Klebstoff - Irvine Welsh - E-Book

Klebstoff E-Book

Irvine Welsh

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Beschreibung

Klebstoff erzählt die Geschichte von vier Jungs, die in einer Hochhaussiedlung in Edinburgh heranwachsen und die – so verschiedene Wege sie auch gehen – selbst mit Mitte dreißig noch zusammenhalten. Vier Jungs, die zu Männern werden, und zu was für welchen. Terry Lawson, ein Macho-Arschloch, dennoch nicht ohne Charme, auch wenn er mit 30 noch bei seiner Mutter lebt. Billy Birrell, Boxer und Geschäftsmann, ein kontrollierter Typ, der auf Distanz von seinen Freunden geht und froh sein muss, dass sie ihn trotzdem nicht fallenlassen. Carl Ewart, ein Sensibelchen, dessen Vater die für alle Ewigkeiten gültigen zehn Gebote aufgestellt hat, deren oberstes lautet: Verpfeife niemals einen Freund. Und Andrew Galloway, die tragischste Gestalt unter den vieren, der sich an den Ehrenkodex der Freunde hält und dafür teuer bezahlen muss. Der Roman spannt einen Bogen von den 70ern bis in das neue Jahrtausend – von Punk zu Techno, von Speed zu Ecstasy – und zeigt uns einen Irvine Welsh in Höchstform.

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Seitenzahl: 984

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Inhalt

CoverTitelWidmung1 | Um 1970: Der Mann im HausFenster '70Terry Lawson Der erste SchultagCarl Ewart Auf der ArbeitBilly Birrell Zwei Landplagen erster GüteAndrew Galloway Der Mann im Haus2 | Um 1980 rum: Das letzte Abendmahl (mit Fischgang)Fenster '80Terry Lawson Voll im Saft | Onkel Alec | Sally und Sid JamesBilly Birrell Sex als Fußballersatz | Der Schiri ist ne linke Sau | KupferkabelAndrew Galloway Zu spät | Sport ist Mord | Im Clouds | Jungfrau in Nöten | Rockford gegen Die Profis | Kein Mann im HausCarl Ewart Sexualerziehung | Make Me Smile (Come Up and See Me) | Juden und Nichtjuden | Trinken, um zu vergessen | Die erste Nummer3 | Muss so um 1990 gewesen sein: Hitlers StammlokalFenster '90Billy Birrell Die Hügel | Erinnerungen an ItalienAndrew Galloway Training | Nightmare on Elm Row | EinschränkungenTerry Lawson Teilzeitarbeit | Häusliche Fragen | Haus in bester Lage | Im Wheatsheaf | Hartnäckige Fickprobleme | FreieAuswahl | Clubland | KonkurrenzCarl Ewart Ich bin ein Edinburgher | Alle Eventualitäten einkalkuliert | Vorhaut | Fette Beute | Auf der Wiesn |Fight for the Right to Party4 | So ungefähr 2000: Festival-AtmosphäreFenster '00Edinburgh, Schottland Verwaist | Einmal Fringe ClubIrgendwo bei den Blue Mountains, New South Wales, AustralienEdinburgh, Schottland Post-Mutter, Post Alec | Das Balmoral | Schwänze raus für die Mädchen | Plattenfirma | I Know You're Using MeBlue Mountains, NSW, AustralienEdinburgh, Schottland Abschaum | Das Trikot-Debakel | Marketingmöglichkeiten | Richard GereBlue Mountains, NSW, AustralienEdinburgh, Schottland Erinnerungen an Pipers DiSCOTecBlue Mountains, NSW, AustralienEdinburgh, Schottland Einfach airbrushen | Eine moderne Wandersage | Abgefüllt, zugeknallt, durchgefickt | Eine willkommene Alternative zu Schmutz und Gewalt | Was für die Gesundheit tun | Das Kaninchen | Ein Amerikaner in Leith | Stone IslandFlughafen Sydney, NSW, AustralienEdinburgh, Schottland Bittere Pillen | Taxi | Sterne und ZigarettenAnflugEdinburgh, Schottland Unsere gern gesehenen GästeFlughafen Bangkok, ThailandEdinburgh, Schottland Junge Fotzen | WichsenFlughafen Heathrow, London, EnglandEdinburgh, Schottland Die Business Bar | Islands in the StreamGlasgow, SchottlandEdinburgh, Schottland Runter mit ihren Schuhen! Runter mit ihrer Hose! | Baberton Mains | Loslassen | Gefickt und unsittlich angemacht | Das EndeReprise 2002: Das Goldene ZeitalterBuchAutorLesetippsImpressum

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Für Shearer, Scrap, George, Jimmy, Deano, Mickey, Tam, Simon, Miles, Scott und Crawf, weil sie auch zusammengehalten haben, als sich ihre Wege trennten.

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1 | Um 1970: Der Mann im Haus

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Fenster '70

Die Sonne ging über dem Waschbeton des gegenüberliegenden Wohnblocks auf und schien ihnen mitten ins Gesicht. Davie Galloway wurde von ihren hinterlistigen Strahlen so überrascht, dass er beinahe den Tisch fallen gelassen hätte, mit dem er sich gerade abmühte. Es war bereits tüchtig heiß in der neuen Wohnung, und Davie kam sich vor wie eine fremde, exotische Pflanze, die in einem überheizten Treibhaus die Blätter hängen lässt. Das warn die Fenster, die warn riesig und sogen die Sonne nur so auf, dachte er, während er den Tisch abstellte und auf die Trabantenstadt zu seinen Füßen hinabblickte.

Davie kam sich vor wie ein frisch gekrönter Herrscher, der sein Reich überblickt. Die neuen Häuser waren schon beeindruckend: Sie glitzerten richtig, wenn das Licht auf diese in die Fassade eingelassenen Steinchen fiel. Hell, sauber, luftig und warm, das brauchte der Mensch. Er dachte an die zugige, düstere Mietskaserne in Gorgie; überzogen mit dem Ruß und Dreck von Generationen, in denen sich die Stadt ihren Spitznamen »Auld Reekie«, alter Stinker, erworben hatte. Und draußen die grauen, engen Straßen, verstopft von Menschen, die frierend durch die beißende Kälte schlurften, und dann der schale Gestank des Hopfens aus der Brauerei, der reinwehte, wenn man das Fenster öffnete, und von dem ihm immer übel wurde, wenn er es am Abend davor im Pub übertrieben hatte. All das war nun vorbei, war aber auch höchste Zeit gewesen. So wie hier ließ es sich leben!

Für Davie Galloway waren diese großen Fenster der Inbegriff dessen, was so gut an diesen neuen Plattenbauten war. Er wandte sich zu seiner Frau um, die die Fußleisten wienerte. Warum musste sie in einem neuen Haus die Fußleisten wienern? Aber Susan kniete in einem Overall auf dem Boden, und das Auf- und Abwippen ihres schwarzen, hochtoupierten Haars zeugte von hektischer Betriebsamkeit. – Das ist das Beste an diesen Kästen, Susan, versuchte Davie ein Gespräch anzufangen, – diese Riesenfenster. Lassen die Sonne rein, fügte er hinzu, bevor sein Blick zu diesem sensationellen kleinen Kasten an der Wand über ihrem Kopf wanderte. – Zentralheizung im Winter ist doch das Größte. Nur noch n Schalter anknipsen.

Susan stand vorsichtig auf, mit Rücksicht auf den Krampf in ihrem Bein, der vom Putzen kam. Sie schwitzte, als sie mit dem tauben, kribbelnden Fuß aufstampfte, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. – Es ist zu heiß, maulte sie.

Davie schüttelte energisch den Kopf. – Nee, genieß es, solang’s dauert. Denk dran, wir sind in Schottland, lang wird’s nich so bleiben. Davie holte tief Luft, hob den Tisch wieder an und setzte die mühselige Schlepperei in Richtung Küche fort. War das ein vertracktes Biest: ein todschickes, modernes Resopal-Teil, das ständig seinen Schwerpunkt zu verlagern schien und sich nur schwer festhalten ließ. Als würde man mit nem beschissenen Krokodil ringen, dachte er, und prompt schnappte das Monster nach seinen Fingern, er musste loslassen, und es krachte auf den Boden, während er sich auf die Fingerspitzen biss.

– Sch … Scheibenkleister, schnaubte Davie. Er fluchte nie in Gegenwart von Frauen. Im Pub konnte man sich ne gewisse Redeweise erlauben, aber nicht vor einer Frau. Er ging auf Zehenspitzen zu dem Kinderbettchen in der Ecke. Das Baby schlief immer noch fest.

– Ich hab dir doch gesagt, ich pack gleich mit an, Davie. Wenn du so weitermachst, hast du gleich keine Finger mehr und dafür n kaputten Tisch, warnte ihn Susan. Sie schüttelte langsam den Kopf und blickte zum Kinderbett. – Ein Wunder, dass du sie nicht aufgeweckt hast.

Davie bemerkte, wie gereizt sie war, und sagte: – Der Tisch gefällt dir nich so richtig, oder? Susan Galloway schüttelte erneut den Kopf. Sie schaute über den neuen Tisch weg auf die neue dreiteilige Sitzgarnitur, den neuen Couchtisch und die neuen Teppiche, die am Vortag auf geheimnisvolle Weise aufgetaucht waren, während sie bei der Arbeit in den Whiskylagern im Freihafen war.

