Klare Ansage - Andreas Schmidt-Schaller - E-Book

Klare Ansage E-Book

Andreas Schmidt-Schaller

4,9

Beschreibung

Es gibt Menschen, die einem - obgleich man ihnen noch nie begegnet ist - vertraut sind, als gehörten sie zur Familie ... Solch ein Mensch ist Andreas Schmidt-Schaller: bodenständig, geradlinig, unverbogen, uneitel. Homestorys kennt man von ihm so wenig wie Skandale. Ein Thüringer, der das Gespräch am Tresen mehr schätzt als den Smalltalk auf dem Roten Teppich. Jahrzehntelang schauen wir ihm nun schon ins Gesicht und beim Ermitteln über die Schulter. Und wir wollen wissen: Wer ist dieser Mann, der im Fernsehen für die SOKO Leipzig unterwegs ist? Der Schauspieler wird in diesem Jahr 70. Und endlich macht Schmidt-Schaller öffentlich, was ihn beschäftigt, ihn bewegt, wie er die Welt sieht. Zeit wurde es allemal!

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Impressum

ISBN eBook 978-3-355-50024-1

ISBN Print 978-3-355-01836-4

© 2015 Verlag Neues Leben, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin, unter Verwendung eines Motivs von ullsteinbild – Zapf

Fotos Innenteil: Privatarchiv Schmidt-Schaller

Die Bücher des Verlags Neues Leben erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de

Für meine Familie

Prolog

Auf dem Boden liegen Kleidungsstücke lose verstreut, Papiere dazwischen und Schubläden, ausgeleert und weggeworfen. Schranktüren sperren nach außen und geben den Blick auf das durchwühlte Innere preis, die Eingeweide liegen bloß. Ich renne von einem Zimmer ins nächste und auch die Treppe ­hinauf. Überall das gleiche Bild der Verwüstung. Am Ausgang zur Terrasse entdecke ich die beiden Löcher in den Scheiben, durch die die Riegel von außen geöffnet worden sind. Hier haben keine Amateure gearbeitet, das sehe ich sofort. Aber die Türen sind verschlossen. Die Täter müssen hier zwar eingedrungen sein, das Haus aber auf anderem Wege verlassen haben.

Ich bin irritiert. Suchten die Einbrecher vielleicht meine Stasi-Akten, deren Kopien mir die Journalisten gegeben hatten? Quatsch! Ich wische den Gedanken beiseite. Du siehst zu viele Krimis, Alter. Die Papiere bekommt jeder, der einen Forschungsauftrag stellt, nur ich muss schon seit über zwei Jahren auf die Herausgabe warten. Ein »Forschungsauftrag« ist legal und billiger als ein Bruch. Und außerdem: Es steht eh nichts drin. Schön, das weiß man erst, wenn man’s gelesen hat. Also hinterher. Das konnten die Diebe nicht wissen.

Ich merke verärgert, dass ich mich in diesen Gedanken versteige. Du nimmst dich wichtiger, als du bist, reiß dich gefälligst am Riemen.

Swentja ruft aus der Diele, der Schlüsselbund von Matti, der mit dem Beatles-Anhänger, sei auch weg. Aha, dann sind sie durch die Haustür hinaus. Ziemlich frech.

Im Arbeitszimmer steht der Laptop an seinem Platz. Ich hebe die Blätter vom Boden. Sie tragen den Stempel »BStU«. Ich bin fast enttäuscht. Lesen also konnten die nicht. Oder nur nicht Deutsch?

Ehe die Polizei eintrifft, haben wir eine Bestandsaufnahme gemacht. Es fehlen Schmuck, Geld natürlich, Münzen, das Samurai-Schwert, alles, was sich rasch versilbern und leicht in einer Tasche davontragen lässt. Das erklärt auch, weshalb etwa der Computer unangetastet blieb.

Schließlich kommen die Beamten, die Kriminaltechniker im Gefolge. Sie mustern mich. Ihr Blick verrät, dass sie mich erkennen. Sie verziehen keine Miene. Zum Schaden auch noch der Spott, das würde mir augenblicklich noch fehlen. Hoho, beim Herrn Kriminalhauptkommissar Trautzschke wurde eingebrochen. Willkommen im Leben.

