Kleine Kratzer - Jane Campbell - E-Book

Kleine Kratzer E-Book

Jane Campbell

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Beschreibung

13 Heldinnen, die sich nicht aussortieren und enteignen lassen, nur weil sie »alt« sind und ihre Familien keine Verwendung mehr für sie haben. 13 Heldinnen – voller Hoffnungen und Sehnsüchte, voller Leben – die ihre ganz eigenen, überraschenden Wege finden, wie sie bekommen, was sie wollen. Mit abgründigem Humor entlarvt Jane Campbell unsere bigotten Vorstellungen vom Alter und stellt ihnen ehrliche Erzählungen von später Intimität und Liebe und existenzieller Verlorenheit gegenüber.

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Jane Campbell
Kleine Kratzer
Storys
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Für meine Mutter,deren Geschichte nie erzählt wurde

Inhalt

Edelmut
Susan und Miffy
Katzenbuckel
Kleine Kratzer
Lamia
Lockdown-Phantasmen
Lacrimae Rerum
Schopenhauer und ich
Le mot perdu
183 Minuten
Der Kiskadee
Die Frage
Vom Alleinsein

Edelmut

Meiner Erfahrung nach werden Menschen nur dann als manipulativ bezeichnet, wenn ihre Machenschaften misslingen. Sind sie erfolgreich, bemerken die Leute gar nicht, dass sie manipuliert wurden. In meinem Fall ist es wohl so, dass ich über ein nützliches Potenzial an Skrupellosigkeit verfüge und daher meistens Erfolg habe. Die Edelmütigen, Behutsamen, Schüchternen gelten als manipulativ, wenn ihre kleinen Träume in den Staub zurückgetreten werden, aus dem sie entstanden sind. Ich kann allerdings auch edelmütig sein, zur Not. Ich gebe Ihnen ein Beispiel.
Es war einmal eine kleine Stadt an der Westküste Englands (Sie werden noch sehen, warum die Sache anonym bleiben muss), die zur informellen Zuflucht für gutbetuchte Pensionäre geworden war. Tag für Tag sind die Strände von älteren Leuten wie mir in Barbourjacken und Gummistiefeln bevölkert, die dort mit ihren Hunden spazieren gehen. Ich bin viel zu egoistisch, um mir einen Hund zuzulegen, aber ich gehe gern spazieren und weiß, dass es gut für mich ist, also laufe auch ich jeden Morgen einige Kilometer über den von Wellen gezeichneten Strand, durch die etlichen kleinen Pfützen, die das Wasser auf seinem Rückzug hinterlassen hat, und sehe dort im feuchten Sand unsere zahlreichen Fußspuren. Bei aller Vielfalt sind sie doch nicht auseinanderzuhalten, und diese Beobachtung führt, wie meine Spaziergänge am Meer es so häufig tun, zu philosophischen Grübeleien darüber, ob ich mich überhaupt von diesen grässlichen Leuten unterscheide oder in Wahrheit genauso dumm und unattraktiv bin wie sie.
Fast jeden Morgen sehe ich Leo, einen unfair großgewachsenen, gutaussehenden Achtundsiebzigjährigen, ehemals Chirurg, der seine reizlose Promenadenmischung hinter sich herzieht, einen Rettungshund aus Rumänien mit dem völlig ironiefreien Namen Brutus. Ich sage unfair, denn als seine guten Feen ihn mit Verstand, Schönheit, Gesundheit und auch noch Reichtum beschenkten, machten sie ihn überdies zu einem absoluten Scheißkerl. Seine Frau Mattie ist klein, dick und dumm. Eine dieser alternden Blondinen, deren Äußeres nach dem Adjektiv »nichtssagend« ruft. Natürlich ist allen klar, dass Mattie täglich Opfer seines Narzissmus wird, aber sie ist so klein, dick und dumm, dass ich es ihm mitunter kaum verdenken kann. Wie auch immer, als ich eines Tages an ihrem Haus vorbeiging, hörte ich sie schluchzen. Also, Mattie ist nun wirklich manipulativ. Da gibt es keinen Zweifel. Aber dass sie mit Leo verheiratet und dick und dumm ist, macht sie verwundbar, also hat sie keine andere Wahl.
