Knechtschaft unter der Trikolore - Susi Münch - E-Book

Knechtschaft unter der Trikolore E-Book

Susi Münch

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Beschreibung

Beke Behrens wächst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Tochter des Hofmeiers auf dem Gut der adeligen Familie Schulte von der Lüh am Rande der Stader Geest auf und tritt hier zunächst als Kleinmagd in den Dienst der Herrschaft. Die Eltern schicken sie als Hausmädchen in den Haushalt einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Hier lernt sie das bürgerliche Leben und die Vorzüge der Stadt kennen und schätzen. Doch Napoleon Bonaparte hält Europa in Atem und lässt 1803 das Kurfürstentum Hannover besetzen, da er mit England Krieg führt, verhängt die Kontinentalsperre gegen Groß Britannien und greift damit mit schrecklichen Ausmaßen in den Hamburger Handel und die Wirtschaft ein. Durch die französische Besatzungsmacht wird Hamburg zur französischen Stadt ersten Ranges. Verheerende Kriege erschüttern und verändern ganz Europa. Beke kann Hamburg noch rechtzeitig vor dem verheerenden Eiswinter 1813/14 verlassen, bevor diese Festung gänzlich von der Welt abgeschnitten wird. Mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon gibt es auch an Weser und Elbe heftige Gefechte. Soldaten in den unterschiedlichsten Uniformen marschieren durch das Land und müssen versorgt werden. Bei Eiseskälte erreicht Beke das alte Gut auf Burgsittensen. Sie ist schwanger ...

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Beke Behrens wächst zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Tochter des Hofmeiers auf dem Gut der adeligen Familie Schulte von der Lüh am Rande der Stader Geest auf und tritt hier zunächst als Kleinmagd in den Dienst der Herrschaft. Die Eltern schicken sie als Hausmädchen in den Haushalt einer Hamburger Kaufmannsfamilie. Hier lernt sie das bürgerliche Leben und die Vorzüge der Stadt kennen und schätzen. Doch Napoleon Bonaparte hält Europa in Atem und lässt 1803 das Kurfürstentum Hannover besetzen, da er mit England Krieg führt, verhängt die Kontinentalsperre gegen Groß Britannien und greift damit mit schrecklichen Ausmaßen in den Hamburger Handel und die Wirtschaft ein. Durch die französische Besatzungsmacht wird Hamburg zur französischen Stadt ersten Ranges. Verheerende Kriege erschüttern und verändern ganz Europa. Beke kann Hamburg noch rechtzeitig vor dem Eiswinter 1813/14 verlassen, bevor diese Festung gänzlich von der Welt abgeschnitten wird. Mit den Befreiungskriegen gegen Napoleon gibt es auch an Weser und Elbe heftige Gefechte. Soldaten in den unterschiedlichsten Uniformen marschieren durch das Land und müssen versorgt werden. Bei Eiseskälte erreicht Beke das alte Gut auf Burgsittensen. Sie ist schwanger…

Susi Münch, 1961 in Sittensen geboren, arbeitet als Fachkrankenschwester und beschäftigt sich in ihrer Freizeit mit der Geschichte des Landes Niedersachsen, insbesondere mit der örtlichen Heimatgeschichte. Sie ist ebenso als Gästeführerin in der Gemeinde tätig. Nach ihrem ersten Kriminalroman „Brandungswellen“ widmete sie sich dem historischen Genre. Es folgte „Adler zeugen keine Tauben“ und mit dem historischen Roman „Knechtschaft unter der Trikolore“ erscheint ihr drittes Buch.

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,

Der täglich sie erobern muss.

Und so verbringt, umrungen von Gefahr,

Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn,

auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.

Aus „Faust“

Johann Wolfgang von Goethe

Inhaltsverzeichnis

März 1803

April 1803

Mai 1803

Juli 1803

September 1803

Dezember 1803

August 1804

Sommer 1805

Herbst 1805

Februar 1806

März 1806

Mai 1806

August 1806

September 1806

Oktober 1806

November 1806

Juli 1807

Dezember 1807

Februar 1808

März 1808

August 1810

Februar 1811

Juli 1812

August 1812

Dezember 1812

Januar 1813

Februar 1813

März 1813

April 1813

Mai 1813

Juni 1813

Juli 1813

August 1813

September 1813

Oktober1813

November 1813

Dezember 1813

Januar 1814

April 1814

Mai 1814

Juni 1814

Januar 1815

Januar1815

März 1815

Juni 1815

August 1815

Dezember 1815

September 1816

März 1803

Beke Dora Hermine Behrens schleuderte ihr Wolltuch auf die hölzerne Sitzbank in der Stube und ebenso unachtsam flog die Schiefertafel hinterher. Sie hatte schlechte Laune und die feuchte Kälte war ihr auf dem langen Fußmarsch unter die Röcke gekrochen. Sie suchte den Raum nach etwas Essbarem ab, vergeblich. Sie ließ sich auf die Bank plumpsen, stopfte sich ein Kissen in den Rücken und umschlang die Knie mit beiden Armen, indem sie die Beine fest an den Körper drückte.

Hätte ihre Mutter sie bei dieser Aufführung erwischt, wäre es sicher nicht nur bei einer Ermahnung geblieben. Beke traute sich nicht das Feuer im Ofen wieder zu schüren, obwohl sie entsetzlich fröstelte, denn mit Brennholz wurde sparsam umgegangen. Die Stube wurde zudem erst beheizt, wenn alle Knechte, Burschen und Mägde, die auf dem Gutshof dienten und hier wohnten, beisammen waren. Dazu gehörten ebenso ihre Eltern und Geschwister. Claus war seit dem letzten Frühjahr in der Lehre bei dem Schmied im Dorf und kam nur noch selten nach Hause. Ach, wie sie doch ihren Bruder vermisste. Nur ein Jahr älter war er und seit sie denken konnte, gaben sie aufeinander acht und wärmten sich des Nachts, wenn es kalt war. Bei dem Gedanken an Claus wurden ihr die Augenlider schwer und sie nickte ein. War sie nur für einen Moment eingeschlafen oder länger? Sie wusste es nicht und es war ihr auch egal. Alles war ihr am heutigen Tag gleichgültig. Solche Tage schien es zu geben.

In vier Wochen wurde das Osterfest gefeiert. Damit nahte das Ereignis ihrer Konfirmation und damit verbunden war auch das Ende ihrer Schulzeit gekommen. Beke sah dem Fest mit gemischten Gefühlen entgegen. Freude, aber auch Ungewissheit lagen darin. Es war ein Schritt weiter ins Leben der Erwachsenenwelt. Als Tochter des Meiers des herrschaftlichen Gutes besaß sie das besondere Privileg, die Schule bis zum Ende besuchen zu dürfen. Viele ihrer Freundinnen, insbesondere Töchter der Kleinbauern, gingen nach ein paar Jahren von der Schule ab, wenn sie die Grundbegriffe des Rechnens erlernt und mit dem Lesen und Schrieben einigermaßen geübt waren. Die Mädchen arbeiteten dann auf dem Hof und im elterlichen Haushalt mit, versorgten die zahlreiche Geschwisterschar und wurden so von früh morgens bis zum Abend zur Arbeit herangezogen.

Beke hatte auch ihre festen Aufgaben und Pflichten zu erfüllen, doch ihre Eltern bestanden auf eine gute Schulbildung. Der Vater, Verwalter und Hofmeier des adeligen Gutes, auf dem die Familie lebte, unterstand direkt dem Gutsherrn und Grundbesitzer. Er musste in Wort und Schrift gewandt sein, hatte Berechnungen anzustellen, damit der Hof in guten Zahlen stand und das wirtschaftliche Wachstum vorangetrieben wurde. Der alte Herr Landrat von Schulte war vor Jahren verstorben und der älteste Sohn beruflich in Hannover tätig. Während seiner oft langen Abwesenheit übertrug der junge Herr von Schulte die Verantwortung auf ihn, den Verwalter Johann Behrens.

Bekes Mutter war die Köchin auf dem Gut. Sie kochte für die Herrschaften während derer Anwesenheit auf Burgsittensen. Ihre Hauptaufgabe war jedoch die Versorgung der Arbeiter auf dem Hof. Sie hatte das Küchenpersonal unter sich, ebenso die Verantwortung und Aufsicht über Lebensmittel, Speisen und Getränke. Sie durchdachte die Menüzusammenstellung bei festlichen Anlässen zusammen mit der Haushälterin, übernahm die Gästebewirtung, genauso die Versorgung der Bediensteten. Keinen Moment hatte Gertrud Behrens diesen Schritt bereut und sie fühlte sich am richtigen Platz auf dem Gut der Familie von Schulte.

Fröstelnd warf Beke ihr Wolltuch wieder über und erhob sich von der Bank. Graues, feuchtes Märzwetter empfing sie draußen. Sie zog die Tür hinter sich ran und schlug den Weg zum Gutshaus ein, direkt zum hinteren Eingang des Wirtschaftstraktes, der in die Küche des Herrenhauses führte. Dort war es immer warm vom Kochen und das Feuer im Herd erlosch nie am Tage.

Lisa und Martha saßen am langen hölzernen Küchentisch, der beladen war mit dem gesamten Tafelsilber des Haushalts.

„Du kommst spät, Beke, setze dich dazu und helfe mit. Die Herrschaften haben sich zum Osterfest angemeldet.“ Der Empfang der Mutter war kühl, dafür war die Küche wie erwartet warm. Der ganze Raum war erfüllt vom Geruch des Kohls, der in einer großen Holzschüssel auf die Weiterverarbeitung wartete.

