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Natsume Sōseki

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Beschreibung

Zum 100. Todestag des Autors am 9. Dezember 2016

«Liebe ist ein Verbrechen!» Welches Geheimnis quält den alten, hochgebildeten Mann, der sich zu solchen Aussagen versteigt? Sein Gegenüber, ein unbedarfter Student, fühlt sich zu dem rätselhaften «Sensei» hingezogen und besucht ihn regelmäßig in Tokio. Doch trotz des offensichtlichen Wohlwollens wahrt der Alte Distanz. Hat die junge Frau des Sensei, eine schweigsame Schönheit, etwas mit dessen unerklärlichem Misstrauen zu tun? Erst in einem elegischen Abgesang offenbart sich schließlich, welch unaussprechliche Schuld auf dem Sensei gelastet hat. Dieser an feinen Nuancen reiche Roman gewährt tiefe Einblicke in das Lebensgefühl Japans an der Schwelle zur Moderne.

Erstmals mit Kommentar und mit überarbeiteter Übersetzung.

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Seitenzahl: 351

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Am Strand begegnet ein junger Mann seinem zukünftigen Lehrmeister. Der unbedarfte Student fühlt sich gleich zu dem rätselhaften «Sensei» hingezogen und besucht ihn danach regelmäßig in Tōkyō. Doch trotz seines augenscheinlichen Wohlwollens wahrt der Alte Distanz. Hat die junge Frau des Sensei, eine schweigsame Schönheit, etwas mit dessen Misstrauen zu tun? Erst in einem elegischen Abgesang offenbart sich schließlich, welch unaussprechliche Schuld auf dem Sensei gelastet hat.

Raffiniert verknüpft Natsume Sōseki (1867–1916) persönliche Schicksale und epochale Umbrüche. Sein brillant komponiertes Werk wurde zum meistgelesenen Roman Japans.

NATSUME SŌSEKI

Kokoro

Roman

Aus dem Japanischen übersetzt und miteinem Nachwort von Oscar Benl

Kommentierte Neuausgabe

MANESSE VERLAGZÜRICH

I

Der Sensei und ich

1

Ich habe immer «Sensei»1 zu ihm gesagt. Daher will ich ihn auch hier so nennen und seinen Namen verschweigen. Das tue ich nicht etwa aus Scheu vor der Welt – ich kann gar nicht anders. Sobald ich mich an ihn erinnere, drängt sich mir das Wort «Sensei» auf die Lippen. Auch jetzt geht es mir so. Ich kann mich nicht überwinden, kalte Initialen zu gebrauchen.

Ich lernte ihn in Kamakura2 kennen. In jener Zeit war ich noch ein blutjunger Student. Einer meiner Freunde, der seine Sommerferien dort am Strand verbrachte, hatte mir eine Karte geschrieben, ich möge ihn doch besuchen, und so verschaffte ich mir binnen weniger Tage das Reisegeld und fuhr hin. Es waren aber noch keine drei Tage vergangen, da telegrafierte man ihm plötzlich, er solle unverzüglich in seine Heimat zurückkehren: Seine Mutter sei schwer erkrankt. Mein Freund wollte das nicht glauben. Er war von seinen Eltern, die dort lebten, zu einer Heirat gezwungen worden, gegen die er sich heftig gesträubt hatte. Er kam sich – nach moderner Auffassung – viel zu jung für eine Ehe vor, zudem gefiel ihm das Mädchen nicht. In den Sommerferien hatte man ihn natürlich zurückerwartet, doch er fuhr nicht nach Hause, sondern verbrachte seine Zeit lieber in der Nähe von Tōkyō. Er zeigte mir das Telegramm und fragte mich nach meiner Ansicht, aber ich wusste beim besten Willen keinen Rat. War seine Mutter wirklich erkrankt, musste er selbstverständlich auf der Stelle heimfahren. Das tat er denn schließlich auch. Ich, der ich eigens gekommen war, ihn zu besuchen, blieb allein zurück.

Bis zum Beginn des Semesters war es noch ein paar Tage hin, und so blieb ich weiter in dem Gasthof, da es mir im Grunde gleichgültig war, ob ich mich in Kamakura oder in Tōkyō aufhielt. Mein Freund stammte zwar aus einer vermögenden Familie in der Chūgoku-Region3 und kannte keine Geldsorgen, doch da wir gleichaltrig waren und dieselbe Universität besuchten, unterschied sich sein tägliches Leben kaum von dem meinen. Aus diesem Grunde brauchte ich mir jetzt auch nicht die Mühe zu machen, in eine meinen Verhältnissen angemessenere Bleibe umzuziehen.

Der Gasthof lag am äußersten Rand von Kamakura. Moderne Vergnügungsmöglichkeiten wie Billardsaal und Eisdiele waren von hier aus nur erreichbar, wenn man einen langen Weg zwischen Reisfeldern zurückgelegt hatte. Fuhr man mit einer Rikscha, so kostete das zwanzig Sen4. Doch gab es dort, wo ich wohnte, viele hübsche Privatvillen, und da der Strand recht nahe war, lag der Gasthof für meinen Freund und mich bequem.

Ich ging jeden Tag schwimmen. Jedes Mal, wenn ich an den alten, verräucherten Strohhäuschen vorbei zum Strand hinuntertrabte, tummelten sich dort so viele Sommerfrischler, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie sie alle in Kamakura Unterkunft gefunden hatten. Manchmal wimmelte das Meer von kleinen schwarzen Köpfen wie in einem öffentlichen Badehaus. Auch ich, der ich von all den Leuten niemanden kannte, wurde von dem lauten Treiben wie verschlungen; ich streckte mich träge im Sand aus oder tollte vergnügt in den heranbrandenden Wellen.