»Mattie ist so manipulativ«, sagen alle. Auch Leo.
Das Schlimmste befürchtend, aber neugierig wie immer ging ich um die Garage herum und durch das Gartentor, das ich so gut kannte wie wir alle, und sah Mattie im Garten sitzen, wie üblich voller blauer Flecken und Schrammen, aber diesmal auch mit einem schlimm blutenden Arm. Der grässliche Hund, Brutus, hatte sie gebissen.
»Wo ist er?«, fragte ich nervös, weil ich Hunde nicht nur nicht mag, sondern vernünftigerweise auch Angst vor ihnen habe. Besonders Hunde wie Brutus, denn er ist ein Koloss mit verschlagenen, verbrecherischen Augen, die mich womöglich durchschauen, steckt in einem scheußlich vielfarbigen Promenadenmischungsfell und hat mit ziemlicher Sicherheit eine Kindheit gehabt, die jeden Hund dazu prädestinieren würde, bissig zu werden.
Unter theatralischen Schluchzern sagte Mattie: »Leo geht mit ihm spazieren.«
»Aber hast du eine Tetanusspritze bekommen? Müsste er nicht eingeschläfert werden? Ist es nicht verboten, einen Hund zu halten, der Leute beißt?« Wie Sie merken, ist das nicht mein Gebiet.
Schluchz. Schluchz. »Leo würde nichts davon hören wollen. Ich wollte einen kleinen Hund. Auf der Website gab es einen süßen kleinen Dackel, aber Leo hat sich geweigert. Mit dem kann er nicht spazieren gehen, hat er gesagt.«
Ich lächelte bei dem Gedanken an den hübschen, über eins achtzig großen Leo draußen am Strand mit einem kleinen, wuseligen Würstchen von einem Hund. Das würde seinem Image in der Tat ernsthaft schaden. Wenn es doch bloß dazu kommen könnte.
»Was soll ich für dich tun?«, fragte ich sie. »Brutus aus dem Weg räumen? Darf ich auch Leo aus dem Weg räumen? Wenn ich ein Zauberbuch zur Hand hätte, würde ich einfach meinen Stab schwingen und beide verschwinden lassen.«
Vielleicht wundern Sie sich über diesen Vorschlag, aber Leo war ein typischer Facharzt für Chirurgie, und dass alle Chirurgen Psychopathen sind, weiß jeder. Nicht nur im Operationssaal, aber nach meiner Kenntnis trifft es auch dort zu. Es war allgemein bekannt, dass er sein Aussehen und seinen Charme dazu benutzte, jede Frau im Umkreis von zehn Kilometern – um es vorsichtig auszudrücken – zu befingern, zu betatschen und zu begrapschen und also, wie man so schön sagt, hemmungslos herumzuhuren.
Sogar bei mir hatte er es ein paar Mal versucht. Ich bin kein Blickfang, aber ich weiß, wie man mit Männern redet. Da ich ungefähr so alt bin wie er, gehöre ich zur Kategorie abgetakelte Fregatte, aber ich habe keine Angst vor Männern, und wenn diese alten Säcke das merken, nehmen sie es als Herausforderung. Auch ich soll vor ihnen knien; metaphorisch gesprochen, natürlich. Ich halte das keineswegs für eine sexuelle Fantasie von ihnen. Vielmehr wollen sie, dass ich ihnen zuhöre, ihnen recht gebe, sie verehre. Ich soll mich ihrer allgemeinen geistigen und körperlichen Überlegenheit fügen, soll wissen, wo mein Platz ist. Sie fühlen sich provoziert, weil sie merken, dass ich sie, ganz im Gegenteil, nicht zuletzt dann verachte, wenn sie einknicken und über ihre Prostatektomie zu heulen beginnen, die ihr gut ausgestattetes Leben so zum Schlechteren verändert habe, auch wenn es wenigstens bedeute, dass sie sich nicht mehr zwischen Spuckerin und Schluckerin entscheiden müssten. Letzteres hoffnungsvoll geflüstert.