– Was is? fragte Davie und schüttelte seine schmerzende Hand. Er spürte ihren Blick, direkt und unerbittlich. Ihre großen Augen.

– Wo hast du das Zeug her, Davie?

Er hasste es, wenn sie ihm solche Fragen stellte. Das verdarb alles, trieb einen Keil zwischen sie. Er tat doch alles nur für sie; für Susan, das Baby und den Kurzen. – Frag nicht, dann brauch ich dich nicht anzulügen, grinste er, aber er konnte sie nicht ansehen, denn er war mit der Antwort ebenso unzufrieden, wie sie es sicherlich sein würde. Stattdessen beugte er sich herunter und küsste seine kleine Tochter auf die Wange.

Aufblickend fragte er sich laut: – Wo steckt Andrew? Er schaute kurz zu Susan. Susan wandte sich mit säuerlicher Miene ab. Er versteckte sich wieder, versteckte sich hinter den Kleinen. Davie schob sich mit der verhaltenen Vorsicht eines Soldaten im Schützengraben, der die Scharfschützen fürchtet, in den Flur.

– Andrew, rief er. Sein Sohn kam polternd die Treppe runter, ein drahtiges, agiles Energiebündel mit dem gleichen dunkelbraunen Haar wie Susan, aber zu einem minimalistischen Mecki geschoren, und folgte Davie ins Wohnzimmer. – Da haben wir ihn ja, kündigte er ihn Susan fröhlich an. Als er merkte, dass sie ihn mit Nachdruck ignorierte, wandte er sich an den Jungen und fragte:

– Gefällt’s dir oben in deinem neuen Zimmer noch?

Andrew sah erst zu ihm und dann zu Susan hoch. – Ich hab ein Buch gefunden, dass ich noch gar nie hatte, teilte er ihnen ernst mit.

– Das ist fein, sagte Susan, ging zu ihm und pflückte einen losen Faden vom gestreiften T-Shirt des Jungen.

Andrew sah zu seinem Vater hoch und fragte: – Wann krieg ich ein Fahrrad, Dad?

– Bald, Junge, lächelte Davie.

– Du hast gesagt, wenn ich in die Schule komm, sagte Andrew mit großem Ernst und heftete in einer abgemilderten Variante von Susans vorwurfsvollem Blick seine großen braunen Augen auf ihn.

– Hab ich, Partner, gab Davie zu, – und es dauert auch nich mehr lang.

Ein Fahrrad? Wo soll das Geld für so ein verdammtes Fahrrad herkommen? dachte Susan Galloway, und es fröstelte sie innerlich, während die grelle, glühend heiße Sommersonne erbarmungslos durch die riesigen Fenster knallte.

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Terry Lawson

DER ERSTE SCHULTAG

Terry und Yvonne Lawson saßen mit Saft und Kartoffelchips an einem der Holztische auf der betonierten Fläche hinter dem Dell Inn, die sie Biergarten nannten. Sie guckten über den Zaun am Ende des Hofes die steile Uferböschung hinab und beobachteten die Enten im Water of Leith. Innerhalb von Sekunden war aus ehrfürchtigem Staunen Langeweile geworden; an Enten hat man sich bald satt gesehen, und Terry hatte andere Dinge im Kopf. Es war sein erster Schultag gewesen, und der hatte ihm nicht gefallen. Yvonne war im nächsten Jahr dran. Terry sagte ihr, es wär nicht so toll gewesen, und er hätte Angst gehabt, aber jetzt waren sie bei ihrer Ma, und ihr Dad war auch da, und es war alles wieder in Ordnung.

Ihre Eltern redeten miteinander, und sie wussten, dass ihre Ma sich ärgerte.

– Also, hörten sie, wie sie ihn fragte, – was hast du mir zu sagen?

Terry sah zu seinem Vater hoch, der ihm lächelnd zuzwinkerte, bevor er sich wieder an die Mutter des Jungen wandte. – Nich vor den Kindern, sagte er kühl.

– Tu bloß nich so, als läg dir was an ihnen, pflaumte Alice Lawson ihn an, und ihre Lautstärke schwoll unerbittlich an, als würde ein Düsenflugzeug starten, – hast ja auch nich lang gefackelt, sie sitzen zu lassen! Tu bloß nich so!

Henry Lawson warf einen schnellen Blick in die Runde, um zu sehen, wer das mitgekriegt hatte. Ein neugieriges Glotzen beantwortete er, indem er so lange hartnäckig zurückstarrte, bis der andere wegguckte. Zwei alte Ficker, ein Ehepaar. Lästige alte Scheißer. Durch die Zähne hindurch zischte er ihr zu: – Ich hab doch gesagt, für die wird gesorgt sein. Das hab ich dir scheißnochmal gesagt. Verdammt, meine eigenen Blagen, blaffte er sie an, und die Sehnen in seinem Nacken traten hervor.

Henry wusste, dass Alice immer dazu neigte, das Beste von einem Menschen zu denken. Er meinte, genug unterdrückte Empörung, genug gekränkte Unschuld in seine Stimme legen zu können, um mitschwingen zu lassen, dass ihre Unverschämtheit zu weit ging, wenn sie behauptete, er (trotz all seiner Fehler, die er sicherlich als Erster zugeben würde) wäre imstande, seine eigenen Kinder mittellos zurückzulassen, selbst wenn er ihr zugute hielt, dass beim Auseinanderbrechen einer Beziehung immer die Emotionen hochkochen. Tatsächlich waren es genau solche Behauptungen, die ihn Paula McKay, einer jungen Dame aus der Gemeinde Leith, praktisch in die Arme getrieben hatten.

Der reizenden Paula, einer jungen Frau von großer Tugend und Herzensbildung, was beides mehrfach von der verbitterten Alice in Frage gestellt worden war. War Paula nicht die einzige Stütze ihres Vaters George, dem die Port Sunshine Tavern gehörte und der an Krebs litt? Nicht mehr lange, und Paula würde alle Hilfe brauchen, die sie kriegen konnte, um diese harten Zeiten durchzustehen. Henry würde ihr Fels in der Brandung sein.

Auch sein eigener Name war wiederholt in den Dreck gezogen worden, aber Henry war gnädigerweise bereit zu akzeptieren, dass Menschen in emotional angespannten Zeiten Dinge sagen, die sie nicht so meinen. Tat ihm das Scheitern ihrer Beziehung nicht genauso weh? War es nicht für ihn sogar schwerer, wo er doch die Kinder zurücklassen musste? Henry sah zu ihnen hinüber, ließ seine Augen feucht werden und schluckte, als sei seine Kehle zugeschnürt. Er hoffte, Alice würde diese Geste mitbekommen und es wäre damit getan.

Anscheinend war es das. Er hörte gurgelnde Geräusche, wie vom Fluss unten, überlegte er, und er fühlte sich bewogen, den Arm um ihre zuckenden Schultern zu legen.

– Bitte geh nicht, Henry, bettelte sie bebend, während sie den Kopf an seine Brust presste und ihr der Geruch von Old Spice in die Nase stieg, nach dem sein Käsereiben-Kinn noch immer duftete. Was bei anderen ein Dreitagebart war, bekam Henry schon nach dem Mittagessen; er musste sich mindestens zweimal täglich rasieren.

– Na, na, gurrte Henry. – Mach dir ma keine Sorgen. Wir ham doch die Kinder, du und ich, lächelte er, streckte die Hand aus, zerzauste Klein-Terrys Lockenkopf und dachte dabei, Alice sollte öfter mit dem Jungen zum Friseur gehen. Der sah ja aus wie Shirley Temple. Nachher wurde der Bengel noch andersrum, wenn er groß war.

– Du hast dich ja nich mal erkundigt, wie er in der Schule zurechtgekommen ist. Alice richtete sich wieder auf, voll frischer Verbitterung, als sie sich darauf besann, was vorging.

– Du hast mir ja keine Gelegenheit dazu gegeben, erwiderte Henry mit gereizter Ungeduld. Paula wartete. Wartete auf seine Küsse, auf den tröstenden Arm, der gerade um Alices Schultern lag. Die heulende, verquollene, ausgeleierte Alice. Welch ein Kontrast zu Paulas jugendlichem Körper – straff, geschmeidig, noch nicht vom Kinderkriegen gezeichnet. Wirklich gar kein Vergleich.

Indem sie von seinen Worten, seinem Geruch und seinem starken Arm abzusehen versuchte und nur daran dachte, was tatsächlich vorging, und den Schmerz hart und unerbittlich in ihrer Brust pochen ließ, gelang es Alice, ihn anzuschnauzen: – Er wollte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Er hat sich die Augen aus dem Kopf geheult.