Mitten in diesem Gewimmel sah ich den Sensei zum ersten Mal. Es standen damals zwei Umkleide- und Erfrischungsbuden am Strand. Irgendwann war ich in eine der beiden hineingegangen, und dabei blieb ich fortan. Wer in dem nahen Dorf Hase eine Villa besaß, war nicht darauf angewiesen, doch die zahlreichen Sommergäste, für die keine Kabinen vorgesehen waren, brauchten einen Umkleideraum. Außerdem tranken sie hier Tee, ruhten sich vom Schwimmen aus, spülten ihre Badekleidung rein, säuberten ihren von dem Salzwasser juckenden Körper, deponierten hier Hut und Sonnenschirm. Auch ich, der ich keine Badekleidung besaß, sondern mich mit einem Lendenschurz begnügte, zog mich dort um, bevor ich ins Meer sprang, und gab meine Habseligkeiten in Verwahrung.

2

Als ich in dieser Bude den Sensei erblickte, hatte sich dieser schon umgezogen und wollte eben zum Meer hinuntergehen. Ich aber war gerade erst aus dem Wasser gestiegen und ließ, langsam herausspazierend, die triefende Haut im Winde trocknen. Zwischen uns beiden bewegten sich zahllose schwarzhaarige Köpfe, die mir immer wieder die Aussicht versperrten. Hätte nicht ein seltsamer Umstand meine Aufmerksamkeit auf jenen Mann gelenkt, wäre er mir bestimmt nicht weiter aufgefallen. Obwohl der ganze Strand ein einziges Gewühl bildete und ich schläfrig vor mich hin döste, erweckte der Sensei sofort meine Neugierde: Er befand sich in Gesellschaft eines Europäers.

Ich war aufs höchste erstaunt, als jener Ausländer mit seiner so außerordentlich weißen Haut in der Umkleidebude auftauchte. Er hatte seinen japanischen Yukata5 abgenommen, ihn über eine Bank geworfen und stand nun mit verschränkten Armen da und blickte auf das Meer hinaus. Außer einer kurzen Hose, wie wir Japaner sie auch trugen, hatte er nichts am Leib. Das verblüffte mich. Erst vor zwei Tagen hatte ich am Strand von Yuigahama badenden Europäern zugesehen. Ich saß auf einem kleinen Sandhügel dicht beim Hinterausgang des Hotels, und es kamen viele Männer an mir vorbei, um sich hier das salzige Wasser abzuspülen, doch bei keinem waren Brust, Oberarme oder Schenkel nackt. Noch mehr waren die Frauen ängstlich bedacht, ihren Körper vor fremden Blicken verborgen zu halten. Die meisten trugen Gummikappen, die in den Wellen wie kastanienbraune, grüne oder blaue Blätter auf und ab tauchten. Mir kam nun, als ich mich jenes Schauspiels entsann, dieser Ausländer, der nur mit einer kurzen Hose bekleidet vor allen dastand, höchst seltsam vor.

Schließlich wandte er sich zur Seite, um mit einem Japaner, der sich gerade bückte, ein paar Worte zu wechseln. Dieser Japaner hob ein in den Sand gefallenes Handtuch auf, wickelte es sich um den Kopf und ging mit dem Ausländer auf das Meer zu. Dieser Mann war der Sensei!

Neugierig spähte ich den beiden nach, wie sie durch den Sand schritten. Sie gingen sofort ins Wasser, wateten eine Weile hindurch, durchquerten die in dem seichten Wasser lärmende Menschenmenge und schwammen, nachdem sie eine verhältnismäßig breite und freie Fläche erreicht hatten, wie auf Verabredung gleichzeitig hinaus. Ihre Köpfe bewegten sich schnell zur offenen See hin, bis sie nur mehr als winzige Punkte zu sehen waren. Dann näherten sie sich in gerader Linie wieder dem Strand. Ohne sich in der Umkleidebude mit Brunnenwasser das Salz vom Körper zu spülen, zogen sie sich sofort an und brachen auf.

Nachdem ich sie aus den Augen verloren hatte, setzte ich mich auf einen Klappstuhl und rauchte. Wie geistesabwesend sann ich über den Sensei nach. Ich war überzeugt, ihn schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Doch so sehr ich mich auch anstrengte, es gelang mir nicht, mich zu erinnern, wann und wo dies geschehen sein mochte.

Damals hatte ich keinen besonderen Kummer, sondern litt mehr an Einsamkeit. Ich wusste mit meiner freien Zeit nicht viel anzufangen, und so ging ich, in der Hoffnung, dem Sensei wieder zu begegnen, am nächsten Tag zur gleichen Stunde zur Umkleide. Diesmal erschien der Sensei allein, ohne jenen Europäer, einen Strohhut auf dem Kopf. Er nahm seine Brille ab, legte sie auf die Bank, band sich sofort sein Handtuch um den Kopf und ging schnell den Strand hinunter. Als er wie am Vortag mitten durch das kreischende Badevolk geschritten war und hinausschwamm, stieg plötzlich das Verlangen in mir auf, ihm zu folgen. Durch das seichte Wasser plantschend, spritzte ich es mir bis zum Kopf und schwamm, nachdem ich eine ziemlich tiefe Stelle erreicht hatte, Hand über Hand auf den Sensei zu. Er aber beschrieb, anders als am Tag zuvor, einen weiten Bogen und näherte sich dann aus unerwarteter Richtung wieder dem Strand. So war meine Absicht gescheitert. Als ich an Land stieg und, die wassertriefenden Arme kräftig hin und her schüttelnd, die Umkleidebude betrat, war der Sensei bereits angezogen und ging, an mir vorbei, ins Freie.