Beke wurde sich wieder ihres Hungers bewusst. Sie setzte sich jedoch beflissentlich mit an den Tisch und nahm einen kleinen alten Lappen aus Leinen in die Hand. Den tunkte sie in die Poliermasse und rieb dann mit dem Tuch auf einem silbernen Löffel herum, bis er glänzte. Ohne ein Wort zu verlieren stellte ihre Mutter einen Becher Milch vor sie hin und nickte ihr mit wissendem Lächeln zu. Mütter schienen immer zu wissen wie man sich fühlte und dankbar trank Beke den Becher gierig leer. Vorerst war der Magen gefüllt und der größte Hunger gedämpft. Heranwachsende Kinder haben so oft Hunger, pflegte Lisa zu sagen und als Großmagd schien sie immer über einen kleinen Vorrat an Proviant zu verfügen. Sie achtete aber jedes Mal darauf, dass es keiner von den anderen Bedienteten mitbekam.

Lisa und Martha sprachen über das nahende Osterfest, über die Arbeiten, die bis dahin erledigt werden mussten und Beke hing ihren eigenen Träumereien hinterher.

Erst als die Rede davon war, dass auch der Generalmajor Otto Schulte zu erwarten sei, wurde Beke hellhörig. Sie mochte den General sehr. Auch wenn er in seiner Uniform streng und absolut Respekt einflößend wirkte, so hatte er doch einen milden Blick und ein warmes Lächeln gegenüber den auf dem Gut lebenden Kindern. Besonders mochte sie es, wenn er die Uniform gegen die private Bekleidung des Gutsherrn eintauschte. Otto Schulte verbrachte nur zu gerne seine freien Wochen in seinem alten Elternhaus. Dies war der Ort, an dem er von Politik und seinen Diensten in der Armee abschalten konnte. Doch oftmals hielt sich der General aus beruflichen Gründen in Hannover auf oder war in diesen unruhigen Zeiten im Kriegseinsatz. Er hatte viel von der Welt gesehen und vieles durch- und erlebt. Johann Behrens wurde die Aufgabe übertragen, das Gut während der Abwesenheit der Herren Schulte zu leiten. Schöner aber war es für alle, wenn der Generalmajor zugegen war. Alle auf dem Hof Arbeitenden erfüllten dann ihre Pflichten mit größerer Hingabe, waren pünktlich und arbeitsam zum Wohlwollen ihrer Brotgeber.

Der Erbherr des Gutshofes war seit zwei Jahren der Herr Kammerrat, Caspar Detlef von Schulte, der seinen Dienst bei der königlichen kurfürstlichen Kammer zu Hannover versah. Die Familie Schulte von der Lüh, so ihr offizieller Name, entstammte einem alten Rittergeschlecht. Der junge Schulte wurde nach dem Tod seines Vaters Burgmann zu Horneburg, Erbherr zu Burgsittensen, Vierden und Bockhorst. Nach dem Ableben seines geliebten Vaters übernahm er als ältester Sohn die Besitzungen, ließ sie verwalten und die Vormundschaft für seine jüngeren Geschwister. Zu der Zeit war er Justizrat in Stade, sah aber berufliche Aufstiegsmöglichkeiten in Hannover und diente dort als Kammerrat unter König Georg III. von Großbritannien und Irland, Kurfürst von Hannover, der aus London das Kurfürstentum Hannover regierte. Caspar Detlev von Schulte hielt sich nur noch selten auf dem elterlichen Gut auf. Dienstliche Aufgaben hinderten ihn daran, seine alte Heimat häufig aufzusuchen. Die Arbeiter, Knechte und Mägde auf dem Hof kannten jedoch ihre Aufgaben und Johann Behrens, Hofmeier des Gutes, übernahm die Aufgabe des Aufsehers und regelte die Angelegenheiten des Gutes. In Abwesenheit der Herrschaften wurde der Hof mit den großen Ländereien gut versorgt. Ihm stand ein Verwalter zur Seite, der die Finanzen betreute und die Amtssachen in seinen Händen hatte. Hielt sich einer der Herren Schulte auf der Burganlage auf, wurde Weiteres besprochen und neue Absprachen getroffen.

Die Frauen redeten weiter über die hohen Herrschaften, die die Ostertage auf ihrem Besitz verbringen wollten. Der Herr Kammerrat, ebenso wie der Herr Generalmajor. Beke hörte ihnen kaum zu. Sie dachte an ihre Konfirmation, an ihren persönlichen Festtag und die damit verbundene Schulentlassung. In vier Wochen würde ihr Leben dann anders verlaufen. Kein morgendlicher Schulweg, keine Unterrichtsstunden mehr, den Katechismus kannte sie nun auswendig. Der Vater sorgte sich zu dieser Zeit um eine Anstellung für die Tochter in einem Haushalt. Zu gerne würde Beke hier den Herren von Schulte weiter dienlich sein, denn Arbeit auf dem Gut gab es genug. Wunderbar wäre es, wenn ein Webstuhl angeschafft und sie das Weben erlernen könnte. Sie könnte die wunderbarsten Tücher entwerfen und herstellen. Bislang wurde das gesponnene Leinen an die Weber in die Nachbarschaft und nach Sittensen gegeben. Der Gnädige Herr ärgerte sich nur zu oft darüber, dass die Arbeiten träge vonstattengingen und es manchmal ein Jahr dauerte, bis das gewebte Tuch wieder auf dem Hof zurück war. Beke war sich sicher, schneller zu sein und wäre stets bemüht, die Herren von Schulte zufrieden zu stellen. In ihrer Phantasie malte sie sich aus, wie sie auf der Diele im Vorwerk an einem großen Webstuhl saß und Elle für Elle das Leinentuch an Länge zunahm. Wenn der Generalmajor zu Ostern zugegen war, würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und ihn darauf ansprechen. Bei dem Gedanken raste ihr Herz vor Aufregung.

„Hast du Heiner in den Stall geschickt, damit er dort mithilft?“ Beke war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie innerlich zusammenzuckte, als ihre Mutter sie ansprach. Heiner war der kleine Bruder. Zart und fein. Zu zart für einen Burschen, sagten die Männer. Er konnte aber ausgezeichnet lernen und behielt alles, was man ihm erklärte und war sehr neugierig. Dazu hatte er ein überaus sonniges Gemüt, was ihm besonders viel Sympathie bei den Mägden einbrachte. An jedem Tag ging er morgens mit Beke den weiten Schulweg nach Kalbe und immer auch zurück. An diesem Tag war er nur einen Teil des Weges mit ihr gegangen. Mit den anderen Jungen hatte er sich rumgedrückt und so war die große Schwester ihren eignen Schritt gegangen und hatte nicht mehr Acht gegeben. Als sie ihn aus den Augen verloren hatte, war es nicht mehr weit entfernt bis zum Gutshof. Danach hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Beke wurde plötzlich recht unwohl zu Mute und fand keine schnelle Antwort auf die Frage ihrer Mutter. In recht scharfem Ton kam die nächste Frage und strenge Augen schauten das Mädchen an. Wo war Heiner geblieben?

„Der ist mit den anderen Jungs nach Hause gegangen, Mutter.“, erwiderte die Tochter mit gesenktem Blick. Sie schämte sich plötzlich, nicht sorgfältig auf das kleinere Brüderchen aufgepasst zu haben.

Nun mischte sich auch noch Martha Wilkens, das Hausmädchen ein. Beke fand dieses recht überflüssig. „Als große Schwester ist es einfach deine Pflicht, auf Heiner aufzupassen! Gertrud,“ jetzt an die Köchin gewandt, immerzu wie toll auf dem Silber polierend, „er wird schon wiederauftauchen, spätestens dann, wenn er Hunger bekommt. Aber er hat auch seine Pflichten zu erfüllen! Das soll der Junge mal nicht vergessen!“

„Ja, Martha. Ich glaube, dass weiß er auch,“ fügte Gertrud beschwichtigend dazu. Sie rührte in dem Topf den Kohl energisch um, dass ihre Wangen rote Flecken bekamen und gab noch Essig hinzu.

„Soll ich nach ihm suchen gehen?“, fragte Beke schuldbewusst.

„Reibe erst noch den Löffel blank und gehe dann!“

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Frau Elsa Klages betrat die Küche. Seit einigen Jahren war sie als Haushälterin auf dem Gutshof angestellt, erfüllte peinlichst genau ihre Pflichten, duldete keine Nachlässigkeiten, hatte aber einen ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn. Ihr Blick ging von einem zum anderen und sie schien die Stimmung sofort aufzugreifen. Da aber keiner der Frauen etwas sagte, nahm sie schweigend die nun glänzenden Lüster, um sie zurück an den ihnen bestimmten Platz auf dem langen Tisch im Speisezimmer des Herrschaftshauses zu tragen. Beke verspürte ein Kratzen im Hals und sie fröstelte am ganzen Körper, putzte aber unablässig weiter. Es war ihr nur recht, dass Frau Klages keine weiteren Fragen stellte. Sie war sich nie sicher, ob sie diese große, etwas hagere Frau, mochte. Respekt aber hatte sie immerhin ordentlich vor ihr.

Nachdem nun alles Silber glänzte, verließ Beke die Küche und zog sich draußen ihr Wolltuch eng um Kopf und Hals. Kalte, feuchte Luft umhüllte das Land. Sie hatte keine Vorstellung, wo sie nach ihrem Bruder suchen sollte. Das Waschhaus, in dem ein Ofen eingemauert war und so auch als Backhaus diente, wäre ein Ort, wo es oft warm war, aber den Aufenthalt dort hätten die Meiersche und die Kleinmagd sicher nicht geduldet.

