Kohlhaas - Elisabeth Plessen - E-Book

Kohlhaas E-Book

Elisabeth Plessen

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Beschreibung

Elisabeth Plessen führt uns in die Kindheit des Kohlhaas, berichtet von seinen Reisen mit dem Vater und von Kohlhaas' Frau Margarete; wir erfahren, was in ihm vorgeht, als er Stück um Stück den Glauben an die „gerechte Gewalt" verliert, bis er sich zuletzt gegen die obrigkeitliche Willkür mit „Rauben, Brennen, Hinwegführen und Schatzen" zur Wehr setzt. In Kohlhaas taucht der Leser tief in die Wirren der Bauernkriege des 16. Jahrhunderts und in das Leben der historischen Figur Hans Kohlhase ein. Wie Kleist mit diesem Stoff auf seine eigene Epoche napoleonischer Eroberungen verwies, formuliert auch Elisabeth Plessen in ihrem ungewöhnlichen und literarisch brillanten Roman unsere zeitgenössischen Forderungen nach freier Persönlichkeitsentfaltung. Ein Roman, der bei seinem Erscheinen nicht nur Lob und Anerkennung bei der Presse fand, sondern auch ein Bestseller war, der eine Generation prägte.

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ELISABETH PLESSEN

KOHLHAAS

ROMAN

BERLIN VERLAG

ZITAT

Sind also alle drey mit einander fast hoch auff den Tag hinaus geführet, und auffs Rad gelegt, darauff Kohlhase lange Zeit und über einen Monat lang frisch geblutet. Es ist aber, alsbald er gerichtet, dem Churfürsten zu Brandenburg leid gewesen, und wenns hernach hätte geschehen sollen, würde es wohl verblieben seyn.

Aus Peter Hafftiz’ Märkischer Chronik, 1595

FRONTISPIZ

Ich schreibe diese Geschichte, ich habe sie so gesehen: Auf einer Anhöhe an der Straße nach Altlandsberg standen Masten, Fahnenmasten, dicht wie Schilf und hoch, ein himmelragendes Spalier. Tote Bäume. Fernsehantennen möchte ich schreiben, denn so kommen sie mir vor, aber ich weiß, Fernsehantennen passen nicht in diese Historie. Fernsehantennen, der Anachronismus. Auf jeder Mastspitze balancierte waagerecht ein Wagenrad. Auf einem der Wagenräder lag ein Mann, auf zwei anderen saßen zwei. Sie saßen in Hemden zusammengesackt, unförmig; aus der Entfernung sahen sie wie Mehlsäcke aus. Georg Nagelschmidt hieß der eine. Da er die gebrochenen Arme nicht rühren konnte, reckte er den Kopf hoch. Thomas Meißner lag unbeweglich. Der dritte hieß Kohlhaas. Er sah durch die Radspeichen angestrengt in die Tiefe, dann, weiter im Halbkreis der Augen, auf die Ebene hin; da lagen, wo sie nur leicht anstieg, Weinberge, sonst Wald und viel Sumpf. Die weißen Wolken, die tagsüber über ihre Köpfe hingesegelt waren, waren längst fort, auch die Vögel, die sie umkreist hatten, waren fort.

Auf der Straße, die an dem Hügel vorbeiführte, näherten sich ein Mann und eine Frau. Sie wurden schnell größer. Sie gingen nach Berlin, das hinterm Hügel lag. Die Frau ging hinter dem Mann her. Sie hatten Hühner in ihren Kiepen, sie blieben stehen, um mit den auf den Rädern Sitzenden zu reden. Nagelschmidt, rief die Frau, Georg! Und der Mann leise: Kohlhaas! Dann schauten sie sich um, ob jemand sie sähe. Aber der Hügel war schon geräumt – nur Spuren, Abfall einer großen Gesellschaft, in dem die zwei jetzt herumstocherten.

Nach einer Weile rief die Frau wieder.

Nagelschmidt antwortete nicht.

Kommt in der Nacht, schrie Kohlhaas am Ende.

In der Nacht fiel Regen, und in dem Regen kam niemand mehr heraus. Wind kam mit dem Regen, er schaukelte die Räder. Die auf den Rädern froren, sie hatten Durst, sie hielten die Gesichter in den Regen und streckten die Zunge heraus.

Am nächsten Morgen, es war der vierte Morgen des großen Schausterbens, fanden sich wieder die Trödler mit ihren Karren ein, sie schlugen ihre Stände auf, der Bierschank kam, Zelte wurden aufgebaut, Buden und Marketenderstände errichtet, und eine geschlossene Kette von Wachtposten mit Schild, Visier, zu Fuß, zu Pferd, bewachte den Hügel. Und wieder hatte sich den Tag über eine Unmenge von Gaffern eingefunden, Kinder, alte Leute, Fremde, bekannte Gesichter, Nickel von Minckwitz zum Beispiel, oder ein Mann namens Herse, der auf den Lehmboden gestarrt und den Kopf nicht gehoben hatte, und wie immer bei solchen Schaulustbarkeiten schwirrte auch das Gerede über den Hügel hin. Kohlhaas galt es. Nagelschmidt und Meißner schienen denen, die nun weit ihr Maul aufrissen, nicht so wichtig.

Er war ein Marodeur, ein Friedensbrecher, hieß es. Ach was, ein Querulant war er, ein Dummkopf. Erst hat er Sachsen den Krieg erklärt, dann Brandenburg. Ein Einzelner gegen zwei Fürsten. Das kann nur ein Trottel oder ein Wahnsinniger. Wie es ausging, sieht man ja. Er war ein Städter, das war sein Problem. Nein, er war listig, hätte er sonst einen Fußgängerkrieg geführt oder zwei, so blöd wie die Bauern war er nicht. Ach, er war ja nur ein Vieh wie seine Gäule, Sie denken wohl, er hat sich durch zwei Pferde schon einen Platz in der Geschichte erkauft.

Die Fußnoten seiner Legende. Aber es waren auch Stimmen dar­unter, die nicht recht laut wurden, ängstliche Stimmen, die fragten: Und was wird aus uns armen Leuten? Was soll jetzt aus uns armen Leuten werden? Was wird jetzt aus uns? Und die so fragten, sahen scheu zu Kohlhaas hinauf.

Als es nach Mittag hieß, die Kurfürsten hätten sich angesagt, war eine noch stärker bewaffnete Wache rings um den Hügel aufgezogen. Aber die Herren hatten die aufgeregte Meute enttäuscht, der Aasgeruch ließ auch auf sich warten, und als es wieder nach Regen aussah, hatte sich die Menge davongemacht. In großen Trupps waren sie die Landstraße hinuntergezogen, gefolgt von den Karren und den Marketendern mit ihrem Zelt. Ein paar wenige waren zurückgeblieben. Georg Reiche, ein Seidenhändler aus Wittenberg, den Kohlhaas entführt und einen Monat lang verschleppt hatte. Ein nachdenklicher, gelassener Mann. Er sagte: Man rebelliert eben immer, und meinte damit sich selbst. Kohlhaas hatte ihn nicht schlecht behandelt, und Georg Reiche hatte sich Kohlhaas’ Freiheit für sich selber gewünscht. Auch zwei Ärzte standen da. Sie redeten mit einem Prediger. Bei einiger Verfassung, erklärte der erste Arzt dem Prediger, könne ein Mensch zweiundvierzig Tage ohne Nahrung auskommen, ehe er stürbe. Der andere Arzt schränkte ein. Nur müßte er trinken, sagte er, und das sei hier nicht der Fall. Wenn er nichts zu trinken bekäme, verkürzte sich die Lebenszeit beträchtlich.

Um wieviel? fragte der Prediger.