3

Auch am nächsten Tag erschien ich zur gleichen Stunde am Strand und entdeckte den Sensei. Ebenso geschah es an den folgenden Tagen, doch fand ich leider keine Gelegenheit, ihn anzusprechen oder ihn auch nur zu grüßen. Er war eigentlich ungesellig. Einsam tauchte er zu bestimmter Stunde auf und ging einsam wieder fort. Wie heiter und laut es in seiner Umgebung auch war, er schien das alles kaum zu bemerken. Auch jener Ausländer, der das erste Mal bei ihm gewesen war, blieb verschwunden. Stets war der Sensei allein.

Einmal kam er schnellen Schrittes wie gewöhnlich vom Meer herauf und wollte in der Umkleidebude gerade seinen Yukata anlegen, da fand er diesen voller Sand. Er wandte sich um und schwenkte das Kleidungsstück, damit der Sand herausfalle, ein paarmal hin und her. In diesem Augenblick rutschte seine Brille, die unter dem Yukata gelegen hatte, durch die Bretterritzen. Er aber nahm den Verlust erst wahr, als er den schmalen, ungefütterten Obi6 über seinem baumwollenen Yukata zusammengebunden hatte. Sofort begann er danach zu suchen. Da schlüpfte ich blitzschnell mit Kopf und Armen unter die Bank und hob die Augengläser auf. Der Sensei nahm sie, sich höflich bedankend, aus meiner Hand entgegen.

Am nächsten Tag sprang ich gleich hinter ihm ins Wasser. Und dann schwamm ich in dieselbe Richtung wie er. Etwa zweihundert Meter waren wir ins offene Meer hinausgelangt, da wandte sich der Sensei um und rief mir etwas zu. Auf dem riesigen blauen Meer war niemand, nur wir beide. Kraftvoll strahlte die Sonne weithin auf das Wasser und auf die Berge am Strand. Vom Gefühl unendlicher Freiheit wie berauscht, tobte ich wild in den Wogen. Bald hörte der Sensei auf, Arme und Beine zu regen, und lag rücklings auf den Wellen. Ich tat wie er. Das Blau des Himmels schleuderte mir Feuergarben ins Gesicht, als wollte es mir die Augen durchbohren. «Oh, wie herrlich!», rief ich laut.

Kurz darauf richtete sich der Sensei im Wasser ein wenig auf und drängte zur Umkehr. Ich war von ziemlich kräftiger Konstitution und hätte mich gern noch weiter getummelt. Doch als mich der Sensei so aufforderte, antwortete ich fröhlich: «Ja, schwimmen wir zurück!» Und dann schwammen wir beide an den Strand.

Seit dieser Stunde war ich mit dem Sensei befreundet. Ich wusste allerdings noch nicht, wo er wohnte.

Dann vergingen zwei Tage, und am Nachmittag des dritten Tages fragte er mich unvermittelt, als wir uns in der Umkleidebude trafen: «Werden Sie noch lange in Kamakura bleiben?»

Ich hatte mir darüber bisher noch keine Gedanken gemacht und fand daher nicht gleich eine Antwort.

«Ich weiß es noch nicht recht», sagte ich schließlich. Aber als ich zu ihm aufblickte und ihn lächeln sah, schämte ich mich plötzlich.

«Und Sie, Sensei?», drängte es mich, ihn zu fragen. Zum ersten Mal kam mir das Wort «Sensei» über die Lippen.

An diesem Abend suchte ich ihn in seinem Gasthof auf. Es handelte sich nicht um eine der üblichen Reiseherbergen, sondern mehr um eine Villa innerhalb eines weitläufigen Tempelgrundes. Mir war sofort klar, dass die Menschen, die dort wohnten, nicht zu seiner Familie gehörten. Als ich ihn mit «Sensei!» begrüßte, verzog er das Gesicht zu einem bitteren Lächeln. Ich brachte zu meiner Verteidigung vor, ich redete alle Männer, die wesentlich älter als ich waren, so an. Dann versuchte ich, über den Ausländer, den ich damals in seiner Begleitung gesehen hatte, Genaueres zu erfahren. Und der Sensei erzählte mir einiges über dessen exzentrische Art, dass er jetzt nicht mehr in Kamakura sei und manch anderes mehr. Ich erklärte ihm, dass mich diese seine Freundschaft mit einem Ausländer überrasche, da er offenbar doch nicht einmal mit Japanern viel verkehre. Schließlich gestand ich ihm, ich könnte mich des Eindrucks nicht erwehren, ihm irgendwo schon einmal begegnet zu sein, vermöchte mich aber um nichts in der Welt an Genaueres zu erinnern. Jung wie ich war, hielt ich es durchaus nicht für ausgeschlossen, dass es dem Sensei mir gegenüber ähnlich ergehen müsse. Aufs Äußerste gespannt, wartete ich auf seine Antwort. Der Sensei aber sann eine Weile nach und sagte nur: «Ich kann mich wirklich nicht an Sie erinnern. Verwechseln Sie mich nicht mit jemand anderem?»

Ich war seltsam enttäuscht.

4

Gegen Ende des Monats kehrte ich nach Tōkyō zurück. Der Sensei war schon viel früher abgefahren. Als wir uns verabschiedeten, hatte ich ihn gefragt: «Darf ich Sie gelegentlich zu Hause besuchen?»

«Ja, kommen Sie!», sagte er nur.

