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Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Sieh an!« Else Rennert drehte eine bunte Postkarte in ihren Händen. »Aliza hat uns aus Büsum geschrieben.« Die Leiterin des Kinderheims Sophienlust reichte Denise von Schoenecker die Karte über den Tisch. »Es freut einen immer, wenn man von früheren Zöglingen hört«, meinte sie. »Ich bin froh, dass es Aliza so gut getroffen hat. Sie scheint ihre Adoptiveltern abgöttisch zu lieben.« Denise von Schoenecker betrachtete die Vorderseite der Karte, die grüne Dünen, Meer und Schafe zeigte, dann drehte sie sie um. In Alizas steiler Schrift standen mehr als nur Urlaubsgrüße darauf. Unten am Rand hatte sie noch geschrieben: Jetzt heiße ich Winter, wie Mama und Papa. Sie sind schrecklich lieb zu mir. »Dieses Jahr, das die Winters auf die Adoption warten mussten, war eine harte Prüfung für sie«, sagte Denise nachdenklich. »Ich habe nie so ungeduldige Adoptiveltern erlebt. Am liebsten hätten sie damals Aliza sofort ihren Namen gegeben. Und Aliza wollte ja auch von Anfang an eine Winter sein.« Ein Lächeln huschte über ihr apartes Gesicht. »Ich denke noch daran, wie Aliza bei ihrer Einschulung der Lehrerin eklärte, sie würde auch bald Winter heißen, man solle sich nur noch etwas gedulden.« Frau Rennert, die dabei gewesen war, lachte leise vor sich hin.
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Seitenzahl: 155
Veröffentlichungsjahr: 2022
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»Sieh an!« Else Rennert drehte eine bunte Postkarte in ihren Händen. »Aliza hat uns aus Büsum geschrieben.« Die Leiterin des Kinderheims Sophienlust reichte Denise von Schoenecker die Karte über den Tisch. »Es freut einen immer, wenn man von früheren Zöglingen hört«, meinte sie. »Ich bin froh, dass es Aliza so gut getroffen hat. Sie scheint ihre Adoptiveltern abgöttisch zu lieben.«
Denise von Schoenecker betrachtete die Vorderseite der Karte, die grüne Dünen, Meer und Schafe zeigte, dann drehte sie sie um. In Alizas steiler Schrift standen mehr als nur Urlaubsgrüße darauf. Unten am Rand hatte sie noch geschrieben: Jetzt heiße ich Winter, wie Mama und Papa. Sie sind schrecklich lieb zu mir.
»Dieses Jahr, das die Winters auf die Adoption warten mussten, war eine harte Prüfung für sie«, sagte Denise nachdenklich. »Ich habe nie so ungeduldige Adoptiveltern erlebt. Am liebsten hätten sie damals Aliza sofort ihren Namen gegeben. Und Aliza wollte ja auch von Anfang an eine Winter sein.« Ein Lächeln huschte über ihr apartes Gesicht.
»Ich denke noch daran, wie Aliza bei ihrer Einschulung der Lehrerin eklärte, sie würde auch bald Winter heißen, man solle sich nur noch etwas gedulden.« Frau Rennert, die dabei gewesen war, lachte leise vor sich hin. »Sie ist schon ein kleiner Sonnenschein und gehört zu den Kindern, die man nicht so schnell vergisst.«
»Wer ist ein Sonnenschein?« Heidi Holstein, das jüngste der Dauerkinder Sophienlusts, trat ins Zimmer. Mit zur Seite geneigtem Köpfchen baute sie sich vor Denise auf.
»Wir sprechen von Aliza«, sagte Denise. »Kannst du dich noch an sie erinnern?« Sie breitete ihre Arme aus. Heidi kletterte auf ihren Schoß und kuschelte sich an sie. Zärtlich strich sie der Fünfjährigen eine blonde Strähne aus der Stirn.
»Kommt uns Aliza besuchen?«, fragte Heidi begeistert. »Bringt sie Lorenzo mit?«
»Nein, vorläufig nicht. Zur Zeit ist sie mit ihren Eltern in Büsum, das liegt an der Nordsee. Sie hat uns eine Karte geschickt.« Denise gab Heidi die Karte und las ihr vor, was Aliza geschrieben hatte.