Das sei auf den Tag, die Stunde, die Minute nicht genau zu sagen, antwortete der Arzt, auch das hänge, wie gesagt, von der Ver­fassung ab, und diesen hier habe man ja die Glieder gebrochen. Und sie seien, ergänzte der zweite, Tag und Nacht jedem Wetter ausgesetzt.

Nickel von Minckwitz trat zu den Ärzten. Er war gestern schon gekommen, hatte in der Sonne gestanden, blitzend wie aus Eisen in geschuppter, geriffelter Montur, jetzt stand er lässig in einem schwarzen Mantel da, das Barett schräg auf dem Kopf. Er schaute zu Kohlhaas hinauf, und Kohlhaas sah ihn an. Minckwitz stand wie in die Luft gelehnt, er rief hinauf: Ich hab dich immer warnen wollen.

Ja, sagte Kohlhaas leise.

Die Geschichte des einen war ohne die des anderen nicht zu denken. Sie hatten den Versuch gemacht, voneinander loszukommen, aber ihre Taten kletteten sie zusammen. Margarete Kohlhaas, die sich unerkannt unter die vielen gemischt hatte, war gegangen. Sie hatte sich fortgedrückt. Sie war einzig, ihr Schmerz war einzig, sie teilte weder ihn noch ihren Mann mit den anderen. Sie ging jetzt durch Berlin, unsicher und langsam, über die Spreebrücke hinüber nach Cölln, dem Teil der Stadt, in dem sie wohnte. Sie litt und hatte Schmerzen. Ich könnte ihr behilflich sein und sie in ihrem betäubten Zustand wie eine Betrunkene behandeln, der man auch sagen muß: Komm, jetzt hier entlang und los und weiter, eins, zwei.

Nur Lucas Cranach war unter den Masten stehengeblieben. Er war schon das zweite Mal herausgekommen und hatte die drei Geräderten beobachtet. Der ausgestreckt Liegende war tot. Der Maler hatte es am zweiten Tag schon gesehen. Er hatte gute Augen. Sein Blick war auf die beiden Hockenden gerichtet. Sie starben den Tod derer, die er auf seinen Wiener Golgatha-Bildern gemalt hatte. Ich kenne diese Bilder: gefoltert, von Balken wie von Felsblöcken zerquetscht, zerbrochen unter der Last der Blöcke, die ihnen im Nacken lagen. In Wien war er dreißig gewesen, gerade die Wiener Bilder hatten ihn berühmt gemacht. Er sah es jetzt und war mit sich zufrieden. Daß diese drei, die hier im Tode und im Sterben ausgestellt waren, ihn, den Hofmaler und Bürger mit Amt, in seinen Gedanken um sein halbes Leben zurückwarfen, machte ihm nichts aus. Es war ein sonderbarer Augenblick, der bald vorübergehen würde.

Als der Maler den Galgenberg verließ, zog auch die Wache ab. Nur drei, vier Mann blieben auf dem Platz zurück, die sich unter ihren Mänteln schlafen legten, als es jetzt wirklich zu regnen anfing.

Die beiden, die noch lebten auf ihren Rädern, hatten nach Einbruch der Dämmerung miteinander geflüstert:

Kohlhaas: Hast du Herse gesehen?

Ja. Er war der Treuste.

Dem macht es nichts aus, daß sie ihm auf der Spur sind. Er war der Tapferste.

Nach langer Weile:

Hast du Margarete gesehen?

Ja. Du auch?

Ja. Aber ich glaube, sie hat mich nicht gesehen.

Sie hat alles gesehen.

KOHLHAAS’ KINDHEIT

Einen Mann aus den Wörtern pellen wie ein Ei aus der Schale; ihn freilegen. Kohlhaas zum Beispiel.

Sein Vater war ein Krämer, Detaillist und Zwischenhändler, der hauptsächlich mit Honig, Speck und Heringen handelte, nebenher mit Salz, Butter, Schmalz, Käse, Teer und Lichten und allerhand getrocknetem, gesalzenem und geräuchertem Fisch. Er war ein Cöllner Halbbürger, ein civis minoris, der mit der Familie in einer städtischen Zinsbude zur Miete wohnte. Er war zu arm, um sich ein eigenes Haus zu kaufen oder zu bauen und damit das volle Bürgerrecht zu erwerben, wofür er, für den bürokratischen Akt der Eintragung in die Liste der cives majores, nochmals eine Summe hätte zahlen müssen. Die Bude, keine von den Bretterverschlägen übrigens, die der Rat neben den einstöckigen Fachwerkhäusern auch freihielt – unterhielt ließ sich nicht sagen, denn es waren dreckige, verwohnte Löcher, an Zuwanderer vergeben oder an Leute, die wie die jüdischen Einwohner nicht die Erlaubnis für ein eigenes Haus bekamen –, die städtische Zinsbude also war Vater Kohlhaas zugewiesen worden, als er mit seiner Frau die Tore der Stadt passierte und sich entschloß zu bleiben. Unten im Haus war auch der Laden.

Vater Kohlhaas lebte wortkarg und zurückgezogen; ausgeschlossen wäre es nicht, daß er sich auf die Art abschirmte, weil er einmal ein Fremder gewesen und als ein Neuankömmling von irgendwo unter den Kiefern des Landes hergekommen war. Er besaß eine Menge kramender Fähigkeiten. Er war kein Händler mit eingezogenem Kopf. Die Residenzstadt mit einem sich ständig vergrößernden Hof und einem Beamtenapparat, dessen Ansprüche, gewiß im Gefälle zum Hof, immer breiter, differenzierter und spezieller wurden, war für einen Händler ein günstiges Pflaster, trotz der Konkurrenz nach unten und nach oben. Die Großkaufleute drückten und breiteten sich im Kauf- und Kramhaus aus, in das sie jemanden wie Vater Kohlhaas nicht einließen, und die Höker mit ihren fliegenden Verkaufsständen oder Bauchläden waren schnell, auf den Wochenmärkten, während der Jahrmarkttage, täglich an den Straßenecken.

Vielerlei war es, was der Vater dem Sohn beibrachte: obenan das Rechnen, wenngleich Kohlhaas es auf der Lateinschule weit besser lernte. Der Vater bewegte die Lippen, wenn er rechnete. Der Sohn konnte es so, unbesehen im Kopf. Der Vater addierte auch meistens laut, und falls er sogar dann nicht zu Rande kam, fluchte er, über die Zahlenkolonnen gebeugt, als hätte ihn der Zorn Gottes zu Fall gebracht, dann schob er dem Sohn die Posten zu oder sagte ihm die Zahlen an, zum Beweis, daß die bessere Bildung auch anschlage, und Kohlhaas führte zu Ende, was der Vater, ungeduldig und an die Grenzen seines Verstandes genötigt, im Moment nicht schaffte, aber fleißig und störrisch auch nicht aufgeschoben haben wollte.

Im Laden war es dunkel. Alter, vertrauter Geruch! Neben den Käserädern leuchteten die gelben Zähne des Vaters, Stumpen, ein Vorderzahn war ihm halb weggeschlagen, schon auf dem Dorf. Da gehe der Wind durch, sagte der Vater, und er verkühle sich die Zunge und den Rachen. Regungslos in den Winkeln saßen große Kellerasseln, und wenn einer dieser platten kopflosen Rümpfe plötzlich zu rennen anfing mit Beinchen wie über ein Luftkissen hin und sich ebenso plötzlich zusammenrollte, zur Seite gekippt oder auf dem Rücken, erstarrt zu einem Kiesel, einem Panzer –. Die Ratten, die es anfangs gegeben hatte, waren vertrieben. Die Asseln ließen sich nicht verjagen. Sie gehörten wie die Spinnen, die Regale an den Wänden, die Fässer, großen Bottiche und Säcke zum Inventar eines solchen Ladens. Jeder Schritt trug der Nase einen anderen Geruch zu, streng, scharf, ein wenig säuerlich, ein wenig muffig nach Holz und Fisch und Käse, frisch, wo die Butterfässer standen, nach Wachs roch es, wo der Honig stand, und verräuchert roch es bei den Aalen, Hechten, Sprotten, Lachsen.

