken, dass ich nicht mehr bei Euch sein werde, wenn Ihr diese Seiten in den Händen halten werdet. Gleichzeitig ist es aber auch ein Trost für mich, euch auf diese Weise vielleicht sogar noch erhalten zu bleiben, wenn ich diesen Kampf wie schon so viele andere vor mir längst verloren habe. Denselben Kampf, den auch Julian bestreiten musste und von dem ich nie gedacht hätte, dass ich ihn selbst eines Tages ausfechten würde. In den letzten acht Jahren verging kein Tag, an dem ich nicht an ihn gedacht habe. Und ich frage mich, warum mir vierundsiebzig glückliche Jahre vergönnt waren und ihm nur vierzig. Kinder sollten niemals vor ihren Eltern gehen. Manchmal frage ich mich, ob es nicht vielleicht sogar seine Krankheit und sein Tod waren, die das Ende unserer Familie, so, wie sie einmal war, eingeleitet haben. In so mancher Hinsicht.

Vielleicht schreibe ich diese Zeilen aber auch, weil ich Angst habe, dass der Krebs in unseren Genen liegt und früher oder später auch zu Eurem Feind wird. Ein Feind, der die verbleibende Zeit umso kostbarer macht und Euch hoffentlich rechtzeitig erkennen lässt, was wirklich wichtig ist.

Ich werde diesen Brief in der alten Konditorei verstecken, die sich in den letzten Jahren mehr und mehr in eine staubige Abstellkammer verwandelt hat. Manchmal kommt es mir vor, als wäre sie ein Abbild unserer Familie.

Wer weiß, wie die Dinge gelaufen wären, wenn Du, mein lieber Vincent, Deinen Vater lange genug gekannt hättest, um die Leidenschaft zu verinnerlichen, mit der er seiner Liebe zum Backen nachging. Vielleicht hättest Du dann die Familientradition ja fortgeführt.

Aber all das sind Fragen, die jetzt nicht mehr gestellt werden müssen. Fragen, die mir den Abschied von Euch nur noch schwerer machen würden.

Sicher werdet Ihr Euch fragen, warum ich Euch nicht einfach von diesem Brief erzählt und seinen Aufenthaltsort verraten habe. Aber nichts ist schlimmer für mich als die Vorstellung, dass Ihr nur mir zuliebe oder aus schlechtem Gewissen und nicht aus eigener Erkenntnis heraus den Zusammenhalt wiederentdeckt, der Euch in den letzten Jahren verlorengegangen ist. Gerade deshalb habe ich mich bewusst für die Konditorei als Versteck entschieden, weil ich weiß, wie selten jemand einen Fuß in sie hineinsetzt, und Ihr demzufolge nicht Gefahr laufen werdet, den Brief zu finden, bevor mein Plan greift.

Ihr werdet glauben, dass Eure Erinnerungen ganz zufällig bei Euch anklopfen und wirken. Dass sie kommen und gehen wie die Gedanken an eine Position auf dem Einkaufszettel, die noch dringend ergänzt werden muss. Oder wie die Merkzettel für irgendwelche Termine, die jemand vergessen hat, in den Kalender zu kleben.

Aber die Wahrheit ist, dass es mein Plan war. Meine Idee.

Welcher Plan?, werdet Ihr Euch vielleicht fragen. Und vermutlich ist es sogar übertrieben, von einem Plan zu sprechen, weil ich keine Ahnung habe, ob er aufgehen wird. Er ist also wohl eher eine Hoffnung. Die verzweifelte Hoffnung einer sterbenden Frau. Aber die Details sollen nicht Eure Sorge sein.

Alles, was für mich noch zählt, ist der Wunsch, Euch auf irgendeine Weise nahe zu sein. Selbst dann, wenn ich es nicht mehr sein kann.

Ihr werdet stark genug sein.

Ihr alle.

Irgendwann.

Und Ihr werdet das Richtige tun.

Selbst wenn Ihr zuvor noch einiges falsch machen werdet.

Ich bin bei Euch. Immer.

 

Emilia

Auf der Treppe hörte sie Schritte. Schritte, die nur jede zweite Stufe berührten. Immer in Eile. Immer auf dem Sprung. Schritte, wie sie nur ein Sechzehnjähriger machen konnte.

Sie wusste, dass Philipp nicht zum Gitarrenunterricht gehen würde, ohne vorher noch einmal bei ihr hereinzuschauen. Die Zeit war gekommen, in der man sich sogar vor jedem Brötchenkauf von ihr verabschiedete, und selbst ihr Enkel in seiner jugendlichen Gedankenlosigkeit ahnte, dass es zumindest in diesem Fall besser war, dem Vorbild seiner Eltern zu folgen.

Vincent

Dass ihre Hände außergewöhnlich schmal waren, fiel ihm nicht zum ersten Mal auf. Jetzt, da sie regungslos auf seiner Brust lagen, während sich Isas Kopf auf seiner Schulter mit jedem seiner Atemzüge langsam auf und ab bewegte, wirkten sie jedoch beinahe zerbrechlich.

Das rotbraune Haar reichte ihr bis zum Ansatz der nackten Hüfte. Die dunklen, beinahe schwarzen Augen waren hinter den geschlossenen Lidern verborgen. Trotzdem wusste er ganz genau, wie sie aussahen. Vermutlich besser, als ihnen beiden guttat.