Ich hatte auf eine herzlichere Reaktion gewartet, waren wir doch, wie ich glaubte, inzwischen miteinander befreundet. So wenig Entgegenkommen verletzte mein Selbstgefühl.

Doch in dieser Hinsicht wurde ich von ihm öfter enttäuscht. Manchmal schien er es selbst zu spüren, meist aber merkte er es wohl gar nicht. Obgleich dies hin und wieder geschah, kam ich nie auf den Gedanken, mich deswegen von ihm zurückzuziehen – im Gegenteil, mich verlangte nur noch heftiger danach, ihn zu begreifen. Ich war überzeugt, es müsste sich mir eines Tages alles enthüllen, was ich nur dunkel ahnte. Voraussetzung war nur, dass ich genügend tief und weit in ihn eingedrungen sei. Ich war jung. Ich glaubte durchaus nicht, meine Zuneigung einem anderen als ihm so unbedingt schenken zu können. Andererseits ahnte ich auch nicht, aus welchem Grund mich gerade für ihn ein solches Gefühl beseelte. Erst jetzt, da der Sensei gestorben ist, weiß ich es. Übrigens war es von Anfang an nicht etwa Widerwille, was der Sensei für mich empfand. Sein gelegentlich kurz angebundener Gruß, seine kühl wirkende Art, mit mir umzugehen, waren nicht etwa der Ausdruck irgendwelchen Unbehagens, das mich entmutigen sollte. Der beklagenswerte Mann warnte auf diese Art seine Mitmenschen, die sich ihm nähern wollten, vor sich; er wollte ihnen andeuten, dass er ihrer Freundschaft unwürdig sei.

Als ich nach Tōkyō zurückkehrte, hatte ich selbstverständlich vor, ihn wiederzusehen. Ich wollte ihn irgendwann einmal in den bis zum Beginn der Universität verbleibenden zwei Wochen in seinem Haus aufsuchen. Doch schon wenige Tage nach meiner Ankunft hatte meine Zuneigung für ihn erheblich an Intensität verloren. Zudem faszinierte mich das verwirrende Treiben der Großstadt, alle möglichen Erinnerungen stiegen wieder in mir auf, und ich überließ mich den Anregungen und Verlockungen des Alltags. Sah ich auf der Straße Studenten, so erfüllte mich das neue Universitätsjahr mit Hoffnungen und Spannung. So geschah es, dass ich den Sensei für eine Weile vergaß.

Schon vier Wochen nach Beginn des Semesters fühlte ich eine rätselhafte Leere in mir. Irgendwie unzufrieden lief ich durch die Straßen. Unklar nach irgendetwas verlangend, blickte ich in meinem Zimmer umher. Da tauchte wieder das Bild des Sensei vor mir auf, und ich sehnte mich danach, ihn endlich zu besuchen.

Als ich sein Haus betrat, war er nicht da. So ging ich an dem darauffolgenden Sonntag erneut hin. Es war herrliches Wetter, und ich hatte das Gefühl, als dränge der klare, heitere Himmel tief in mich ein. Auch diesmal war der Sensei nicht da. In Kamakura hatte er mir doch gesagt, er halte sich zumeist daheim auf und gehe nur ungern aus. Dies fiel mir nun wieder ein, und ich verspürte ein vages Unbehagen. Ich verließ die Diele nicht gleich, sondern stand eine Weile zögernd da und blickte das Dienstmädchen an. Doch da erinnerte sich dieses, dass ich das vorige Mal meine Visitenkarte abgegeben hatte. Sie bat mich, ich möge mich ein wenig gedulden, und verschwand im Innern des Hauses. Nach wenigen Augenblicken erschien eine Frau, die ihrem Aussehen nach die Gattin des Sensei sein musste. Sie war sehr schön.

Sie klärte mich höflich über den Verbleib ihres Mannes auf. Er pflege, sagte sie, einmal in jedem Monat, an diesem Tag, den Friedhof in Zōshigaya7 aufzusuchen und an einem Grab Blumen niederzulegen.

«Er ist eben erst weggegangen», meinte sie bedauernd, «es mag zehn Minuten her sein.»

Ich verabschiedete mich und verließ das Haus. Nach etwa hundert Metern Wegs entschloss ich mich kurzerhand, einen Spaziergang nach Zōshigaya zu unternehmen. Mich trieb dabei wohl auch die Neugierde, ob ich den Sensei dort antreffen würde. Sofort brach ich dahin auf.

5

Links an jungen Reisfeldern vorbei, die sich vor dem Friedhof erstreckten, näherte ich mich auf einer breiten, mit Ahornbäumen bestandenen Straße dem Innern des geweihten Bezirks. Da trat aus einer kleinen Erfrischungsbude am Ende der Allee mit einem Mal ein Mann heraus, der wie der Sensei aussah. Als ich mich ihm so weit genähert hatte, dass ich die Einfassung seiner Brille in der Sonne blitzen sah, rief ich: «Sensei!»

Er blieb mit einem Ruck stehen und starrte mich an.

«Warum …? Warum …?»

Er sagte dies eine Wort in einem Ton, der sich in der mittäglichen Stille wunderlich anhörte. Ich war außerstande, gleich zu antworten.

«Sie sind mir nachgegangen? Warum?»

Seine Haltung war gelassen. Seine Stimme klang eher schwermütig, und seine Miene war überschattet.

Ich berichtete ihm nun, aus welchem Grund ich gekommen sei.

«Und hat Ihnen meine Frau den Namen des Toten gesagt, dessen Grab ich hier aufsuche?»

«Nein.»