Das ärgerte Henry. Terry war älter als die anderen in seiner Klasse, weil er durch seine Meningitis ein Jahr versäumt hatte. In dem Alter heulte man doch nicht mehr. Das war Alice ihre Schuld, die verpimpelte ihn, behandelte ihn bloß wegen seiner Krankheit immer noch wie ein Baby. Dem Jungen fehlte jetzt doch gar nichts mehr. Henry war kurz davor, etwas über Terrys Haare zu sagen, sie lasse ihn rumlaufen wie ein kleines Mädchen, also was erwartete sie denn dann von ihm? Aber Alice starrte ihn jetzt mit anklagend funkelnden Augen an. Henry schaute weg. Sie starrte auf seine Kinnpartie, seinen starken Bartwuchs, und ertappte sich dabei, wie sie Terry ansah.

Der Kleine war noch vor achtzehn Monaten so krank gewesen. Er hatte es fast nicht überlebt. Und jetzt ließ Henry sie sitzen, ließ sie sitzen wegen der: diesem dreckigen, kleinen Flittchen.

Sie ließ die grausame Erkenntnis einfach in ihrem Brustkorb hämmern und versuchte nicht, ihr auszuweichen oder sich dagegen zu wappnen.

DONG

Immer noch kerzengerade und stolz, fühlte Alice, wie sein Arm um ihre Schultern schlaff wurde. Der nächste Schwall quälender Übelkeit würde schon weniger schlimm sein als dieser

DONG

Wann würde das aufhören, wann würde dieser Alptraum enden, wann wäre sie, wären sie irgendwo anders

DONG

Er ließ sie sitzen wegen der.

Und dann war der Anker seines Arms verschwunden, und Alice ging in der Leere um sie herum unter. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er Yvonne durch die Luft wirbelte, die Kinder dann um sich sammelte und mit ihnen die Köpfe zusammensteckte, um ihnen wichtige, aber aufmunternde Instruktionen zuzuflüstern, wie ein Fußballtrainer, der seine Spieler in der Halbzeit neu motiviert.

– Euer Daddy hat einen neuen Job und wird jetzt viel weg sein. Seht ihr, wie traurig Mum ist? Henry sah nicht, wie Alice erst kerzengerade dasaß und dann bei seinen Worten resigniert zusammensackte, als habe man ihr in den Magen getreten.

– Das heißt, ihr zwei müsst ihr unter die Arme greifen. Terry, ich will nichts mehr von diesem Quatsch hören, dass du in der Schule flennst. Das ist was für blöde kleine Mädchen, sagte er seinem Sohn, ballte eine Faust und drückte sie dem Jungen unters Kinn.

Dann kramte Henry in seinen Hosentaschen und holte ein paar Zwei-Schilling-Münzen heraus. Eine davon drückte er Yvonne in die Hand und sah, dass ihr Gesichtsausdruck neutral blieb, während sich die Augen des Jungen in wilder Erwartung weiteten.

– Denk dran, was ich gesagt hab, lächelte Henry seinen Sohn an, bevor er ihn genauso bedachte.

– Kommst du uns manchmal besuchen, Dad? fragte Terry, die Augen auf das Silber in seiner Hand geheftet.

– Na klar, Sohn! Wir gehen zum Fußball. Gucken uns die Jam Tarts an! Das weckte Terrys Lebensgeister. Er strahlte seinen Dad an und guckte dann wieder auf die Zwei-Schilling-Münze.

Alice stellt sich ja komisch an, dachte Henry, während er für den baldigen Aufbruch seine Krawatte zurechtrückte. Sie saß einfach so da, ganz krumm. Na ja, er hatte seinen Teil gesagt und ihr jede nötige Zusicherung gegeben. Er würde vorbeikommen, um nach den Kindern zu sehen, mit ihnen was unternehmen, ihnen einen Shake in der Milchbar spendieren. Das hatten sie gern. Oder Fritten bei Brattisanni. Aber es würde nicht viel bringen, noch länger mit Alice zu reden. Das würde sie nur gegen ihn aufbringen, und das wär nicht gut für die Kinder. Am besten, er verzog sich still und leise.

Henry schlängelte sich an den Tischen vorbei. Er fixierte erneut die alten Fotzen. Sie erwiderten seinen Blick voller Verachtung. Henry schlenderte an ihren Tisch. Er tippte sich an die Nase und sagte mit gut gelaunt klingender Kälte: – Steckt die nicht in anderer Leute Angelegenheiten, oder ich brech sie euch, kapiert?

Seine Unverfrorenheit verschlug dem alten Pärchen die Sprache. Henry starrte ihnen noch für eine Sekunde in die Augen, setzte ein breites Lächeln auf und ging dann durch die Hoftür in den Pub, ohne sich noch einmal nach Alice oder den Kindern umzusehen.

Am besten kein großes Aufsehen erregen.

– Verdammte Unverschämtheit, brüllte Davie Girvan, stand auf und machte Anstalten, Henry zu folgen. Seine Frau Nessie hielt ihn zurück. – Setz dich hin, Davie, gibt dich nich mit so was ab. Das sind doch Asoziale.

Davie setzte sich zögernd wieder hin. Er hatte zwar keine Angst vor dem Kerl, aber er wollte vor Nessie keine Szene machen.

Auf seinem Weg zur Vordertür des Pubs nickte Henry ein paar Leuten zu und grüßte. Der alte Doyle war da, zusammen mit einem seiner Jungen, das musste Duke sein, und einem anderen Bekloppten. Was für ein Verbrecherclan; der Alte, glatzköpfig, fett und gestört wie ein psychotischer Buddha, Duke Doyle mit seinem dünnen, allmählich spärlicher werdenden Haar, immer noch zur Tolle toupiert wie bei einem Teddyboy, den verfärbten Zähnen und den klobigen Ringen an den Fingern. Er nickte Henry, als der vorbeiging, langsam und hinterfotzig zu. Aye, dachte Henry, hier draußen ist die Bande gut aufgehoben; Pech für die Siedlung, Glück für die Stadt. Die Ehrfurcht der anderen Trinker vor den Männern an jenem Tisch hing schwer in der Luft, denn dort wechselte bei einer beiläufigen Partie Domino mehr Geld den Besitzer, als die anderen im Monat auf den umliegenden Baustellen oder in den Fabriken verdienten. Seitdem sie hier rausgezogen waren, war Henry Stammgast in diesem Pub gewesen. Nicht der nächste, aber seine erste Wahl. Hier kriegte man ein ordentliches Pint Tartan Special. Aber das heute würde für lange Zeit sein letzter Besuch sein. Richtig gefallen hatte es ihm in der Gegend sowieso nie, dachte er, als er durch die Tür trat; mitten im Nirgendwo, nein, hier würd er nicht mehr herkommen.

Draußen hinterm Pub fielen Nessie Girvan die gestrigen Fernsehbilder von der Hungersnot in Biafra wieder ein. Die armen Seelen, es brach einem das Herz. Und dann dieser Abschaum eben, von dem gab es mehr als genug. Sie konnte nicht begreifen, warum manche Menschen sich Kinder anschafften. – So ein Dreckskerl, sagte sie zu ihrem Davie.

Davie wünschte sich, er hätte schneller reagiert und wäre dem Mistkerl in den Pub gefolgt. Klar, der Typ war ein echter Ganove gewesen, dunkler Teint und harte, verschlagene Augen. Davie hatte es schon mit viel schwereren Kalibern aufgenommen, aber das war ein paar Jahre her. – Wenn unser Phil oder unser Alfie hier gewesen wären, hätt er das Maul nicht so weit aufgerissen, sagte Davie. – Wenn ich solchen Abschaum seh, wünschte ich, ich wär ein paar Jahre jünger. Fünf Minuten, mehr bräucht ich nich … verdammt …

Davie Girvan brach abrupt ab, er traute seinen Augen nicht. Die Kleinen waren durch ein Loch im Drahtzaun gekrochen und kletterten die Böschung zum Fluss runter. An diesem Teil war er seicht, aber er hatte ein abschüssiges Ufer und tückische, tiefe Stellen.

– MISSUS! brüllte er die Frau auf der Bank an und zeigte wild gestikulierend auf die Lücke im Maschendraht: – PASSEN SIE AUF IHRE KINDER AUF!

Ihre Kinder

DONG

In blinder Panik drehte Alice den Kopf zur Seite, sah die Lücke im Zaun und stürzte darauf zu. Sie sah sie auf halber Höhe der steilen Böschung stehen. – Yvonne! Komm her, bettelte sie so gefasst sie konnte.

Yvonne blickte hoch und kicherte. – Nee! rief sie.

DONG

Terry hatte einen Stock. Er hieb damit nach dem langen Gras an der Böschung und mähte es um.

Alice flehte: – Ihr lasst euch die ganzen Süßigkeiten und den Saft entgehen. Ich hab Eis hier oben!

Ein Glanz des Erkennens trat in die Augen der Kinder. Sie kletterten eifrig die Böschung hoch und durch den Zaun zu ihr. Alice wollte sie am liebsten schlagen, sie wollte sie windelweich prügeln

sie wollte ihn windelweich prügeln

Alice Lawson brach in Schluchzen aus und erdrückte ihre Kinder fast mit ihrer Umarmung, nestelte an ihren Sachen und an ihren Haaren herum.

– Wo ist denn das Eis, Ma? fragte Terry.

– Das holen wir gleich, Junge, stieß Alice hervor, – das holen wir gleich.