Er betrachtete sie gern, während sie schlief, heute jedoch war Vincent unruhig. Erst kurz vor ihrem Treffen war ihm eingefallen, dass er Jasmin versprochen hatte, rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein, um Keas Aufnahme in die Theatergruppe zu feiern. Aber selbst wenn er Isa jetzt sofort wecken, sich anziehen, ins Auto springen und heimfahren würde, käme er mindestens eine Viertelstunde zu spät. Für einen Moment fühlte er Reue, dachte aber sofort an etwas anderes. Würde Jasmin ihm die Ausrede, dass sich sein letzter Hausbesichtigungstermin aufgrund einer besonders wissbegierigen Kundin in die Länge gezogen hatte, auch dieses Mal abkaufen? Und selbst wenn sie es ihm abkaufte, was war mit seiner Mutter? Noch immer sah sie ihm offensichtlich jede faule Ausrede an. Trotz oder gerade wegen ihrer Bettlägerigkeit, die ihren Blick zu schärfen schien.

Als Isa langsam zu sich kam, überlegte Vincent kurz, ob er vielleicht laut gedacht, sich zu heftig bewegt oder unbewusst ihren Arm gestreichelt hatte?

Lächelnd erwiderte sie seinen Blick.

»Hallo, Herr Makler«, flüsterte sie, während sie einen Kuss auf seine Brust hauchte. »Sind Sie schon lange wach?«

Er bemühte sich um ein Lächeln. »Ich habe gar nicht geschlafen.«

Sie stützte sich auf den Ellbogen auf. »Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du mich beim Schlafen beobachtest«, sagte sie mit gespielter Empörung.

»Stimmt nicht«, antwortete er. »Du liebst es.«

Er beugte sich für einen Kuss zu ihr hinüber, schob seine Beine seitlich an ihr vorbei aus dem Bett und stand auf.

»Musst du etwa schon los?«, fragte sie.

»Ich bin jetzt schon zu spät«, antwortete er, während er nach seiner Hose griff, die neben ihren Schuhen auf dem Boden lag. »Außerdem habe ich es versprochen.« Im Spiegel des Schlafzimmerschrankes fing er flüchtig sein eigenes Bild ein. Die breiten Schultern, die von seinem leichten Bauchansatz ablenkten. Die hellgrauen Augen, die ihn immer ein wenig blass wirken ließen. Das dunkelblonde Haar, das durch den millimeterkurzen Schnitt eher brünett wirkte und den Blick auf ein Gesicht freigab, das er in Momenten wie diesen nur ungern betrachtete. Viel zu sehr erinnerte ihn sein eigener Anblick an ein Leben, das er möglichst auszublenden versuchte. Nicht etwa, weil er es verabscheute. Sondern weil er sich gern der Illusion hingab, in Isas Nähe ein anderer zu sein.

Namenlos. Unbekümmert.

Frei.

Ja, vor allem frei.

So wie damals. So wie mit …

»Kannst du nicht wenigstens noch eine halbe Stunde bleiben?«, unterbrach Isa seine Gedanken.

Er wusste, welchen Blick sie aufgesetzt hatte, auch ohne sich zu ihr umzudrehen.

»Du weißt, dass das nicht geht, Isa.«

»Ich weiß nur, dass du sagst, es würde nicht gehen.«

Er setzte sich auf die Bettkante, um seine Socken anzuziehen. Noch immer wandte er ihr den Rücken zu. Er verband die wenigen Stunden mit Isa viel zu sehr mit Freiheit und süßer Gedankenlosigkeit, um sich ihr gegenüber in der Art von Rechtfertigung zu verlieren, die er sonst nur zu Hause abzugeben gezwungen war.

Während er sein Hemd zuknöpfte, riskierte er einen vorsichtigen Blick in Isas Richtung. Sie war bereits dabei, ihr Kleid überzustreifen. Sie schwieg, aber ein Hauch von Enttäuschung lag in ihren langsamen Bewegungen. Eine Stimmung, die er schon bei einem ihrer letzten Treffen registriert hatte und die nicht so recht zu der Unkompliziertheit passte, die sie für ihn personifizierte.

»Isa«, sagte er schließlich und streckte die Hand nach ihr aus. »Wollen wir das wirklich erneut durchkauen?«

»Ich will nichts durchkauen, Vincent.« Ihre Stimme hatte nun beinahe etwas Schnippisches. »Ich habe nur ein Problem damit, mir wie ein Flittchen vorzukommen, das sich nur zum An- und Ausziehen mit dir trifft.«

Er lachte.

»Findest du das witzig?«, fauchte sie.

»Nein, nicht witzig«, antwortete er. »Nur etwas erstaunlich. Immerhin war und bin ich an diesen Treffen genauso beteiligt wie du. Wenn du also ein Flittchen bist, dann bin ich …«

»Würdest du bitte aufhören, dich über mich lustig zu machen?«

Er stand auf und legte die Arme um ihre Hüften. »Ich muss los, Isa. Und das weißt du. Also, bitte hör auf, da irgendwelche Dinge hineinzuinterpretieren. Keine Regeln, keine Ansprüche. Darüber waren wir uns doch immer einig.«

Sie seufzte. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er nicht mit Gegenargumenten zu rechnen hatte. Eine Tatsache, die ihn unter anderen Umständen gelangweilt hätte. In diesem Fall kam sie ihm jedoch einmal mehr entgegen.

Kea

Als sie zum dritten Mal am Gartentor vorbeigegangen war, entschied sie sich, es endlich zu öffnen. Auf dem schmalen Kieselweg von der Hecke bis zur Haustür verdrängte sie die Befürchtung, ihre Ausrede könnte eventuell unglaubwürdig erscheinen. Sie atmete tief ein und drückte nach einem letzten Zögern schließlich den Klingelknopf. Sie wusste, dass ihre Mutter es hasste, wenn sie ihren eigenen Schlüssel nicht benutzte, aber ihr fehlte nach einem Tag wie diesem eindeutig die Energie, in den Tiefen ihrer Schultasche nach ihm zu suchen.

»Warum kannst du nicht ein einziges Mal deinen Schlüssel nehmen?«, schimpfte ihre Mutter denn auch wie aufs Stichwort, als sie Kea die Tür öffnete.