»Bin ich auch ein Sonnenschein?«, wollte Heidi wissen, während sie das bunte Bild betrachtete.
»Ein ganz großer«, bestätigte Denise. Sie drückte Heidi fest an sich. Sie kannte die Eifersucht der Kleinen nur zu gut. Heidi war ein gutmütiges Persönchen, doch von Zeit zu Zeit stach sie der Hafer.
»Größer als Aliza?«, kam es prompt. Heidi legte die Karte auf den Schreibtisch und blickte zu Denise auf. Ihre blauen Augen leuchteten.
»Sagen wir genauso groß«, schlug Denise amüsiert vor.
»Och!«, machte Heidi und zog eine Schnute.
»Aber dafür bist du hier bei uns«, meinte Frau Rennert. Sie zwinkerte Denise zu.
Heidi strahlte. »Stimmt!«, erklärte sie und rutschte von Denises Schoß. »Ich geh jetzt zu Schneeweißchen und Rosenrot und sage ihnen, dass Aliza geschrieben hat. Sie haben Aliza sehr, sehr gern gehabt.« Übermütig fasste sie ihr blaues Röckchen am Saum, drehte sich im Kreis herum und hüpfte dann aus der offenen Tür in die Halle hinaus.
»Unser Wirbelwind«, sagte Frau Rennert lachend. Sie atmete tief ein. »Schön, dass zur Zeit alles wie am Schnürchen läuft und wir kein Kind hier haben, das sich mit großen Problemen herumschlagen muss. Ein bisschen Ruhe haben wir uns alle redlich verdient.« Denise nickte. In den letzten Wochen war es ziemlich hektisch zugegangen, aber im Moment sah es tatsächlich so aus, als würde ihnen eine Verschnaufpause gegönnt. »Ruhe vor dem Sturm«, meinte sie ahnungsvoll. »Mein Mann und ich wollen über das Wochenende zu Freunden in die Schweiz fahren. Wir haben sie schon ewig nicht mehr gesehen. Hoffentlich kommt nicht wieder etwas dazwischen, wie das letzte Mal. Als wir sie vor drei Monaten besuchen wollten, machte uns ja Henrik mit seiner Angina einen Strich durch die Rechnung.«
»In so einem Fall sind immer noch wir da«, meinte Frau Rennert. »Davon abgesehen wird sich Henrik diesmal hoffentlich nichts einfallen lassen.« Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Sonst streikt eines Tages Ihr Gatte und lässt Sie nicht mehr nach Sophienlust.«
Denise stimmte in das Lachen der Heimleiterin ein. Alexander war zwar oft der Meinung, dass sie sich sehr verausgabte, doch er wusste, wie sehr ihr Herz daran hing. Er würde sie nie hindern, andern zu helfen. Zudem war er genauso kinderlieb und konnte es nicht ertragen, Kinder leiden zu sehen. Deshalb unterstützte er ihre Arbeit sogar noch.
»Da habe ich keine Bange«, erklärte sie und stand auf. »Ich werde jetzt noch nach Pünktchen sehen. Es ist hart, bei so schönem Wetter krank im Bett liegen zu müssen.«
»Frau Doktor Frey meint, dass sie in einigen Tagen wieder aufstehen kann«, sagte Frau Rennert. »Sie hat also noch Glück gehabt. So eine Sommergrippe kann sehr hartnäckig sein.«
Als Denise die geräumige Halle des ehemaligen Herrenhauses durchquerte, kam ihr sechzehnjähriger Sohn Dominik gerade die Treppe hinunter. »Hallo, Mutti«, grüßte er.
»Warst du bei Pünktchen?«, fragte Denise.
»Ja«, antwortete Nick. »Aber keine Angst, Mutti, ich habe mich sicher nicht angesteckt. Pünktchen und ich waren mindestens einen Meter voneinander getrennt. Wir haben uns nicht mal die Hand gegeben.«
»Dann ist es gut!« Denise lächelte ihrem Sohn zu. »Ich fahre in einer Viertelstunde nach Hause. Kommst du mit oder bleibst du in Sophienlust?«
»Ich bleibe hier«, entschied Nick spontan, »heute Nachmittag will ich noch einmal nach ihr sehen. Außerdem wollen Fabian und die größeren Jungen Justus in der Baumschule helfen, da bin ich natürlich dabei. Ist doch Ehrensache!«
»Und ob«, meinte seine Mutter. »Dann bis heute Abend!« Sie legte ihre Hand auf Nicks Schulter. »Wenn Henrik hört, dass du Justus hilfst, wird er es auch wollen. Pass auf, dass er nicht wieder den großen Mann markiert und sich übernimmt.«
»Du hast wohl Angst, bis zum Wochenende könnte noch was passieren?«, scherzte Nick. Er wusste, wie sich seine Eltern auf die Schweiz freuten.