Davie und Nessy Girvan sahen zu, wie die verstörte Frau mit ihren Kindern davontaumelte, eins fest an jeder Hand, die ebenso zappelig und springlebendig waren, wie sie am Boden zerstört.

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Carl Ewart

AUF DER ARBEIT

Die abgefeilten Metallspäne hingen dick wie Staub in der Luft. Duncan Ewart konnte sie in den Nasenlöchern und in der Lunge spüren. Aber an den Geruch gewöhnte man sich; man bemerkte ihn nur, wenn ihm etwas Konkurrenz machte. Jetzt kämpfte er gegen den weitaus angenehmeren Duft von Pudding mit Vanillesoße an, der aus der Kantine in die Maschinenhalle herüberdrang. Jedesmal, wenn die Schwingtüren der Küche aufflogen, wurde Duncan daran erinnert, dass die Mittagspause näher rückte und das Wochenende bevorstand.

Er arbeitete geschickt an der Drehbank und mogelte dabei ein bisschen, indem er die Sicherheitsabdeckung leicht anhob, um an dem Metallstück, das er bearbeitete, besser ansetzen zu können. Es war pervers, dachte er, denn in seiner Funktion als Betriebsrat hätte er jeden zur Minna gemacht, der Zeit zu sparen versuchte, indem er sich so über die Sicherheitsbestimmungen hinwegsetzte. Dem Bonus einiger Aktionäre in Surrey oder sonst wo zuliebe riskieren, ein paar Finger zu verlieren? Scheiße, er musste verrückt sein. Aber das war der Job, der unmittelbare Arbeitsprozess. Es war eine ganz eigene Welt, in der man zwischen neun und halb fünf lebte. Und man bemühte sich, sie zu verbessern, in jeder Hinsicht.

Ein verschwommener Fleck am Rande seines Gesichtsfeldes nahm Gestalt an, als Tony Radden ohne Schutzbrille und Handschuhe vorüberging. Duncan warf einen Blick auf seine neue Astronauten-Uhr. 12.47. Wie zum Henker kam denn das? Beinahe zehn vor. Gleich Mittag. Duncan dachte wieder über die Zwickmühle nach, in der er sich befand; es war ihm schon an vielen Freitagmorgenden so gegangen.

Die neue Elvis-Single, The Wonder of You, kam an diesem Tag in die Läden. Sie war schon die ganze Woche lang vorab auf Radio One gespielt worden. Aye, der King war zurück, und wie. In the Ghetto und Suspicious Minds waren besser, hatten es aber nur auf Platz zwei geschafft. Dies hier war kommerzieller, eine Ballade zum Mitsingen, und Duncan glaubte, sie würde es bis ganz an die Spitze schaffen. In seiner Vorstellung hörte er die Menschen betrunken mitsingen, sah sie eng umschlungen dazu tanzen. Wenn man die Leute zum Mitsingen und Tanzen brachte, war man auf der Gewinnerstraße. Er hatte beschissene sechzig Minuten Mittagspause, und mit der Buslinie Eins brauchte man nach Leith zu Ards Plattenladen fünfzehn Minuten hin und fünfzehn zurück. Genug Zeit, um die Platte zu kaufen und sich ein belegtes Brötchen und eine Tasse Tee im Canasta zu holen. Die Wahl zwischen dem Singlekauf und einem geruhsamen Pie und einem Pint in Speirs’ Bar, dem nächsten Pub an der Fabrik, wäre ihm sonst nicht schwer gefallen. Aber jetzt verrieten die verführerischen Gerüche aus der Kantine, dass Freitag war, und da war die große Kalorienschlacht zu berücksichtigen. Freitags gaben sie sich immer besondere Mühe, weil man sich da eher verleiten ließ, zum Mittagessen in den Pub zu gehen, was hohe Produktivität und den letzten Nachmittag vor dem Wochenende zu schlechten Bettgenossen machte.

Duncan stellte die Maschine ab. Elvis Aaron Presley. Der King. Klare Sache. Die Platte. Er guckte wieder auf seine Uhr und entschloss sich, direkt im Overall zu gehen. Ungeduldig auf die Uhr tippend rannte er los, um den Bus vor dem Fabriktor zu erwischen. Duncan hatte mit der Geschäftsführung Spinde ausgehandelt, damit die Arbeiter in »Zivil« kommen und sich in der Fabrik umziehen konnten. In der Praxis machten sich nur wenige die Mühe (das galt auch für ihn), außer, man wollte freitags direkt nach der Arbeit in die Stadt. Duncan setzte sich hinten ins Oberdeck des Busses, holte Luft, zündete sich eine Regal an und malte sich aus, wie er The Wonder of You am Abend mit Maria im Tartan Club auflegen würde, wenn er die Single bekam. Das Schnurren des Motors schien seine eigene Zufriedenheit wiederzugeben, während er es sich im warmen Mief gemütlich machte.

Aye, es zeichnete sich ein gelungenes Wochenende ab. Killie spielte morgen in Dunfermline, und Tommy McLean war wieder fit. Der Kleine Mann würde die Pässe schlagen, auf die Eddie Morrison und Mathie, dieser Neuzugang, angewiesen waren. Mathie und der andere Junge, McSherry hieß der, machten beide einen viel versprechenden Eindruck, und Duncan war schon immer gerne zu Dunfermline gegangen, das für ihn das Ostküstenpendant zu Kilmarnock war. Beide Teams kamen aus kleinen Bergbaustädten, hatten in den letzten zehn Jahren Furore gemacht und waren gegen einige europäische Spitzenmannschaften angetreten.

– Die Scheißbusse sind totaler Mist, rief ein alter Mann mit Hut, der eine Capstan qualmte, zu ihm rüber und riss ihn so aus seinen Gedanken, – fümunzwanzig Minuten hab ich gewartet. Hätten nie die Straßenbahnen abschaffen dürfen.

– Aye, ganz genau, grinste Duncan und ließ sich wieder entspannt in seine Vorfreude aufs Wochenende zurücksinken.

– Nie die Straßenbahnen abschaffen dürfen, sagte der alte Knabe nochmal vor sich hin.

Seit er nach Edinburgh ins Exil gegangen war, teilte Duncan seine Samstagnachmittage im Allgemeinen zwischen Easter Road und Tynecastle auf. Letzteres hatte er immer vorgezogen, nicht weil es besser zu erreichen war, sondern weil es immer die Erinnerung an den großen Tag 1964 wachrief, als die Hearts am letzten Spieltag der Saison zu Hause nur ein Unentschieden gegen Killie brauchten, um Meister zu werden. Sie hätten sogar null zu eins verlieren dürfen. Kilmarnock musste mit zwei Toren Vorsprung gewinnen, um zum ersten Mal in seiner Geschichte Meister zu werden. Niemand außerhalb von Ayrshire hatte ihnen eine echte Chance eingeräumt, doch als Bobby Ferguson so grandios vor Alan Gordon rettete, hatte Duncan gewusst, dass es ihr großer Tag werden würde. Und als er, nachdem sie gewonnen hatten, auf eine dreitägige Sauftour ging, hatte Maria sich nicht beklagt.

Sie hatten sich gerade erst verlobt, darum war es eigentlich nicht richtig von ihm, aber sie hatte es gut weggesteckt. Und das war das Phänomenale an ihr, sie verstand das, sie wusste, ohne dass er es ihr sagen musste, was es ihm bedeutete, wusste, dass er keiner war, der so was ausnutzte.

The Wonder of You. Duncan dachte an Maria, was für eine magische Fügung es war, was für ein Glückspilz er war, dass er sie gefunden hatte. Wie er ihr den Song heute Abend vorspielen würde, ihr und dem Kleinen. Als er an der Junction Street ausstieg, musste Duncan daran denken, wie sehr sich in seinem Leben immer schon alles um die Musik gedreht hatte, wie er sich jedesmal wie ein kleines Kind darauf freute, eine neue Platte zu kaufen. Es war jede Woche wie Weihnachten. Diese gespannte Erwartung; man wusste nie, ob das, was man wollte, auch da war oder ausverkauft oder so. Manchmal musste er sogar am Samstagmorgen zu Bandparts, um es zu bekommen. Auf dem Weg zu Ards Plattenladen schnürte es ihm die Kehle zu, und sein Herz pochte bis zum Hals. Er zog die Tür auf, trat ein und steuerte auf die Ladentheke zu. Big Liz war da, dick angemalt und mit einer hochtoupierten Betonfrisur auf dem Kopf, und ihre Miene hellte sich auf, als sie ihn erkannte. Sie hielt ein Exemplar von The Wonder of You hoch. – Dachte, du suchst vielleicht die hier, Duncan, sagte sie und flüsterte dann: – Hab ich für dich zurückgelegt.

– Klasse, Liz, du bist ein Genie, grinste er und rückte nur zu gerne seine Zehn-Shilling-Note raus.

– Dafür musst du mir mal einen ausgeben, sagte sie und zog ihre Augenbrauen hoch, was den ernst gemeinten Hintergrund ihrer neckischen Bemerkung unterstrich.

Duncan zwang sich zu einem unverbindlichen Lächeln.

– Wenn es ne Nummer eins wird, antwortete er und versuchte, nicht so irritiert zu klingen, wie ihm zumute war. Es hieß ja, dass sie einem erst recht nachrannten, wenn man verheiratet war, und das stimmte, fand er. Vielleicht fiel es einem auch bloß mehr auf.