»Der ist irgendwo in meiner Schultasche«, brummte Kea, warf dieselbe neben die Garderobe und zog ihre Jacke aus.

»Und überhaupt«, fuhr Jasmin fort, während sie zurück in die Küche ging. »Ich verstehe nicht, warum du jetzt erst kommst. Du weißt doch, dass ich heute extra zur Feier des Tages Schmorkohl für dich gemacht habe. Den magst du doch so gern.«

»Zur Feier des Tages«, wiederholte Kea, ihrer Mutter in die Küche folgend. »Jetzt, wo du es erwähnst. Es könnte ja sein, dass es vielleicht gar nichts … zu feiern gibt.«

Jasmin blieb neben dem Herd stehen. »Was soll das nun wieder heißen?«

»Ich hab noch mal drüber nachgedacht.« Kea ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Das mit der Theatergruppe wäre vielleicht für eine Weile ganz nett gewesen, aber auf längere Sicht bringt es mich ja doch nicht weiter.«

Sie versuchte, den verwirrten Blick ihrer Mutter zu ignorieren, während sie mit gekünsteltem Lächeln fortfuhr. »Ich meine, man kann ja wohl nicht davon ausgehen, dass irgendein Produzent im Publikum sitzt und mich für seinen nächsten Film engagiert, oder?«

Jasmin stellte den Herd aus und drehte sich langsam zu ihrer Tochter um. Kea kannte diesen Blick nur allzu gut.

»Filmproduzent, soso.« Jasmin biss sich auf die Unterlippe. »Dann waren all deine bisherigen Vorträge über die Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung, die im Theater liegen, also nicht ernst gemeint, sondern leeres Gerede? Wieder mal nur eine Laune, die einen Tag später schon nicht mehr aktuell ist? So wie damals der Klavierunterricht oder die Reitstunden.«

»Nein, Mama, so ist das nicht. Ich wollte nur …«

»So ist es also nicht? Wie denn dann? Kea, du musst endlich einmal lernen, zu einer deiner Entscheidungen zu stehen. Irgendetwas durchzuhalten.« Da war sie, die befürchtete Standpauke. »Ich meine, wie willst du denn dein späteres Berufsleben meistern, wenn du immer schon nach zwei Tagen von allem die Nase voll hast? Jeden Job einfach an den Nagel hängen, nur weil er dir nicht sofort die große Karriere verspricht?«

»Du siehst das völlig falsch, Mama. Eben weil ich nichts mehr halbherzig machen will, ist es besser, die Sache abzublasen, bevor ich unnötig Zeit vergeude. Ich meine, wenn ich jetzt schon weiß, dass es nicht das Richtige für mich ist, warum soll ich dann überhaupt erst damit anfangen?«

»Ach, jetzt auf einmal ist es nicht mehr das Richtige für dich? Und morgen? Morgen bist du dann Feuer und Flamme für die nächste Idee, die übermorgen bereits wieder Schnee von gestern ist?«

»Schnee von gestern ist alles, was nicht mit Mirco zu tun hat.« Philipp stand mit vor der Brust verschränkten Armen und einem diebischen Grinsen im Gesicht in der Küchentür.

Wieder einmal mischte ihr Bruder sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Kea spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Mit feuerrotem Gesicht sprang sie vom Stuhl auf.

»Spinnst du, hier so einen Mist vom Stapel zu lassen?«

»Ist doch nur die Wahrheit«, gab er zurück, zuckte mit den Schultern und setzte sich seelenruhig auf die Fensterbank.

»Mirco? Wer bitte schön ist Mirco?« Der Blick ihrer Mutter war nun fragend und fordernd zugleich auf Kea gerichtet.

»Niemand«, antwortete Kea einsilbig. »Und das hat auch überhaupt nichts mit der Theatergruppe zu tun.«

»Stimmt. Jetzt hat es nichts mehr damit zu tun.« Philipp grinste, während er nach einem Stück Knoblauchbrot auf dem Tisch fischte. »Denn nun ist er ja aus der Gruppe ausgestiegen. Also gibt es auch keinen Grund mehr für das liebe Kealein, Theaterluft zu schnuppern.«

Das Blut, das ihr eben noch in den Kopf gestiegen war, schien nun zu kochen. Kea schnappte nach Luft, suchte nach Worten und brachte doch nur einen wütenden Schrei heraus.

»Kea«, sagte Jasmin nun etwas weniger vorwurfsvoll.

Doch Kea wollte nicht mehr reden, sich nicht mehr erklären. Schon gar nicht vor diesem Scheusal von einem Bruder. Sie holte tief Luft, drehte sich mit bitterbösem Blick um und rannte wild entschlossen die Treppe hinauf.

»Hey!«, rief Jasmin ihr nach. »Wo willst du denn hin? Wir wollen gleich essen.«

»Papa ist doch eh wieder zu spät«, brüllte Kea zurück.

Sie hörte, wie ihre Mutter irgendetwas antwortete, doch jedes Geräusch, selbst das dumpfe Lachen ihres Bruders, ging im Knall der zuschlagenden Zimmertür unter. Zu spät wurde ihr bewusst, dass sie damit wohl ihre Großmutter geweckt hatte.

Philipp

Er konnte nicht verstehen, warum seine Bemerkung sie derart wütend gemacht hatte. Einerseits war er der Meinung, dass es sein gutes Recht war, sie ein wenig mit diesem Kerl aufzuziehen, nachdem sie ihn erst wenige Wochen zuvor vor ihrer Freundin Sonja lächerlich gemacht hatte. Und das, obwohl – oder gerade weil – sie wusste, dass er ein Auge auf Sonja geworfen hatte. Andererseits erschreckte es ihn, dass sie wegen seines Kommentars gleich derart ausgerastet war. Wie empfindlich sie doch war, wenn es um diesen dämlichen Mirco ging. Hatte sie denn noch immer nicht begriffen, dass sie sich auf einen Typen fixiert hatte, der in der ganzen Schule als Weiberheld verschrien war? Mit jedem gehässigen Kommentar, den er über ihn machte, erwies er ihr im Grunde sogar einen Gefallen.