»Mattie«, sagte ich, »ohne Leo wärst du glücklicher.«
»Er wird mich nie verlassen«, sagte sie und schaute durch ihre Tränen zu mir hoch.
»Nein«, sagte ich, »das wird er wohl nicht.« Für einen Sadisten war Mattie ein Geschenk Gottes.
»Und das Schlimmste ist, dass wir nächste Woche zu einer Hochzeit von Verwandten in Frankreich fahren und unser Hundesitter Brutus nicht nehmen kann.«
Jetzt verstand ich. Darum ging es also. Sie wollte von mir hören, dass ich mich um den grässlichen Köter kümmern würde.
»Hast du Julia gefragt?«
Julia ist die Dumme, zu der alle gehen, weil sie nicht Nein sagen kann. Überall, wo Menschen zusammenleben, gibt es so eine.
»Sie liegt mit einer Nierenentzündung im Krankenhaus.«
Das sind so die Alterssitzprobleme, die unsere kleine Zuflucht am Meer plagen. Aber dann hatte ich eine Idee.
»Ich nehme Brutus«, sagte ich, edelmütig eben.
Mattie war natürlich überwältigt und so überrascht. Sie tat ihr Bestes, um ihre Genugtuung darüber zu verbergen, dass ihre Manipulationen zu wirken schienen. Sie hörte auf zu weinen und nahm mein großzügiges Angebot dankend an. Ich schaute in ihr dümmliches Gesicht und konnte sehen, dass sie sich für die Siegerin hielt. Aber ich wusste, die Siegerin war ich.
Am nächsten Morgen schien eine schwache Wintersonne, und zum Glück war es ruhig. Bei kaltem Wind sehe ich nämlich am schlimmsten aus, mit tränenden Augen und roter Nase, aber auch wenn ich nie eine Schönheit war, kann ich mich doch gut zurechtmachen. Ich wählte einen schmeichelnden Tilley-Hut und eine glänzende blaue Daunenjacke zu meinen üblichen schwarzen Jeans. Außerdem schminkte ich mich sorgfältig und trug sogar ein wenig Augen-Make-up auf. Alte Männer, selbst die gutaussehenden, werden umso verzweifelter, je mehr ihre libidinösen Optionen schrumpfen. Im Winterlicht sind alle Katzen grau. Ich spazierte zum Strand und wanderte dort entlang, schnupperte die Salzluft, hob mein Gesicht zur Sonne, fühlte mich ziemlich gut und machte das so deutlich wie möglich. Als ich Leo sah, winkte ich.
»Ist es nicht herrlich heute?«, rief ich.
Skeptisch, da er ja Grund hatte, meiner Freundlichkeit zu misstrauen – und was immer er sonst sein mag: dumm ist Leo nicht –, wandte er den Kopf, wohl um sicherzugehen, dass ich ihn meinte, und zerrte dann Brutus in meine Richtung.
Er rief mir irgendetwas zu, und ich antwortete ihm.
»Du siehst aus wie der junge Frühlingsmorgen, Leo.« Banale Sätze sind bei diesen Gelegenheiten comme il faut.
»Na, du siehst aber auch nicht so schlecht aus«, sagte er zögerlich.
Ich lächelte erneut. Ich habe einen breiten Mund und hatte an diesem Morgen mit dem roten Lippenstift nicht gespart. Ich wusste, dass ich damit durchkommen könnte, denn Leo, auch das wusste ich, wäre viel zu eitel, um am Strand seine Brille zu tragen.