Die Beamten sind jedoch Profis. Sie behandeln mich wie jeden anderen, der ungebetenen Besuch gehabt hat. Ich berichte, dass wir ein paar Tage an der Ostsee gewesen seien und bei unserer Rückkehr dieses Chaos vorgefunden hätten. Das und das würden wir vermissen. Nein, wir haben noch nicht in der Nachbarschaft gefragt, ob man dort etwas bemerkt habe. Ja, wir besitzen keine besonderen Sicherungs­anlagen. In Pankow braucht man dergleichen Schnickschnack nicht. In Dahlem vielleicht.

Die Beamten schauen sich an. Ob ich Christoph H. kenne, den Schriftsteller.

Selbstverständlich, der wohnt hier um die Ecke.

Bei dem wurde dieser Tage auch eingebrochen. Der Polizist sagt den Satz ohne emotionale Eintrübung, nicht als verklausulierte Vorhaltung, dass ich naiv sei – was ich vermutlich auch bin: Mein Glaube an das Gute im Menschen ist unausrottbar. Er formuliert eine Überlegung. Nämlich die, dass man es auf bestimmte Prominente abgesehen haben könnte. Dass vielleicht, gewissermaßen, eventuell eine bestimmte Absicht, ein Prinzip dahintersteckt …

Warum, frage ich. Welche Absicht soll das denn sein? Aber mal der Reihe nach. Erstens: Bin ich prominent? Bin ich nicht.

Zum ersten Mal verziehen die Polizisten mokant das Gesicht. – Ich tue, als übersähe ich ihr Grinsen.

Zweitens: Wieso soll bei Prominenten mehr zu holen sein als bei Nichtprominenten?

Wissen das auch die Einbrecher?, fragt der eine. Die nehmen doch an, dass …, dass … Also wenn jemand regelmäßig im Fernsehen zu sehen ist, dass der eine Mordskohle verdient.

Jetzt muss ich lachen, obwohl das Thema nicht zum Lachen ist. Wissen Sie, wie oft ich mich in meinem Leben schon auf dem Amt arbeitslos gemeldet habe?

Na ja, rudert er zurück. Aber als erfolgreicher Schriftsteller … Denken Sie an Grass. Nobelpreis. Da hängen Millionen schwedische Kronen dran. Oder an diese, diese – wie hieß die doch gleich, die den Harry Potter geschrieben hat, nun hilf doch mal … Er stößt seinen Kollegen an.

Rowling.

Ja, genau die. Multimillionärin ist die.

Christoph H. sei weder Träger des Nobelpreises, obwohl er ihn verdient habe, noch ein Bestsellerautor. Zu DDR-Zeiten vielleicht, sage ich. Aber da gab es keine Bestseller, nur Bücher, von denen sich die meisten besser verkauften als heute …

Die Kriminaltechniker, die sich mit Puder und Quast an der Tür zu schaffen gemacht hatten, melden sich erstmals. Keine Fingerabdrücke; das waren Profis. Die haben Handschuhe getragen. Ihre Ansage klingt, als wünschte man keinen Widerspruch. Sie packen ein.

Nach ein paar Aufnahmen verabschieden sich auch die übrigen Beamten. Da stehen wir nun, meine Frau und ich, mitten im Chaos. Ein wahres Durcheinander der Erinnerungen.

Swentja hebt die Schultern, seufzt, nickt mir zu: Na, dann …

Meine antifaschistische Großmutter

Großmutter! Von allen Personen, die mir im Leben wichtig waren, würde ich ihr den größten Kranz flechten. Sie kam aus proletarischem Milieu, ihr Vater war Bergmann in Staßfurt, wo man das Salz aus der Erde holte. Ein überzeugter Sozialdemokrat. In der Küche, erzählte sie mir, hing immer ein Bild von August Bebel. Ihr Vater und seine Kollegen haben ihr soziales Bewusstsein geprägt. Seine Haltung führte zu inner­familiären Konflikten, denn der Vater meines Großvaters war ein kaisertreuer Regierungsbeamter, der den Kontakt zur Schwiegertochter und deren Familie ablehnte. Der Standes­dünkel wurde voll ausgelebt. Meine Großmutter kleidete ihn in den überzeugenden Satz: »Für den begann der Mensch erst beim Referendar.«

Ich wusste als Kind zwar nicht, was ein »Referendar« war, aber ich ahnte, das es was Besonderes, was Besseres sein musste.