Ich denke mir Sätze aus.

Der Vater sagte gern von sich, daß er bienenfleißig sei. Weshalb, für wen, kam es ihm nur auf die Lebensweisheit an? Darüber äußerte er sich nicht.

Klar dieser Satz: Kohlhaas’ Mutter strich nach der Mode der Zeit alle Möbel im Haus grün. Klar auch dieser, der ihre Angst betrifft in den ersten Jahren, wenn – gut, es geschah nicht oft, aber doch manchmal – der Mann mit roten Augenlidern von einem Trinkgelage zurückkam und dann mit Kohlhaas und seiner Schwester im Arm schlafen wollte. Du wirst sie erdrücken, sagte die Mutter, wie – aber nie fiel ihr der Name der Frau aus der Bibel ein, die eines ihrer Kinder erdrückt hatte. Vater Kohlhaas ließ sich von ihr nicht abhalten. Er schlief mit den Kindern im Arm, blies seinen Bieratem über ihre Gesichter, sie drängten sich an ihn, zweijährig, dreijährig, schliefen. Wahrscheinlich machte es ihnen nichts aus. Die Mutter saß vorm Bett, oder sie legte sich vors Bett, weinte und versuchte wachzubleiben und mit den Augen im Dunkeln zu sehen.

Sätze, die Kohlhaas als Kind mit anhörte:

1. »Nein« sagen ist das eine, sagte die Mutter, aber »ja« sagen ist nicht das andere. »Ich« sagen ist das andere. Dann klagte sie: als hörten die Schwierigkeiten, »ich« zu sagen, irgendwann mal auf.

2. Der Vater über sentimentale Leute. Er sagte: Es sind Leute, die immer zu spät dran sind, zu spät etwas verlassen oder aufgeben, zu spät Angst erfahren, kurz, alles zu spät kennengelernt haben. Und »zu spät« ist ein anderer Ausdruck für »zu lange«. Leute also, die zu lange an etwas gehangen haben oder sich zu lange an wen gehängt, die immer zu lange geblieben sind, die den Zeitpunkt zum Auf- und Abbruch immer verpaßt haben. Zu lange haben sie gehofft, gewartet, sich in Unbeweglichkeit stille gehalten. Der Vater sagte: Nimm dein Bett und geh, und du bist König.

3. Der Vater sagte von irgendwem: Er kommt nicht aus seinen vier Wänden, wie eine Frau. Er setzt nicht sein Leben aufs Spiel.

Sondern? fragte die Mutter, wessen Leben?

Er wirft sein Leben weg, ohne etwas mit ihm angestellt zu haben.

Das kannst du so nicht sagen, sagte die Mutter, er hat eine Vergangenheit, du hast doch auch eine.

Was hat das damit zu tun?

4. Margaretes Mutter klagte, daß sie ihr Leben versäße.

Was meint sie damit, fragte sich Kohlhaas. Sie steht doch viel mehr, als daß sie sitzt, sie steht, wenn sie mit ihrem Mann oder mit Margarete die Flachsbündel riffelt, steht, wenn sie die Stengel wässert, nach dem Wässern steht sie, wenn sie die Stengel in der Sonne auslegt, auch beim Brechen und Schwingen steht sie, sie sitzt doch nur beim Hecheln und wenn sie die langen Fasern bürstet und zur Docke dreht. Soll ich sie fragen?

5. Wir pfeifen auf dem letzten Loch, sagte die Mutter zum Vater. Wir pfeifen auf dem letzten Loch, sagte Margaretes Mutter zu ihrem Mann.

Margarete glaubte ihnen, nur hörte sie sie nicht pfeifen. Kohlhaas hörte auch nichts, er sah auch nicht das Loch, und da der Satz sich wiederholte, ohne daß sich etwas änderte, sagte er sich bald: Alle Tage sind die Eltern am Verhungern, Erwachsene verhungern jeden Tag, liegen jeden Tag im Sterben, alle Tage sind sie tot, selbst die Fliegen sterben zäher. Wann stirbst du? Er hielt eine Eschenrispe in der Hand und zählte ab: Vater, Mutter, die Schwester, ich, Vater, Mutter, ich-ich-ich. Ich will es anders machen, dachte er, nichts will ich machen, was es schon gibt, ich will etwas Neues machen und rede nicht davon.

Kohlhaas und Margarete kannten sich schon als Kinder. Ich denke über den Satz nach, da erschreckt er mich fast. Er klingt traurig. Es liegt am schon. Als wäre damit bereits alles vorbei und zwischen ihnen entdeckt: Margarete und Kohlhaas hätten sich für alle Zukunft auskundschaftet und könnten nur noch gewohnt und reizlos nebeneinanderher leben. Schon: die Vorwegnahme.

Margarete war die Tochter eines Cöllner Leinewebers. Sie wurde ernst geboren wie andere mit einem zu kurzen Arm. Sie zwirbelte in ihren Haaren, dünnen, verklebten, schwarzen Strähnen, vom vielen Zwirbeln ständig verfilzt. Ihre Mutter kämmte und kämmte, gab es auf, dann zog sie den Kopf der Tochter wieder zu sich heran, und Margarete schrie und drängelte. Zwei nackte Füße im Sommer, gekrümmt und gegeneinander gerieben, als sollte der eine den anderen verstecken. Das Auffallendste an ihr waren die Augen. Sie standen weit auseinander und waren grün, wie Mandeln geschnitten. Sie hatte ein Steppengesicht, Gesicht von weit her mit hohen Jochbeinen.

Hüte dich vor grünen Augen – eine Lebensweisheit des Vaters. Grün wie Schilf, das Meer, ein Apfel, grün wie die Dämmerung, ein Gesicht im Nebel, wie die Seele, grün vor Zorn, krank, was hast du gegen grüne Augen – die stumme Frage des Sohnes.

Hüte dich vor grünen Augen, wird Kohlhaas’ Vater sagen, Frauen, die grüne Augen haben – und eine Handbewegung machen, die andeutete, wie nicht geheuer ihm bei dem Gedanken war. Der Vater war bestrickt.

Die Fischgeschichte. Boden unter die Füße.

Kohlhaas warf Margarete die Heringe seines Vaters nach. Achtundvierzig Heringe klatschten in den enkeltiefen Straßendreck und lagen da und glotzten sie an. Sie hob ein paar auf und warf sie zurück. Sie traf besser als er. Den Rest klaubte er wieder auf und sagte, er habe die Heringe alle gefangen. Sie lachte: Heringe in der Spree. Dann tauchte er alle Fische ins Wasser, wusch ihnen den Dreck von der Haut, übersalzte sie neu und reihte sie wieder auf dem Brett auf, das sein Vater als Auslage über die Heringstonne gelegt hatte, um zu zeigen, wie groß und fett die Fische waren.

Weiter wußten sie nichts miteinander anzufangen, standen voreinander – verhemmt. Was zuvor ganz leicht und selbstverständlich von einem zum anderen gegangen war, war fort, ein Gefühl von etwas Feindseligem und Hinderlichem hatte dem Platz gemacht, und Margarete wäre am liebsten gesunken, tiefer und tiefer, weg aus Kohlhaas’ Augen, um einen Halt zu finden.