»Wie geht es dir? Und deinem Hund?« Brutus blickte mich mürrisch an, wenn man das von Hunden so sagen kann. »Und wie geht es Mattie?«
»Ach, wie immer.«
»Als ich sie gestern gesehen habe, schien sie etwas unpässlich zu sein.«
»Ach, sie hat doch immer irgendwas zu jammern.«
»Das tut mir leid. Ist alles in Ordnung?«
Inzwischen spazierten wir Seite an Seite durch die idyllische Landschaft. Über uns schwebten Möwen, man hörte das ferne Gemurmel hereinkommender Wellen, und auf dem Wasser, das zwischen den kleinen Sandhügeln gefangen war, glitzerten Sonnenstrahlen.
Beunruhigenderweise begann er, sich mir anzuvertrauen. Das ist oft der erste Zug, schon klar, aber selbst ich lasse mich manchmal einwickeln, wenn mir jemand seine Ängste gesteht.
»Ich glaube, wir sind beide nicht sehr glücklich. Wenn wir je etwas gemeinsam hatten, hat es sich in Luft aufgelöst. Mattie ist so dumm.«
Da würde ich ihm nicht widersprechen.
»Ich wünschte, ich hätte eine Frau mit einem Verstand wie deinem.«
Das war schon besser. Damit konnte ich etwas anfangen.
»Dann ist es also mein Verstand, auf den du es abgesehen hast?«
Es war offensichtlich, dass er sein Glück nicht fassen konnte. »Kommt drauf an, wo du ihn hast«, sagte er verschlagen, mit einem Zwinkern, das er wahrscheinlich sehr oft zum Einsatz gebracht hatte.
»Was meinst du denn, wo ich ihn habe?«, fragte ich und zog einen leichten Schmollmund.
Er blickte zu mir herab, und ich konnte sehen, dass er seine Optionen prüfte. Es war Zeit, zuzuschlagen.
»Hat Mattie dir erzählt, dass ich Brutus zu mir nehme, während ihr weg seid?«
Eine Sekunde lang wirkte er aufrichtig besorgt.
»Er tut doch nichts, oder, Leo? Ich meine, er hat doch noch nie jemanden angegriffen, oder?«
»Nein. Natürlich nicht. Nicht richtig.« Kurz rang seine Ehrlichkeit mit seinem libidinösen Appetit, doch was von beidem den Sieg davontragen würde, stand keine Sekunde in Zweifel.
»Aber er ist mehr als eine Handvoll Hund.«
Ich lächelte, als ich sein Gesicht beobachtete, wissend, dass auf diese Feststellung nur eins folgen konnte, und er enttäuschte mich nicht. Er packte mich an den Schultern.
»Und ich bin mehr als eine Handvoll Mann.«
Sie können nicht anders, diese traurigen alten Männer mit ihren Erektionsängsten.
»Ach wirklich?«, sagte ich mit kokettem Grinsen. »Wer hätte das gedacht?«
Der Hund sah mich hasserfüllt an, und ich erwiderte seinen Blick.
»Hat Mattie dir erzählt, dass ich schon vor ihr zurückkomme?«, sagte er eifrig. »Sie verbringt nach der Hochzeit noch ein paar Tage bei ihrer Schwester in Paris.«
Da wusste ich, dass dies gottgelenkt war.
»Na dann«, sagte ich und legte ihm eine Hand auf die wasserfeste Brust, »plane mal auf jeden Fall Zeit für einen Kaffee oder besser noch einen Drink mit mir ein, wenn du ihn abholst.«
Mattie und Leo brachten Brutus mit all seinem Zubehör zu mir: eine Liste mit Instruktionen betreffs Bewegung, seinen Holzverschlag (Sicherheit) mit spezieller Decke (andere Art von Sicherheit), Tüten voller Futter, seinen Napf und so weiter. War es möglich, dass ihnen an diesem Tier wirklich etwas lag? Wir suchten eine Ecke in der Küche für ihn aus und machten es ihm dort bequem.