Liz lachte viel zu enthusiastisch über die leichtfertige Antwort, worauf Duncan es noch viel eiliger hatte, den Laden zu verlassen. Als er schon an der Tür war, hörte er sie sagen: – Ich werd dich an den Drink erinnern!

Duncan fühlte sich noch ein paar Minuten unwohl. Er dachte an Liz, aber schon jetzt, kaum aus dem Plattenladen raus, wusste er schon nicht mehr, wie sie aussah. Jetzt hatte er nur noch Maria im Sinn.

Aber er hatte die Platte bekommen. Das war ein gutes Omen. Killie würde bestimmt gewinnen, obwohl man wegen dieser Stromsperren nicht wusste, wie lange noch Fußball gespielt werden würde, weil es mittlerweile früher dunkel wurde. Aber das war ein Preis, den man gerne dafür zahlte, diesen Drecksack Heath und die Tories losgeworden zu sein. Es war grandios, dass sie die Arbeiter nicht länger verarschen konnten.

Fest entschlossen, dass er mal nicht wie sein Vater in die Zeche sollte, hatten seine Eltern Opfer gebracht. Sie hatten darauf bestanden, dass er eine Lehre machte, ein Handwerk lernte. Daher war Duncan zu einer Tante nach Glasgow geschickt worden, solange er in einer Fabrik in Kinning Park in der Lehre war.

Glasgow war verdammt groß, grell, hektisch und gewalttätig für seine Kleinstädterbegriffe, aber er war umgänglich und in der Fabrik beliebt. Sein bester Kumpel auf der Arbeit war ein Kerl namens Matt Muir aus Govan, fanatischer Rangers-Anhänger und Kommunist mit Parteibuch. Alle in der Fabrik waren Fans der Rangers, und als Sozialist war er sich peinlich bewusst, dass er, genau wie seine Arbeitskollegen auch, die Lehrstelle nur dank der Freimaurerverbindungen seiner Familie bekommen hatte. Sein eigener Vater sah keinen Widerspruch zwischen Freimaurertum und Sozialismus, und viele aus der Werkshalle, die regelmäßig ins Ibrox-Stadion gingen, waren aktive Sozialisten oder wie Matt sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei. – Die Ersten, die es treffen würde, wären die Fotzen aus dem Vatikan, pflegte er begeistert zu sagen, – die Wichser werden alle an die Wand gestellt.

Matt steckte Duncan alles, worauf es ankam: wie man sich anzog, in welche Tanzschuppen man ging, welche der Jungs die mit den Rasiermessern und (besonders wichtig) wer ihre Freundinnen waren, mit denen man besser nicht tanzte. Und dann hatten sie mit ein paar von den Jungs den Abstecher nach Edinburgh gemacht, wo er in einem Tanzschuppen in Tollcross das Mädchen in dem blauen Kleid gesehen hatte. Jedesmal, wenn er sie ansah, war es, als würde ihm die Luft zum Atmen aus dem Leib gepresst.

Obwohl Edinburgh einen freundlicheren Eindruck als Glasgow machte und Matt behauptete, Messer oder Rasierklingen seien dort eher die Ausnahme, gab es eine Schlägerei. Ein vierschrötiger Kerl hatte einem anderen Mann eine reingehauen und wollte gerade nachlegen. Duncan und Matt gingen dazwischen und halfen, die Gemüter zu beruhigen. Glücklicherweise gehörte einer der dankbaren Nutznießer ihres Eingreifens zu derselben Gruppe wie das Mädchen, das Duncan schon den ganzen Abend wie gebannt anstarrte, das er aber nicht zum Tanzen aufzufordern gewagt hatte. Er sah Maria noch vor sich, die Form ihrer Wangenknochen und ihre Art, die Augen niederzuschlagen, die sie überheblich wirken ließ, ein Eindruck, der sich schnell zerstreute, wenn man mit ihr sprach.

Es kam sogar noch besser: Der Junge, mit dem er sich anfreundete, hieß Lenny und war Marias Bruder.

Maria war eigentlich Katholikin, auch wenn ihr Vater einen unerklärlichen Groll gegen Priester hegte und nicht mehr zur Kirche ging. Seine Frau und seine Kinder waren irgendwann seinem Beispiel gefolgt. Trotzdem machte sich Duncan Sorgen darüber, wie seine eigene Familie auf die Heirat reagieren würde, und fuhr deswegen heim nach Ayrshire, um die Sache zu bereden.

Duncans Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann. Seine zurückhaltende Art wurde oft als Schroffheit missverstanden, ein Eindruck, der durch seine Körpergröße noch verstärkt wurde (er war über einsachtzig groß), die Duncan, genau wie das strohblonde Haar, von ihm geerbt hatte. Sein Vater hörte sich sein Geständnis schweigend an und nickte nur gelegentlich aufmunternd. Als er dann sprach, tat er es im Tonfall eines Mannes, der sich schmählich verkannt fühlt. – Ich hasse keine Katholiken, Junge, sagte sein Vater mit Nachdruck. – Ich hab nichts gegen egal welche Religion. Aber diese Schweine im Vatikan, die die Leute unterdrücken, in Unwissenheit halten, damit die sich weiter die Taschen füllen können, das ist das Pack, das ich hasse!

In dieser Hinsicht beruhigt, beschloss Duncan, Marias Vater sein Freimaurertum zu verschweigen, da dieser Freimaurer genauso zu verabscheuen schien wie Priester. Sie heirateten standesamtlich in den Edinburgher Victoria Buildings und feierten im Oberstock eines Pubs in Cowgate. Duncan hatte Angst, Matt Muir könnte eine rot angehauchte oder gar tiefrote Rede halten, und bat darum Ronnie Lambie, seinen besten Freund aus der Schule zu Hause in Ayrshire, die Festrede zu halten. Unglücklicherweise hatte Ronnie gut getankt und ließ eine Hetzrede gegen Edinburgh vom Stapel, die einigen Gästen unangenehm aufstieß und später, als es feuchtfröhlich wurde, eine Schlägerei nach sich zog. Duncan und Maria nahmen das zum Anlass, in das Zimmer zu verschwinden, das sie in einer Pension in Portobello gemietet hatten.

Wieder in der Fabrik und an seiner Maschine angekommen, sang Duncan The Wonder of You, der Song lief als Endlosschleife in seinem Kopf, während das Metall unter der Schneide der Drehbank nachgab. Dann verdunkelte ein Schatten das Licht, das aus den riesigen Fenstern auf ihn herabfiel. Jemand stand neben ihm. Er schaltete die Maschine ab und blickte auf.

Duncan kannte den Mann nur flüchtig. Er hatte ihn schon in der Kantine und im Bus gesehen; er war offenbar Nichtraucher, da er immer unten saß. Duncan vermutete, dass sie in derselben Siedlung wohnten, denn der Mann stieg eine Station vor ihm aus. Der Typ war ungefähr einsfünfundsiebzig, hatte kurze braune Haare und einen lebhaften Blick. Woran Duncan sich erinnerte, war seine fröhliche, natürliche Ausstrahlung, die nicht zu seinem Äußeren passte; er war das, was man einen gut aussehenden Mann nannte, gut aussehend genug für ein wenig Narzissmus. Jetzt stand der Mann allerdings in höchster Aufregung vor ihm. Nervös und ungeduldig platzte er heraus: – Duncan Ewart? Betriebsrat?

Beide waren sich des dämlichen Reims bewusst und lächelten sich an.

– In der Tat, Ewaat, Betriebsrat. Und du bist …? ging Duncan auf den Witz ein. Er konnte die Nummer im Schlaf.

Aber der Mann lachte jetzt nicht mehr. – Wullie Birrell, stammelte er atemlos. Meine Frau … Sandra … liegt in den Wehen … Abercrombie … will mich nich weg zum Krankenhaus lassen … sin zu viele krank … die Crofton-Lieferung … sacht, wenn ich jetzt Feierabend mach, brauch ich nich wiederkommen …

Es brauchte nur Sekunden, bis die Entrüstung in Duncans Brust aufstieg wie ein Hustenreiz. Er knirschte eine Sekunde lang mit den Zähnen und sprach dann mit ruhiger Autorität. – Du haust jetzt sofort ab zum Krankenhaus, Wullie. Wenn hier einer nich mehr wiederkommt, dann Abercrombie. Verlass dich drauf, dem wird es noch Leid tun.

– Soll ich ausstempeln oder nich? fragte Wullie Birrell, und ein nervöses Zittern im Auge ließ sein Gesicht zucken.

– Mach dir deswegen keinen Kopf, Wullie, geh einfach. Nimm dir n Taxi, lass dir ne Quittung geben, ich boxe das dann bei der Gewerkschaft durch.

Wullie Birrell nickte dankbar und sah zu, dass er wegkam. Er hatte die Fabrik schon verlassen, als Duncan sein Werkzeug hinlegte, ohne Eile zum Münztelefon in der Kantine ging und zuerst den Convenor, dann den Abteilungsleiter anrief, während er im Hintergrund das Klappern der Töpfe und Bestecke beim Spülen hören konnte. Dann ging er direkt zum Betriebsleiter, Mr. Catter, und legte eine formelle Beschwerde ein.