Heiner war oft auch im Schweinestall anzutreffen, besonders wenn die Sauen geworfen hatten und die Ferkel munter übereinander purzelten. Doch auch bei den Jagdhunden konnte man ihn finden. Die Hunde lauschten stets mit andächtigen Blicken den kindlichen Geschichten des Jungen, wenn sie sich nach reichlichem Auslauf in Wald und Heide niederlegt hatten. Der Jäger war jedoch am Morgen des vergangenen Tages zur Jagd aufgebrochen und es war kaum anzunehmen, dass Alfred Vogt schon wieder zurückgekehrt war. Gewöhnlich war er immer ein paar Tage fort und übernachtete dabei auf den Höfen im Jagdgebiet. Er und seine Hunde wurden von den Bauern mit einem Nachtlager und Kost versorgt, die in der Pflicht des Gutshofes standen.

Doch Alfred war unerwartet wieder zurück und hatte die Jagd beendet. Die Hunde lagen friedlich dösend im Hundestall. Einige von ihnen hoben träge die Köpfe, lugten mit den wachsamen Augen zu Beke. Freudig wedelten sie liegend mit ihren Ruten dem Mädchen zu, denn sie war ihnen nur allzu vertraut. Von den beiden Hühnerhunden sah Beke nur einen, mochte sich aber bei der Anzahl der vielen Hunde auch irren. Heiner war hier ebenfalls nicht zu sehen.

Sie ging weiter über den Hof. Der Wind strich unangenehm an den Gebäuden vorbei und sie setzte ihren Weg fort in Richtung dem Schweinestall. Eine stinkend feuchte Wärme kam ihr entgegen, als sie die Tür öffnete und aufgeregt quiekend von den Schweinen begrüßt wurde. Ob als freudige Abwechslung oder als Störenfried, mochte sie nicht ausmachen.

Da saß Heiner. Auf einem Gatter kauernd blickte er sich langsam zur Tür um. Aus traurigen Augen rannen Tränen die Wangen herab und schniefend sah er seine Schwester an.

Vor Freude eilte die große Schwester auf den feingliedrig, zerbrechlich wirkenden Jungen zu. Er sah so elendig und verletzlich aus, dass es ihr nicht über die Lippen kam, ihn zu schimpfen. Wieso auch sollte sie ihn rügen, sie selber hatte ja nicht auf ihn Acht gegeben.

Heiner beantwortete sofort ihre Frage nach seinem Verbleib und aus ihm sprudelten die Ereignisse des Tages, froh, endlich mit jemanden darüber reden zu können.

„Du bist auf dem Schulweg so schnell nach Hause geeilt, dass wir da gar nicht mitkommen konnten“, setzte der Kleine zu seiner Entschuldigung an. „Wir haben dann die Abkürzung genommen und Peter und ich sind dabei im Graben abgerutscht. Oh, das war kalt!“. Er schüttelte sich erneut bei dem Gedanken an das kalte Wasser, womit die Gräben um diese Jahreszeit gut gefüllt waren. „Wir sind dann beide zum Backhaus gelaufen, denn da war es noch warm und Stina hat für uns so richtig eingeheizt.“

Damit hatte Beke nicht gerechnet, dass die Kleinmagd extra Holz für die Jungen aufgelegt hatte. Beide mussten furchtbar bibbernd vor ihr gestanden haben. Stina hatte ein weiches Herz.

„Als wir fast trocken und wieder warm waren, hat Stina uns vor die Tür gesetzt, damit sie nicht erwischt wird. Da kam dann Alfred Vogt mit seinen Hunden und der erlegten Beute nach Hause zurück. Wir sind dann zu ihm und dann...“. Heiner starrte nun Beke mit weit aufgerissenen Augen an. „... hat er erzählt, dass er einen von seinen Hühnerhunden im Wald erschossen hat. Er sagte, dass er toll gewesen sei und die anderen Hunde nicht anstecken dürfe. Ich hatte den kleinen Hühnerhund doch so gern!“ Schon stürzten wieder Bäche von Tränen über die Kinderwangen und Beke nahm ihren Heinerle, wie sie ihn liebevoll nannte, tröstend in den Arm.

Es geschah immer wieder, dass Hunde sich im Wald die Krankheit holten und tollwütig wurden. Daraufhin wurden sie schnellstens getötet, bevor sie das ganze Rudel anstecken konnten und anschließend vom Jäger recht tief vergraben. Das war Gesetz, hier auf dem Hof und überall. Sie bemühte sich, dem Kleinen dieses zu erklären, konnte doch nur zu gut mit dem Kinderherz mitfühlen.

In der Essstube war es angenehm warm. Die Knechte und Mägde hatten nach einem arbeitsreichen Tag Hunger und Durst. Brot wurde in die dünne Kohlsuppe getunkt, die Löffel schabten leise im Teller, dazu gab es Dünnbier. Der Meier Johann Behrens ließ sich die Begebenheiten des Tages erzählen und verteilte Abschließend die Aufgaben für den Folgetag, so dass jeder wusste, was er zu tun hatte. Da es ein Sonntag war, hatten alle ihre Aufgaben bis zum Kirchgang zu erledigen. In der folgenden Woche sollten die ersten Feldarbeiten aufgenommen werden, sofern der Regen aufhörte. Waren die Felder zu schlammig, sackten die Hufen der Ochsen zu tief ins Erdreich und der Pflug könne den Mutterboden nicht tief genug aufreißen. Ebenso sollten dann auch die Arbeiten im Moor beginnen und das bedeutete für viele, von morgens früh bis zur Dunkelheit den Torf stechen. Beke war klar, auch ohne dass ihr Vater etwas sagte, dass sie direkt nach der Schule ins Moor und den Torf ringeln musste, damit dieser, zu kleinen luftigen runden Häuschen gestapelt, gut durchtrocknete. Nach vielen Stunden des Bückens schmerzte der Rücken dann entsetzlich.

Doch daran wollte sie noch gar nicht denken. Ihr schmerzte der Hals beim Schlucken, der Kopf fühlte sich leer und schwer an. Sie fühlte sich träge und matt. Ein Blick auf den kleinen Heiner ließ sie jedoch erschrecken. Seine Wangen glühten wie Herbstäpfel und seine Augen blickten starr. Der Kleine träumte vor sich hin und legte dankbar und schwer seinen Kopf auf Bekes Schoß, nachdem sie ihn mit ihrem Arm an sich zog. Sie streichelte sanft sein schweißnasses Haar, wobei der Kopf des Jungen eine enorme Wärme ausstrahlte. Nachdem der Esstisch abgeräumt war, setzten sich die Mägde an ihre Spinnräder in die Stube. Die Füße wippten mit den Pedalen auf und ab. Die Räder surrten im gleichmäßigen Rhythmus.

Heiner war dabei eingeschlafen und Beke hätte es ihm gleichtun mögen. Gertrud Behrens legte sanft ein Wolltuch über ihren Sohn. Trotz ihrer tagesfüllenden Aufgaben als Köchin des Gutshofes hatte sie stets ein wachsames und liebevolles Auge auf ihre eigenen Sprösslinge. Ihre Ehe mit dem Meier Johann Behrens war eine Ausnahmesituation auf dem Gut. In der Regel waren die Bediensteten des Hofes unverheiratet oder gingen am Ende des Tages nach getaner Arbeit zu ihren Familien.

Vor vielen Jahren war der alte Herr Landrat von Schulte auf der Suche nach einer neuen Köchin für Burgsittensen.

Eine, die nicht nur deftige Mahlzeiten für die Arbeiter des Hofes, sondern ebenso feine und erlesene Speisen für die Herrschaft bereiten konnte. Während eines Besuches bei einem Hamburger Kaufmann, mit dem das Gut im Handel stand und zu dem man freundschaftliche Beziehungen pflegte, wurde Schulte auf Gertrud aufmerksam. Sie erbat sich Bedenkzeit, willigte letztendlich jedoch ein. Für sie, Tochter eines kleinen Krämers, war es eine große Ehre und Aufgabe, auf dem Gutshof der adeligen Familie Schulte als Köchin zu dienen. Die Schulte waren einst eine der begütertsten Familien zwischen Elbe und Weser gewesen. Sie genossen seit Generationen höchstes Ansehen.

Als Gertrud vor vielen Jahren auf Burgsittensen, umgeben von Heide, Moor und Wäldern ankam, stand das Korn golden auf kleinen einzelnen Feldern. Die Heide war kurz vor der Blüte und der Blick war frei auf endlose Heideflächen. Die Wiesen in Moor nähe waren saftig. Hingegen der Weg über Buxtehude, Ramshausen und Kalbe glich zunehmend mehr einer tristen Ödlandschaft. Baumlose Heideflächen zogen sich endlos durchs Land.

Doch die Sonne leuchtete strahlend über dem alten Herrenhaus mit den angrenzenden Gebäuden. Eine mit kleinen Rundsteinen gepflasterte Allee, beidseits von Lindenbäumen beschattet, führte auf das Gut zu. Ein tiefer Graben umrundete die Burganlage, ein hoher Wall erhob sich schützend dahinter. Vor ihnen lag linker Hand eine gepflegte Gartenanlage mit rund angelegten Blumenbeeten vor dem Gutshaus. Gertrud saß neben dem Kutscher. Der Leiterwagen rollte rumpelnd über die hölzerne Zugbrücke auf das Anwesen zu. Sie war überrascht und tief beeindruckt von dieser ländlich einfachen Schönheit. Rosenduft stieg ihr in die Nase und vielfältiges Vogelgezwitscher erreichte ihre Ohren. Das Gutshaus war ein mit Reet gedecktes Fachwerkhaus, dessen Fächer mit rotem Backstein gefüllt waren.