Die Geografie ist wichtig. Ich lebe in einem dieser Küstenstädtchen, die an einer kleinen Durchfahrtstraße zu einem wesentlich bedeutenderen Ort liegen. Zum Strand kann ich eine Abkürzung über die Golfplätze nehmen, die eine Seite meines Grundstücks begrenzen, und auf der anderen Seite ist ein Feldweg, der zu einem Umspannwerk hinunterführt. Die Straße verläuft vor dem Haus. Hinter dem Haus ist ein kleiner Hof mit einer Tür an der Seite, durch die man in den Garten und weiter zur Vorderseite des Hauses gelangt. Am hinteren Ende des Hofes gibt es eine ehemalige Waschküche, ziemlich baufällig und ungenutzt. Darunter ist ein Keller, mit nichts als alten Mülltonnen, Abfall und vermutlich auch Ratten darin, obwohl ich in der Vergangenheit dort Gift habe auslegen lassen. Nachdem Leo und Mattie abgefahren waren, öffnete ich die Küchentür und lockte Brutus mit seinem Futternapf in den Keller. Seine Wasserschale hatte ich schon gefüllt, ich wollte ja nicht, dass er starb. Dann ging ich hinaus und schloss die Tür ab. Leo würde fünf Tage fort sein.
Ich hörte natürlich das Gebell, aber da es von unter der Erde kam, war es nicht so laut.
Bis zu Leos Rückkehr hatte ich Futter für fünf Tage weggeworfen und die Kiste mit Brutus’ Spielzeug und seiner Decke in den Holzverschlag gestellt, der auf dem Hof vor der Küchentür stand.
Ich brezelte mich auf, jede Menge Parfüm, etwas Dekolleté, denn ganz egal, ob es faltig ist oder nicht, alte Männer können die Augen schließen und sich einbilden, deine Brüste wären so jung, wie sie schwer sind. Ich gab Leo ein Glas Wein, und zwischen zwei Schlucken sagte er: »Ich möchte deinen Verstand anfassen«, und mir war klar, dass er das auf dem ganzen Weg von Frankreich hierher einstudiert hatte.
»Hier unten«, sagte ich pflichtschuldig.
Darauf folgte eine Menge vollständig vorhersehbaren und aus meiner Warte ziemlich unergiebigen Gefummels und Gekeuches.
»Seit meiner Prostatektomie habe ich etwas mehr Schwierigkeiten als normalerweise.«
»Das macht doch nichts. Keine Sorge«, sagte ich und rieb und streichelte, was das Zeug hielt.
Den Rest vergessen wir besser, ich werde nicht ins Detail gehen. Sagen wir einfach, nachdem wir mit ein paar weiteren Gläsern gefeiert hatten, stand er als befriedigter Mann auf.
»Du bist mehr als eine Handvoll Frau«, murmelte er in meine Halsbeuge hinein, und ich sagte: »Und du, Leo, bist du noch Manns genug, um deine wilde Bestie mitzunehmen? Seine Sachen sind gleich hinter der Küchentür.«
»Wo ist er?«
Die Antwort auf diese Frage hatte ich mir sorgfältig überlegt.
»Ich wusste, wie er sich freuen würde, dich zu sehen, und wollte dich für mich haben, wenigstens für eine Weile.« Leo sah so happy aus. Er hatte alles von mir bekommen, was er wollte: Sex, Lob und neckische Dankbarkeit.
Ich begleitete ihn in die Küche. »Ich komme nicht mit«, säuselte ich und zeigte auf mein Fähnchen von einem Morgenmantel. »Du findest doch allein hinaus, oder?«
»Natürlich«, sagte er galant. »Bleib du im Warmen.« Eine letzte Umarmung, und ich war frei. Ich schloss hinter ihm ab und sah zu, wie er über den Hof ging und die Tür zur Waschküche entriegelte, und das war’s, mehr oder weniger. Es gab keinen anderen Ausweg als die Tür zum Garten, und die war abgesperrt; den Schlüssel hatte ich.