Catter hörte sich Ewarts Anliegen schweigend, aber mit wachsender Bestürzung an. Die Crofton-Lieferung musste unter allen Umständen raus. Und Ewart – tja, der konnte jeden einzelnen Arbeiter in der Werkshalle dazu bringen, die Arbeit niederzulegen, um diesen Birrell zu unterstützen. Was um Himmels willen hatte dieser Clown Abercrombie sich bloß dabei gedacht? Sicher, Catter hatte ihm eingeschärft, dass die Lieferung auf Biegen und Brechen rausgehen musste, aber der Idiot hatte offenkundig den Verstand und jedes Gefühl für Verhältnismäßigkeit verloren.

Catter sah den hoch gewachsenen Mann mit dem offenen Blick, der ihm gegenüberstand, prüfend an. Catter hatte es schon oft genug mit harten Männern in der Position des Betriebsrats zu tun gehabt, die ihre eigenen Ziele verfolgten. Sie hassten ihn und verabscheuten die Firma und alles, wofür sie stand. Ewart war nicht von dieser Sorte. Er hatte ein warmes Funkeln in den Augen, eine entspannte Rechtschaffenheit, die, wenn man ein bisschen genauer hinsah, eher Ausdruck von Übermut und Humor war als von Wut. – Da hat es wohl ein Missverständnis gegeben, Mr. Ewart, sagte Catter ruhig und mit einem Lächeln, von dem er hoffte, dass es ansteckend wirkte. – Ich werde Mr. Abercrombie die Sachlage erklären.

– Gut, nickte Duncan und fügte hinzu: – Besten Dank.

Duncan selbst hatte durchaus etwas übrig für Catter, den er immer als fair und gerecht erlebt hatte. Wenn er die bizarreren Anordnungen von oben durchdrückte, merkte man ihm an, dass es für ihn kein Vergnügen war. Und es konnte auch nicht allzu viel Spaß machen, Knalltüten wie Abercrombie zurückzupfeifen.

Abercrombie. Was für ein armer Irrer.

Auf dem Rückweg in die Werkshalle konnte Duncan es sich nicht verkneifen, den Kopf in das von der Halle abgetrennte Kabuff zu stecken, das Abercrombie sein Büro nannte. – Tausend Dank, Tam!

Abercrombie blickte von den Arbeitsbögen aus Pauspapier hoch, die auf seinem Schreibtisch ausgebreitet waren. – Wofür? fragte er und versuchte überrascht zu tun, wurde aber rot dabei. Er war bedrängt worden, war unter Zeitdruck gewesen und hatte nicht richtig über die Sache mit Birrell nachgedacht. Und damit hatte er dieser Bolschewistenfotze Ewart direkt in die Hände gespielt.

Duncan Ewart grinste diabolisch. – Für den Versuch, Wullie Birrell an nem Freitagnachmittag nich gehen zu lassen, wo es die Jungs doch in den Fingern juckt, die Arbeit hinzuschmeißen. Tolle Managementleistung. Ich hab’s für dich ausgebügelt und ihm gesagt, dass er gehen kann, fügte er selbstgefällig hinzu.

In Abercrombies Brust platzte ein kleiner Knoten Hass, der ihm bis in die Finger- und Zehenspitzen fuhr. Ihm wurde heiß und kalt, und er zitterte. Er konnte nicht anders. Dieser Dreckskerl Ewart, für wen zum Teufel hielt der sich? – Noch leite ich diese beschissene Halle! Schreib dir das hinter die Ohren!

Duncan quittierte Abercrombies Ausbruch nur mit einem Grinsen. – Tut mir Leid, Tam, da kommt schon die Kavallerie angerückt.

Abercrombie schrumpfte in sich zusammen, nicht weil Duncan das gesagt hatte, sondern weil hinter ihm wie aufs Stichwort Catter mit versteinerter Miene auftauchte. Und was noch schlimmer war, er betrat den kleinen Kasten zusammen mit Convenor Bobby Affleck. Affleck war ein vierschrötiger Bulle von Mann, der schon bei der geringsten Missstimmung eine beängstigende Unbeherrschtheit an den Tag legte. Aber jetzt raste der Convenor vor Zorn, das konnte Abercrombie sofort sehen.

Duncan grinste Abercrombie an und zwinkerte Affleck zu, ehe er ging und die Tür hinter sich zuzog. Die dünne Sperrholztür bot kaum eine Isolierung gegen die Lautstärke von Afflecks Tobsucht.

Wie auf ein geheimes Zeichen wurden die Drehbänke und Bohrmaschinen in der Werkshalle eine nach der anderen abgeschaltet, und ihr Getöse machte einem Gelächter Platz, das sich wie plötzliches Frühlingserwachen über den grau gestrichenen Fabrikhallenboden ergoss.

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Billy Birrell

ZWEI LANDPLAGEN ERSTER GÜTE

Duncan Ewart ließ seinen kleinen Jungen Carl zu einer Count-Basie-Nummer auf der Anrichte tanzen. Elvis war an diesem Wochenende rauf- und runtergespielt worden, und Duncan hatte ganz schön einen sitzen; er war gerade erst aus Fife zurückgekommen, wo Killie und Dunfermline sich die Punkte geteilt hatten. Er und sein Sohn waren jetzt auf gleicher Höhe, und der Junge imitierte seine Tanzbewegungen. Maria kam ins Wohnzimmer und machte mit. Sie schnappte sich den ausgelassenen Jungen von der Anrichte und wirbelte mit ihm durchs Zimmer, während sie sang: – Real royal blood comes in real small amounts, I got two royal pests, I got Carl, I got Duncan …

Der Junge hatte das gleiche strohblonde Haar wie alle Ewarts. Duncan fragte sich, ob sie Carl, wenn er in die Schule kam, den gleichen Spitznamen anhängen würden, den er selbst in der Fabrik hatte – »Milky Bar Kid«. Während Maria den Jungen auf dem Boden absetzte, hoffte Duncan, dass keiner von ihnen je eine Brille brauchen würde. Als er spürte, wie Maria ihre Arme um seine Taille schlang, drehte Duncan sich um, und sie gaben sich eng umschlungen einen langen Kuss. Carl wusste nicht, was er tun sollte, fühlte sich ausgeschlossen und klammerte sich an ihre Beine.

Es klingelte, und Maria ging an die Tür, während Duncan die Gelegenheit nutzte, mal wieder Elvis aufzulegen, diesmal In the Ghetto.

Maria sah einen leicht erschrocken dreinblickenden Mann mit kantigem Unterkiefer auf der Schwelle. Er war ihr unbekannt und hielt sich an einer Whiskyflasche und einem Bild fest, das nach einer Kinderzeichnung aussah. Er war offenkundig etwas angeheitert und in aufgekratzter Stimmung, wenn auch ein wenig unsicher. – Äh, Entschuldigung, Mrs., äh, Ewart, äh, ist Ihr Mann da? fragte er.

– Aye … einen Augenblick, sagte Maria und rief Duncan, der Wullie Birrell gleich hereinbat und ihn Maria als Freund von der Arbeit vorstellte.

Wullie Birrell freute sich über Duncans Herzlichkeit, sie machte ihn aber etwas verlegen. – Mr. Ewart, äh, Johnny Dawson hat mir Ihre Adresse gegeben … ich wollt mich nur bedanken wegen gestern, stieß Wullie nervös hervor. – Hab gehört, Abercrombie hat sich gründlich lächerlich gemacht.

Duncan grinste, obwohl er in Wahrheit wegen seiner Rolle bei Abercrombies Demütigung leise Gewissensbisse hatte. Der Mann verdiente es, von seinem hohen Ross geholt zu werden, und ja, Duncan hatte sich daran weiden wollen. Aber dann hatte er den Kummer auf Abercrombies Gesicht gesehen, als dieser bei Arbeitsschluss zum Parkplatz ging. Normalerweise ging Tam Abercrombie als Letzter, aber diesmal hatte er bei Schichtende gar nicht schnell genug verschwinden können. Eine Sache, die sein Vater Duncan gelehrt hatte, war, dass man nicht vorschnell über andere Menschen urteilen soll, selbst über die eigenen Feinde nicht. Man wusste nie, welchen Mist sie in ihrem Privatleben ertragen mussten. Abercrombie hatte so was Niedergedrücktes an sich gehabt, irgendwas, das durch die Ereignisse des Tages allein nicht zu erklären war.

Aber drauf geschissen, Wullie Birrells Frau bekam ein Kind. Für wen hielt sich dieses Arschloch Abercrombie, ihm zu verbieten, bei ihr zu sein? – Hat er auch verdient, sagte Duncan hämisch grinsend, – und nenn mich Duncan, Herrgott nochmal. Aye, der komische Kerl war nich direkt begeistert, aber lass uns den Namen nich in diesem Haus erwähnen. Wie geht’s deiner Frau? Gibt’s was zu vermelden? fragte er und wusste die Antwort schon, als er Wullie vom Scheitel bis zur Sohle musterte.