Philipp schaltete den Fernseher ein und öffnete die oberste Schublade seiner Kommode, sein Versteck für Essensvorräte, die ihn, wenn nötig, über ein misslungenes Abendessen hinwegtrösteten. Seine Mutter kochte zwar recht gut und auch regelmäßig, manche Gerichte wie Schmorkohl zum Beispiel konnte er jedoch nicht ausstehen, weder zu Hause noch in der Schulkantine.

Vermutlich wäre ihm aber auch jedes andere Essen auf den Magen geschlagen, nach dem Drama, das Kea gerade veranstaltet hatte, gefolgt von der anschließenden Diskussion seiner Eltern, weil sein Vater wieder einmal zu spät zum Abendessen gekommen war.

Philipp griff nach einer Tüte Chips, öffnete sie routiniert und warf sich dann auf die Tagesdecke seines Bettes. Während er sich die goldenen Scheiben nach und nach in den Mund schob, wanderten seine Gedanken erneut zu seiner Schwester. Es ärgerte ihn, dass die Gene in ihrer Familie so ungerecht verteilt waren: Während ihr von Natur aus ein warmer Goldton vergönnt war, den andere Mädchen nicht einmal durch Färben erreichten, war sein Blond dem ihren zwar ähnlich, sah aber an einem Sechzehnjährigen mit Doppelkinnansatz nur halb so gut aus. Und während es ihm nur mit Hilfe besonders weiter T-Shirts gelang, seinen Hüftspeck zu verstecken, hatte seine Schwester noch nie mit ihrer Figur zu kämpfen gehabt. Im Gegenteil: Sie konnte seelenruhig einen riesigen Nachschlag vom Schmorkohl inklusive Kartoffeln verschlingen, ohne dass die Waage danach auch nur ein Gramm Unterschied registrierte.

Was ihn aber noch viel mehr schmerzte, war die Leichtfertigkeit, mit der Kea die Prioritäten in ihrem Leben beinahe täglich änderte. Während er seinen Traum, eines Tages vor Publikum zu singen und damit sein Geld zu verdienen, wie einen Schatz hütete, aus Angst, man könnte ihn damit aufziehen, wechselte sie ihre Ambitionen wie andere Leute ihre Kleider. Sie machte es von einem Jungen abhängig, ob sie in der Theatergruppe mitspielte, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, was es bedeutete, einer wahren Leidenschaft zu folgen. Mal abgesehen von ihrer Leidenschaft für Typen wie Mirco. Aber das war eine andere Geschichte. Philipp öffnete die Tür des Nachtschränkchens und nahm seinen Laptop heraus. Während das Internet für Kea in erster Linie ein Medium zum Austausch von Belanglosigkeiten war und für seinen Vater nur eine weitere Option, um neue Kunden zu gewinnen, bedeutete es für ihn das Tor zu seiner wahren Passion: Musik. Seiner Musik.

Nur zwei Klicks, dann öffnete sich das Video-Portal und mit ihm sein ganz persönlicher Kanal: The real Phil. Das war sie, seine Leidenschaft. Seine Definition von echter Ambition.

Ein glückliches Lächeln schlich sich auf sein rundliches Gesicht, als er die Reaktionen auf das aktuellste Video sah, das er erst am Abend zuvor hochgeladen hatte: ganze vierundsiebzig neue Kommentare.

Selbst zwei Monate nachdem er sein erstes Video online gestellt hatte, war er noch immer unsicher, ob die mittlerweile dreitausend Abonnenten ihm seiner Stimme oder seiner Texte wegen an den virtuellen Fersen klebten. Oder waren sie fasziniert von der Tatsache, dass in seinen Videos nichts weiter zu sehen war als ein männlicher Schatten, der hinter einem Laken mit der Gitarre auf dem Schoß seine eigenen Songs zum Besten gab?

Die Idee, seine Musik anonym zu präsentieren, war aus mangelndem Selbstbewusstsein heraus entstanden: Viel zu groß war seine Angst, auf Ablehnung zu stoßen oder – was noch schlimmer wäre – von Mitschülern online wiedererkannt zu werden, für die er dann nicht mehr nur Dickie, sondern John-Mayer-für-Arme-Dickie wäre.

Mindestens genauso schwer wog die Befürchtung, von der eigenen Familie belächelt zu werden. Weder Kea noch seine Eltern wussten von den Textfetzen und Songs, die er jeden Abend in seinem Notizbuch verewigte.

Wieder erwog Philipp die Idee, seine Identität preiszugeben. Und wieder verdrängte er den Gedanken, glaubte, mit der Aufgabe seiner Anonymität auch eine Vielzahl seiner virtuellen Anhänger zu verlieren. Denn wäre er ohne das mysteriöse Schattendasein im Grunde nicht nur ein Amateur unter vielen? Ein Amateur, der sein Bestes gab, aber letztendlich doch niemals gut genug war?

Nicht gut genug. Viel zu oft hatte er das schon von sich gedacht. Aber stimmte das überhaupt? Oder vermutete er nur, dass alle anderen ihn so sahen und bewerteten? Seine Mutter, die ihn noch immer für ein Kind hielt und ihn nie wirklich ernst nahm? Oder sein Vater? Nein, von dem war eigentlich gar nichts zu erwarten. Dafür war er viel zu selten zu Hause. Und wenn er doch einmal da war, schenkte er ihm sowieso keine Aufmerksamkeit. Philipp klappte den Laptop wieder zu. Für den Moment fehlte ihm die Ruhe, die Kommentare zu durchforsten. Irgendetwas machte ihn nervös und ließ das Verlangen nach einem weiteren Griff in die Chipstüte ins Unermessliche steigen.