Sie bekam ihr Bett in der Mägdestube zugewiesen und die Haushälterin, Frau Klages, eine Frau unbestimmten Alters, führte sie in ihre Aufgaben und Pflichten ein. Anfänglich war Gertrud alles so furchtbar fremd. Die Mägde auf dem Hof so plump, die Burschen derb und wortkarg. Wären nicht einige der Mägde ihr gegenüber recht freundlich gewesen, genauso wie der Meier Johann Behrens, der trotz seines jugendlichen Aussehens eine zu respektierende Persönlichkeit war, sie wäre sicher verzweifelt nach Hamburg zurückgekehrt, wenn es nicht anders ginge, auch zu Fuß. Doch der Meier war ein gutaussehender Mann mit ordentlichem Benehmen, lustigen, blau funkelnden Augen und heiterte sie immer wieder auf. Johann kam bald häufiger in die Küche, so dass Frau Klages misstrauisch wurde. Sie war allemal sehr streng und Anbändeln wurde von ihr nicht geduldet. Unter ihrer Leitung sollte es auf dem Gutshof nicht zum sittlichen Verfall kommen.

So trafen Gertrud und Johann sich heimlich, wann immer sich die Gelegenheit bot und schon im Spätherbst war die Köchin in anderen Umständen. Nach Martini suchten sie gemeinsam den Herrn Landrat Schulte auf, um ihre Umstände zu gestehen. Zugegen war auch der Bruder des Hausherrn, Generalmajor Otto Schulte, der auf Heimaturlaub in seinem Elternhaus bei seinem Bruder weilte. Beide Herren zeigten sich bestürzt dieses zu hören und wirkten sehr ernst. Der Herr Landrat, seit vielen Jahrzehnten mit Sophia Margaretha von Bülow verheiratet, mochte über das Glück der Liebe nachgedacht haben, welches ihm mit seiner Frau widerfahren war. Der Herr Generalmajor, unverheiratet, im strengen militärischen Dienst der Kurfürstlichen Armee Hannover stehend, dachte sicher in diesem Augenblick ebenso über die verlorene Liebe nach. Die Herrschaften mussten ausreichend über die Sache nachdenken und gaben sich bis Weihnachten Bedenkzeit. Das Paar dachte schon wehmütig über einen Abschied aus Burgsittensen nach, um sich andernorts eine kleine bescheidene Existenz aufzubauen. Im neuen Jahr, nach Lichtmess, stellten die meisten Grundbesitzer wieder neue Arbeitskräfte ein, Handwerker und Knechte wechselten die Herren. Bis dahin waren es noch zwei Monate. Beiden wäre der Abschied sehr schwergefallen, denn sie fühlten sich hier, auf dem Hof des Herrn Schulte und seiner Familie, sehr zufrieden, vom Herrschaftshaus gut behandelt und ihrer Arbeit gewürdigt.

Am Heiligen Abend nach dem Kirchgang, als alle versammelt in der Volksstube saßen, kam Alexander Schulte in das Vorwerk, was er für gewöhnlich nur einmal im Jahr tat und wünschte seinen Bediensteten ein fröhliches Weihnachten. Dabei erklärte er mit kurzen knappen Sätzen die Situation des Paares. Alle Augenpaare in dem Raum sahen neugierig, missbilligend und auch ängstlich auf die beiden jungen Menschen. Das Verhältnis der beiden war in Windeseile zu jedem durchgesickert und gespannt warteten alle darauf, wie die Herren Schulte entschieden hatten.

„Wir haben uns ausführlich miteinander beraten,“ der Herr Landrat räusperte sich umständlich, „und als Familie beschlossen, Johann und Gertrud in unseren Diensten zu belassen, sofern sie weiterhin ihre Pflichten ohne Tadel verrichten werden.“

Viele Jahrzehnte zuvor schwängerte ein Bauer eine Schultesche Magd, welches das Ansehen der Familie deutlich einschränkte. Durch den zu erwartenden Arbeitsausfall der Magd, klagten die Schulten vor dem für diesen Fall zuständigen Groß Meckelsener Bördegericht und erstritten etliche Taler Abfindung für den Ausfall der Magd. Durch den Prozess kam der Fall an die Öffentlichkeit. Der adelige Herr stellte damit seine Macht wieder einmal ins rechte Licht. Dieses erzählte man sich über viele Jahre als eine der vielen Geschichten, wenn die Bauern abends beisammensaßen.

Nun aber brach allgemeiner Jubel aus. Bei den Neidern verhaltener, den Sittsamen und Strengen höflicher, beim Rest der Schar freudiger Applaus. Johann suchte an seiner Seite nach der Hand Gertruds und drückte sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Gertrud nestelte nervös mit der anderen freien Hand an ihrer Festtagshaube herum. Erleichterung war in ihren Augen und deutliche Freude in ihrem Gesicht zu lesen, dennoch nestelte sie mit der freien Hand an den lang herabhängenden Bändern ihrer Haube. Im Namen beider bedankte sich Johann für die überaus großzügige Haltung der Herren Schulte. Danach wurde beim Volk mit dem Wohlwollen der Herrschaften mit Bier angestoßen. Dazu gab es Wacholderschnaps, den ein älterer Knecht aus seiner Jacke hervorzog. Das sie bleiben konnten, so sickerte später zu ihnen durch, hatten sie der Frau Landrätin Schulte zu verdanken, einer warmen und gutherzigen Frau. Seither wurden die strengen Regelungen diesbezüglich etwas gelockert. Im Januar wurde das Paar in der Kirche zu Groß Sittensen getraut und im Juli ihnen ein gesunder Junge geboren. Sie nannten ihn Claus Otto.

Gertrud streichelte sanft über Heiners nassen Haarschopf. Vom Fieber glühend lag er auf der Bank, das Kind am ganzen Körper zitternd. Sie bat die Meiersche um Kräuter und Weidenrindentee, der das Fieber senken würde. Gemeinsam kümmerten sie sich um das kranke Kind.

Johann Behrens zog sich einen Stuhl an die Seite seiner Tochter, die wiederum sorgenvoll auf den kleinen Heiner blickte.

„Deern,“ fing ihr Vater umständlich an. „Ich habe bislang vergeblich versucht, dich nach deiner Konfirmation in einem Hamburger Haushalt unterzubringen. Auch heute kam eine briefliche Absage aus dem kaufmännischen Haushalt Hansen.“ Er räusperte sich und konnte dabei seiner geliebten Tochter nicht in die Augen sehen. Stattdessen rieb er umständlich seine Hände auf den Oberschenkeln.

Langsam wendete Beke ihren Blick von Heiner ab hinauf in das Antlitz ihres Vaters.

„Vater, ich soll ganz bis nach Hamburg? Aber dann muss ich ja fort von hier und ich werde euch und alles hier nie wiedersehen!“ Sie war entsetzt und hatte bislang keine Ahnung von dem Vorhaben ihrer Eltern, sie so weit wegzugeben. In die Ferne, in die große Stadt. „Ich halte es für das Beste. Du lernst, dich in einem vornehmen Haushalt zurecht zu finden. Sollst das Leben der hohen Gesellschaft kennenlernen und auch in anderen Kreisen verkehren. Mutter und ich sind übereingekommen und wissen, du bist zu gescheit, um hier als Magd zu enden. Was soll dich denn hier erwarten?“

Bekes Augen starrten vor Schreck und Unglaube. Sie selber hatte sich ein Leben auf diesem Hof ausgemalt, dort, wo sie geboren war, ihre Kindheit verbracht hatte, wo sie zu Hause war. Gerade noch so lag es in ihrer Vorstellungskraft, für einige Zeit in einen Haushalt nach Groß Sittensen zu gehen. Zum Pfarrer oder zum Küster, auch auf eine andere Hofstelle, jedoch nach Hamburg zu gehen, kam ihr nicht in den Sinn. Soweit das Mädchen sich erinnern konnte, hatte ihre eigene Mutter die Familie, Eltern und Geschwister, nur zu ihrer Hochzeit wiedergesehen. Einziger Kontakt waren die seltenen Briefe. Es schmerzte Beke so sehr bei diesem Gedanken. Hier auf dem Hof hatten sie auch hohe Herrschaften, die in den obersten gesellschaftlichen Kreisen verkehrten und der junge Herr von Schulte war seit einiger Zeit im Staatsdienst in Hannover! Warum nur sollte sie von hier fort? Beke fühlte sich noch elendiger als am ganzen Tag zuvor. Ein rauer Kloß schnürte ihr den Hals zu, während Tränen des Entsetzens ihr die Wangen herabliefen. Sie hörte nicht mehr die Stimmen der anderen, nicht das anhaltende Summen der Spinnräder, sie spürte die Wärme des Ofens nicht. Plötzlich überkam sie ein tiefes Sehnen nach Claus. Er hatte es immer verstanden, sie über alle schlechten Kindertage hinwegzutrösten und danach hatten sie wieder zusammen gelacht. Aber ihr geliebter Bruder war nicht da.