Sie schwiegen. Cölln war zwar ein Nest, die zwei konnten sich gar nicht verfehlen, aber daß sie sich jetzt so fehl am Platz voreinander fühlten, hatte nun wieder mit dem Nest nichts zu tun. Hätte die Stadt vier Millionen Einwohner gehabt, hätten sie nicht anders dagestanden. Kohlhaas stellte sich wieder hinter dem Brett auf, den rechten Fuß auf einem Hocker, die linke Hand in die Hüfte gestemmt, breitspurig – eine Haltung, die er seinem Vater abgeguckt hatte –, und er tat, als warte er auf Kunden. Er war der Poseur, der große Dumpfe, der Margarete innerlich auf und davon jagte. Er spielte ihn, weil sie da war, und er sah an ihr, die inzwischen in der Ladentür lehnte und ebenfalls wegsah, vorbei auf die Straße, nicht mit dem unbestimmten glasigen Blick wie sie, sondern so, als hätte er in der allergrößten Entfernung die allergrößte und aufregendste Entdeckung gemacht, die seine versammelte Aufmerksamkeit anzog, und um nichts von dem, was sich dort abspielte, zu verpassen, zögerte er sogar noch das Wimpernzucken hinaus. Wäre jetzt jemand gekommen und hätte Margarete gefragt, worauf sie warte, so hätte sie keine Antwort gewußt.

Wäre es anders nicht auch fade? Nervtötend fade, werfe ich ein.

Margarete verglich sich mit Kohlhaas. Er war vier Jahre älter als sie. Ihr kam es vor, als seien sie durch Welten getrennt, als habe er einen unaufholbaren Vorsprung vor ihr, und sie verspürte die Lust, ihn zu überflügeln. Kohlhaas konnte sie bedrängen, daß ihr der Atem stockte. Trotzdem zog es sie immer wieder in seine Nähe. Sie hetzte sich gegen ihn auf, dann wieder machte sie sich über einen Blick oder ein Wort oder ein Lachen her wie über einen Schatz und wog und wog, was unwägbar blieb. Die Lügen der Zeichen. Ihr Gefühl führte sie im Kreis.

Als Margarete vierzehn Jahre alt war, sprang sie in die Spree. Es war eine Mutprobe, die Kohlhaas ihr abverlangte. Er wollte seinen Freunden beweisen, wieviel Macht er über sie hatte, und er beeindruckte sie nachhaltig. Sie sahen Margarete im langen Kleid im Wasser liegen, dann prustend wie ein junger Hund sich auf die Fischerboote und Pflöcke zubewegen, das erste Boot packend, sich an seinem Rand entlangziehend, bis sie den Steg erreichte und am Kai der Fischerbrücke an Land ging. Keuchend stand sie da, strich sich die Haare aus dem Gesicht, wrang das Wasser aus dem Rock und zupfte sich das Kleid von der Brust, aber es klatschte gleich wieder fest. Als sie zum Mühlendamm hinübersah, hatten sich dort inzwischen eine Menge Leute versammelt, die herüberguckten und sie verlachten. Sie fluchte vor sich hin und schämte sich und beschimpfte Kohlhaas: Du Hengst, du Drecksack.

Ihrer Meinung nach war er ein Fleischbrocken mit Augen. Sie übertrieb. Er wuchs sich zurecht. Wann stieß er in den Himmel, fragte sie sich, irgendwann mußte er doch in den Himmel stoßen, oder er beugte sich vor, und wenn er schrumpfte? Die alten Leute schrumpften.

Als sie heirateten, war er einen Kopf größer als sie.

Als Junge wollte Kohlhaas Fisch sein. Nickel von Minckwitz lachte ihn später dafür aus, als sie sich trafen: zwei erwachsene Männer, Aufrührer, die Erinnerungen austauschten. Fisch – das angepaßteste aller Tiere, sagte Minckwitz. Er hatte nie solche Wünsche gehabt, in denen er sich in eine Tierhaut stecken wollte. Er hatte nur immer herumkommen wollen: weit, weit herum, aber natürlich als der, der er war, und er erzählte Kohlhaas von seinem Vater und den Brüdern und wie sie auf dem Familienschloß aufgewachsen waren, mit einem Priester als Erzieher, ohne Mutter, die war bei der Geburt ihres letzten Kindes gestorben.

Zur Schule gehen und Fisch sein wollen, hing zusammen. Der Klassenraum war finster, was ihn einem Kerker vergleichbar machte, aus dem kein Blick auf die Straße fallen konnte und keiner an den Himmel. Der Lehrer dozierte von einem hohen Pult herab. Vor ihm eine Horde von Jungen aller Altersklassen. In Kittel und Mützen saßen sie da und umringten ihn, den Rutenschwinger, in ihren Bänken. Das Rutenbündel, das er schwang, war fast so dick wie ein Gartenbesen. Wenn es zu Hause keine Prügel gab, so lernte Kohlhaas sie hier kennen. Wer nicht gelernt hatte, bekam zur Schande den hölzernen Eselskragen umgehängt. Jeder, der ein Wort Deutsch statt Latein sprach, wurde mit dem Wort Wolf angezeigt, und über jedes Sprachvergehen wurde Buch geführt. Wolf du selber, Esel du selber, lehnte Kohlhaas sich im stillen auf, und er malte sich aus, wie er dem Lehrer den Holzkragen so umhängte, daß er ihn nie wieder los würde. Je roher der Lehrer war und je mehr er ihn fürchtete, desto leichter fiel es Kohlhaas, ihn wegzudenken. Er sah sich durch die Schulmauern hindurch, sie waren aus Glas, alle Häuser waren gläsern, er hatte Einblick in alle Wohnungen, vom Schloß bis zu den Gefangenenzellen im Turm. Cölln war ein Nest, er brauchte nur einmal Luft zu holen, und mit einem Blick und angehaltenem Atem war er innerhalb der Stadt herum. Er starrte in die Spree, die dicht am Haus vorbeifloß, er starrte den auf den Straßen frei herumlaufenden, hochbeinigen mageren schwarzen Schweinen nach, auf ihrem Weg von einem Misthaufen und Abfallplatz zum nächsten, auch nachts liefen sie frei und streunten um die Häuser, Kohlhaas jagte sie, und er starrte zum Schloß hinauf, das einen grünen Hut hatte auf einem Turm, wahrscheinlich war die Luft dort oben reiner.

Patsch! Der Lehrer fuhr dazwischen.

Grüß dich, Esel.

Er sah alles zugleich. Er hatte keine Angst mehr, wie damals, als er mit fünf Jahren zum ersten Mal mit seinem Vater in einem Fischerboot über einen See im Norden der Stadt gefahren war und nicht nur gedacht hatte, daß er ertrinken müsse, weil eine Bö ihr Fahrzeug auf die Seite drückte, sondern auch, daß er mitten auf dem Wasser ersticken werde, denn der See war umschlossen von einem dichten, undurchdringlichen Schilfgürtel, dahinter erhob sich die Mauer der Bäume. Der See war ein Auge, und er, Kohlhaas, der winzigste, hilfloseste Punkt in ihm, und er fürchtete, der See schlösse die Lider.

Huckepack trug ihn der Vater vom Steg an Land. Kohlhaas sah das Dorf erst, als sie schon fast angelangt waren, so sehr fügten sich die schilfgedeckten und mit Brettern verschlagenen Fischerhütten unter die Bäume und gegen den leicht ansteigenden, von Farnkraut bewachsenen Hang. Kohlhaas hatte ungläubig und ängstlich wie auf eine Erscheinung auf die Häuser gestarrt, eine Erscheinung, die ihm jemand wieder nehmen könnte. Jetzt sah er dem Wasser bis auf den Grund, und er sah alle Fische darin, er war sie alle und konnte, was sie konnten: stand lautlos am Grund wie sie, glitt lässig in Bögen, trieb dahin, nur ab und zu ein Schwanzschlag, plötzlich jagte er los, stieg, sprang blitzartig.