Jasmin

Der Wind, der tagsüber noch so frühlingshaft durch die Bäume gestreift war, hatte am frühen Abend nichts Mildes mehr an sich. Jetzt, da sich der Tag dem Ende näherte, lag eine fast beißende Kälte in der Luft. Jasmins Weg, der kein festes Ziel hatte, führte sie durch die ruhiger werdende Stadt, während ihre Gedanken ebenso ziellos in ihrem Kopf kreisten.

Sie ahnte, dass Vincent gelogen hatte. Wieder die gleiche Ausrede, besonders wissbegierige Kunden hätten eine Hausbesichtigung unverzeihlich in die Länge gezogen. Immer die gleiche Antwort auf ihre Frage. Immer der gleiche Blick.

Doch es war nicht der Gedanke an eine mögliche Lüge, der sie wütend machte. Im Grunde spielte es gar keine Rolle, ob oder warum er gelogen hatte. Viel schlimmer war die Tatsache, dass sie und die Familie ihm wieder einmal nicht wichtig genug gewesen waren, ihn sein Versprechen einhalten zu lassen.

Jasmin hatte sich bei ihrem Streit in Rage geredet, mit den Türen geknallt, sogar ein Teller war, wenn auch eher versehentlich, dafür aber umso dramatischer, zu Bruch gegangen. Das Schlimmste war jedoch die geradezu unerträgliche Gelassenheit gewesen, mit der er ihre Fragen beantwortete. Das gutmütige Lächeln, das er aufsetzte, wann immer sie ihren Unmut äußerte, und das ihr stets das Gefühl gab, nicht ernst genommen zu werden. Das Streicheln seiner Hand über ihren Rücken, die stummen Umarmungen. Es ärgerte sie, dass er selbst nach achtzehn Ehejahren noch immer zu glauben schien, eine Umarmung reiche als Wiedergutmachung für alles.

Und jetzt? Erwartete sie tatsächlich so etwas wie Einsicht von ihrem Mann? Ihr Streit würde ihn auch dieses Mal unbeeindruckt lassen. Allenfalls erreichte sie damit, dass er ihr für ein oder zwei Wochen etwas mehr Aufmerksamkeit schenkte. Danach wäre wieder alles beim Alten. Wie immer.

Sie, die fürsorgliche Hausfrau und Mutter und, nicht zu vergessen: Pflegerin der kranken Schwiegermutter.

Er, der ehrgeizige Immobilienmakler, der seinen Job für den Dreh- und Angelpunkt der Welt hielt.

An einer Abbiegung blieb sie stehen. Wie lange war sie schon unterwegs? Eine halbe Stunde? Eine ganze? Und was versprach sie sich von dieser abendlichen Spontanflucht?

In der Seitenscheibe eines Wagens, der unter einer Straßenlaterne parkte, nahm sie ihr Spiegelbild wahr. Das kurze blonde Haar, das leicht zerzaust wirkte und es vermutlich auch war. Die dunkelblauen Augen, die ermüdet noch schmaler wirkten als sonst. Die Hose eines ausgewaschenen Hausanzugs, die unter dem Mantel hervorlugte.

War das wirklich sie? Dieselbe Frau, die es liebte, sich für Veranstaltungen des Landfrauenvereins herzurichten oder sich für einen romantischen Abend mit ihrem Mann hübsch zu machen? Aber wann hatte es das letzte Mal eine Veranstaltung, einen romantischen Abend gegeben? Romantik, die über die Pflichtverabredungen im Schlafzimmer hinausging?

Jasmin schob die Hände in die Manteltaschen. Was versprach sie sich eigentlich von diesem Abendspaziergang? Verloren sich ihre ohnehin schon wirren Gedanken dadurch nicht nur noch tiefer im Chaos? Dieser Alleingang oder eine weitere Diskussion würden ihr Vincent jedenfalls ganz sicher nicht wieder näherbringen.

Sie war müde. Müde und erschöpft. Für den Rest des Abends – das schwor sie sich, während sie kehrtmachte – würde sie ihr Schweigen noch durchhalten. Morgen früh würde sie dann wie gewohnt zur Tagesordnung übergehen. Für alles andere fehlte ihr die Kraft.

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Kapitel 2

Vincent

Er war niemand, der sich an Menschenansammlungen störte. Für gewöhnlich suchte er sogar das Gespräch mit anderen Leuten, erwiderte jedes Lächeln höflich und war sich für keine Begrüßungsfloskel zu schade. Heute war ihm jedoch jeder Kontakt zuwider. Die vielen vertrauten und an diesem Tag doch seltsam fremden Gesichter. Die Beileidsbekundungen. Das monotone Murmeln, das sich über Zweier- und Vierergrüppchen hinweg im Eingangsbereich und Wohnzimmer ausbreitete.

Noch immer hatte er nicht in vollem Umfang begriffen, dass seine Mutter für immer von ihnen gegangen war. Dass das lang Befürchtete eingetreten und dennoch überraschend gekommen war.

Er ließ sich in einen der Cocktailsessel fallen, ohne seine Kaffeetasse abzusetzen. Erst auf den zweiten Blick sah er, dass Jasmin allein auf dem Sofa saß, das direkt neben seinem Sessel stand. Mit den Händen hielt sie ein halbvolles Glas Wasser umklammert. Ihre Augen waren gerötet.

»Wenn du willst, kann ich die Leute bitten zu gehen«, sagte er leise, während er seine Hand auf ihren Schenkel legte.

»Was?« Seine Berührung schien sie zu erschrecken. Es kam ihm so vor, als hätte er sie aus einem Zustand tiefer Geistesabwesenheit gerissen.