«Hm, dazu bestand ja auch keine Veranlassung – zumal Sie meine Frau ja nun erst kennengelernt haben.»

Er blickte eine Weile befriedigt vor sich hin. Mir aber blieb der tiefere Sinn seiner Worte unverständlich.

Wir schritten zusammen zwischen den Gräbern dem Ausgang zu. Neben dem Grab einer Isabella X. und dem eines Gottesdieners Rogin erhob sich ein Stupa mit der Aufschrift «Alle Wesen haben Buddha-Natur». Auch das Grab eines europäischen Gesandten entdeckte ich. Vor einem kleinen Grabstein, auf dem drei chinesische Schriftzeichen eingraviert waren, fragte ich den Sensei, wie man diesen Namen lese. Er antwortete: «Vielleicht Andrews» und lächelte dabei bitter.

Anders als ich fand der Sensei hin und wieder den wunderlichen Geschmack der Hinterbliebenen durchaus nicht komisch, noch erfüllte er ihn mit Ironie – sein Gesicht zeigte auch nicht die Spur eines Lächelns. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit bald auf einen runden Grabstein, bald auf ein schmales Granitmonument und rief: «Da, sehen Sie! Und da!»

Er aber hörte sich das eine Weile schweigend mit an, dann meinte er: «Sie haben über die Realität des Todes sicher noch nie ernsthaft nachgedacht …»

Ich verstummte. Auch er sagte nichts mehr.

An einer Kreuzung ragte ein Ginkgo-Baum so gewaltig empor, als wollte er den Himmel verdunkeln. Als wir unter ihm standen, blickte der Sensei zu seinem Wipfel auf und bemerkte: «Noch eine Weile, und er wird wunderschön sein. Seine Blätter sind dann tief gelb, und ringsumher liegt goldfarbenes Laub.»

Er ging ja jeden Monat einmal unter diesem Baum vorbei.

Ein Friedhofsarbeiter, der, um Platz für neue Gräber zu schaffen, welliges Gelände ebnete, ließ seine Hände, in denen er eine Hacke hielt, ein wenig ruhen, als wir an ihm vorüberkamen, und sah zu uns her. Wir bogen nach links und gelangten gleich auf die Straße hinaus.

Da ich mir kein eigenes Ziel vorgenommen hatte, ging ich mit dem Sensei in die Richtung, die er einschlug. Er war noch wortkarger als sonst. Aber ich fühlte mich nicht so sehr bedrückt.

«Gehen Sie sofort nach Hause?», fragte ich.

«Ja, ich habe heute nichts weiter vor.»

Wir schwiegen erneut und gingen, nach Süden zu, einen Hügel hinab.

«Ruht dort im Friedhof jemand von Ihrer Familie?», fragte ich plötzlich.

«Nein.»

«Wessen Grab ist es? Eines Ihrer Verwandten?»

«Nein.»

Mehr antwortete er nicht. Ich gab es auf, weiter in ihn zu dringen. Nach etwa hundert Metern Wegs kam er, höchst unerwartet, auf meine Frage zurück.

«Es ist das Grab meines Freundes.»

«Und Sie besuchen es jeden Monat?»

«Ja.»

Das war alles, was er darüber zu mir sagte.

6

Seitdem besuchte ich den Sensei hin und wieder. Er war immer zu Hause. Und je mehr ich ihn sah, desto häufiger wünschte ich, ihn zu sehen. Aber seine Haltung änderte sich kaum, seit wir uns kennengelernt hatten. Er blieb stets ruhig und gelassen. Manchmal kam er mir zu still, ja fast bekümmert vor. Von Anfang an überraschte es mich, wie schwer es war, ihm auch nur ein wenig näherzukommen. Aber ich war fest dazu entschlossen. Möglicherweise war ich unter allen Menschen der Einzige, der ihm gegenüber so empfand. Aber ich glaubte, der Intuition, der dieser Wunsch entsprang, trotz meiner Jugend und mangelnder Erfahrung vertrauen zu können. Mochten sich andere über mich noch so mokieren, ich lebte ganz in meiner Sympathie für ihn und war glücklich. In meinen Augen war der Sensei ein Mann, der seine Mitmenschen wohl zu lieben vermochte, ja ohne solche Liebe gar nicht existieren konnte, jedoch nicht imstande war, denjenigen, den er von Herzen mochte, spontan in die Arme zu schließen.

Er war, wie gesagt, stets ruhig und gelassen. Doch hin und wieder erschien seine Stirn seltsam umwölkt, so wie wenn plötzlich der dunkle Schatten eines Vogels am Fenster auftaucht und gleich wieder verschwindet. Eine solche Verdüsterung bemerkte ich bei ihm zum ersten Mal auf dem Friedhof Zōshigaya, als ich ihn unerwartet «Sensei!» anrief. In diesem seltsamen Augenblick fühlte ich, der ich bis dahin glücklich gewesen war, mich plötzlich wie gelähmt, aber das dauerte nur kurz. Noch waren keine fünf Minuten vergangen, da hatte ich meine Elastizität wiedergewonnen. Dieser Vorfall war meinem Gedächtnis schon fast entschwunden, doch an diesem Spätsommerabend erinnerte ich mich wieder daran.

Während ich mich mit dem Sensei unterhielt, fiel mir der große Ginkgo-Baum ein, auf den er mich damals aufmerksam gemacht hatte. Ich rechnete nach und stellte fest, dass nach drei Tagen wieder sein allmonatlicher Grabbesuch stattfand. Und da an jenem dritten Tag die Universität zum Glück schon mittags zu Ende war, fragte ich ihn: «Glauben Sie, dass der Ginkgo-Baum in Zōshigaya sein Laub inzwischen schon verloren hat?»