Nichts war am nächsten Morgen besser geworden. Die Gedanken blieben trüb, der Hals schmerzte entsetzlich, der Körper war fiebrig. Von draußen hörte sie den Klang der Glocke, die zur Frühkost läutete. Heiner lag neben ihr im Bett, den Körper mit feuchten Tüchern bedeckt, die das Fieber nehmen sollten. Der Kleine schlief tief. Beke mochte nicht aufstehen. Ihr fröstelte und gerne wäre sie unter der warmen Decke geblieben und hätte sich schlafend an ihren kleinen Bruder gekuschelt. Wenn sie dann aufwachen würde, hätte er ihr munter seine Erlebnisse erzählt, die Sonne würde durch das Fenster scheinen und eine Anstellung in der Stadt wäre hinfällig. So aber war es nicht. Beke streifte sich ihren Rock über, zog ihren Rump über das Hemd, knöpfte flink die vielen Knöpfe daran zu und band ihre blonden Haare zu einem dicken Zopf. Sie machte sich nicht die Mühe, die Schürze vorzubinden. Müde ging sie rüber in die Essstube. Alle saßen schon am Tisch, gesprochen wurde wenig.

Für gewöhnlich nahm die Köchin einer Gutsanlage ihre Mahlzeiten alleine in der Küche ein. Hier saß Gertrud Behrens mit allen anderen zusammen, aß mit ihnen und plauderte.

Beke hatte sich deutlich verspätet und ihre Mutter wollte gerade zur Mahnung ansetzen, als sie bemerkte, dass ihre Tochter ebenfalls fiebrig war. Die ganze Nacht hatte Gertrud sich um ihren Jüngsten gekümmert, die Hitze des kleinen Körpers gekühlt und ihn beruhigt, wenn er im Wahn Unverständliches daher plapperte. Gertrud war erschöpft vor Sorge und Müdigkeit. „Du meine Güte! Jetzt auch noch du! Da kannst` ja heute kein Reisig und Buschzeug von den Wallanlagen fürs Küchenfeuer holen. Wo habt ihr euch denn herumgetrieben, dass ihr gleich beide krank seid?“ Die Mutter klang besorgt und ärgerlich zugleich. Ihr blieb bei den täglichen Pflichten einfach keine Zeit, sich um ihre kranken Kinder zu kümmern. Gertrud schickte Beke auf das Lager zurück mit dem Auftrag, sie möge sich dabei um Heiner kümmern.

Sie selber schaue so oft als möglich nach den Kranken und bat Frieda nochmals um Kräutertee und Halswickel. Die Meiersche kam mit Salbei und Lindenblüten gegen Halsweh und Fieber. Beke kümmerte sich um Heiner, schlief aber selber immer wieder ein.

Erst am darauffolgenden Morgen machte er die Augen wieder auf. Wie Martha meinte, war es wohl scharf an der Grenze mit dem Kleinen. Die musste es ja wissen, denn sie kümmerte sich um alle Kranken auf dem Gut. Jeder fragte sich, wieso es ausgerechnet den Jungen so schwer erwischt hatte, doch die Geschwister sagten nichts über den Abstecher in den kalten nassen Graben und auch die Kleinmagd Stina hielt dicht. Beke machte sich schwere Vorwürfe und schwor sich, nie wieder so oberflächlich zu sein.

Heiners Genesung ging nur ganz langsam voran und er sollte sich auch nie richtig davon erholen.

Es waren jetzt noch ein paar Tage, bis die Passionszeit sich dem Ende näherte. Beke knurrte der Magen. Nicht nur ihr, auch vielen anderen machte die strenge Fastenzeit zu schaffen. Die Stimmung auf dem Gut war gereizt. Die nach dem Winter ungewohnt körperliche Arbeit im Moor und auf den Feldern hatte den Körpern die Kraft geraubt. Viele von ihnen husteten oder schnieften in die Ärmel, einige hatte hohes Fieber auf die Lager gestreckt. Besonders heftig hatte es den Pferdeknecht Hannes und die Magd Stina erwischt. Langanhaltende körperliche Hitze hatte ihnen fast die Sinne geraubt und an den häufigen Hustenanfällen drohten sie zu ersticken. Der kleine Heiner hingegen nahm täglich mehr am Leben auf dem Hof teil und seine Augen bekamen Tag für Tag mehr an Glanz und Freude zurück.

Während Beke mit dem Heft des Katechismus in den Händen da saß, sendete sie immer wieder Dankgebete zum Himmel für Heiner und bat innigst um Fürbitte für die liebe Stina und auch für Hannes.

Mit der Konfirmation standen auch die Prüfungen mit Fragen zum Katechismus an. Das ´Vater unser´ wurde ihr mit dem Erlernen des Sprechens beigebracht, denn es wurde täglich vor dem Abendessen bei Tisch gebetet. Das stellte kein Problem dar. Das Glaubensbekenntnis ging ihrer Meinung nach auch recht gut. Jedoch bereiteten ihr die Bezeichnungen der einzelnen Sonntage für das Kirchenjahr enorme Schwierigkeiten, flogen unsortiert in ihrem Kopf. Sie las und lernte. Dabei blieb sie am Tag des Erzengel Michael hängen. ´Verleihe gnädiglich, dass deine lieben Engel unsere Wege auf dieser Erde bewahren. ´ Darüber dachte Beke einen Moment nach, stand auf und stieg die Treppe zum Krankenlager der Stina hinauf.

Sie hörte den schweren Atem der Magd. Das Mädchen setzte sich auf die Kante des Lagers und das frische Stroh der Unterlage raschelte unter dem Laken. Sie grüßte Stina leise, nahm ihr sanft das Bettzeug fort und schüttelte die Federn auf. Auf einer Kiste stand eine gefüllte Wasserschüssel. Sie nahm Stina den warmen Lappen von der Stirn, tauchte ihn in das kühle Nass, wrang ihn aus und legte ihn der Magd zurück auf die Stirn. Ein leicht beißender Geruch nach Essig verbreitete sich, der dem Wasser beigefügt war. Die junge Frau bewegte sich kaum. Nur ein leiser Laut kam zwischen den aufgeplatzten Lippen hervor.

„Liebe Stina, die lieben Engel werden dein Leben bewahren und dich wieder gesund werden lassen!“ Beke strich Stina über die schlaff liegende Hand. Eine kleine Ewigkeit blieb sie an der Seite der Magd, dann stand sie auf und ging langsam die Stufen wieder herab.

Unten in der Volksstube saß ihre Mutter mit all den anderen Frauen und nähte Zierbänder auf Bekes neue Schürze, die zu ihrem Festtag fertig sein musste. Verzweifelt stand ihre Tochter vor ihr. „Mutter, Stina leidet so sehr. Wie kann man ihr das Krankenlager erleichtern?“

„Wir können alle nur für Stina beten.“ Die Augen der Mutter blickten sorgenvoll. „Doktor Frank aus Sittensen war am Vormittag hier. Eine schwere Entzündung der Lunge, hat er gesagt. Er hat einen Aderlass gemacht. Soll die Krankheit aus dem Körper lassen. Frieda hatte bereits schon alles getan, was der Doktor ihr noch sagte, was zu tun sei. Sie hat ein großes Wissen, was die Heilkräuter betrifft. Beten, Beke, das kann Stina noch helfen.“ Gertruds Stimme war betrübt und ihre Hände zitterten ein wenig, während sie unablässig weiter die Bänder auf die Schürze nähte. Stich für Stich, routiniert und gleichmäßig.

Am nächsten Morgen war Stina tot. Am Abend darauf auch der Pferdeknecht Hannes. Pastor Jäger wurde verständigt und die Beisetzung der Verstorbenen erfolgte in der Karwoche auf dem Kirchhof zu Sittensen.

Beke fiel es schwer sich auf die vor ihre liegende Prüfung zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften immer wieder zu der Magd, die einst ein so herzliches Lachen verbreitete, dessen Körper nun von kalter Erde bedeckt wurde. Möge ihre Seele im Himmel sein.

April 1803

Dann war er da, Palmarum, der Sonntag vor Ostern mit der Prüfung. Die jungen Mädchen und Jungen trugen zum ersten Mal die Sonntagstracht und waren frisch herausgeputzt. Doch dieses allein war nicht Grund der Aufregung, denn es war die Prüfung mit Fragen zum Katechismus abzulegen. Dieser war ihnen in den Zeiten der Kinderlehre von Pastor Jäger unterrichtet worden. Schulmeister Wildt hatte den meisten Sittenser Kindern lesen, schreiben und rechnen gelehrt.

Die Worte aus dem Altarraum drangen wie aus dichtem Nebel an ihre Ohren. Das Tuch, welches Beke in den Händen hielt, wurde feucht und knitterig. Wenn doch bloß die Prüfung vorüber wäre. Ihr Herz raste vor Aufregung. Pastor Jäger nahm abwechselnd einen seiner Konfirmanden an die Reihe. Mal einen Jungen, dann ein Mädchen. All die von ihm gestellten Fragen, die er bereits gestellte, hätte Beke beantworten können.

„Beke, sage den Psalm fünfundzwanzig, Vers achtzehn. Danach erzähle, wann er im Besonderen Anwendung findet.“

Das Mädchen starrte zuerst dem Pastor ins Gesicht, danach suchte sie Antwort im Altarbild, welches den Gekreuzigten zeigte, zu finden. Jesus Christus, hilf mir! Während der Kinderlehre hatte der Pastor immer wieder die Thematik der Sünde aufgegriffen. Langsam ordneten sich ihre Gedanken, doch eine solch schwierige Frage hatte sie nicht erwartet. Sicher wusste Pastor Jäger von ihrem Fehlverhalten, indem sie nicht sorgsam auf Heiner aufgepasst und damit die Krankheit auf den Hof gebracht hatte. Hatte sie auch Stina und den Pferdeknecht auf dem Gewissen? Mit leiser, unsicherer Stimme fing sie an zu reden. Sie spürte am Blick des Pastors, dass sie mit ihrer Antwort richtig lag. Erst zögernd, doch dann sicherer werdend, sprudelten die Sätze.