– Ein kleiner Junge. Siebeneinhalb Pfund. Is unser zweiter kleiner Racker. Kam brüllend und strampelnd raus und wollte gar nich mehr aufhörn, erklärte Wullie mit nervösem Grinsen.

– Ganz anders als der Erste. Das is n Ruhiger. Is etwa so alt wie der hier, bemerkte er und lächelte Carl an, der diesen Fremden genau beobachtete, auch wenn er dicht bei seiner Mutter blieb. – Habt ihr noch mehr?

Duncan lachte laut, und Maria verdrehte die Augen. – Einer von der Sorte ist mehr als genug, erwiderte Duncan und senkte dann die Stimme: – Bevor er kam, wollten wir eigentlich die Koffer packen, zwei Tickets nach Amerika kaufen, da ein Auto mieten und einfach drauflosfahren. New York sehen, New Orleans, Memphis, Nashville, Vegas, das volle Programm. Aber dann hatten wir unsern kleinen Unfall hier, dabei fuhr er Carl durch die milchweißen Haare.

– Nenn ihn nicht immer so, Duncan. Er kommt noch auf die Idee, er wär nich gewollt, flüsterte Maria.

Duncan betrachtete seinen Sohn. – Nee, unseren verrückten kleinen Märzhasen hier könn wir nich zurückgeben, was?

– Leg Elvis auf, Dad, drängte Carl. Duncan gingen die Stichworte des Jungen runter wie Butter.

– Tolle Idee, Sohn, aber erst hol ich uns noch n paar Bier und Gläser, und wir begießen das freudige Ereignis. Darf’s ein Export sein, Wullie?

– Aye, gern, Duncan, und bring besser noch ein paar kleine Gläser für den Whisky mit.

– Hört sich wie ein guter Vorschlag an, nickte Duncan, steuerte die Küche an und zwinkerte Maria zu, als Carl ihm folgte.

Wullie reichte Maria verlegen das Bild, das er in der Hand hielt. Es war die Kinderzeichnung einer Strichmännchen-Familie. Maria hielt sie gegen das Licht und studierte den dazugehörigen Text.

Es war eine Geschichte

ein neues baby von William Birrell, fünf Jahre, volksschule Saughton, Wendy hines elf Jahre erzählt, und aufgeschrieben von Bobby Sharp, acht Jahre. mein name ist William aber alle sang zu mir Billy mein Dad ist Billyzwei und wir kriegn ein neues baby. ich mag fusball und die Hibs sind der beste ferein dad nimmt mich mit aber nich das neue baby weil das noch in einer wige is spiel sangt dschon sin mum hat ein Feuer und sie heist Sandra Birrell is dick vom baby. ich wohn in einen grosen Haus mit einem fenster ich hab eine freundin Sally sie ist sieben Jahre in einer grosen Klasse nebenan mister colins ist alt

– Das ist ja wirklich toll, sagte Maria.

– Die sind einmalig in der Schule. Die machen das so, dass die älteren Kinder den Lehrern mit den Kleineren helfen, erklärte Wullie.

– Das ist gut, unserer geht nämlich Ende des Sommers hin, erzählte ihm Maria. – Ihr Großer muss ja n aufgewecktes Kerlchen sein, schmeichelte sie ihm.

Stolz und Alkoholkonsum trieben Wullie eine gesunde Röte ins Gesicht. – Hat er für mich gemacht gehabt, als ich vom Krankenhaus kam. Aye, ich glaub, Billy wird der Schlaukopf und der Neue, Robert wollen wir n nennen, der wird n Kämpfer. Aye, der kam schon strampelnd und brüllend raus, hat meine Frau übel aufgerissen … sagte Wullie und errötete Maria gegenüber, – äh, tschuldigung … ich wollte sagen …

Maria lachte nur herzlich und winkte ab, als Duncan mit den Getränken auf einem Youngers-Tablett zurückkam, das er an irgendeinem feuchtfröhlichen Abend im Tartan Club hatte mitgehen lassen.

Billy Birrell war im Vorjahr eingeschult worden. Wullie war stolz auf seinen Sohn, auch wenn er ständig ein Auge darauf haben musste, dass er die Finger von den Streichhölzern ließ. Der Junge war vom Feuer wie besessen. Er zündelte im Garten, auf den unbebauten Grundstücken, wo er nur konnte, und einmal hätte er nachts beinah das Haus in Brand gesteckt.

– Is aber nich schlecht, dass er Feuer mag, Wullie, sagte Duncan, bei dem der Alkohol, von dem er vorher bereits einiges intus gehabt hatte, Wirkung zeigte. – Apoll, der Feuergott, is auch der Gott des Lichts.

– Gut, denn Licht hätten wir reichlich gehabt, wenn die Vorhänge gebrannt hätten …

– Das is aber der Geist der Revolution, Wullie. Manchmal muss man alles kaputtmachen, den ganzn Mist niederbrennen, bevor man was Neues aufbaun kann, lachte Duncan, während er Whisky nachschenkte.

– Unsinn, sagte Maria verächtlich, schaute grimmig auf den üppigen Schluck, den Duncan eingeschenkt hatte, und kippte Limonade ins Glas, um den Alkohol zu verdünnen.

Duncan reichte Wullie einen neuen Tumbler. – Ich sag ja nur … Sonne bedeutet Feuer, aber auch Licht und Heilkraft.

Maria wurde es jetzt zu bunt. – Ja, Heilung, die hätt Wullie brauchen können, wenn er mit Verbrennungen dritten Grades aufgewacht wär, verklickerte sie ihm.

Wullie hatte ein schlechtes Gewissen, weil er glaubte, er hätte vor Leuten, die er kaum kannte, unbeabsichtigt seinen Sohn schlecht gemacht. – Aber er is ein lieber kleiner Kerl, ich mein, man versucht ihnen den Unterschied zwischen richtig und falsch beizubringen … sagte er mit schwerer Zunge, weil auch er jetzt den Alkohol und die Müdigkeit spürte.

– Die Welt is heute kompliziert, nich so wie die, in der wir groß geworden sind, sagte Duncan. – Man weiß gar nicht, was man ihnen beibringen soll. Klar, es gibt gewisse Grundregeln – nie Freunde hängen lassen, nie zum Streikbrecher werden …

– Nie n Mädchen schlagen, ergänzte Wullie nickend.

– Unbedingt, stimmte Duncan mit ernster Miene zu, als Maria ihm einen Blick zuwarf, der sagte: Trau dich das bloß nicht, Junge, – nie einen an die Bullen verpfeifen …

– … weder Freund noch Feind, ergänzte Wullie.

– Ich glaub, das mach ich, ich ersetz die Zehn Gebote durch meine eigenen zehn Gebote. Das wär besser für die Jungs als dieser Dr. Spock und der ganze Mist. Kauf jede Woche ne Schallplatte, das wär ein Gebot von mir … du sollst keine Woche verstreichen lassen, ohne dich auf nen guten Song zu freuen …

– Wenn du deinen Söhnen Lebensregeln mitgeben willst, wie wär’s damit, dass sie nicht zu viel Geld in die Kneipe und zum Buchmacher tragen sollen? lachte Maria.

– Manche Sachen wiegen eben schwerer als andere, wagte Duncan zu Wullie zu bemerken, der bedächtig nickte.

Sie saßen fast die ganze Nacht zusammen, tranken und erzählten sich, wo sie gelebt hatten, bevor sie in die neuen Sozialwohnungen gezogen waren. Sie waren sich alle darin einig, dass sie das Beste waren, was der Arbeiterklasse passieren konnte. Maria war aus Tollcross, während Wullie und seine Frau ursprünglich aus Leith kamen, mit einem Umweg über die Plattenbausiedlung in West Granton. Man hatte ihnen zuerst Muirhouse angeboten, aber sie hatten sich für diese Siedlung hier entschieden, weil sie näher an Chesser lag, wo Sandras Mutter wohnte, die krank gewesen war.

– Wir wohnen allerdings drüben im älteren Teil der Siedlung, sagte Wullie halb entschuldigend, – so schön wie hier isses nich.

Duncan wollte sich nicht als was Besseres fühlen, aber so war hier die einhellige Meinung: Die neueren Wohnungen waren die besten. Wie andere Familien in diesem Teil waren die Ewarts froh über ihre gut gelüfteten Wohnungen. Alle Nachbarn sprachen von der Fußbodenheizung, dank der man nur einen einzigen Schalter betätigen musste, um die gesamte Wohnung zu heizen. Marias Dad war neulich an TBC gestorben, die er sich in den feuchten Mietskasernen von Tollcross geholt hatte; das gehörte jetzt alles der Vergangenheit an. Duncan liebte diese großen, warmen Fliesen unter dem Teppich. Man schob einfach die Füße unter den Kaminvorleger und schwelgte im Luxus.

Als es dann Winter wurde und die ersten Rechnungen mit der Post kamen, gingen die Zentralheizungen in der Siedlung aus; so synchron, als hätten sie alle einen gemeinsamen Hauptschalter.