«Vielleicht noch nicht ganz», antwortete er und blickte mir fest ins Gesicht. Eine Weile wandte er seine Augen nicht mehr von mir ab.

Da fragte ich schnell: «Darf ich Sie diesmal zum Friedhof begleiten? Ich würde gern mit Ihnen spazieren gehen!»

«Ich besuche ein Grab. Es ist kein Spaziergang.»

«Aber könnten wir nicht im Anschluss daran ein bisschen spazieren gehen?»

Er schwieg. Doch schließlich sagte er: «Es handelt sich wirklich nur um einen Grabbesuch!»

Er schien auf eine scharfe Trennung zwischen einem Grabbesuch und einem Spaziergang offenbar großen Wert zu legen. Mir freilich kam das mehr als eine Ausrede vor, weil er nicht mit mir gehen wollte, und ich fand den Sensei in diesem Augenblick fast ein wenig kindisch. Ich hatte es mir jedoch fest vorgenommen, weiter darauf zu beharren.

«Nehmen Sie mich doch mit, wenn Sie dort ein Grab besuchen! Auch ich möchte es besuchen!»

In Wahrheit war es für mich ziemlich sinnlos, zwischen dem Besuch eines Grabes und einem Spaziergang zu unterscheiden. Da umwölkte sich seine Stirn. In seinen Augen glühte ein seltsames Licht. Ungeduld, Hass und Furcht, nein, fast so etwas wie Angst sprachen daraus. Plötzlich fiel mir jene Szene ein, als ich ihn in Zōshigaya unerwartet «Sensei!» angerufen hatte. Der Ausdruck seines Gesichts war jetzt ganz genau wie damals.

«Ich», erwiderte er, «habe dazu einen Grund, über den ich mit Ihnen nicht sprechen kann. Ich möchte dieses Grab nicht mit irgendjemand anderem aufsuchen. Bisher habe ich nicht einmal meine Frau mitgenommen!»

7

Ich war verblüfft. Doch ich ging ja in seinem Haus nicht etwa mit der Absicht ein und aus, möglichst viel über ihn herauszufinden, und so verzichtete ich auf weitere Fragen. Wenn ich heute darüber nachdenke, bewundere ich diese meine Haltung. Denn ihr verdanke ich es, dass unsere Beziehungen allmählich wärmer wurden. Hätte ich ihn damals auch nur mit einer Spur Neugierde verfolgt, so wäre das Band der Sympathie, das uns zusammenhielt, erbarmungslos zerrissen. Ja, was wäre geschehen, wenn ich mich anders verhalten hätte! Allein der Gedanke daran macht mich erschauern. Hasste der Sensei doch nichts mehr, als von kalten, neugierigen Augen belauert zu werden.

So kam es also, dass ich ihn monatlich zwei-, dreimal zu Hause besuchte.

Eines Tages fragte er mich unvermittelt: «Warum kommen Sie eigentlich?»

«Oh, das hat keinen besonderen Grund. Störe ich Sie?»

«Das will ich damit nicht sagen!»

Tatsächlich hatte ich auch nie das Gefühl gehabt, ihm lästig zu fallen. Mir war bekannt, dass er nur sehr geringen Verkehr mit anderen pflegte. Ich wusste, dass er nur zwei, drei seiner ehemaligen Mitstudenten, die jetzt in Tōkyō lebten, hin und wieder traf und dass er manchmal mit Studenten aus seiner Heimatprovinz zusammensaß, aber mir war auch aufgefallen, dass ihm keiner von diesen so nahestand wie ich.

«Ich bin ein einsamer Mensch», sagte er. «Und darum freue ich mich, wenn Sie kommen! So würde ich nun gern wissen, warum Sie mich hin und wieder aufsuchen!»

«Weshalb fragen Sie mich das, Sensei?»

Er schwieg. Er sah mir nur eine Weile ins Gesicht, doch schließlich sagte er: «Wie alt sind Sie?»

Eine solche Frage erschien mir ganz und gar bedeutungslos, aber ich ging nach Hause, ohne auch nur versucht zu haben, sie zu klären. Es waren noch keine vier Tage verstrichen, als ich ihn abermals aufsuchte.

«Oh, da sind Sie ja schon wieder?», begrüßte er mich lachend, als ich ins Empfangszimmer trat.

«Ja, da bin ich wieder», erwiderte ich und lachte gleichfalls.

Hätte jemand anderer mich so empfangen, wäre ich wohl zornig geworden, doch da er mich fragte, geschah das genaue Gegenteil. Es stimmte mich fröhlich.

«Ich bin ein einsamer Mensch», wiederholte er an diesem Abend. «Ich bin einsam, aber fühlen nicht auch Sie sich gelegentlich einsam? Ich kann, weil ich schon alt bin, ganz still so dahinleben, aber Ihnen, der Sie noch jung sind, dürfte das nicht so leichtfallen. Je aktiver Sie sind, desto eher wächst ihr Wunsch nach noch mehr Tätigkeit, nach Kontakten, nach Zusammenstößen mit anderen!»

«Ich fühle mich nicht im Mindesten einsam!»

«Man ist nie so einsam wie in der Jugend. Ist es aber, wie Sie sagen, warum kommen Sie dann so oft zu mir?» Und nach kurzer Pause fuhr er fort: «Trotz Ihres Umgangs mit mir bleibt wohl noch immer ein Rest von Einsamkeit in Ihrem Herzen. Und weil ich nicht die Kraft habe, Sie davon zu befreien, werden Sie sich voll Sehnsucht bald anderen zuwenden müssen. Sie werden sehr bald nicht mehr bei mir erscheinen.» Ein bitteres Lächeln lag um seinen Mund.