„Sieh an meinen Jammer und Elend und vergib mir all meine Sünde. Zu finden unter Beichte und Abendmahlsgebete, Herr Pastor. Zum Ende der Beichte findet der Psalm Anwendung.“ Ihr bestimmender Tonfall verriet den Anwesenden, dass mehr nicht von ihr zu erwarten sei und sie selber fand die Antwort auch mehr als ausreichend.

„In welchem Buch wird man den Vers finden?“ Pastor Jäger war mit dieser oberflächlichen Erklärung der Konfirmandin nicht zufrieden. Düstere Falten traten auf seine Stirn. Sie starrte ihn kurz an und hätte fast erwidert, dass dieses wohl jeder hier wüsste. Sie bekam aber noch die Kurve und antwortete brav: „Im Stader Gesang- und Gebetbuch für die Herzogtümer Verden und Bremen, welches in hiesiger Gegend in Gebrauch ist.“ Pastor Jäger nickte, seine Falten entspannten sich und Beke durfte sich wieder setzen. Später, nach Abschluss der Prüfung, als alle sich wieder vor der Kirche versammelt hatten, trat Pastor Jäger an sie heran und raunte: „Beke, ich musste dieses schwierige Thema zur Sprache bringen. Dabei wusste ich, dass du das schaffen würdest.“ Er lächelte gutmütig, drückte ihr sanft die Hand auf die Schulter und verschwand in der Menge. Das Mädchen strahlte vor Freude und Stolz. Ihre beste Freundin, die Anna Meyer, stand neben ihr. Beke suchte nach ihrer Hand und drückte sie fest, so dass diese Mühe hatte, kein schmerzverzerrtes Gesicht zu ziehen. An diesem Tag hatten alle Schüler und Schülerinnen die Prüfung bestanden und wurden am Gründonnerstag zur Konfirmation zugelassen. Erleichterung stand in ihren Gesichtern zu lesen, dass diese Last nun hinter ihnen lag.

Generalmajor Otto Schulte reiste zwei Tage später auf dem heimatlichen Gut an. Beim Eintreffen wirkte er müde und abgespannt.

Die politische Lage des Kurfürstentums Hannover war ausgesprochen schwierig. Der aus dem Hause der Welfen zu Hannover stammende König Georg III. regierte von London aus das norddeutsche Kurfürstentum Braunschweig - Lüneburg. Dieses war durch Personalunion mit Groß Britannien und Irland verbunden. Nach dem kürzlich geschlossenen Friedensvertrag mit Frankreich erhoffte man sich endlich Ruhe und Ordnung nach jahrelangen Kriegen. Der Major hegte berechtigte Zweifel.

Von allen Bedienten, die sich vor dem Eingang des alten Gutshauses nach Rang und Geschlechtern aufgereiht hatten, wurde er mit Freude, dennoch auch mit gehörigem Respekt empfangen. Der in feinem Tuch gekleidete Kutscher lenkte das Gefährt an den Beeten vorbei und hielt vor dem Eingang des Gutshauses. Zwei Säulen stützten den darüber liegenden Altan und eine Stufe erleichterte den Eintritt in das Haus. Otto Schulte trug noch die Uniform eines Generalmajors der Hannoverschen Armee. Den weißen langen Rock mit den goldfarbenen Rock- und Ärmelaufschlägen und der darunter getragenen hellbraunen Weste, den schwarzen Stiefeln, die über die Knie reichten. Die Epauletten auf den Schultern zollten vom hohen Rang beim Militär. Sein Haupt bedeckte ein dreieckiger schwarzer Hut mit weißem Besatz und Kokarde. Die Knechte verbeugten sich und die Mägde knicksten ehrfürchtig. Er begrüßte die Anwesenden mit einem Nicken und betrat das alte, jedoch reinliche und frisch gelüftete Herrenhaus.

Mit einem tiefen Knicks trat die Haushälterin aus der Reihe der Bediensteten hervor: „Gnädiger Herr, seien Sie herzlich willkommen daheim. Sie wünschen frisch aufgebrühten Bohnenkaffee?“

„Elsa Klages,“ erwiderte der Herr in Uniform, erfreut, die altvertraute Bedienstete zu sehen. „Die gute Seele unseres Hauses! Sehr gerne hätte ich eine Tasse von dem braunen Getränk. Bringe ihn recht stark, bitte.“

„Sehr gerne, Herr Generalmajor.“ Elsa knickste erneut und eilte davon, um kurze Zeit später mit dem heißen Getränk in einer Kanne aus feinem Porzellan und einer Tasse des gleichen Dekors, zu erscheinen. Sie servierte dieses auf einem silbernen Tablett in der Stube.

Otto Schulte hatte es sich derweil in dem gemütlichen Zimmer bequem gemacht und ließ nach dem Hofmeier schicken. Er musste nicht lange warten bis Johann Behrens erschien.

Es folgte vom Meier ein ausführlicher Bericht der vergangenen Monate. Der Hof stand, in Anbetracht der Versorgung der durchgezogenen preußischen Armee noch immer recht gut da. Man hoffe jedoch auf eine gute Ernte in diesem Jahr. Den Abschluss des Berichtes bildete die heftige Erkältungswelle und die höchst bedauerlichen beiden Todesfälle, die von der Krankheit heimgesucht wurden.

„Da brauchen wir schnellstmöglich Ersatz! Von den Pferdejungen soll der beste zum Pferdeknecht aufsteigen. Ein neuer Bursche wird sich schnell finden, da jetzt die Schulzeit beendet ist. Eine Kleinmagd kann nach Ostern bei uns anfangen. Ich lege es in deine Hände, Johann.“

„Ich werde mich zu Ihrer Zufriedenheit bemühen, gnädiger Herr und werde mich darum kümmern.“ Umständlich räusperte er sich.

Der Major sah den Meier stirnrunzelnd mit fragenden Augen an. Die lange Reise von Hannover in der Kutsche über teilweise schlechteste Wegstrecken, war dem alternden Herrn deutlich anzumerken.

Johann Behrens fasste sich ein Herz, um nach vielen Jahren abermals mit einer recht persönlichen Bitte vor dem Herrn, wenngleich es sich jetzt um den Bruder des verstorbenen Gutsherrn handelte, zu sprechen. Er berichtete dem Major von der Absicht, seine Tochter Beke in einen Hamburger Haushalt zu geben, welches bislang jedoch nicht zustande kam und bat den Herrn, das Mädchen vorerst auf dem Gut Arbeit zu geben.

Die Gesichtszüge des Soldaten entspannten sich, da er weitere Nöte befürchtet hatte und ohne langes Zögern erwiderte er freundlich: „Johann, deine Beke mag ich gern. Sie ist flink und freundlich und sie kann zu den üblichen Bedingungen hier als Kleinmagd arbeiten. Ich spreche hier für meinen Neffen, dem Herrn Kammerrat, in dessen Sinne ich die Entscheidung treffe. Aber keine Ausnahmen, ihre Kammer wird die von Stina sein.“

Johann Behrens war erstaunt, wie schnell der Herr seine Tochter einzuschätzen wusste. In den letzten Jahren hatte dieser sich wenig in der Heimat aufgehalten, schien aber während seiner kurzen Besuche hier auf dem Gut, stets wachsam allem gegenüber gewesen zu sein. Ein alter Soldat mit Blick für alles um ihn herum, dachte Johann. Mit gebührendem Respekt, dem Dienstherren gegenüber in dieser privaten Angelegenheit, bedankte er sich aus tiefstem Herzen.

Damit war zwischen den Männern vorerst alles gesagt. Zu späterer Stunde würde der Generalmajor eine Begehung des Gutes in Begleitung des Meiers machen wollen.

Beke hatte vor Aufregung schlecht geschlafen, doch sie strahlte von innen heraus. Es war Gründonnerstag und damit ihr Tag. Sie sog den frischen Duft der Seife, der ihren Haaren und ihrer Haut anhaftete, tief ein. Ein Leuchten ging von ihr aus. Sie trug die hier übliche Konfirmationstracht, den knöchellangen schwarzen Rock mit unzählbaren Plisseefalten und dem breiten Samtbesatz am unteren Saum. Die langärmelige Jacke aus schwarzem Tuch mit rundem Halsausschnitt und einem Samtbesatz am unteren Rand, gehörte ebenso zur Tracht. An diesem Tag wurde ein üppiger weißer Spitzenkragen darüber gesteckt und ein Dreiecktuch aus weißer Spitze um die Schultern gelegt. Die Kleidung hatte die Mutter bei einem der Schneider im Dorf in Auftrag gegeben. In der vorangegangenen Woche gingen beide, Beke und die Mutter, nach Sittensen, um die fertigen Kleider in Empfang zu nehmen. Schneider Brunkhorst hatte sorgfältige Arbeit geleistet und Gertrud Behrens zählte ihm die Reichstaler auf den Ladentisch. Mit großer Freude trug Beke die Ware über dem Arm den langen Weg nach Hause. Sie würde mit den Sachen sehr achtsam umgehen müssen, denn diese mussten mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr restliches Leben lang halten. Die lange weiße Schürze hatte Gertrud selber an langen Winterabenden genäht. Beke band sich den schwarzen, in sich gemusterten Samtgürtel um die Taille, der mit zarten Pailletten verziert war. Sie besaß nur eine einfache, schmucklose Gürtelschließe, doch von ihrem ersten erarbeiteten Geld würde sie sich eine schöne, mit Glasperlen besetzte Schließe kaufen. Wer auch immer ihr Brotgeber werden sollte. Darüber aber wollte sie sich an diesem Tag keinen Kopf machen. Ihre hellblonden Haare, streng gescheitelt und zu einem festen Knoten gesteckt, bedeckte sie mit einer kleinen Haube, die unter dem Kinn mit Bändern zu einer Schleife gebunden wurde. Diese war weiß und bestand aus Atlasseide mit Spitze. Die Haube wurde in einer Truhe im Herrenhaus aufbewahrt und nur zum Anlass der Konfirmation herausgeholt. Jedes junge Mädchen hatte oder würde sie einmal tragen dürfen. Voller Stolz strich Beke sanft darüber.