Patsch! fuhr der Lehrer dazwischen.

Und Sie sind zurückgefallen, immer wieder, sagte Nickel Minckwitz.

Fische sind lautlos, sagte er, laut nur auf der Grenze, beim Durchschnellen, Durchspringen der Wasseroberfläche, im Zwischenbereich von Wasser und Luft, also nur für den Blitz einer Sekunde. Das reicht nicht aus. Nur auf ein paar Qualitäten ist Ihr Fischvergleich übertragbar. Ein Fisch mag schwimmen, das ist subaltern. Er kann nur schwimmen; an Land, in der Luft, da kommt er um, erstickt.

Also was fehlte an dem Vergleich?

Nichts. Er taugt nicht weiter. Wollen Sie für alle Ihre Narrheiten vernünftige Erklärungen finden?

Sind Fische nicht frei? Patsch! fuhr der Lehrer dazwischen.

Ja, zum Gefangen- und Gegessenwerden sind sie frei. Aber Sie sind kein Fisch, Sie sind nicht subaltern, Sie sind nicht lautlos. Sie empören sich laut und groß, weil Ihnen ein Stück Freiheit genommen werden soll, auf das Sie Anspruch haben.

Kohlhaas ließ sich die Jungenträume nicht nehmen, nur weil irgendwelche Lehrer dazwischenfuhren. Sollten sie auf ihn einschlagen, seine Phantasien gehörten zu ihm wie die Luft, die er einatmete. Er dachte in seiner Bank, wie ich am Schreibtisch, es wird auch andere Menschen geben, die nicht so sind wie sie. Ich finde sie, wenn ich groß bin und entscheiden kann, mit wem ich Umgang haben will. Wann bin ich groß? Groß sein hieß, daß man sich zu verteidigen wußte; daß er sich jetzt schon darauf verstand, sagte ihm niemand.

Der Vater fuhr viel aufs Land, um billig einzukaufen, betrieb auch ein wenig Tauschhandel dabei, tauschte Teer und Lichte gegen Speck oder Salz gegen Honig und Honig wieder gegen Fisch, und war alles eingetauscht oder verkauft, wurden Kenntnisse und Nachrichten verkauft, und wer nichts zu verkaufen hatte, hörte nur zu. Kohlhaas begleitete den Vater. Sie fuhren, sie gingen, sie ritten: Im Wechsel fühlte Kohlhaas sich frei. Vater und Sohn auf dem Weg nach Oderberg oder Wriezen beispielsweise, in Gesellschaft anderer Fuhrleute oder allein. Ungewiß, wann und wie sie wiederkehrten, nach drei Tagen, acht Tagen, zwei Wochen oder ob überhaupt. Der Vater kannte alle Wege, und wenn sie unpassierbar waren, kannte er die Umgehungsstrecken. Kohlhaas kannte noch nichts, ungeduldig nahm er wahr, was er geradeaus und seitlich sah, und wandte immerfort den Kopf zurück, nicht wie ein Hase auf der Flucht; nicht aus Furcht, jemand könnte ihn aus dem Graben oder dem Gebüsch heraus mit einem Satz in den Nacken springen, ihn vom Pferd reißen, strangulieren und ihn dann ins Kraut oder weiter unter die Stämme verschleppen, dorthin, wo die Bäume leuchteten. Er konnte sich einfach nicht von den Ansichten trennen, durch die er fuhr oder ritt. Er orientierte sich. Der Vater befaßte sich nicht mehr mit solchen Nebensachen. Der saß zerrauft oder lässig auf seinem Pferd.

Moore, Moder, Sumpf, dann wieder Wald, Wald, Wald, und ab und zu die Furt eines Flusses, ein Bach, eine Brücke, ein See, ein einsam gelegener Hof, kleine Dörfer. Die Moore und Sümpfe faszinierten Kohlhaas – üppig überwuchernd, beunruhigend feucht, aber auch falsch und tödlich sich schlingende Gegenden; unbegehbares Gebiet, nur noch für Rohr und Schilf und schlanke hohe Bäume und für Vögel da. Kohlhaas sah sich um, er lauschte: Hier begann das andere. Er streifte gleitend hindurch, nur mit den Augen eingelassen. Flache Wasser: blinde Pfützen. Die schwarzweißen Stangen der Birken. Die Unmenge toter Bäume. Unzählige gestürzte, die noch einmal ausgeschlagen hatten. Tödliche Ordnung. Wildeste Ordnung. Sie ließ sich nicht niederrennen. Die Agonie der Bäume! Das Geschling der Ranken. Der Sumpf verschlang Kohlhaas. Die Lanzetten des Schilfs, die Klingen des Schilfs, verflochten, unentwirrbar vermengt. Schilfhalme im Mondlicht. Wo Schilf wächst, ist niemand. Das Geheimnis des Schilfs lösen. Denkt man immer an die Vergangenheit, wenn man Schilf sieht oder an Schilf denkt? Man? Er oder ich. Kohlhaas oder ich. Ich überlege es mir. Ich. Mein Hang zur Schwermut manchmal. Schilf, eine Pflanze auf der Schwelle, Grenzsteherin, die Kohlhaas die Schritte verlegte, doch ohne ihn dabei zu täuschen, im Gegenteil, sie warnte ihn.

Vater und Sohn, die Fuhrleute: Sie waren ziehende Punkte in der Öde der überfrorenen Moore, ziehende Punkte in der Öde der verschneiten Moore, in der Öde der Moore voller Ginster. Ziehende, wandernde Mittelpunkte. Und immer wieder Kohlhaas’ zurückgewandte Augen. Dieses Spiel, aus dem sich erfahren ließ, daß es ein großer Unterschied war, ob man einen Weg, eine Straße, einen Flußlauf nur in einer, der eigenen, Bewegungsrichtung verfolgte und sich einprägte oder sie ebenfalls in entgegengesetzter Richtung mit den Augen abtastete und zurücklief. Selbst wenn er, erklärte Kohlhaas später Christian – so hieß sein erster Sohn –, nur die eine Strecke gekommen sei, kenne er genausogut auch die andere, er habe im Rücken auch Augen.

Es war ein Spiel, möglich, weil der Vater ihn in Ruhe ließ. Nur, wer verfällt auf welche Spiele und mit welchem Witz? Wer, glaubst du oder bildest du dir ein, verschwört sich gegen dich, daß du das mußt? Niemand Bestimmtes. Gar niemand. Als Person ließe sich niemand nennen, denke ich. Kein Name fiel. Es wäre Blödsinn, etwa einen der Jungen, mit denen Kohlhaas sich prügelte, einen Lehrer oder wen immer, vor dem Kohlhaas Angst hatte, ins Schilf und in den Wald zu setzen, wohin sie sich niemals verliefen. Kohlhaas entwarf sich, er probierte sich aus, er taugte nicht zum Kopisten dessen, was war. Abhängen – das Zauberwort.