»Ich kann die Leute bitten zu gehen«, wiederholte er nun etwas langsamer.

Schweigend schaute sie ihn an. Dann senkte sie den Blick wieder auf ihre Hände, die das Wasserglas nun noch fester umklammerten.

»Nein«, sagte sie. »Das ist nicht nötig. Sie werden sicher ohnehin nicht mehr allzu lange bleiben. Und ich fände es unangebracht, wenn wir sie wegschicken. Immerhin hatten sie alle eine Bindung zu Emilia.«

Ihre Antwort enttäuschte ihn. Der Vorwand, die Leute ihretwegen wegzuschicken, war damit nicht mehr gegeben, und er selbst war zu feige dazu, seinem Wunsch nach Ruhe Ausdruck zu verleihen. Er war der Mann des Hauses. Derjenige, von dem man Stärke erwartete.

Er ließ den Blick durch den Raum wandern, auf der Suche nach Anzeichen für den unmittelbar bevorstehenden Aufbruch der Gäste. Doch wie es aussah, hatte bis auf seinen Onkel Hanjo noch niemand die Trauerfeier verlassen.

Seine Hand, die noch immer auf Jasmins Schenkel lag, erschien ihm nun seltsam deplaziert. Es war eine Geste, die nicht so recht zu der Stimmung passte, die in den letzten Wochen zwischen ihnen geherrscht hatte. Immer wieder war es zu Streitigkeiten gekommen, weil sie ihm vorwarf, er würde die Familie vernachlässigen. Und mit jedem Streit hatte sich das schlechte Gewissen, das ihn seit Monaten quälte, wenn auch aus Gründen, von denen sie nichts ahnte, mehr aufgelöst. Seine heimlichen Treffen mit Isa waren geradezu zu einer Art Erholungsurlaub für seine gestresste Seele geworden. Und für seinen Körper.

Er musterte Jasmin unauffällig von der Seite. Wer war diese ausdruckslose Frau in dem schwarzen Samtkostüm? War das wirklich ein und dieselbe Person, in die er sich einst so hemmungslos verliebt hatte? Die Frau, die mit ihrer Begeisterungsfähigkeit nicht nur ihn, sondern auch alle anderen spielerisch in ihren Bann zog?

»Wo ist Kea?«, fragte er sie, als er Philipp allein an der Küchentür stehen sah, mit einem Kuchenteller in der Hand.

»Sie hat sich schlafen gelegt, nachdem wir zurückgekommen sind«, antwortete Jasmin. »Es ging ihr nicht sehr gut.«

»Wem von uns geht es unter diesen Umständen denn schon gut, frage ich mich?«

»Vincent!«

»Tut mir leid, aber der heutige Tag ist für uns alle nicht gerade leicht. Da gehört es sich, dass wir als Familie zusammenhalten und niemand einfach so nach oben verschwindet.«

»Als Familie«, antwortete sie und schob ein leises Lachen hinterher.

»Was?«

»Nichts.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es wundert mich nur, das ausgerechnet aus deinem Mund zu hören.«

»Was soll das heißen, aus meinem Mund?«

Er wusste genau, was sie meinte. Und doch ärgerte es ihn, dass sie etwas so Komplexes in eine einzige lapidare Äußerung fasste.

»Ich glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch ist«, sagte sie schließlich, stellte das Glas auf den Tisch und stand auf, um sich langsam unter die Leute zu mischen.

Regungslos schaute er ihr nach.

Vielleicht war es richtig, dem Beispiel seiner Tochter zu folgen und sich schlafen zu legen. Oder, noch besser, sich einfach ins Auto zu setzen und zu Isa zu fahren. Eine Idee, die er nicht ernsthaft in Erwägung zog, die ihm deshalb aber umso verlockender erschien.

Die Stimmung im Raum erdrückte ihn. Viel erschreckender war jedoch die Tatsache, dass er sich nicht imstande sah, auch nur einen Gedanken an seine Mutter zuzulassen. Allein der Versuch, sich das letzte Gespräch mit ihr in Erinnerung zu rufen, raubte ihm den Atem. Wie konnte ihn etwas, das in den letzten Wochen derart vorhersehbar geworden war, nur so aus der Bahn werfen?

Er war müde. Fühlte sich mürbe und zerschlagen, zwang sich, seine Gedanken auf etwas anderes zu richten.

Neben seiner leeren Kaffeetasse, die er auf dem Tisch abgesetzt hatte, entdeckte er einen Teelichthalter aus pastellgrünem Porzellan. Zwischen all den braunen, weißen und ockerfarbenen Einrichtungsstücken wirkte das glänzende Utensil völlig deplaziert, noch dazu war er sich sicher, es noch nie zuvor gesehen zu haben – dennoch gelang es ihm nicht, den Blick davon loszureißen.

Instinktiv streckte er die Hand danach aus und zog den Teelichthalter ein kleines Stück zu sich heran. Das altmodische Grün, das ihn an die Einrichtung eines Tante-Emma-Ladens erinnerte, die geradezu hässliche Form. Aber … hatte er dieses seltsam geschmacklose Teil nicht doch schon irgendwo einmal gesehen? Noch bevor er es näher betrachten konnte, holte ihn eine Erinnerung ein, die so simpel und vielleicht gerade deshalb so überwältigend war, dass er einen Moment innehielt, um die Bilder festzuhalten, die nun in seinem Kopf auftauchten.

Seine Frau, die sich in einem Sommerkleid aus weißem Chiffon wie eine Tänzerin vor ihm drehte und schallend lachte, als er sie mit einem beherzten Griff um ihre Taille an sich zog.