»Genau das ist es!«, gab Denise zu. »Tschüs!« Sie nahm die Hand von der Schulter ihres Sohnes und stieg die Treppe hinauf.
Nick sah ihr nach. Er überlegte wieder einmal, wie viel Glück er mit seinen Eltern gehabt hatte. Anderen Jugendlichen ging es nicht so gut wie ihm. Zufrieden vor sich hin pfeifend verließ er das Haus.
*
»Pass auf, Lorenzo!« Aliza Winter, ein lebhaftes Mädchen von sieben Jahren, bückte sich nach einem Stock und warf ihn weit von sich. Wie ein Pfeil schoss ein großer brauner Wolfshund an ihr vorbei und jagte dem Stock nach. Aufgeregt bellte er, als er ihn erreicht hatte, nahm ihn mit seinen Zähnen auf und brachte ihn zurück. »Brav, Lorenzo, ganz braver Hund!« Aliza tätschelte zärtlich seinen wolligen Rücken.
Erika Winter trat aus der Tür des Ferienhäuschens, das sie während des Urlaubs gemietet hatten, und schaute lächelnd dem Spiel der beiden zu. Unbemerkt griff sie zum Fotoapparat und knipste.
»In den letzten Tagen hast du mindestens fünfzig Bilder geschossen«, rief Dieter Winter hinter ihr. Er atmete tief und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass Aliza nun völlig zu uns gehört.«
Erika drehte sich zu ihm um. »Mir geht es genauso. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich spät abends an ihrem Bett stehe und auf sie hinuntersehe. Wie lange haben wir uns ein Kind gewünscht. Und nun haben wir endlich eine Tochter.«
»Ich wüsste nicht, was wir uns jetzt noch wünschen sollten«, meinte Dieter Winter und nahm Erika in die Arme. »Unser Glück ist endlich vollkommen.« Liebevoll küsste er sie auf die Stirn.
Aliza drehte sich zu ihren Eltern um. »Schau, Lorenzo, sie haben sich lieb«, sagte sie zufrieden. Der Wolfshund schmiegte sich an sie. »Ich bin froh, dass ich wieder eine Mama und einen Papa habe«, sprach sie weiter. »In Sophienlust war es zwar auch schön, aber jetzt ist es noch viel, viel schöner.«
»Wuw«, machte Lorenzo. Sein buschiger Schweif bewegte sich lebhaft auf und ab.
Aliza nickte fröhlich. »Du findest es jetzt auch schön«, meinte sie. »Du bist ein kluger Hund.« Sie lehnte ihre Wange an seinen Kopf.
»Wuw!« Lorenzo versuchte den Stock zu schnappen, den die Kleine in der rechten Hand hielt. Spielerisch tänzelte er hin und her.
»Schluss, Lorenzo!« Aliza ließ den Stock fallen und rannte zu ihren Eltern. Erika Werner breitete die Arme aus. Das kleine Mädchen fiel jubelnd hinein.
»Und wo bleibe ich?«, fragte Dieter, als Aliza das Gesicht seiner Frau mit feuchten Küsschen bedeckte.
»Du kriegst auch einen Kuss!« Aliza befreite sich aus Erikas Armen und hängte sich an Dieter. »Einen ganz dicken«, versprach sie. Zärtlich schlang sie die Arme um seinen Hals.
»Wir trinken gleich Kaffee«, sagte Erika. »Dein Kakao ist schon fertig, Liebes. Hilfst du mir beim Tischdecken?«
»Mach ich!« Aliza rannte ins Haus.
Wenig später saßen die drei Winters auf der Terrasse des Bungalows beim Kaffee. Auch Lorenzo war beschäftigt. Dieter hatte ihm am Morgen im Supermarkt einen Büffelhautknochen gekauft. Sorgfältig benagte er ihn jetzt von allen Seiten.