Zum ersten Mal in ihrem Leben trug Beke geschnürte schwarze Lederschuhe, die der Schuster im Dorf anfertigte. Sie waren ihr noch recht groß, aber sie würde hineinwachsen, sagte die Mutter. Es waren ihre ersten richtigen Schuhe und sie fühlten sich so gut an den Füßen an.

Das neue Gesangbuch und das weiße Spitzentaschentuch in den Händen haltend, trat sie vor die Tür. Sie fühlte sich so groß und richtig erwachsen. Die Pferde waren schon eingespannt. Gemeinsam mit den Eltern bestieg sie den offenen Leiterwagen und dann ging es auch schon los über den Kirchweg nach Groß Sittensen zur Kirche.

Dort angekommen hatten sich etliche Gemeindemitglieder des Kirchspiels vor dem Gotteshaus versammelt. Auch waren die Verwandten und die, die das Gevatteramt, das Patenamt, bis zur Konfirmation der Kinder innehatten, anwesend. Alle trugen Festtagskleidung. Die meisten Männer waren in langen schwarzen Hosen, einem weißen Hemd mit Stehkragen, darüber eine schwarze, hochgeschlossene Weste und einen kurzen Gehrock erschienen. Einige aber hatten noch die alten Kniebundhosen mit weißen Wollstrümpfen an. Als Kopfbedeckung diente der modische Zylinder manchen Herren, der Großteil trug jedoch Schirmmützen. Die Frauen trugen allesamt einen grünen Rock mit schwarzem Samtbesatz am Saum, bedeckt mit einer heidefarbenen oder blauen Schürze. Alle Schürzen zierten aufgenähte Bänder. Die in der Mitte gescheitelten Haare der Frauen waren mit einer mit Pailletten und Motiven geschmückten schwarzen Kappe bedeckt, die unter dem Kinn zu einer Schleife gebunden war und deren bestickten Bänder lang herabhingen. Auch die rückwärtigen schwarzen Bänder baumelten von der Haube herab über den Rücken der Trägerin. Ein Tuch mit farbiger Kante und Fransen bedeckte die Schultern, wobei die Enden im Schürzenbund steckten. Das junge Volk jedoch, die Konfirmanden, bildeten in ihrer Aufmachung einen schwarz-weißen Haufen abseits der Gemeinde und verbargen nur mit Mühe ihre Aufregung. Festlich sahen die Menschen aus an diesem Tage.

Sie plauderten in Gruppen miteinander und warteten auf den Beginn des Festgottesdienstes. Auch Bekes Großeltern, die ihren Hof in Kalbe zusammen mit dem ältesten Sohn Georg bewirtschafteten, hatten es rechtzeitig geschafft. Dieser war ebenfalls mit seiner Familie gekommen.

Johann Behrens ging zum gegenüber liegenden Pastorenhaus, um dort die übliche Spende für die Konfirmandin, seine Tochter Beke, abzugeben. In die Spendenliste wurde er mit Namen und Höhe der Spende eingetragen. Der Vater kehrte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück. Die Väter, die nur in Materialien eine Spende geben konnten, trugen geschlachtete oder lebende Hühner in Rohrkäfigen zum Haus des Pastor Jäger.

Beke entdeckte ihren Bruder Claus, als dieser den Kirchberg heraufkam und schon lag sie in seinen Armen. Sie freute sich von Herzen, dass auch er dabei sein konnte. Gerade in den letzten Tagen hatte sie seine Nähe so sehr vermisst.

Das Glockengeläut setzte ein. Die Gemeinde bewegte sich langsam in das Kircheninnere hinein und nahm nach Geschlechtern getrennt Platz. Einige hatten ihre eigenen Kirchenstühle, für die sie Spenden gaben und die mit dicken bestickten Kissen belegt waren. Dazu gehörten eben auch die Familien der Schulte. Diese verfolgten den Gottesdienst seit Generationen aus ihrem Kirchengestühl hinter den eigens für sie angefertigten Priechen. Diese hölzerne Verkleidung war mit gedrechselten Ornamenten versehen und davor prangte das Familienwappen derer von Schulte von der Lüh. So lautete der vollständige Name der adeligen Familie.

Nachdem Pastor Jäger die Gläubigen begrüßt hatte, begann er mit der Liturgie. Der Organist und Schulmeister Herr Wildt, hatte sich bereits auf die Empore begeben, um gleich dem kostbaren Musikinstrument Töne zu entlocken. Das Kirchspiel stand vor Jahren in so guten Zahlen da, dass für die Kirche eine Orgel des bekannten Orgelbauers Arp Schnittgers angeschafft werden konnte. Herr Wildt war dazu ein begnadeter Musiker und schon erklang das Orgelspiel. Es gelang Beke vor lauter Aufregung das erste Lied mitzusingen. Die Konfirmanden durften vorne in den ersten Reihen nach Geschlechtern getrennt sitzen. Als Beke mit den Augen zur Seite schielte, sah sie auf dem Gestühl der Adeligen den Generalmajor Schulte und den Herrn Schulte aus Kuhmühlen sitzen.

Der Altar war mit Frühblühern in einem Krug festlich geschmückt. Tannengirlanden zierten die äußeren Stuhlreihen. Nun folgte der Festgottesdienst mit der Heiligen Konfirmation und dem Abendmahl. Dann war die Zeremonie beendet und stolz erhobenen Hauptes verließen die Konfirmanden hinter Pastor Jäger die Kirche, gefolgt von der Gemeinde. Ein Jahr noch sollten sie vom Pastor betreut werden und zum Unterricht erscheinen, bevor sie von ihm entlassen wurden. Dann waren sie offiziell so weit, auch an allen Feierlichkeiten der Erwachsenen teilnehmen zu dürfen.

Beke und ihre Mitkonfirmanden waren in der Gemeinde aufgenommen. Stolz, mit gestärkten Schultern, in ihren neuen Kleidern, verließen sie die Kirche und gingen einem anderen Leben entgegen. Der Eintritt in die Erwachsenenwelt war geschafft.

Auf Burgsittensen angekommen, durfte Beke sich, wie all die Gäste auch, an den gedeckten Tisch setzen, der eigens zu ihrem Anlass in der großen Diele im Vorwerk für sie und die Gäste gedeckt war. Sie fühlte sich einfach großartig. Die Großeltern, Onkel und Tanten, Vettern und Basen, waren gekommen. Besonders freute sie sich, dass ihr großer Bruder anwesend war. Der Schmied hatte ihm für diesen feierlichen Anlass freie Zeit gegeben. Munter plauderte Claus aus seinem Arbeitsleben in der Schmiede. Schwierig sei es, die Hufe zu reinigen, wenn die Pferde allzu wild und nicht daran gewöhnt waren. Dieses erfordere viel Geduld und Geschick, genauso wie das Beschlagen derselben.

Onkel Georg aus dem Nachbardorf Kalbe sah ihn fragend an und zog dabei eine Augenbraue in die Höhe: „Junge, machst du das schon ganz alleine? Bist doch noch nicht so lange beim alten Meister Hasted.“

„So ganz allein nicht, aber ich lerne fix, sagt der Meister“, gab Claus etwas kleinmütig zurück.

Die Gespräche setzten sich unter den Gästen fort. Gertrud und Johann Behrens genossen diesen Tag sehr, denn er bot Gelegenheit, die Verwandten um sich zu haben und alle unterhielten sich prächtig. Die Großmutter war mit den Jahren etwas schwerhörig geworden. Sie nickte und lächelte unentwegt. Erst als Johann sie direkt ansprach und von den Todesfällen auf dem Hof berichtete, blickte sie erschüttert aus ihren leuchtenden flinken Augen.

Als die daheim gebliebenen Mägde das Essen brachten, wurde es stiller. Vor dem Großvater landete eine große Schüssel, prall gefüllt mit dampfenden Kartoffeln. Sein von der vielen Arbeit krummer Rücken versuchte sich aufzurichten. Sein Lächeln war das gleiche wie bei Vater und Claus, erkannte Beke. Es war der Ausdruck der Freude in den Gesichtern der Männer ihrer Familie und damit das gleiche helle leuchten in den blauen Augen.

Auf einer großen Platte wurde gegarter Weißfisch mit heimischen Kräutern serviert, gefangen im nahen Fluss der Oste. Dazu gab es Möhren und frisches Brot. Bekes Vater schenkte allen vom selbst bereiteten Most ein und sprach das Tischgebet. Danach stürzten sich alle auf die Speisen und ließen es sich schmecken.