Und noch einen zweiten Satz gab Großmutter mir mit auf den Lebensweg, der mich bis heute leitet: »Bildung und Studium schön und gut, das Wichtigste allerdings ist die Herzensbildung.«

Sie selbst verkörperte dieses klassische proletarische Ideal von Menschlichkeit und Herzensgüte.

Der Lieblingsbruder meiner kommunistischen Großmutter wurde Nationalsozialist und machte Karriere bei den Nazis. Otto sollte es in Staßfurt bis zum Kreisleiter der NSDAP bringen. Und rettete seiner Schwester Luise Schmidt-Schaller das Leben. Auch in der Nazizeit waren mitunter die Familienbande fester als die Ideologie. Die Gestapo war meiner Großmutter auf den Fersen. In ihrer Wohnung in der Karl-Haußknecht-Straße in Weimar trafen sich Mitglieder der Gruppe um Magnus Poser. Diese gehörten einer in Thüringen weit verzweigten antifaschistischen Widerstandsorganisation an, welche Verbindungen bis hin zum militärischen Widerstand um Stauffenberg hatte. Poser sollte im Juli 1944 von der Gestapo in Weimar verhaftet und in der Nacht zum 21. Juli 1944 erschossen werden. Angeblich auf der Flucht.

Also solche Leute kamen regelmäßig in Großmutters Atelierwohnung, und die Gestapo durchsuchte diese wiederholt, ohne jedoch etwas zu finden. Ihre ­Geschwister veranlassten nun – sie selbst hätte gewiss den Gedanken von sich gewiesen –, dass der Bruder Goldfasan aus Staßfurt mit dem Dienstwagen vorfuhr und einen ­demonstrativen Besuch bei seiner Schwester abstattete.

Von Stund an ließ die Gestapo sie in Ruhe.

Großmutter hatte mit den Nazis nichts am Hut. Sie vertrat schon vor Errichtung der Diktatur den Standpunkt, wer Hindenburg wähle, stimme letztlich für ­Hitler, und Hitler bedeutete für sie Krieg. Der und seine Pala­dine kamen häufig nach Weimar, unter anderem, um den Fortgang der Bauarbeiten am vier Hektar großen Gauforum zu kontrollieren. Vierzigtausend National­sozialisten wurden im Mai 1937 zur Grundsteinlegung für die »Halle der Volksgemeinschaft« aufgeboten. Großmutter war noch Jahre später entsetzt, wie die Massen ­gejubelt, gekreischt und geblökt hätten. Unfassbar, unglaublich, schrecklich, sagte sie.

Luise Schmidt-Schaller, die Großmutter und der Enkel, Anfang der sechziger Jahre

Woher komme ich, wer bin ich?

Ich bin ein uneheliches Kind. Gezeugt im letzten Kriegswinter des Tausendjährigen Reiches, geboren im ersten Friedensherbst. Von meinem Vater weiß ich nicht, woher er kam und was er machte. Er war sehr krank, meine Mutter besaß kaum Geld, und das ging für Medikamente drauf, die er benötigte. Er heiratete eine andere Frau. Dort war ich bisweilen zu Besuch. Er starb, als ich fünf war.

Großmutter nannte ihn abfällig Zigeuner. Vielleicht wegen seiner tiefschwarzen Haare. Es existieren wenige Fotos, aber keinerlei Belege, dass er mein tatsächlicher Erzeuger war.

Als ich vor einiger Zeit in Weimar den Friedhof aufsuchte, wo er 1950 bestattet worden war, sprach mich eine Friedhofsgärtnerin wegen eines Autogramms an. Das bekäme sie nur, antwortete ich, wenn sie mir etwas zu Rudolf Wagner sage, dessen Grab sich einmal hier befunden habe. In den Büchern las sie, dass er am 3. August 1909 in Naumburg geboren und gerade mal einundvierzig Jahre alt geworden sei. Nun werde ich meine Nach­forschungen auf Naumburg ausdehnen müssen.

Das Interesse für meine Herkunft und die Ursprünge der Familie setzte ein, als ich auf die sechzig zuging. Das ist vermutlich bei den meisten Menschen so. Je älter man wird, desto neugieriger ist man auf seine Wurzeln. Meine Neugier nahm seitdem stetig zu. Jetzt bin ich an dem Punkt, wo ich es einfach wissen muss: Woher komme ich?