Als ich geduscht und mich angezogen und die Tür zum Hof von der Gartenseite aus aufgeschlossen hatte, rief ich die Polizei. Und einen Krankenwagen. Und schaute zu, wie sie ihn wegtrugen. Ich glaube, er schaffte es noch bis zum Krankenhaus, aber am Ende war der arme Mann schon zu sehr hinüber.
Was mit Brutus passiert ist, weiß ich nicht, aber ich habe ihn nicht wiedergesehen. Als Mattie zurückkam, weinte sie natürlich. Es war das, was sie am besten konnte.
Die Polizei schickte zwei Beamtinnen zu mir, die mich verhören sollten. Ich erzählte ihnen, Leo hätte mich gebeten, Brutus’ Sachen zusammenzupacken, weil er es eilig haben würde und ich ihm gesagt hätte, ich wäre nicht unbedingt zu Hause, wenn er den Hund wieder abholte. Meine Verabredung hätte dann allerdings nicht stattgefunden, und ich wäre oben unter der Dusche gewesen, als ich ganz furchtbare Geräusche gehört und dann das Spektakel unten im Hof gesehen hätte. Ich hätte mich nicht getraut, die Küchentür aufzumachen, obwohl Leo in einer so schrecklichen Lage gewesen sei, daher dann mein Anruf bei der Polizei. Ich trug lange Hosen und ein Liberty-T-Shirt und keine Spur von Make-up, und die Polizistinnen, zwei sehr vernünftige Frauen, waren überaus mitfühlend. Sie sprachen mir ihr Beileid aus. Ein paar Tage später ging ich zu Mattie hinüber. Sie wirkte ziemlich vergnügt. In der darauffolgenden Woche kaufte sie sich einen Rettungsdackel. Neuerdings gehen wir manchmal zusammen mit Topsy am Strand spazieren.
Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, das zweifellos seine Höhen und Tiefen hatte, denke ich, dass dies eins der edelmütigsten Dinge ist, die ich je getan habe.

Susan und Miffy

Die Lust eines alten Mannes ist abstoßend, aber schlimmer noch ist die Lust einer alten Frau. Das weiß jeder. Susan wusste es allemal.
Susan war eine Frau, die nie eine Grenze überschritten hatte. Selbst unbestreitbar farblos, hatte sie einen gutaussehenden, solventen Ehemann ergattert und sich danach durch dreißig Jahre ehelichen Geschlechtsverkehrs gestöhnt und gekeucht, wie es vermutlich alle Frauen machten, denn ganz im Ernst, welchen Zweck hatte Sex? Susan hatte ihre Kinder mühelos empfangen und ohne Weiteres geboren. Sie hatte sie auf die gleiche effiziente, etwas distanzierte Art geliebt, wie sie selbst geliebt worden war, und galt als eine, die von Glück sagen konnte, denn in ihrem Leben hatte es nie große Probleme gegeben.
Sie wurde immer Susan genannt, nie Sue oder Susie, weil sie etwas an sich hatte, das nach respektvoller Förmlichkeit rief; eine gewisse Unnahbarkeit, so als stünde sie über dem banalen Schlamassel der Sterblichen. Wohlgekämmt, ein aufgeschlagenes Taschenbuch (weit oben auf der Liste der Bestsellerromane) in den sauberen Händen, saß Susan zwei Wochen nach ihrem sechsundachtzigsten Geburtstag im Krankenhaustrakt des Geriatriezentrums im Bett, schaute die junge Frau an, die sich zur Decke streckte, um eine Glühbirne auszuwechseln, und spürte, wie sich in ihren welken Lenden die Lust regte.