Die milder werdenden Temperaturen weckten das Leben der Natur. Wolken und Sonne wechselten sich ab und es drängte die Menschen ins Freie. Nach dem Mahl vertrat sich die Gesellschaft die Beine auf dem Hof des Vorwerkes und in ihrer Festtagskleidung boten sie ein herrliches Bild. Die Kinder tobten nach Herzenslust, die Männer standen beieinander und redeten über die bald folgende Feldbestellung und die beginnenden Arbeiten im Moor. Die weiblichen Familienmitglieder vertraten sich die Füße entlang der hier noch schmalen Oste und am breiten Wassergraben entlang. Neuigkeiten aus Sittensen und den benachbarten Dörfern wurden ausgiebig erörtert. Auf den Höfen würde hier und da neues Personal kommen, denn nach Ostern fand der alljährliche Dienstbotenwechsel an. Überall gab es bald wieder neue Gesichter.

„Der Junge von Klindtworths Hans aus Vierden, der wird nächste Woche die Anna Schwiebert aus Stemmen heiraten“, erzählte die Großmutter. Obwohl etwas schwerhörig, schien sie doch lebhaft am Leben teilzunehmen. „Aber die schöne Brautkrone wird sie nicht tragen dürfen, wenn die beiden heiraten, denn das Kind kommt schon im frühen Herbst, sagen die Leute.“

„Oh, welch eine Schande“, warf Tante Erna ein und schlug entsetzt mit der Hand vor ihren Mund. Beke mochte die Frau von Onkel Georg, ihrem Patenonkel, nicht sonderlich. Sie wirkte verbissen und humorlos und spielte ständig den Moralapostel.

„Hauptsache ist doch, dass sie alle glücklich sind, nicht wahr, Tante Erna?“ Beke guckte ihre Tante schief an.

„Du hast doch gerade über die Sünde und die Beichte erzählen müssen, Beke! Sieh dich bloß vor, dass dich vor der Ehe kein Mann anfasst. Das ist Sünde, Beke.“ Erna betonte jedes Wort mit erhobenem Zeigefinger.

Das Mädchen zog es vor, nichts weiter zu erwidern, denn es hätte sicher kein harmonisches Ende gefunden. Doch wenn sie darüber nachdachte, kam es ihr sehr ungerecht vor. Jede Braut sollte die schöne Brautkrone tragen dürfen und nicht durch das Tragen der schwarzen Kappe zeigen müssen, welche gemeinsamen Erlebnisse die Brautleute vor der Ehe teilten.

Die Frauengruppe war beim Reden langsam weiter geschlendert und traf so wieder auf die Männerrunde.

„Du bist ein sehr hübsches Mädchen geworden“, sagte der Großvater zu seiner Enkelin. „Aber lern noch erst mal ordentlich was, bevor dich einer zur Frau nimmt!“ Der Alte griente und legte vertraut seinen Arm um ihre Schultern. Beke verstand nicht recht. Die Sache mit dem Heiraten hatte ja nun gewiss noch Zeit und zudem hatte sie daran noch keinen Gedanken verschwendet. Ganz plötzlich kam ihr ein Hamburger Haushalt wie tiefhängende Wolken wieder in den Kopf. Dieses hatte sie in den letzten Tagen gänzlich verdrängt. Vielleicht sollte sie sich doch lieber einen Bräutigam suchen, dann wäre dieses leidige Thema bald vom Tisch. Beke schaute sich vorsichtig um, ob einer der anderen das Gespräch mit verfolgt hatte.

„Was machst du für ein trübes Gesicht? Hat Großvater schlechte Scherze gemacht?“ Onkel Georg, der bei ihrer Taufe das Patenamt übernommen hatte, musterte sie mit solch einer Intensität, dass sie mit den Tränen kämpfen musste. Georg Behrens hatte einen klugen Kopf und hatte deshalb den größten Hof in Kalbe, wie alle sagten.

„Ich soll nach Hamburg zu fremden Herrschaften!“ Beke machte einen übertrieben tiefen Knicks und hob mit spitzen Fingern die weiße Schürze an. Im selben Moment fand sie es auch schon selber albern und schämte sich ihres Verhaltens. Dafür hatte sie mit diesem Thema für neuen Gesprächsstoff gesorgt, denn es gab unerfreulicher Weise doch Zuhörer. Die Eltern wurden in die Pflicht genommen, ihre Beweggründe dafür zu erläutern. Zum Glück kam in diesem Augenblick Martha mit dem Kuchen. Im Gefolge zwei Mägde, die den Kaffee brachten. Alle nahmen wieder auf der Diele am langen Tisch Platz, wohl wissend, dass dieser schöne Tag dem Ende zuging. Es hatten alle auf ihren Höfen das Vieh zu versorgen und andere Aufgaben zu erledigen, denn der nächste Tag war Karfreitag. An dem hohen Feiertag blieb die Arbeit liegen. Nur das Vieh wurde versorgt.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ alle aufhorchen und gespannt drehten sich die Köpfe in die Richtung zum Eingang. Der Generalmajor Otto Schulte trat herein. Es war unüblich, dass sich der Herr in das Gesindehaus begab. Dafür musste ein triftiger, unaufschiebbarer Grund vorliegen. Jedes Gespräch verstummte und alle starrten den Herrn unsicher und erwartungsvoll an. Sein Gesichtsausdruck zeigte Befehlsgewohnheit, dabei lag aber auch Sanftmut auf seinen Lippen und die vollen Wangen mit den darüber liegenden lebhaften Augen strahlten milde Güte aus. Unsicher erhoben sie sich von ihren Sitzen. Die Männer dienerten und die Frauen deuteten einen Knicks an.

„Ich wünsche allen einen guten Tag. Gerne würde ich mich für einen Moment der feierlichen Gesellschaft anschließen“, sagte er freundlich.

Völlig verdutzt und wortlos sahen sie den Herren an. Beke konnte es kaum glauben, dass der Herr zu ihrem Ehrentag erschien. Er trug, wie schon in der Kirche, zivile Kleidung. Wie immer, wenn er zu Hause auf dem Gut war. Eine helle hautenge Kniebundhose mit feinen Seidenstrümpfen, feine Lederslipper mit einer blanken Schnalle darauf, einen dunkelblauen kurzen Gehrock mit Weste, darunter ein weißes Stehkragenhemd und ein um den Hals gebundenes Seidentuch. Er sah nicht nur in Uniform herrschaftlich aus!

„Gnädiger Herr, wenn es Ihnen beliebt in unsere Stube zu treten.“ Johann Behrens hatte sich als erster gefasst, verbeugte sich ehrerbietig vor dem Herrn und bat ihn mit einer ausladenden Handbewegung herein. Noch bevor er darüber nachdenken konnte, wie er diesen edlen Gast empfangen konnte, war dieser schon auf Beke zugegangen. Das Mädchen hatte sich von ihrem Platz erhoben und knickste tief, während ihre Wangen rot leuchteten.

„Wie es sich wohl herumgesprochen hat, bin ich wieder zurück auf Burgsittensen und gedenke vorerst zu bleiben. Dir, Beke, gratuliere ich zu deiner Konfirmation. Du hast Dich gut präsentiert in der Kirche und das Wohlwollen von Pastor Jäger erhalten.

Deine Eltern können mit Stolz auf dich blicken.“ Dabei sah Schulte Johann und Gertrud mit anerkennendem Blick an.

Johann Behrens hatte sich langsam wieder gesammelt und bat dem Gast seinen Stuhl an.

„Wenn der Herr unser Gast sein möge, wäre es uns eine große Ehre, gnädiger Herr.“

„Danke, sehr gerne Johann.“ Damit nahm Schulte Platz und Gertrud beeilte sich, weiteres Geschirr zu besorgen, damit der Herr Schulte mit Kaffee und Kuchen bedient werden konnte. Doch konnte sie ihrem Herrn nur einen irdenen Teller mit Becher hinstellen. Gutes Porzellan gab es im Gesindehaus nicht, es hätte sich ja auch keiner leisten können. Derweil plauderte Schulte ungezwungen mit der Festgesellschaft über den Gottesdienst und das Wetter. Gerne ließ er sich von dem Buchweizenkuchen mit Bickbeermarmelade, dazu dicken Rahm, reichen und Kaffee einschenken.

„Der Kuchen ist köstlich! So wie ich ihn seit jeher von hier kenne und schon im Elternhaus aß.“, lobte er den Kuchen. Es handelte sich tatsächlich um ein über Generationen hinweg weitergegebenes Rezept aus Burgsittensen. Er spülte diesen mit einem Schluck des braunen Getränkes hinterher.

„Martha, brühe neuen richtigen Bohnenkaffee auf, für alle genug!“ Seine Betonung lag auf Bohnenkaffee. Oft genug hatte er in seinem Leben als Soldat Ersatzkaffee aus Malz, Gerste, Eicheln oder Schlimmerem trinken müssen. Doch hier war er nicht im Feld, sondern zu Hause und es war ein Feiertag. Allerdings war es laut Gesetz von 1780 dem allgemeinen Volk verboten, echten Kaffee zu trinken. Dieses war noch nicht wieder aufgehoben worden und so gab es für das untere Volk nur Ersatzkaffee. Die echten Kaffeebohnen aus den fernen Kolonien waren für die meisten Menschen auch nicht erschwinglich. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Mägde mit dem Kaffee in dampfenden Kannen erschienen. Bis dahin ließ Otto Schulte sich von den anderen Gästen berichten, was sich in Sittensen und den anderen Dörfern zutrug. Langsam verloren alle ihre Scheu vor dem hohen Offizier und adeligem Herrn, jedoch nicht den Respekt. Die Unterhaltung wurde etwas unbefangener und Schulte erhoffte sich Informationen über den Bördeort, den er in den letzten Jahrzehnten nur als Gast aufgesucht hatte. Doch die Gesellschaft verhielt sich damit sehr zurück haltend. Tratsch der Bauernschicht sollte den Grundherren schließlich nicht erreichen.