Das Graben nach den Wurzeln beginnt wahrscheinlich erst deshalb im vorgerückten Alter, weil man bis dahin zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wenn die Kinder aus dem Haus sind, die Arbeit kaum noch Überraschungen bereithält und auch die Eltern nicht mehr sind – meine Mutter starb 2012 –, bricht es durch. Und es wird einem schmerzlich bewusst, dass man es versäumt hat, die Vorfahren zu fragen, was man sie eigentlich hätte fragen müssen, als sie noch da waren. So ist denn vieles mit ­ihnen unwiederbringlich verschwunden.

RudolfWagner, der Vater, mit Sohn Andreas, Aufnahme 1946

Was das Motiv für ein solches Grübeln ist, vermag ich nicht zu beantworten. Vielleicht, weil einem zunehmend bewusst wird, dass die Zahl der Tage endlich ist, die man noch hat. Oder man sucht nicht nur um seiner selbst ­willen die Nachrichten über die Familie zusammen, sondern weil man festhalten und weitergeben will, was die Kinder nicht fragen. Wenn ich nicht mehr bin, sind auch meine Geschichten weg. Wäre doch schade, wenn die mit mir stürben.

Ich lebe jedenfalls nicht so geschichtslos wie inzwischen die meisten Zeitgenossen. In unserer Gesellschaft scheint nur die Gegenwart noch zu interessieren. Vergangenheit und Zukunft sind ohne Belang: Geschichte liefert allenfalls Anlässe für Events, ist reduziert auf Marketingfak­toren. Und die Zukunft? Nach uns die Sintflut. Lasst doch die Polkappen schmelzen und die Meeresspiegel steigen – Hauptsache, die Kasse stimmt.

Aber es geht auch um kleine Münze. Manchmal frage ich mich: Warum hast du intuitiv so gehandelt und nicht anders, von wem hast du was geerbt? Söhne sind ihren Vätern ähnlicher, als ihnen oft lieb ist, bei Frauen und ihren Müttern wird es wohl auch so sein. Da können wir hundertmal in der Pubertät wütend brüllen: So wie du will ich nie werden! Nein, wir kommen aus unserer Haut nicht raus, da kann das gesellschaftliche Ensemble beschaffen sein, wie es will, und das Sein noch so sehr aufs Bewusstsein drücken: Am Ende entscheiden die Gene doch.

Da gibt es so eine Begebenheit, die mir in der Erinnerung geblieben ist. Sie beweist mir nachdrücklich, dass ich eben nicht nur Kind meiner Mutter, sondern auch das eines Vaters war.

Mutter ging regelmäßig und oft mit mir spazieren, bis ich ihr als Kind die Gefolgschaft verweigerte, weil ich es hasste, mit ihr an der Hand immer dieselben Wege in Weimar und später in Gera abzulaufen. Die Osterspaziergänge waren mir vornehmlich deshalb ein Gräuel, weil Mutter Zweige mit geschwollenen Knospen und erstem Grün abriss und nach Hause trug, um sie in eine Vase zu stecken. Dagegen lehnte ich mich auf, das war Frevel an der Natur. Die gleiche abwehrende, unverständliche Reaktion in Gera-Ernsee: Dort befanden sich große Obst­plantagen, wo wir im Sommer Kirschen klauten. Auch da gab es stationierte Sowjetsoldaten. Sie fuhren mit Lkw vorbei, die Klappe hatten sie heruntergelassen und ließen die Beine baumeln. Sobald sie aber unter den Kirschbäumen waren, sprangen sie auf und rissen die Äste herunter, das ging ratzfatz und mir ins Herz. Die Russen spielten oft mit uns und hoben uns Kinder hinters Lenkrad; sie waren uns wohlgesonnen. Aber beim Kirschenklauen waren sie rücksichtslos und rupften die Bäume wie Suppenhühner. Dagegen sperrte sich mein Innerstes, es gehörte sich nicht, derart rabiat mit der Natur umzugehen. Die fuhren einfach die Allee entlang, stoppten, brachen die mit Kirschen vollbehangenen Äste ab und warfen sie hinter sich. Fuhren weiter, stoppten, langten nach den Kirsch­zweigen.

Ich war entsetzt und habe es nicht verstanden.

Diese Demut vor der Natur – nicht vor der Schöpfung: ich bin kein gläubiger Mensch – scheint mir eingepflanzt zu sein. Ich kann, im Wortsinne, keiner Fliege etwas zuleide tun, keine Spinne, keinen Käfer zertreten.