»Müssen wir schon los?«, fragte sie und machte sich los. »Nicht, dass deine Mutter böse wird, wenn wir zu spät kommen.«

»Meine Mutter kann gar nicht böse sein, wenn du der Grund für die Verspätung bist«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Sie liebt dich nämlich.«

»Sie kennt mich doch kaum.«

»Umso mehr kannst du dir etwas darauf einbilden. Sie ist für gewöhnlich nämlich sehr sparsam mit ihren Sympathiepunkten.«

Wieder das gleiche herzliche Lachen. Wieder eine Kreisbewegung und die Frage: »Meinst du wirklich, dass es das richtige Kleid für eine Einladung zum Kaffee ist?«

»Ob das Kleid dem Kaffee gefällt, ist mir, ehrlich gesagt, ziemlich egal«, antwortete er. »Ich weiß nur, dass es mir gefällt.«

»Ach, Vincent!«, rief sie und lachte wieder ihr unvergleichliches Lachen.

Der Teelichthalter! Urplötzlich fiel es ihm wieder ein. Es war einer von ehemals zweien, die auf der Kaffeetafel seiner Mutter gestanden hatten. Hier in diesem Wohnzimmer, zu einer Zeit, die in diesem Moment so weit entfernt schien wie neu entdecktes Leben auf einem fremden Planeten.

Wie sehr sich Jasmin damals über die Einladung seiner Mutter gefreut hatte. Und wie unangenehm es ihr gewesen war, dass sie einen der Teelichthalter zu Boden gefegt und dabei zerbrochen hatte, als sie ihr Geschenk für Emilia aus ihrer Handtasche zog.

Noch zahlreiche Einladungen später hatte sie sich für diesen kleinen Unfall entschuldigt, bis der Teelichthalter irgendwann zu einer Art Running Gag zwischen seiner Mutter und Jasmin wurde. »Warum ist es denn so dunkel hier?«

»Das muss daran liegen, dass nur noch ein Teelichthalter brennt.«

Wie lange war das her?

»Wo ist denn Kea?«, fragte Philipp, der genau dort auf dem Sofa Platz nahm, wo eben noch Jasmin gesessen hatte. Seine Frage riss Vincent unliebsam aus seinen Gedanken.

Für einen Moment schaute er seinen Sohn schweigend an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Viel zu groß war der Wunsch, die Erinnerung festzuhalten, die ihn ohne jede Vorankündigung überfallen und ebenso schnell wieder verlassen hatte. Eine Erinnerung, die wie aus einer anderen Welt schien, auch wenn er wusste, dass sie ein ganz realer Teil seiner Vergangenheit war. Keine Einbildung. Kein Traum.

»Kea hat sich hingelegt«, antwortete Vincent schließlich, während er den Teelichthalter wieder in die Mitte des Tischs zurückschob. »Es ging ihr nicht gut.«

* * *

Mai 1993

»Oh Vince«, ihre Stimme schien eine ganze Oktave auf einmal zu überspringen, »es ist einfach hinreißend.«

»Hinreißend?« Er hob eine Augenbraue und lehnte sich mit skeptischem Lächeln gegen die Backofentür. »Es ist einfach nur eine Konditorei.«

»Sei doch nicht immer so nüchtern«, widersprach sie mit mädchenhaftem Kichern, während sie eine der Kuchenhauben anhob und neugierig darunterspitzte. »Das ist wie die Arbeit eines Zauberers, der aus ganz normalen alltäglichen Dingen einen magischen Ort erschafft.«

Er lachte. »Wiederhole das bitte eins zu eins noch mal in Anwesenheit meiner Mutter, und sie wird dir zu Füßen liegen.«

»Nichts leichter als das. Ist ja schließlich nur die Wahrheit.«

Mit einem weiteren tiefen Atemzug schien sie Düfte, die im Raum hingen, in sich aufsaugen zu wollen. Sie zog mit der Fingerspitze eine Spur durch den zarten Puderzuckerstaub auf dem Edelstahltisch, um schließlich vor Vincent stehen zu bleiben und die Arme um seinen Hals zu legen.

»Ich finde es einfach toll hier!«, jubelte sie.

»Ich wünschte nur, die Konditorei wäre nicht so ein heikles Thema in unserer Familie«, sagte er.

»Heikel? Wieso das?«

»Meine Mutter wird zwar noch einige Jahre das Ruder in der Hand behalten, aber trotzdem treibt sie jetzt schon der Gedanke um, was aus der Konditorei werden wird, wenn sie in den Ruhestand geht.« Vincent küsste Jasmin auf die Nasenspitze. »Es passt nicht sonderlich gut in ihre Vorstellung von Familientradition, dass ihr jüngster Sohn keinerlei Interesse an Torten und Teigteilchen hat.«

»Und was ist mit Julian? Du sagtest doch, er macht irgendwas mit …«

»Tieren«, ergänzte Vincent. »Er ist Tierpfleger, und dass er einmal in diese Richtung gehen würde, war immer klar. Schon von klein auf behagte ihm die Gesellschaft von Vierbeinern weit mehr als die von Zweibeinern. Julian ist eben Julian. Und genau deshalb«, er drückte ihr einen weiteren Kuss auf die Nasenspitze, »lag der Ball von Anfang an bei mir. Vor allem, weil ich im Gegensatz zu meinem Bruder lange Zeit nicht wusste, was ich beruflich einmal machen will.«

Jasmin löste sich aus seiner Umarmung und sah sich erneut um, diesmal noch aufmerksamer. »Ich finde es toll hier, ganz ehrlich. Aber ob ich den Rest meines Lebens mit Puderzucker und Glasuren verbringen würde …? Abgesehen davon«, sie lächelte ihr gewohnt zauberhaftes Lächeln, während sie sich zu ihm umdrehte, »sagtest du doch, dass deine Mutter sich über deinen neuen Job im Maklerbüro freut.«

»Tut sie ja auch.« Vincent seufzte. »Aber nur, weil sie denkt, dass das eine vorübergehende Phase ist. Um ein bisschen Geld zu verdienen, verstehst du?«

»Ist der Gedanke, dass du eines Tages das Familiengeschäft übernimmst, denn tatsächlich so abwegig für dich?«

»Abwegig ist das falsche Wort. Die Konditorei passt nur einfach nicht in meinen Plan.«

Sie legte den Kopf zur Seite, eine lange Strähne löste sich aus ihrem Haargummi.