8

Zum Glück hat sich seine Voraussage nicht erfüllt. Unerfahren wie ich war, hatte ich übrigens nicht einmal genau begriffen, was er damit gemeint hatte. Ich besuchte ihn wie bisher und wurde auch bald zum Essen bei ihm eingeladen. So kam ich wie von selbst mit seiner Frau ins Gespräch.

Als ganz normaler junger Mann war ich Frauen gegenüber durchaus nicht etwa kühl oder gleichgültig. Aber ich war – vielleicht auch aufgrund äußerer Umstände – bisher mit keinem weiblichen Wesen enger befreundet. Meist fühlte ich mich – ich weiß nicht warum – zu mir völlig unbekannten Frauen hingezogen, denen ich zufällig auf der Straße begegnete. Als ich die Frau des Sensei zum ersten Mal sah, fiel mir sofort auf, wie schön sie war, und so empfand ich seitdem bei jeder Begegnung mit ihr. Des Weiteren glaubte ich jedoch nichts Besonderes über sie aussagen zu können.

Das soll nicht etwa heißen, dass sie ohne persönliche Eigenart war. Es bot sich mir wohl nur keine Gelegenheit, tieferen Einblick zu gewinnen. Sie war für mich ein Teil des Sensei, und auch sie schien mir deswegen wohlgesonnen zu sein, weil ich, ein Student, ihren Mann besuchte. Hätte ich mir den Sensei aus unserer Mitte weggedacht, wäre meinen Beziehungen zu ihr ebenso jeglicher Boden entzogen worden. Aus diesem Grunde hatte ich, als ich sie zum ersten Mal sah, nichts anderes empfunden, als dass sie schön war.

Einmal trank ich mit dem Sensei Sake. Seine Frau setzte sich zu uns und schenkte uns ein. Er wirkte so heiter und entspannt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Er forderte seine Frau auf, auch einmal zu trinken, und reichte ihr sein Schälchen, das er eben erst geleert hatte. Sie wollte zunächst ablehnen, nahm es aber schließlich doch, wenn auch ein wenig widerwillig. Dann senkte sie ihre hübschen Augenbrauen und führte das Sake-Schälchen, das ich ihr nur halb gefüllt hatte, an den Rand ihrer Lippen. Zwischen ihr und dem Sensei begann folgendes Gespräch: «Das kenne ich ja von dir gar nicht!»

«Du forderst mich ja auch so selten auf …»

«Du trinkst doch nicht gern! Hin und wieder tut es aber gut! Du kommst ein wenig in Stimmung …»

«O nein, nein! Ich fühle mich nachher so bedrückt. Du gerätst aber schon nach ein paar Schlückchen in herrliche Laune!»

«Ja, manchmal. Aber keineswegs immer …»

«Wie steht es heute Abend?»

«Ich fühle mich sehr wohl.»

«Du solltest vielleicht in Zukunft jeden Abend ein wenig trinken!»

«So ist es nun auch nicht …»

«Doch! Trink! Es tut dir gut, du fühlst dich dann nicht mehr so einsam!»

Nur er, seine Frau und das Dienstmädchen lebten in diesem Haus. Es war immer totenstill, wenn ich eintrat. Nicht ein einziges Mal hörte ich lautes Lachen. Manchmal kam es mir vor, als seien nur der Sensei und ich im Haus.

«Es wäre gut, wenn wir Kinder hätten!», sagte die Frau, zu mir gewandt.

«Ja, das mag sein …», gab ich zur Antwort. Doch in Wahrheit hatte ich hierfür keinerlei Verständnis. Ich fand Kinder nur lästig.

«Sollten wir nicht ein Kind adoptieren?», meinte der Sensei.

«Ein Adoptivkind? Nein! – Meinen Sie», und sie wandte sich erneut an mich, «nicht auch?»

«Wir können nie eigene Kinder haben!», erklärte der Sensei unvermittelt.

Seine Frau schwieg. Und als ich den Sensei fragte, was er damit meine, lachte er laut: «Es ist eine Strafe des Himmels!»

9

Soviel ich wusste, führten sie eine gute Ehe. Da ich nicht in ihrem Haushalt lebte, besaß ich keinen tieferen Einblick, aber wenn wir uns im Besuchszimmer gegenübersaßen, rief der Sensei öfter nach seiner Frau, die Shizu hieß.

«Shizu!», wandte er sich zur Schiebetüre um, und seine Stimme klang freundlich und sanft. Und sie antwortete ihm in gleicher Weise. Wenn bei gelegentlichen Einladungen auch sie mit bei Tisch saß, war ich von der Harmonie ihrer Ehe noch fester überzeugt.

Hin und wieder gingen beide ins Konzert oder ins Theater. Sie unternahmen, soweit ich mich erinnere, auch einige kleine Reisen, die über eine Woche dauerten. Ich besitze noch heute eine Ansichtskarte, die sie mir aus Hakone sandten. Und als sie nach Nikkō fuhren, erhielt ich von ihnen einen Brief, dem sie ein Herbstblatt beigefügt hatten.8

In diesem Licht erschien mir also damals das Verhältnis des Sensei zu seiner Frau. Nur ein Ereignis wollte nicht recht dazu passen. Als ich eines Tages, wie gewohnt, die Diele ihres Hauses betrat, hörte ich aus dem Wohnzimmer Stimmen. Mir war sofort klar, dass es sich nicht um eine normale Unterhaltung handelte, es klang eher nach einem Wortwechsel. Da sich dieses Zimmer gleich neben der Diele befand, konnte ich, vor der Schiebetüre stehend, einigermaßen folgen. Die männliche Stimme, die sich laut erhob, war offensichtlich die des Sensei. Die andere klang leiser. Ich konnte es nicht genau entscheiden, aber meinem Gefühl nach musste es die der Frau sein. Sie schien zu weinen. Verlegen stand ich da und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Schließlich kehrte ich, kurz entschlossen, in meine Pension zurück.