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Andrew Galloway

DER MANN IM HAUS

Es is passiert wie grad die schönste Zeit war wie ich aufm Boden knie und den Beano auf einem von den großen Stühlen liegen hab, dass mich keiner stören kann und ich hab einen Schokoladenkeks und ein Glas Milch auf dem kleinen Hocker und Dad sitzt im andern Stuhl, liest seine Zeitung und meine Ma macht den Tee und meine Ma ist der beste Koch der Welt, denn sie macht die besten Fritten und mein Dad ist der beste Dad der Welt, denn er kann jeden verkloppen, und einmal wollte er Paul McCartney verkloppen weil meine Mutter ihn mag und er wollte meine Ma heiraten aber Dad hat sie zuerst geheiratet und wenn er das nicht gemacht hätte wär ich in den Beatles.

Sheena is in ihrem Babybett … am Brüllen, mit ganz rotem Kopf. Wäh Wäh Wäh … das is sie und die ganze Zeit nur am Knatschen, wie Weihnachten, sagt mein Dad, nicht wie ich denn ich bin groß, ich geh jetzt zur Schule!

Ich war im Krieg.

Terry hat in der Schule am ersten Tag geweint. Ich wein nie aber Terry schon, Teer-ry is ne Heul-suse … sitzt auf dem Podest wo Miss Munro ihrn Tisch hat und heult und heult.

Er saß bei Miss Munro aufm Schoß und da hat Terry Glück gehabt. Ich werd Miss Munro heiraten denn sie riecht gut und is nett und ich leg meinen Arm um Terry weil er mein Freund ist und sach ihm er soll sich nich so anstellen und Terry hatte Angst, dass seine Ma nicht wiederkommt, aber ich wusste dass meine kommt, weil sie gesagt hat wir gehn Eis essen bei Mr. Whippy.

Ilse Bilse

Paul McCartney wird verkloppt! Der kriegt ne Tracht Prügel von mir und meinem Dad! Bäng! Paff!

Miss Munro hat gesagt schon gut Terry, Andrew is doch bei dir! Ich war richtig erwachsen.

Keiner willse

Haun ihm sein Kopf ein. Wenn ich richtig wütend bin kann ich alle Beatles auf einmal verkloppen.

Dennis die Nervensäge nennt mein Dad mich weil ich so einen Hund will wie der hat, aber meine Ma sagt erst wenn Sheena größer ist weil manche Hunde Babys essen. Darum riecht wohl ihr Atem auch so schlecht, weil Babys nach Pipi und Kotze stinken. Hunde sollten Gemüse und Fritten und gute Beefburger essen nicht die billigen.

Kam der Koch

Ich hab meinen Keks gegessen, hab ihn ganz aufgegessen weil es einer von den guten war, die nach Weizen schmecken und wo die Schokolade schön dick ist. Die billigen schmecken nie so lecker. Es hat an der Tür geklopft. Mein Dad ist gucken gegangen. Dann als er zurückkam warn zwei Männer bei ihm, weil sie Polizisten warn und einer sah böse aus, der andere war nett, weil er mich angelächelt und mir über den Kopf gestrichen hat. Mein Dad hat gesagt er muss weg, er muss mitgehen, den Polizisten helfen aber er wär bald wieder da.

Paul McCartney und Ma können kein Baby mehr machen weil Sheena schon da is und in ihrem Bettchen liegt.

Nahm se doch

Meine Ma ist am Weinen aber Dad sagt alles ist in Ordnung. Er sagt zu mir: – Ich muss mitgehn un den Polizisten helfen. Du passt jetzt auf deine Ma auf und hörst auf das, was man dir sagt. Denk dran, du bis jetzt der Mann im Haus.

Schiebt ihr was ins Ofenloch

Als er wegging, hat meine Ma sich hingehockt und mich festgehalten und ich konnte hören wie se weint, aber ich hab nicht geweint weil ich ein großer Junge bin und ich wein nie! Ich war am Anfang ein bisschen traurig weil ich meinen Comic hatte und es eigentlich die schönste Zeit des Tages sein sollte, gleich nach der Schule und vorm Tee, aber ich hab nicht geweint weil ich wusste dass mein Dad bald zurückkommt, wenn er erstmal den Polizisten geholfen hat die bösen Männer einzusperren und er ihnen hilft die bösen Männer zu verkloppen, und ich würde ihm helfen weil ich Paul McCartney verprügeln würde wenn er versucht meiner Mutter ihr Freund zu sein und selbst wenn mein Dad lange Zeit weg wär, würd mir das nichts ausmachen, weil ich dann der Mann im Haus bin.

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2 | Um 1980 rum: Das letzte Abendmahl (mit Fischgang)

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Fenster '80

Es war, als ob das komplette Mietshaus fauchte und zitterte, als die eiskalte Zugluft heulend hindurchfegte und es knarren und pfeifen ließ wie einen Hummer, den man in kochendes Wasser wirft. Diese aufdringlichen, schmutzig-kalten Windstöße von den Sturmböen draußen pfiffen unablässig herein; durch die Spalten in den Fensterrahmen und unter den Fensterbänken, durch die Lüftungsschlitze und die Lücken zwischen den Bodendielen.

Dann plötzlich, mit einem verächtlichen, peitschenden Herumschlagen, das Mülltonnenscheppern und Abfall in seinem Sog hinter sich herzog, ließen sich die Winde herab, ihre Richtung zu ändern, und gönnten Sandra ein wenig Erholung. Als sich die Fasern ihrer Seele und ihres Körpers gerade entspannen wollten, materialisierten sich draußen auf den Straßen Betrunkene, ergossen sich in die geräuschlose Leere und erfüllten sie mit ihren Rufen und Gesängen. Wind und Regen waren nun zum Erliegen gekommen, sodass sie nach Hause gehen konnten. Aber diese Boten des Elends schienen immer genau vor ihrer Tür stehen zu bleiben, und unter ihnen gab es einen besonders penetranten Typen, der ihr während der letzten Monate, ohne es zu wissen, alle Strophen und den Refrain von Hearts Glorious Hearts beigebracht hatte.

Früher hatte sie das nie gestört, dieser ganze Lärm. Nun war sie, Sandra Birrell, Ehefrau und Mutter, die Einzige in der Wohnung, die nachts nicht schlafen konnte. Die Jungs schliefen wie die Murmeltiere; manchmal ging sie nach hinten, um nach ihnen zu sehen, um zu bestaunen, wie fest sie schliefen und wie schnell sie erwachsen wurden.

Billy würde nicht mehr lange da sein, das hatte sie im Gefühl. Obwohl er erst sechzehn war, würde er in ein paar Jahren seine eigene Wohnung haben. Er sah seinem Vater in jungen Jahren verblüffend ähnlich, auch wenn sein Haar eher so blond war wie ihres. Billy war robust und verschlossen, er hatte sein eigenes Leben und wachte eifersüchtig darüber. Sie wusste, dass da was mit Mädchen lief, aber sie fand es schwer, mit seiner mangelnden Auskunftsfreude umzugehen, auch wenn sie seine freiwilligen Gefälligkeiten nicht nur ihr, sondern auch Verwandten und Nachbarn gegenüber bewunderte. Man konnte ihn drüben vor dem Veteranenheim den Rasen mähen sehen, um dann klipp und klar, mit einem entschiedenen Schütteln seines kurz geschorenen Schopfes, jede Bezahlung dafür abzulehnen. Und dann war da ihr Robert: Er war ein schlaksiger junger Springinsfeld, der aber schnell heranwuchs. Ein Träumer ohne Billys eifrige Zielstrebigkeit, aber genauso unwillig, ihr anzuvertrauen, was in seinem Kopf vor sich ging. Wenn er fortging, was blieb ihr und ihrem Mann Wullie, der so fest neben ihr schlief, dann noch? Und was würde dann aus ihr werden? Würde das Danach wie das Davor werden? Würde sie wieder so sein wie Sandra Lockhart?

Es kam ihr verrückt vor, aber was war aus Sandra Lockhart geworden? Der hübschen Blondine, die gut in der Schule war und die Leith Academy besucht hatte, während der Rest ihrer Familie, die Lockharts aus der Tennent Street, alle auf die D. K. gegangen waren, die David Kilpatrick’s oder auch »Deppen-Kinder«, wie die Einheimischen sie gemeinerweise nannten. Sandra war die Jüngste in der Familie, das einzige Kind aus dieser Familie von altem Sozialhilfe-Adel, aus dem etwas zu werden schien. Lebhaft, temperamentvoll und verwöhnt, hatte es den Anschein, als sei sie für etwas Besseres bestimmt, und sie wirkte auch immer so, als wenn sie auf alle anderen Bewohner des Viertels der alten Hafenstadt, aus der ihre Familie kam, heruntersehen würde. Auf alle bis auf einen, und der lag neben ihr.

Die Betrunkenen waren jetzt fort, ihre Stimmen verhallten in der Nacht, aber nur, um die Rückkehr der peitschenden Böen einzuleiten. Ein neuer, wütender Windstoß, und das Fenster bog sich nach innen wie Rolf Harris’ Singende Säge und gaukelte ihr kurz die dramatische Möglichkeit des Zerspringens vor, der einzige Vorfall, der ihren pennenden Mann neben ihr garantiert aufwecken und dazu zwingen würde zu handeln, etwas zu unternehmen. Egal was. Nur um ihr zu zeigen, dass sie hier beide gemeinsam drinsteckten.