»Möchtest du wirklich nicht zum Segeln mitgehen, Aliza-Kind?«, erkundigte sich Dieter, als er bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt war. Er verstand nicht, dass seine Tochter Angst vor Booten hatte. Von Anfang an hatte sie sich beharrlich geweigert, ein Boot auch nur zu betreten. Er glaubte nicht, dass es mit dem Tod ihrer leiblichen Eltern zusammenhing. Als sie bei einer Mittelmeerkreuzfahrt tödlich verunglückten, war Aliza noch keine zwei gewesen. »Du wirst sehen, wenn du dich erst einmal daran gewöhnt hast, wird es dir gefallen.«
»Ich mag nicht«, protestierte Aliza kläglich. Unsicher strich sie sich mit der Hand über ihren Bubikopf. »Ich hab Angst!« Sie sah ihre Mutter hilfesuchend an.
»Schon gut, Schätzchen, du kannst hierbleiben«, sagte Erika sofort. Sie zwinkerte ihrem Mann zu. »Papa und ich wollen ja auch einmal allein sein.«
»Siehst du?« Aliza strahlte Dieter an.
Der junge Mann zuckte die Schultern. »Ich gebe mich geschlagen«, meinte er, beschloss aber insgeheim, Aliza ihre Angst zu nehmen. Doch damit konnte er sich Zeit lassen. Es war nicht wichtig, dass sie schon jetzt das Segeln lernte. »Während Mama und ich auf dem Wasser sind, wird Lorenzo auf dich aufpassen.«
»Oder ich auf ihn.« Aliza warf dem Wolfshund, der seine Ohren beim Klang seines Namens aufgerichtet hatte, ein Stückchen Kuchen zu. Gierig schnappte er danach.
»Passt gegenseitig auf euch auf«, schlug Erika vor.
»Eigentlich sollte ich ja auf dich eifersüchtig sein, du Fratz«, meinte Dieter und zog sanft an Alizas Ponyfransen. »Ist kaum zu glauben, dass Lorenzo einmal mein Hund war. Er hört fast nur noch auf dich.«
»Er weiß, wie lieb ich ihn habe«, erklärte Aliza. »Außerdem bin ich viel mehr da als du. Wenn du arbeitest, kann ich auch mit ihm spielen. Schade, dass ich ihn nicht in die Schule mitnehmen kann. Ich habe schon Fräulein Gärtner gefragt, aber sie will es nicht.«
Erika lachte. »Du würdest es fertigbringen, Lorenzo auch noch in die Schule zu schleppen.« Sie legte ihren Arm um Alizas Schultern und streichelte sie.
Nach dem Kaffee zogen sich Erika und Dieter Winter fürs Segeln um. Bald darauf gingen sie, von Aliza und Lorenzo begleitet, zum Bootssteg.
Das kleine Mädchen blieb mit dem Hund in sicherer Entfernung zurück. Es hob die Hand und winkte, als seine Eltern ins Boot stiegen und bald darauf abfuhren. »An Land ist es viel schöner«, sagte es zu Lorenzo, der sich neben ihm ausgestreckt hatte. »Wasser gefällt mir nur beim Baden.«
»Wuw!«, machte Lorenzo und vergrub den Kopf zwischen den Vorderpfoten. Er teilte Alizas Abneigung gegen das Segeln voll und ganz. Als er noch ein Welpe gewesen war, hatten ihn Erika und Dieter einmal mitgenommen. Es war für alle drei eine bittere Erfahrung gewesen.
Langsam machten Kind und Hund sich auf den Rückweg. In der Nähe des Ferienhäuschens gab es einen Spielplatz. Aliza hatte dort in den drei Wochen, die sie jetzt in Büsum waren, einige Freunde gefunden. Zusammen mit ihnen vergnügte sie sich die nächsten beiden Stunden. Lorenzo beteiligte sich an allen Spielen. Munter jagte er den Kindern beim Fangen nach, lag unter den Kletterstangen und hockte neben der Rutschbahn.
»Lorenzo ist ein richtig toller Hund«, meinte der zehnjährige Oliver, als er sich mit Aliza und dem Wolfshund hinter einem Gebüsch versteckte und vorsichtig auf den Weg hinausspähte.