Die letzte Feststellung ist nicht nur ein unverzeihliches Klischee, sondern streng genommen auch nicht wahr. Lust hat, wie jeder weiß, viele verschiedene Formen, und wenn uns etwas vollkommen neu ist, müssen wir erst lernen, es zu erkennen. Bei Susan war es so: Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen und ihr Herz ganz unvertraut zu pochen begann. Ich bin eben alt, daran liegt das, sagte sie sich, denn wenn sie einen Grund für etwas fand, ging es ihr immer gleich besser. Vielleicht sterbe ich jetzt, dachte sie weiter, was wie üblich zu der Überlegung führte, dass der Tod eine Reihe von Problemen lösen würde.
Doch noch während sie so ihre Gefühle abtat, wurde ihr Blick erneut von Miffys hochgestreckten, langen goldenen Armen angezogen, glatt und schimmernd wie Sirup. Sie sah zu, wie die junge Frau die Birne in die Fassung zu schrauben versuchte und ihr das lange goldene Haar dabei tiefer am Rücken hinabglitt, ließ ihre Augen dann über Miffys Körper wandern, der vor Anstrengung zitterte und bebte; über ihre Brüste, ihre Taille, ihren Bauch bis hinunter zu den Schenkeln, und dachte: Das also ist die Jugend.
Und sie sah, wie wunderschön ein junger Körper sein kann, wie wohlgeformt und gut proportioniert, wie raffiniert gerundet, wie biegsam, anmutig und einfach herrlich. War es möglich, dass sie selbst einst so ausgesehen hatte? Und mit diesen Gedanken verflocht sich ein neues, sehr verstörendes Gefühl: Susan sehnte sich danach, Miffy zu berühren. Alles an ihr zu berühren. Sie wollte die Hände ausstrecken und über die Brüste der jungen Frau streichen, über ihren Rücken und hinein in die Kurve ihrer Taille, hinaus über die Kurve ihrer Hüften, herum zur Kurve ihrer … und hier musste Susan aufhören. Scham erfüllte sie, tiefe, tiefe Scham, überliefert aus den vielen Jahren britisch-protestantischen Mittelschichtsfrauendaseins, die ihrer eigenen Erziehung vorausgegangen waren. Damenhaft zu sein, das wusste Susan, war wichtiger als alles andere. Es gab bestimmte Arten zu denken, bestimmte Arten, sich zu kleiden, zu essen, zu trinken oder zu sprechen, die sich nicht ziemten, nie. Und Fantasien wie diese waren auf empörende, ja geradezu fürchterliche Weise falsch. Sie waren schlicht falsch, sagte sie sich. Abstoßend. Susan wandte den Blick von Miffy ab, die es jetzt ohnehin geschafft hatte, die Glühbirne einzusetzen, und richtete ihn wieder auf die Seiten ihres faden Buches.
Hier muss gesagt werden, dass Susan, da sie in gewissem Sinne nie benutzt worden war, im hohen Alter deutlich besser aussah, als es in ihrer Jugend der Fall gewesen war. Sie verströmte den verhältnismäßig kühlen Charme unbeschädigten Porzellans; als wäre sie in einem Schrank hinter Glas weggesperrt gewesen, sodass man wahrheitsgemäß hätte sagen können, sie sei, in vielerlei Hinsicht, nie berührt worden. Sie war eine kleine Frau mit gut geschnittenem Haar, und ihre Hände taugten als Metapher für ihr Leben, denn sie hatte bei allen Hausarbeiten stets Gummihandschuhe getragen, und so waren es noch immer junge Hände mit feinen Fingern und glatten, rosigen Nägeln.
Diese Hände, mit dem Buch darin, fielen Miffy ins Auge, als sie sich wieder herrichtete, ihre Tracht in Form zog und über die Anstrengung, die sie hatte unternehmen müssen, lachte. Und dann sah sie den Nachttisch mit dem Glas Wasser, dem Krug, dem Kamm, alles ordentlich nebeneinander aufgereiht; sie sah das grässliche Buch und das müde, beklommene Gesicht, das sich darüber beugte, und schaute erneut auf die Hände, als erkenne sie auf einmal, dass diese Hülle von einem Menschen einst eine zarte, schöne Frau gewesen war.