Wir wohnten in Weimar unterm Dach. Die Atelierwohnung hatte mein Großvater, der inzwischen in ­Schweden lebte, in den zwanziger Jahren bezogen. Die Straße führte am Alten Friedhof mit der Fürstengruft vorüber. Meine Freunde und ich nutzten den Gottesacker respektlos als Abenteuerspielplatz.

Neugierig und selbstbewusst: Welt, ich komme! Ein Kinderbild mit fünf im Kindergarten

Peter und Wolfgang Ramme sind meine Freunde, solange ich denken kann. Wir wuchsen zusammen auf, waren wie Geschwister, und unsere Mütter übernahmen gleichermaßen die Erziehung von allen drei Jungs. Der Vater von Peter und Wolfgang betrieb eine Fahrradreparaturwerkstatt. Großzügig boten wir unsere Dienste als Testfahrer an und ratterten mit den Rädern übers Kopfsteinpflaster. Auf dem ebenen Bürgersteig fahren konnte schließlich jeder, durfte man aber nicht. Wir fuhren um die Wette und veranstalteten unsere eigene kleine »Friedensfahrt«. Durch unsere Ausflüge lernten wir jede Straße, jeden Weg, jede Abkürzung in und um Weimar kennen. Das war – im wahrsten Sinne des Wortes – erfahrene Geografie, die sich mir bis heute eingeprägt hat.

Sonntags trafen wir uns oft zum Wettessen der selbstgemachten Thüringer Klöße. Dazu gab es Fleisch vom Schlachthof, sogenanntes Freibankfleisch, das es dann oft als Sauerbraten gab. Meist gewann Peter bei unserem Wettbewerb, er schaffte in seinen Hochzeiten bis zu sechs Stück.

Rammes hatten Westverwandtschaft in Berlin, die sie in den Ferien oft besuchten. Wenn sie aus der Hauptstadt zurückkamen, brachten sie Kaugummi und Schokolade mit. Besonders angetan war ich von einem Hawaiihemd. Die Südsee mitten in Thüringen! So eines wollte ich auch haben. Erst viele Jahre, einen Mauer­bau und einen Mauerfall später flog ich nach Hawaii und suchte mir das schönste Hemd aus, das ich finden konnte. Es erinnert mich nun an zweierlei: An Familie Ramme und an einen herrlichen Urlaub.

Mutter arbeitete in Erfurt als Journalistin und hatte dort ein möbliertes Zimmer, wo sie übernachtete, wenn es in der Redaktion spät geworden war und kein Zug mehr fuhr. Es wurde fast jeden Tag später. Deshalb verbrachte ich die meiste Zeit mit der Großmutter. Und mit eben jenem Getier, das mit uns das Atelier teilte. Mitunter wurde ich nachts wach und sah, wie etwas mit acht Beinen über die Bettdecke stakste. Andere Menschen kriegen in solchen Momenten gewiss einen Schreikrampf, ich hingegen beobachtete neugierig, wie die Spinne lief. Das fand ich faszinierend: Ich stolperte zuweilen über meine zwei Beine – sie kam mit acht Beinen klar und verhedderte sich nicht einmal.

Wenn meine Neugier nachließ, nahm ich mit einem Blatt Papier die Spinne ganz vorsichtig auf. Behutsam setzte ich sie vors Fenster.

Trotz meiner tief wurzelnden Tierliebe war ich die längste Zeit meines Lebens kein Vegetarier, und ich würde auch nicht ausschließen wollen, dass ich, ginge es ums Überleben, notfalls selbst ein Tier schlachten würde. Es käme auf die Umstände an. Dennoch bleibt mir rätselhaft, wie man sich als zivilisierter, friedfertiger Mensch in wenigen Augenblicken ins Gegenteil verwandeln kann. Ende der siebziger Jahre schickte man mich als Reservisten zur Marine-Artillerie. Auf einem Schießplatz nahe Zingst mussten wir die Rohre auf heran­rollende Panzer richten. Betrug die Distanz etwa zwei­tausend ­Meter, sollte gefeuert werden. Sicher, das war eine Übung, und wir schossen auch nicht mit scharfen Granaten, aber meine Fantasie genügte, um mir vorzustellen, wie es im Ernstfall sein würde. Wie würde ich in einer solchen Situation ­reagieren? Und meine Antwort lautete: Du musst schneller sein, also eher schießen als der Kanonier im Panzer.