Aliza vergrub ihr Gesicht im Fell des Hundes. »Weißt du, wie spät es ist, Oliver? Meine Eltern wollten um sechs zurück sein.«
Oliver schaute auf seine Armbanduhr. »Zehn vor sechs!«
»Dann muss ich gehen.«
»Und das Versteckspiel?«
»Meine Eltern machen sich Sorgen, wenn ich nicht pünktlich bin«, sagte Aliza. »Lorenzo und ich kommen morgen wieder. Tschüs!« Gebückt, damit niemand sie sah, robbte sie bis zum nächsten Weg. Lorenzo folgte ihr.
Als sie den Weg erreicht hatten, richtete sie sich auf. Dann rannten Kind und Hund in Richtung des Ferienhäuschens davon. Vergnügt trällerte Aliza dabei vor sich hin.
Zwei alte Frauen sahen ihnen nach. »Schau dir die beiden nur an«, meinte die eine. »Da steckt Lebensfreude drin.«
Ihre Begleiterin seufzte. »So unbeschwert müsste man noch einmal sein.«
Als Aliza und Lorenzo nach Hause kamen, war die Tür noch abgeschlossen. Die Kleine nahm den Schlüssel, den sie an einem Band um den Hals trug, und sperrte auf. »Diesmal kommen sie zu spät«, sagte sie zu Lorenzo. »Weißt du, was wir machen? Wir bereiten das Abendbrot. Sicher freuen sich Mama und Papa, wenn sie sich nur noch hinzusetzen brauchen.«
Eifrig begann Aliza im kleinen Wohnzimmer den Tisch zu decken. Dann ging sie in den Vorgarten, pflückte ein paar Blumen, steckte sie in eine Vase und stellte sie in die Mitte des Tisches. Vorsichtig begann sie Brot aufzuschneiden, nahm Wurst und Käse aus dem Kühlschrank und setzte schließlich Teewasser auf.
»Sie sind immer noch nicht da«, meinte sie, als das Wasser kochte. Sie warf einige Teebeutel hinein und stellte den Herd ab.
Lorenzo lief zum Schrank, kratzte an der Tür und bellte. Als Aliza nicht gleich reagierte, nahm er behutsam ihren Rock zwischen die Zähne und zerrte daran.
»Du hast auch Hunger!« Aliza folgte zum Schrank, nahm die Fressschale heraus und stellte sie auf den Boden. »Gut, dass Mama dein Futter schon vorbereitet hat«, sagte sie, als er sich darauf stürzte. Sie ging ins Wohnzimmer und angelte nach einem Stück Wurst.
Draußen wurde es dunkel. Aliza schaltete im ganzen Haus das Licht ein. Sie war kein ängstliches Kind und hatte sich noch nie in der Dunkelheit gefürchtet, doch nun hatte sie Angst. Sie fühlte sich bedroht und konnte doch nicht sagen, warum. Furchtsam kauerte sie sich in einen Sessel. Ihre Hand hielt Lorenzos Halsband.
Trotz ihrer Angst schlief Aliza ein. Wie von selbst lösten sich ihre Finger. Lorenzo legte sich neben den Sessel. Bald darauf erfüllte sein Schnarchen den Raum.
Es war bereits zehn, als Aliza erwachte. Zuerst wusste sie nicht, weshalb sie im Sessel lag, dann fiel ihr ein, dass sie auf ihre Eltern wartete. Sie sprang auf und lief zur Uhr, die auf einem Bord stand. Erschrocken wandte sie sich um. »Mama, Papa!«, rief sie und jagte aus dem Zimmer die Treppe zu den Schlafräumen hinauf. Lorenzo, der ebenfalls erwacht war, hielt das Ganze für ein Spiel, und rannte ihr nach.
Aliza riss die Schlafzimmertür auf. Das Bett ihrer Eltern war unberührt. Sie rannte von einem Zimmer zum anderen, ließ auch das Bad und die Küche nicht aus. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause. Verzweifelt lehnte sie sich gegen den Küchenschrank. Tränen liefen über ihr Gesicht, ohne dass sie sich die Mühe machte, sie fortzuwischen.