Ich spiele eine Weile mit ihm. Genug. Jetzt etwas anderes. Ich rücke ihn weit ab von mir, ich staune ihm hinterher, spiele jetzt das Fragespiel weiter: für etwas Sinn haben, das sich nicht vom Platz rührt; seinem Gedächtnis Merkmale zweier Wege in einem Weg einprägen, auf was deutet das hin? Eine Möglichkeit zumindest: auf spielerische Ausschaltung von Zufällen und zufälligen Erscheinungen – die Menschen, der Vater, die Fuhrleute, auch die Pferde, Wagen, und wer immer ihnen begegnete, waren Kohlhaas nicht wichtig. Er vergaß sie, wenn er mit den Augen suchte, denn sie gehörten nicht zu den charakteristischen Merkmalen entlegener, unberührter Gegenden. Und viele Jahre später, als Kohlhaas durch die Moore und die Wälder zog, gesucht, gejagt, bekam das Spiel einen anderen Sinn.

Kohlhaas war wenig mitteilsam nach solchen Reisen. Am liebsten setzte er sich auf die Bank vorm Haus oder in irgendeinen ungestörten Winkel und dachte nach. Aber wohin er sich auch steckte, die vielsagenden, aufmunternden Blicke der anderen, die in der Stadt bleiben mußten – ewig Zurückbleibende mit einer unersättlichen Neugier –, sie zogen ihn wieder hervor, und dann kam er sich vor, als solle er beichten oder Rechnung ablegen über die verflossene Zeit, und er wandte seinen Blick zur Seite; konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen, nicht ihm die Entscheidung überlassen, nicht warten, bis er von sich aus redete, bis für ihn die Dinge, die er erlebt hatte, ungefähr abgeschlossen waren? Wie sollte er antworten, da ihn die Fragen stießen und er unter dem Druck der Fragen zerstreut wurde und alles vergaß? Er zeigte den breiten Rücken und machte sich davon. Nach einer Weile kam er wieder, schon halbwegs bereit, den Mund aufzumachen. Er wollte niemanden zurückstoßen. Mit unruhig hin und her wandernden Augen, ohne jemanden dabei anzusehen, erzählte er, stockend, hastig, und wenn er so hastig sprach, räusperte er sich auffallend oft.

Er sah seine Schwester an, die Freunde, die Lehrer – hatte er sie mit seinem Geholper zufriedengestellt, ließen sie ihn laufen? Merkten sie nichts? Er selber war bei weitem nicht zufrieden mit dem, was er so herausgebracht hatte. Er sagte beispielsweise: Es war sehr heiß, als wir den Wald passierten, und hatte für sein eigenes Gefühl nichts mitgeteilt, zumindest nur Oberflächliches. Es war doch anders gewesen, alle Sinne waren beteiligt, eine Eröffnung war es gewesen: der Wald, die Kiefern, die Sonne, die Schlangen, das Gebrüll der Grillen, anschwellend, abschwellend, auf den Wegen stürzten die Käfer, braun, schwer trunken, die Skala der Gerüche, herb, harzig, würzig, süß, die Käferwracks im September, die Zeit, in der das große Käfer- und Schmetterlingssterben begann, vorzeitig die Hitze und wie der Wald brütete, der Teppich der Nadeln … Aber wen interessierte es so? Er war unbeholfen, und es quälte ihn.

Er hatte sich ausgemalt, er könne die Sonne drehen und jede Wolke, jede Nacht. Er hatte geglaubt, wenn er nicht an die anderen denke, würde auch keiner von ihnen an ihn denken.

Aufsässige Gedanken trieben durch seinen Kopf, während er lernte zu entsprechen, erst einmal nichts anderes als zu reden, viel unnützen Kram zu reden, das gehörte dazu, zweifellos auch das: zu beschreiben. Seine Eindrücke mit seinen Sätzen unter einen Hut bringen, Aussagesätze machen, Pausen machen, aller Aufmerksamkeit spannende Pausen machen, das war nicht leicht, und obendrein, wie ich es kenne, mühelos und selbstvergessen, wie ein Schauspieler seinen Körper in eine Fülle von unterschiedlichsten, lässig hingespielten Bewegungen bringen, das schaffte er ebenfalls nicht. Was ihn am zügigen Reden und Beschreiben hinderte, waren die Bilder in seinem Kopf, sie fesselten den Redefluß, brachten ihn ins Stocken und Stottern, und daß er da keine Übereinstimmung erreichen konnte, machte ihm viel mehr zu schaffen als alle unter Seitenblicken oder mit den Händen in den Taschen überlegten Erzählungen seiner Erlebnisse. So konnte er nach einer Weile lang und breit oder verknappt – es kam auf das Interesse seines Gegenübers an – von den Kaufabschlüssen mit den Wriezener Fischern berichten oder von den Oderfischern aus Stettin, die die frischen Heringe stromaufwärts bis Oderberg gebracht hatten, und er konnte berichten, wie es in Finow, Eberswalde, Freienwalde, Hohenwutzen und anderen Ortschaften ausgesehen hatte – und fand es langweilig und kam sich dabei nur eingefangen vor und aufgestellt: ein abgestochenes Schwein auf den Brettern vor den Häusern im November, wenn Schlachtzeit war – Kopf nach unten, aus dem das Blut noch rann, eine Schüssel fing es auf, mit gespreizten steifen langgezogenen Beinen, und sein Gedärm hing heraus: Er war ausgenommen, der fremde Blick spazierte an den Rippenbögen, eindeutig, saubergekratzt war dort alles, auch wo das Herz gewesen war, in der Höhle, der Antrieb, sein Geheimnis – geplündert, fort, verspeist. Kohlhaas war leer, wenn er so berichtet hatte.

Die heranrasende Sonne, die überfüllten Aquarien des Himmels, das fliegenbesetzte Auge des Pferdes, der suppende Stelzfuß des Bauern – diese Dinge gingen ihn an, aber davon redete er nicht.

Er wurde ein großer Schweiger.

Seiner Mutter hörte er gern zu. Bei ihr stimmten die Sätze mit ihren Empfindungen und Phantasien überein. Sie erzählte von Städten, in denen sie nie gewesen war, von Flüssen und dem Meer, das sie nicht kannte. Sie zog die Städte zu einer Stadt und alle Flüsse zu dem Fluß zusammen. Netze voller Fische hingen hoch wie durchsichtige große Tücher über dem Wasser. Sie erfand den Regen der Fische, das Prasseln eines Sturzregens, die Katastrophe eines Glücksregens, der niemals aufhörte (so wie im Mai über dem Land der Lindenduft lag und auch nicht aufhören sollte), der Himmel verdunkelte sich, ein Regen, der stiebte, nicht länger für ein paar wenige, die wiederum ein paar anderen gegen Wasserzins und Hühnerzins und Geld und Fische, Herrenfische oder Dienstfische, erlaubten, in ihren Gewässern zu fischen, wobei auch die Art ihrer Fischerei und die Werkzeuge, die gebraucht werden durften – Holzreusen, Flügelreusen, Ballreusen, Stromwehre, Bruchwehre, Flocken, Hamen, Angeln, großes Garn, kleines Garn, Stocknetze, Güsternetze, Pufferte, Lamen, Bleinetze, Barschnetze, Plötznetze, Aalreeps, Hebekörbe, Kescher und wie die Geräte alle hießen, die Größe der Maschen in den Netzen und die Zahl der Fischzüge festgesetzt waren. Die Welt war nicht, sagte die Mutter, um eines, zweier oder mehr Menschen willen erschaffen, sondern um aller Menschen willen, wie denn Gott seinen Sohn auch nicht um eines, zweier, dreier oder mehr Menschen in den Tod gegeben hatte, sondern um aller Menschen willen.