Gewiss, das war alles nur theoretisch. Doch ich fand es schon erstaunlich, wie ich plötzlich und fast wie selbstverständlich in die Rolle eines Todesschützen hineinfand. Entweder du oder er, und ich hatte mich entschieden, überleben zu wollen und dafür einen anderen zu töten.

Niemals würde ich auf einen Menschen schießen, davon war ich bis zu dieser Übung überzeugt gewesen. Doch in jenem Moment hämmerte es in meinem Kopf: Bevor der schießt, muss ich schießen!

Was war da geschehen, dass ich ohne äußeren Zwang bereit sein würde, abzudrücken und zu morden? Ist es einzig der Überlebenswille? Also eine Art Notwehr? Ich weiß es nicht.

Ich bin kein Pazifist im biblischen Sinne, dass ich also die zweite Wange noch hinhielte, wenn ich zuvor auf die erste geschlagen worden wäre.

Brigitte Schmidt-Schaller

Meine Mutter, Jahrgang 1915, studierte im Dritten Reich Pädagogik und arbeitete als Lehrerin. Ihr Vater, Jahrgang 1889, ein gebürtiger Berliner aus der Bülowstraße, war Maler und Grafiker in Weimar und verließ die Familie schon in den zwanziger Jahren. Erich Otto Schmidt-Schaller hatte von 1919 bis 1921 am Bauhaus studiert, seine Lehrer hießen Lyonel Feininger und Paul Klee.

Am Bauhaus hatte er eine Schwedin kennengelernt, mit der er 1928 nach Skandinavien abhaute. Ob ich von ihm oder von einem anderen aus der Familie eine musische Begabung mitbekam, vermag ich nicht zu beurteilen. Allerdings spielte meine Mutter Klavier, die Schwester meines Vaters, Eva Wagner, war Opernsängerin, der Vater meines Vaters soll ebenfalls als Sänger auf der Bühne gestanden haben. Aber ich bin erst am Beginn meiner Nachforschungen.

Aus der Ehe meiner Großmutter gingen drei Kinder hervor, ehe der Mann gen Norden verschwand. Meine Mutter hatte noch einen Bruder, Harry, und eine ältere Schwester. Carla war in Berlin-Charlottenburg zur Welt gekommen, die beiden anderen in Weimar.

Mutter entschied sich für das Pädagogikstudium, weil dies das kürzeste war und kein Geld kostete. Großmutter verfügte über keinerlei Einnahmen. Ihr abgängiger Mann schickte jeden Monat aus Schweden Lebensmittelpakete und etwas Geld für die Kinder. Auf diese Weise überstand Großmutter die Nazizeit und die schweren Jahre nach dem Kriege. Selbst ich zog noch Nutzen daraus.

Brigitte Schmidt-Schaller als Pädagogikstudentin in den dreißiger Jahren

Erstmals sah ich meinen Großvater im Sommer 1961. Mutter und ich fuhren mit der Bahn nach Schweden, die in Saßnitz auf die Fähre rollte. Zuvor hatten wir in Berlin Station gemacht, das Brandenburger Tor umrundet und uns die Innenstadt angeschaut. Diese war mir insofern nicht ganz fremd, als mich meine Mutter gelegentlich in die Hauptstadt mitgenommen hatte, wenn sie in journalistischer Mission unterwegs war.

Am Morgen des 13. August weckte mich Großvater. »Andreas, du wirst nicht mehr zu mir kommen können, die DDR hat heute die Grenzen geschlossen.«

»Opa, du spinnst«, sagte ich. Ich war sechzehn und konnte das nicht glauben.

»Wart’s mal ab«, sagte er. »Oder besser nicht. Ich schlage dir vor, du bleibst in Schweden, und ich finanziere dir hier ein Medizinstudium.« Ich spielte damals aktiv Fußball und meinte darum, dass ich Sportarzt werden sollte.

Großvaters Angebot lehnte ich ab. Das konnte ich meiner Großmutter nicht antun. Erst hatte dieser Mann sie mit drei Kindern in Weimar sitzen lassen, und nun würde er ihr auch noch den Enkel nehmen. Nein, das ging überhaupt nicht.

Auf der Rückfahrt besuchten wir wieder Berlin. Wir gingen erneut zum Brandenburger Tor. Es war weiträumig abgeriegelt, und dahinter wurden bereits Sperren errichtet.