»Vielleicht sind sie im Garten«, rief sie dann schluchzend. »Komm, Lorenzo!«
Doch auch im Garten waren ihre Eltern nicht. Von fern her hörte Aliza das Brausen des Meeres. Der Wind zerrte an ihren Haaren. In Gedanken sah sie die Eltern in ihrem kleinen Boot hinausfahren. Weinend kniete sie sich neben den Hund. »Ich hab Angst, Lorenzo, ganz furchtbare Angst«, flüsterte sie hilflos.
*
»Ich bringe den Koffer runter, Mutti!«, schrie Henrik von Schoenecker ins Schlafzimmer seiner Eltern.
»Das wirst du nicht«, antwortete sein Vater. »Der Koffer ist viel zu schwer für dich.«
»Ist er nicht!« Henrik umfasste den Koffergriff und versuchte das Gepäckstück anzuheben. Es kostete ihn einige Anstrengung, es bis zur Treppe zu schleppen.
»Henrik, ich habe dir doch gesagt, du sollst den Koffer stehen lassen!« Alexander von Schoenecker, ein großer und schlanker Mann mit einem sonnengebräunten Gesicht und dunklen Augen, packte ihn am Kragen. »Wie wär’s, mein Sohn, wenn du ab und zu gehorchen würdest?«, fragte er.
Henrik setzte den Koffer ab und drehte sich zu seinem Vater um. »Ich bin stark«, behauptete er und ließ seine Muskeln spielen.
Es fiel Alexander schwer, ernst zu bleiben. »Trotzdem hast du zu gehorchen«, sagte er. »Den Koffer trage ich, mein Lieber, du darfst dafür den Kofferraum öffnen.« Er griff in seine Jackettasche und nahm den Wagenschlüssel heraus.
»Au fein!« Der Neunjährige riss seinem Vater den Schlüssel fast aus der Hand. »Wenn ich so alt wie Nick bin, darf ich dann auch den Wagen aus der Garage fahren?«
»Mal sehen«, erwiderte Alexander.
Henrik raste die Treppe hinunter. In der geräumigen Halle stieß er mit seinem Halbbruder zusammen, der aus dem Park ins Haus kam. »Entschuldigung!«, rief er und stürzte hinaus.
»Was hat er denn, Vati?«, fragte Nick.
»Er darf den Kofferraum meines Wagens öffnen«, erwiderte sein Stiefvater lachend.
»War ich damals auch so verrückt, als ich es das erste Mal durfte?«, erkundigte sich Nick.
Alexander nickte. »Noch verrückter.«
»Kann ich mich gar nicht mehr erinnern«, meinte Nick. »Ich …« Er unterbrach sich. »Du, da klingelt das Telefon. Soll ich abheben?«
»Ja, bitte, ich bring den Koffer inzwischen raus.« Alexander wandte sich zur Haustür, drehte sich dort aber noch einmal um. »Nick, wenn es nichts Wichtiges ist, soll man Montag wieder anrufen.«
»Natürlich, Vati!« Nick ging in die Bibliothek.
Als Alexander von Schoenecker ins Haus zurückkehrte, hörte er seine Frau in der Halle telefonieren. Aufseufzend blieb er stehen. Wahrscheinlich mussten sie vor der Abfahrt noch einmal nach Sophienlust. Sicher war dort wieder etwas passiert. »Sag nichts, Denise«, meinte er, als seine Frau aus dem Arbeitszimmer kam. »Ich hab mich schon damit abgefunden.«
»Woher weißt du es?«
»Ich habe es erraten, war ja nicht weiter schwierig«, meinte er. »Was ist denn …« Erst jetzt fiel Alexander auf, wie müde und resigniert seine Frau aussah. »Denise, was ist denn geschehen?« Er umfasste sanft ihre Schultern.
»Kannst du dich an Aliza erinnern?«, fragte Denise. »Das kleine Mädchen, das es gar nicht erwarten konnte, zu den Winters zu kommen?«
»Ja.« Alexander sah seiner Frau in die Augen. »Ist Aliza verunglückt?«
»Nein, sie nicht«, antwortete Denise dumpf. Sie kämpfte mit den Tränen. »Gestern Nachmittag sind ihre Adoptiveltern zum Segeln hinausgefahren. Sie machten alle zusammen in Büsum Urlaub. Sie sind nicht zurückgekommen. Heute Morgen wurde das Segelboot angeschwemmt. Von ihren Eltern fehlt jede Spur.«