Kohlhaas hörte ihr zu. Woher wußte sie das alles, sie war doch in der Stadt geblieben. Sie steckte sich das Ohrläppchen ins Ohr und horchte auf das Rauschen. Hexe! Sie konnte Warzen besprechen. In den Dörfern lernte man das. Er hörte ihr zu und hatte ein Gefühl, als wäre er der Mutter um Jahre voraus an Welterfahrung. Da mußte er sie, die Mutter, und ihre Märchen beschützen, damit sie nicht in seiner Erfahrung vergingen, unwiederbringlich vermischt, wie ein Regentropfen, der ins Wasser fällt. Er merkte, wie er in einem die Zeit raffenden Tempo älter wurde, um sie zu bewahren. Er sah seine Mutter an, auf ihrer Nase verlor sich der kleine graue Hautschimmer, das Zeichen, daß sie alterte, er dachte nicht mehr erschrocken, daß sich nach und nach von der Nase her die Fältchen über ihr Gesicht ausbreiten mußten, bis ihre Züge sich, wie er es oft bei alten Frauen sah, in einem einzigen Gefältel verloren. Das Grau war fort, die Poren auf der Nase, die schon zu kleinen schwarzen Kratern wurden, schlossen sich, die Haut wurde wieder sanft und glatt, das Gesicht um Jahre jünger, am Ende war die Mutter seine Tochter. Er hatte eine Tochter – eine Tochter, und er beschützte sie. Er sah sie an, während er ihr zuhörte, und fragte sich, wieso das so war, aber es war ihm ja recht, es war ihm ja lieb.

Eine Zeitlang wollte Kohlhaas Fischer werden. Ostseefischer, Oderfischer oder Flößer auf der Oder.

Das war ja nun wohl das Trostloseste, fand die Mutter. In einer Schilfhütte?

Ja, sagte er.

Daraus wird nichts, sagte die Mutter. Fischer! Mein Sohn – Fischer! Du weißt nicht, was sie alles müssen.

Mit Ostsee- und Oderfischern kannte die Mutter sich zwar nicht aus, dafür mit Kiezern und Binnenfischern, das reichte, fand sie. Für diese Leute mußte noch erst ein Name gefunden werden – die Wenden unter ihnen gehörten zum Wasser, und wenn das Wasser von einer Hand in die andere wechselte, gingen sie mit ihm wie die Fische, die sie fischten, durch die Hände der Besitzer, verkauft. Wie konnte man überhaupt so mit dem Wasser verwachsen sein! Und für die anderen war die Dienstpflicht mit dem Leibe zu Wasser und zu Lande, wie es in den Verordnungen ihrer Herren hieß, wann und wozu sie erfordert werden, das ganze Jahr durch alle Tage, unbeschränkt. Sie waren landesherrliches Gesinde, reinigten die Gemächer in den kurfürstlichen Schlössern, halfen in der Küche, hackten Holz und flößten das Bauholz die Flüsse hinab, sie mähten die Wiesen, bepflanzten Gärten, halfen in der Ernte und fuhren das Korn mit ein, halfen mit, die Weinberge zu pflegen, waren verpflichtet, das Bier, das auf dem Schloß gebraut wurde, in den Keller zu bringen, räumten die Befestigungsgräben im Sommer, im Winter enteisten sie sie, alle herrschaftlichen Briefe stellten sie bis zu zwei sächsischen Meilen Weges zu, und sie hatten den Vogt, den Amtmann und wen immer, der der Herr war, bis zu zwei sächsischen Meilen weit auf dem Wasser zu fahren, leibeigen, hörig. Sie wurden verhandelt wie unbewegliches Gut. Wenn sie fischten, sollten die Ruder die festgesetzte Länge haben. Komm keiner dem anderen im Grenzwasser zu nah, wer es tut, dem soll man die Netze pfänden, und man soll bei seiner Herrschaft Klage gegen ihn erheben. Mit mehr als zwei Netzen sollt ihr nicht beieinander fischen, wenn mit dem großen Garn gefischt wird. Nur so weit dürft ihr fischen, wie das Rohr an eurer Seite geht. Hütet euch, in die Zugwasser zu geraten. Wer dawider handelt, fällt in eine Geldstrafe von … oder so und so viele Wochen in den Turm, oder er muß die Stadt verlassen und darf nicht mehr Fischer sein.

Nein, Fischer sein, war nichts.

Und um Kohlhaas auch jeden Einwand zu nehmen, den er sich aus den Gleichnissen herleitete, wie er sie im Religionsunterricht auf der Lateinschule hörte, erzählte die Mutter ihm auch die Geschichte von Christus, dem Menschenfischer. So wie sie sie verstand.

Die Orgel gellte, die Orgel schrie, die spanischen Trompeten – er ist ein Fischer, der sich verkleidet, er muß es, sagte die Mutter, wer will schon Fischer sein. Er zieht sich wie ein Bauer an und geht zu den Bauern. Die Bauern höhnen, sie jagen ihn davon. Ein gutes Fischjahr ist kein gutes Kornjahr, und sollten die Gewässer verlanden statt ihr Land zu überschwemmen. Christus kam in die Stadt als fremder Advokat, als Händler, als Höfling, sogar als Prinz, alle Leute sahen ihm ins Gesicht: die Augen trieften plierig, sie sahen auf die knorrigen Hände, die Fingernägel, die dick wie Pflugscharen und gespalten waren, war das ein Advokat? Ein Prinz? Sie sahen auf seine schweren Füße, Kloben trug er, aber Schuhe? Sie musterten sein Kleid, sie rümpften nur die Nasen. Der Mann, der vor ihnen stand, stank aus allen Poren und durch jeden Stoff hindurch nach Fisch. Sah er nicht auch wie einer aus? Nein, schrien sie da alle, dies Elend? Nein.

Die Kindheit abschreiben, kann niemand fordern, oder man kann es, und es wird nicht gehen. Sie ruft sich immer wieder und nicht nur wie Trödelkram, verstaubt und aufpoliert, ins Leben, als permanente Gärung von Wünschen, als Wucherung, als Duft wie der Kohlhaas’sche Laden mit seinem dunklen Geruch. Sie kann anstehen, aber sie führt weiter, plötzlich kann sie losrennen wie das Gewimmel der Asseln, dieses schwarze Heer, das dann bäuchlings und rücklings lag und die Beinchen sträubte, aber sie rinnt nicht aus, sie überlebt, Kohlhaas’ Fundus. Ganz am Ende verlief sie sich wie bei seinem Vater, als der viele Jahre später klagte: Mein Kopf rinnt mir aus, er rinnt und rinnt aus mir heraus, gebt mir einen Spiegel, daß ich sehe, wie er ausrinnt. Margarete reichte ihm den Spiegel, und er sah hinein und fragte, wer das ist, dieser Sack, aus dem er rinnt – Mehl, Korn, Bohnen, Bohnen, weiße Bohnen. Er starb, er erstickte in der immer höher steigenden Flut der weißen Bohnen.

ÜBERBLENDUNGEN

Mit vierzehn Jahren war er schon ein junger Mann in meinen Augen: schön, jung, biegsam. Was wußte er davon. Heftig, spielend ausgepfiffen, das empfand er: trügerisches Feuer. Vierzehn Jahre war er alt, als der Kurfürst die Juden aus der Mark trieb: 1510. Kohlhaas verlor zum ersten Mal Freunde, heimliche Freunde, er hatte sich mit ihnen nur verstohlen treffen dürfen. Der Eid, den ihre Väter sprechen mußten, hieß sie schwören, nie wieder wollten sie ins Land kommen, und auch jeden der ihrigen wollten sie warnen, in die Mark zu ziehen, denn er verlöre dort sein Hab und Gut und auch das Leben.

Ein Federstrich Kurfürst Joachims I., und Kohlhaas verlor. Das empfand er: trügerisches Feuer.