Opa hatte wohl doch recht gehabt. Die Sache sah ernster und nachhaltiger aus, als ich in meinem jugendlichen Unverstand wahrhaben wollte.

Im Sommer 1961 auf der Fähre von Saßnitz nach Trelleborg, zur ersten Begegnung mit dem Großvater

Die Grenze

In der Folgezeit war die Mauer in der Familie stets präsent. Die Schwester meiner Mutter, Carla, lebte in Köln. Ebenso Tante Emmy, die Schwester meiner Großmutter, und ihr Bruder Otto.

Auf der einen Seite gab es durchaus Verständnis für diese Maßnahme. Hunderttausende zumeist gut ausgebildete, motivierte Menschen verließen die DDR – heute würde man sie Wirtschaftsflüchtlinge nennen. Die wenigsten gingen aus politischen Gründen. Das Land blutete personell aus, das war ökonomisch nicht hinnehmbar. Auf der anderen Seite war der Schnitt durch unsere Familie – die eine durchaus typische Ost-West-Familie war – unfassbar und ärgerlich. Und es gab darum immer wieder Versuche von unserer Seite, die restriktiven Bestimmungen zu unterlaufen.

Niemand von uns nahm an, dass dieser Zustand lange andauern würde. Irgendwann jedoch fanden wir uns mit ihm ab. Durch Weimar ging keine Mauer. In Berlin war das etwas anderes. Wenn ich dort war, fragte ich mich: Wie halten die das aus? Immer eine Wand vor der Nase, und wenn man vom Alexanderplatz zum Schloss Sanssouci wollte, musste man die Stadt umrunden und über Teltow nach Potsdam fahren.

Heute bin ich inzwischen in Israel und auf Zypern gewesen. Ich hörte von den Minenfeldern zwischen Griechenland und der Türkei, sah in Texas den Streckmetallzaun und die Mauer zwischen den USA und Mexiko. Im Fernsehen gab es Bilder der im Sommer 2015 ausgerollten Stacheldrahtrollen auf einhundertsiebzig Kilometer Länge an der ungarischen Grenze. 1989 hatte doch dieses Land eben seine Grenze geöffnet … Man muss mir nichts mehr erzählen von Menschenrechten und Barbarei.

In der DDR war es nahezu Volkssport, Verbote zu unterlaufen. Das galt auch für die Reisebestimmungen ­hinüber und herüber. Selbst meine Mutter machte das. Als Rentnerin fuhr sie regelmäßig zu ihrer Schwester nach Köln, und wenn sie wieder daheim war, wurde das Unterkleid geleert. Absichtsvoll reiste sie stets im Kleid mit einem Gürtel. Oberhalb des Gürtels verstaute sie am Körper Spiegel und Stern und Taschenbücher. Westliche Druck­erzeugnisse standen bekanntlich auf dem Index und durften in die DDR nicht eingeführt werden. Woran sich aber kaum ein Grenzgänger hielt. Und ich bin unverändert davon überzeugt, dass das jeder DDR-Grenzer und Zöllner auch wusste. Sie kontrollierten – stichprobenartig, wie es hieß – allerdings nur das Reisegepäck und nahmen nie Leibesvisitationen vor. Auf diesem Wege gelangte ich auch in den Besitz von Solschenizyns »Archipel Gulag«. Ein Schatz.

Obgleich selbst nicht mehr ganz jung, nannte Großmutter den Zug gen Westen »Mumienexpress«. Sie hatte sichtlich Probleme mit Altersgenossen, was aber mehr ihrem Naturell denn den politischen Umständen geschuldet war. Sie bestieg regelmäßig als Rentnerin den »Mumien­express« Richtung Köln mit dem üblichen Wunschzettel. Position 1: Jeans. Position 2: Hemd. Eine Zeitlang waren Nylonhemden sehr gefragt, weil man die nicht bügeln musste. Die Kunstfaser ließ jedoch keine Luft durch, weshalb man darin recht bald streng roch. Aber was ertrug man nicht alles, um modisch up to date zu sein? Das galt auch für Position 3: ein Regenmantel aus Nylon, genannt NATO-Plane. Später kam ersatzweise der Parka hinzu. Meine NATO-Kutte war braun, damit unterschied ich mich sogar von den anderen, die ausnahmslos grün oder blau trugen.