Es war, als stünde sie neben einer Art Leuchtfeuer, von dem ein kleiner Funke emporschoss, durch die Luft fiel, in ihrem Herzen zu hellem Licht wurde und mit seiner Hitze ihr Mitgefühl entfachte.
Sie ging zu Susans Bett und vollführte die uralten Gesten der Pflege und Fürsorge, das Kissenausklopfen, Lakenglattstreichen, Deckefeststecken und Vombettfegen, was immer dem Patienten schaden oder Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Und während sie sich so zu schaffen machte, sagte sie: »Wie geht es Ihnen heute, Mrs Stallworthy?«
Susan, die mit Hierarchien großgeworden war, an die sie auch glaubte, und es nicht richtig fand, freundschaftlichen Umgang mit dem Personal zu pflegen, stellte fest, dass sie gar nicht anders konnte als zu sagen: »Sehr gut, vielen Dank, Miffy. Sie hatten ziemliche Mühe mit der Glühbirne, nicht wahr?«
Sie betrachtete Miffys Hand, die auf dem groben Gewebe der ausgewaschenen Krankenhausdecke lag, und erinnerte sich, dass sie früher zum Tee manchmal einen heiß gebutterten Toast mit Lyle’s Goldenem Sirup hatte essen dürfen und die Butter, die unter dem Schimmer des flüssigen Sirups von dem warmen Toast tropfte, genau diese Farbe gehabt hatte; die Farbe von Miffys Haut. Susan musste an sich halten, um Miffys Hand nicht zu fassen, ja fast sogar, dachte sie verwirrt, um sie nicht an den Mund zu führen.
Sie senkte den Blick für den Fall, dass Miffy das Verlangen darin sähe, aber Miffy lachte nur.
»Oh, ich sag’s Ihnen. Es hieß ja, wir sollten jemanden vom Wartungsdienst holen, aber auf den hätten wir noch Wochen warten können. Und wir brauchen doch unser Licht, nicht wahr, Mrs Stallworthy?« Dann schaute sie kurz auf das Namensschild über Susans Bett und fügte hinzu: »Oder darf ich Sie Susan nennen?«
Miffys Stimme war sanft und beschwingt, und sie betonte die zweite Silbe. Susan fand den Klang ihres Namens in Miffys Mund wunderschön.
»Ich nenne Sie ja auch Miffy«, sagte sie lächelnd. Und so entpuppte sich das Leuchtfeuer als real und voll und ganz entzündet, und die beiden Frauen liefen jetzt Gefahr, sich an den Flammen zu verbrennen. Das war allerdings noch nicht sofort klar. Als Miffy ging, dachte sie nur, was für eine liebe, traurige Frau Susan doch war und wie sehr sie sich wünschte, sie trösten und für sie sorgen zu können. Unterdessen betrachtete Susan das Teetablett, das man ihr hingestellt hatte, und versuchte sich zu entsinnen, wie es vor dieser Begegnung mit Miffy gewesen war, dazusitzen und es zu betrachten; denn Susan hatte einen analytischen Verstand und begriff, dass sich gerade etwas Unumkehrbares ereignet hatte. Wenn sie erkannt hätte, dass es Liebe war, hätte sie gestaunt; hätte man ihr gesagt, es sei Lust, wäre sie entsetzt gewesen. Glücklicherweise verbarg sich die Lust nach wie vor hinter der dringenden Sehnsucht, Miffy wiederzusehen, begleitet von einer leisen, wehmütigen Hoffnung, beim nächsten Mal ihre Hand berühren zu dürfen. Von Natur aus verschwiegen, oder vielleicht wäre reserviert das bessere Wort, war sie es gewohnt, nichts von ihren Empfindungen preiszugeben; doch wie alle Liebenden, die gerade erst die Herrlichkeit ihrer Gefühle entdeckt haben, platzte sie fast vor Verlangen, sich jemandem mitzuteilen.