»Und ich?«, fragte sie mit erwartungsvollem Augenaufschlag. »Passe ich in deinen Plan?«

»Du?« Er lächelte, während er einen Hauch Puderzucker von ihrer Wange strich. »Du bist mein Plan.«

* * *

Kea

Es war stets das gleiche Phänomen, wann immer er den Raum betrat. Was sie auch gerade tat oder dachte, wurde unwichtig. Von einer Sekunde zur anderen einfach belanglos.

»Geht’s vielleicht auch ein klein wenig unauffälliger?«, hörte Kea ihre Freundin Sonja neben sich sagen, als sie gerade den letzten Bissen hinunterwürgte und die Gabel auf den Tisch legte.

»Wie?«, murmelte Kea, ohne den Blick vom Kantinentresen abzuwenden.

»Ich weiß, dass du in diesen Kerl verknallt bist, Süße«, flüsterte Sonja in verschwörerischem Ton, während sie sich zu Kea hinüberbeugte. »Aber wenn du nicht willst, dass es gleich die ganze Schule weiß, versuch bitte, dich ein wenig leiser an deinem Essen zu verschlucken, ja?«

»Ich … ich habe mich gar nicht verschluckt.« Kea schob den Teller von sich. »Es schmeckt nur wie immer grauenhaft, das ist alles.«

»Soso.«

»Was soll das heißen, soso?«

Doch sie hörte nicht mehr, was Sonja antwortete. Selbst ein Großbrand in der Schule wäre ihr vermutlich entgangen bei dem Blick, den er ihr schenkte, als er sich mit seinem Teller an ihren Tisch setzte. An ihren Tisch.

»Hallo, Mädels.« Mit der Lässigkeit eines Ryan Gosling begann er, sein Fleisch zu zerteilen.

»Hey«, antwortete Kea, dankbar dafür, eine coole einsilbige Begrüßung gefunden zu haben.

»Hallo, Mirco«, meinte Sonja, im Gegensatz zu ihrer Freundin vollkommen unbeeindruckt von seinem Auftauchen, während sie sich ihrem leuchtend roten Wackelpudding widmete.

Sag was, Sonja, flehte Kea in Gedanken. Irgendetwas. Er darf auf keinen Fall denken, dass er sich an den falschen Tisch gesetzt hat. Aber dass ich von mir aus mit ihm zu reden beginne … ausgeschlossen!

»Und? Was macht die Theatergruppe?«, fragte Sonja schließlich, ohne zu wissen, wie dankbar ihr Kea dafür war. Es war eine Scheinfrage, denn immerhin wussten sie beide, dass er der Gruppe gerade erst den Rücken gekehrt hatte.

»Ach, das«, murmelte Mirco, »ist ein alter Hut. Hat mir zu viel Zeit geraubt und wirklich weiterbringen tut es einen ja doch nicht.«

»So hast du mehr Zeit zum Fußballspielen«, sagte Kea und wunderte sich im selben Moment über ihren Mut.

Das Lächeln, mit dem er ihren Kommentar quittierte, blendete für einen Augenblick den Rest der Schulkantine, den Rest der ganzen Welt, aus.

»Stimmt«, sagte er. Ein Wort, das nicht viel bedeutete, für sie aber alles.

Ihre Blicke trafen sich, und Kea merkte, dass ihr Kopf gerade dabei war, die Farbe des Wackelpuddings anzunehmen. Verdammt, warum verlor sie nur so schnell die Kontrolle über sich, wenn er in der Nähe war? Früher hatte sie sich problemlos mit ihm unterhalten können, sogar darüber gelacht, wenn andere Mädchen ihn anhimmelten. Und jetzt? Jetzt war sie seit drei Monaten selbst eine von ihnen.

»Ich hab euch neulich erst beim Üben gesehen«, sagte Sonja. »Du bist Stürmer, richtig?«

»Klar«, erwiderte er. »Nur im Sturm hat man wirklich Spaß!«

Kea musterte ihn von der Seite. Die dunklen Bartstoppeln, die sich trotz der Rasur ihren Weg suchten. Das kleine Muttermal am Kinn. Die hellbraunen Locken, die seine Ohren umspielten. Der schlanke und doch männliche Hals, der aus dem Kragen seines dunkelblauen Hemdes ragte.

»Ich hab das von deiner Oma gehört, Kea«, wechselte Mirco, den Blick nun wieder direkt auf sie gerichtet, das Thema. »Tut mir echt leid.«

»Danke«, antwortete sie leise und erschrak augenblicklich über die Freude, die seine Aufmerksamkeit in ihr auslöste. Wie hatte er davon erfahren? Durch die Zeitung? Von seinen Eltern? Und wie war es möglich, dass sie sich über seine Bemerkung freute, obwohl ihr der Gedanke an ihre Großmutter noch immer die Tränen in die Augen trieb?

Er schien ihre Verunsicherung zu spüren. »Tschuldigung, ich wollte da jetzt nichts aufwühlen.«

»Hast du nicht«, log sie.

Ja, er hatte etwas aufgewühlt. Sie an etwas erinnert, das sie lieber verdrängte. Und doch konnte sie sich niemanden vorstellen, von dem sie sich lieber aufwühlen ließ.

»Bist du dann überhaupt in der richtigen Stimmung für Fynns Party?«, fragte er, ohne den Blick von ihr zu nehmen.

»Party?«, hakte Sonja nach, als Keas Antwort ausblieb.