Das Vermögen der Verjagten wurde eingezogen, viele hoch verschuldete Herren waren wieder Herr im eignen Haus, auch die kurfürstliche Kasse büßte dadurch, daß die bisher von den Juden gezahlten Schutzgelder fortfielen, nichts ein. Die erhöhte Steuerfähigkeit der anderen machte den Ausfall wett. Kurfürst Joachim I. war bekannt für seine Geldgier. Er sei ein teuflischer Mensch, hieß es, mit dem nur über gemünztes Silber zu verhandeln sei, der Vater aller Habsucht, so blind vor Habgier, hieß es, daß er dabei seine Ehre vergesse.

Was wußte Kohlhaas davon! Trügerisches Feuer.

Die Nachbarhäuser standen leer, Kohlhaas mochte sie nicht ansehen, er betrat sie nicht. Die in ihnen gewohnt hatten, waren mit ein paar zugelassenen Habseligkeiten aus der Stadt gezogen, keiner wußte genau, wohin, nur die Himmelsrichtung war bekannt: nach Osten. Nach Polen? fragte sich Kohlhaas, wohin? Er ging durch die Straße und sagte: Salomon ist fort. Moses ist fort. Ya’akov ist fort.

Und wie Kohlhaas seine Freunde verlor, so verloren Salomon, Moses und Ya’akov ihre Väter. Die Väter waren mit sechsunddreißig anderen Männern aus der Mark angeklagt, christliche Kinder ermordet zu haben, und einen christlichen Kesselflicker aus einer kleinen Landstadt sollten sie dazu angestiftet haben, daß er ihnen eine Hostie aus einer havelländischen Dorfkirche stehle, so daß sie sie schänden könnten. Die Männer lagen in Berlin im Gefängnis und wurden gefoltert, bis sie die ersonnenen Verbrechen gestanden.

Es war viel los. Es war jetzt Außerordentliches los in der Stadt.

Berlin, am 11. Juli 1510: das öffentliche Schauspiel der Gerichtsverhandlung am Neuen Markt. Kohlhaas stand in der Menge und sah und hörte zu, und am Ende schlich er sich fort. Berlin, am 19. Juli: das öffentliche Schauspiel der Urteilsvollstreckung. Ein dreiteiliges Podium war dafür aufgebaut. Auf der obersten Stufe saßen die Juristen, um notfalls die Richter und Schöffen, welche mit den Gerichtsschreibern, Zeugen und Fürsprechern auf dem mittleren Podium saßen, zu unterstützen, auf der untersten Stufe saßen der Kesselflicker und die mit gelben und spitzen weißen Hüten bekleideten Juden. Sie waren singend zum Podest gekommen.

Kohlhaas hörte die Worte des Scharfrichters über den Neuen Markt hin. Er sah zu Moses’, Ya’akovs und Salomons Vater hinüber. Eine Idee ging ihm durch den Kopf, die er sonderbar fand. Jeder erfüllte hier etwas Vorgeschriebenes. Eine Aufgabe? Die Angeklagten wiederholten nur, was sie schon mal unter ganz anderen Umständen gesagt hatten. Keiner wehrte sich. Die Juristen saßen wie ausgeschnitten da – die Richter und Schöffen brauchten sie nicht. Der Scharfrichter bezog sich auf die Artikel der Gerichtsordnung. Und die Leute standen da, Kohlhaas unter ihnen. Er war ganz ruhig. Unbeteiligt? Nein. Es lief eben so ab. Alle erfüllten eine Vorschrift, davon hing ihre Ruhe ab, und die einen gehen nach Hause, und die anderen werden verbrannt, beides nennt sich Ruhe, seine Ruhe haben, seine Ordnung. Und die einen gehen. Die anderen? Trügerisches Feuer.

Und er stand an der Straße und sah, wie der Kesselflicker, auf einem niedrigen Wagen sitzend, vorbeigeführt und am nackten Körper mit glühenden Zangen gerissen wurde. Ein Geistlicher ging nebenher und sagte ihm Trostworte.

Er hielt sich abseits, als die jüdischen Männer auf die Anhöhe neben der Straße, die nach Altlandsberg ging, geführt wurden. Wieder sangen sie. Auf dem Galgenberg wurden sie mit den Hälsen an ein Gerüst geschmiedet, Feuer wurde unter sie gelegt. Der Kessel­flicker starb an einer mit Holz, Reisig und Pech umlegten Säule. Kohlhaas sah es und hielt sich abseits. Was wußte er davon, daß er selber einmal auf diesem Berge enden würde!

Ich weiß es.

EIN ZEITBOGEN, REGEN IN ALLEN FARBEN

Martin Luther hatte seine Thesen angeschlagen. Die Bauern in den südlichen und südöstlichen Teilen Deutschlands erhoben sich, aufsässig aufrührerisch aufbegehrend gingen sie gegen ihre Herren vor, und ihre Heere zogen mit Heugabeln gegen Fürstenheere. Luther, der Wortstreiter für christliche Freiheit, hatte die Auswirkung nicht erwartet. Er reagierte mit dem Rücken zur Wand, schrieb Mordpredigten wider die mordenden und räuberischen Rotten der Bauern, man solle sie erschlagen, las ich, Gott wolle es wohl so gefallen, las ich, man sei im Recht.

Das sanft ruhende Fleisch zu Wittenberg, höhnte Thomas Müntzer.

– Und die Bauern wurden niedergemacht, abgestochen, in die Bäume gehängt; die die Metzelei überlebten, waren danach mehr geschunden denn je. Doch Thomas Müntzers Wort von der göttlichen Gerechtigkeit geisterte weiter in den Köpfen, nur still jetzt, verhalten, heimlich, verfolgt. In Herses Kopf zum Beispiel.

Wer war Herse?

Herse war Kohlhaas’ Knecht. Was Kohlhaas von dem Krieg wußte, der sich nicht bis hinauf in die Mark Brandenburg gezogen, sondern an ihren Grenzen gehalten hatte, im Harz, im Thüringisch-Sächsischen, wußte er von Herse. Herse kam aus Allstedt, ursprünglich war er Kürschner gewesen. In Allstedt hatte er Thomas Müntzer predigen hören, später war Herse nach Mühlhausen gegangen, dort hatte er sich Heinrich Pfeifer angeschlossen. Als die Schlacht von Frankenhausen für die Bauern verloren und Thomas Müntzer, der sie angeführt, gefangen, gefoltert und tot war, als die fürstlichen Heere weiterschwenkten und Mühlhausen berannten, und Heinrich Pfeifers Gegenpartei in der Stadt, aus Angst vor Vergeltung, bereits Unterhandlungen zur Übergabe knüpfte, war Herse mit vierhundert anderen, die noch fest zu Pfeifer hielten, nachts aus Mühlhausen geflohen. Als Flüchtling war er nach Brandenburg gekommen. Er sei Fuhrknecht, ob Kohlhaas seine Dienste brauchen könne, hatte er gefragt, als er eines Tages im Kohlhaas’schen Laden vor Margarete gestanden hatte.

Herse redete nicht gern von den Kriegszeiten. Manchmal sagte er Wörter vor sich hin. Er probierte sie aus, denke ich mir, er paßte sie an, an vielerlei, denke ich mir, aber sie wurden nicht lebendig, sie blieben Steine in seinem Mund. Sich kirren lassen, war so ein Wort, oder einschläfern, mit jemandes Vertrauen spielen etwa, jemanden mit Worten aufziehen, hinhalten, ablenken nämlich, so lange man kann und unterdessen zur Gegenwehr rüsten. Hätte Herse es gekonnt, so hätte er solche Wörter aus der Sprache gestrichen, in der Hoffnung, sie wären dann auch fort aus dem Sprachschatz der Empfindung. Solche Wörter hatten für ihn mit Gewalt und Tod zu tun.