Ich fühlte mich merkwürdig besorgt. Meine Unruhe war bald so groß, dass ich gar nicht mehr aufzunehmen vermochte, was ich las. Nach etwa einer Stunde erschien der Sensei unter meinem Fenster und rief meinen Namen. Ich öffnete verblüfft. Er wolle, sagte er, einen kleinen Spaziergang machen, ich solle doch mitkommen. Ich nahm meine Uhr heraus, die ich in meinen Obi gewickelt trug, und sah, dass es schon nach acht Uhr war. Eben erst heimgekommen, hatte ich meinen Hakama9 noch an, und in dieser Kleidung trat ich schnell zu ihm hinaus.

An diesem Abend trank ich mit ihm Bier. Er trank eigentlich immer nur wenig. Und kam er mit der gewohnten Menge nicht in Stimmung, riskierte er es nie, weiter zu zechen und so vielleicht betrunken zu werden.

«Heute will es mir nicht recht glücken …», lächelte er bekümmert.

«Oh, fühlen Sie sich nicht wohler?», fragte ich bedauernd.

Mich quälte noch immer die Erinnerung an den Wortwechsel von vorhin. Ich hatte das Gefühl, als wäre mir eine Fischgräte im Hals stecken geblieben, und ich überlegte, ob ich nicht vielleicht offen mit ihm darüber reden sollte, doch schließlich erschien es mir wohl ratsamer, zu schweigen. Das lange Hin-und-her-Schwanken erfüllte mich mit steigender Unruhe.

«Was haben Sie denn heute?», fragte er mich plötzlich und fuhr dann fort: «Offen gesagt, mir ist heute merkwürdig zumute. Können Sie das verstehen?»

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

«Ich hatte vorhin einen Streit mit meiner Frau, und das hat meine lächerlich empfindlichen Nerven durcheinandergebracht.»

«Warum hatten Sie denn …»

Doch ich war nicht in der Lage, das Wort «Streit» über die Lippen zu bringen.

«Meine Frau hat mich missverstanden. Ich gab mir alle Mühe, ihr klarzumachen, dass es sich nur um ein Missverständnis handle, aber sie hörte nicht auf mich. Da wurde ich zornig …»

«Worin hat Ihre Frau Sie missverstanden?»

Er schwieg eine Weile und sagte dann nur: «Wäre ich der Mensch, für den mich meine Frau hält, brauchte ich mich nicht so zu quälen …»

Aber was quälte ihn denn! Das war ein Problem, das ich nicht zu lösen vermochte.

10

Auf dem Heimweg schritten wir beide eine geraume Zeit still nebeneinander her. Plötzlich sagte der Sensei: «Es war falsch von mir! Meine Frau wird sich nun Sorgen machen, weil ich im Zorn wegging. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bedauere ich sie. Sie hat ja niemanden außer mir!»

Hier unterbrach er sich kurz, doch er schien keine Antwort von mir zu erwarten und fuhr fort: «Natürlich klingt das lächerlich … Man könnte meinen, ich fühlte mich meiner sicher … Sagen Sie, was halten Sie von mir? Bin ich in Ihren Augen schwächlich oder stark?»

«Sie liegen genau in der Mitte!»

Diese Antwort schien ihn zu überraschen. Er verstummte erneut, und wir gingen wortlos weiter.

Unser Weg zu seinem Haus führte an meiner Pension vorbei. Da es mir unfreundlich vorgekommen wäre, mich an der Straßenecke zu verabschieden, fragte ich ihn, ob ich ihn nicht bis vor sein Heim begleiten dürfe. Aber er reichte mir ablehnend die Hand und meinte: «Es ist schon spät geworden. Gehen Sie schnell nach Hause. Ich will – meiner Frau wegen – auch gleich heim!»

Diese Worte «meiner Frau wegen» erwärmten mich wundersam; ihnen verdankte ich es, dass ich, kaum war ich in meinem Zimmer angekommen, befriedigt einschlafen konnte. Und auch in den darauffolgenden Tagen wollten mir diese seine Worte nicht mehr aus dem Sinn. Ich schloss aus ihnen, dass jenem Streit keine allzu große Bedeutung beizumessen war. Und je öfter ich seitdem den Sensei besuchte, desto fester war ich überzeugt, dass es nur höchst selten zu solchen Missverständnissen kam. Zudem bekannte mir der Sensei eines Tages: «Es ist meine einzige Frau in diesem Leben! Keine andere könnte mir irgendetwas bedeuten. Und auch sie glaubt, dass ich der einzige Mann bin, den es für sie geben kann. So müssten wir beide das glücklichste Paar auf Erden sein …»

Ich weiß nicht mehr, bei welcher Gelegenheit er mir das sagte, und kenne also auch den Grund nicht, warum er mir ein solches Geständnis machte. Doch noch jetzt erinnere ich mich deutlich, wie ernst er dabei aussah und wie traurig seine Stimme klang. Vor allem der letzte Satz: «So müssten wir beide das glücklichste Paar auf Erden sein», klingt seitdem in mir nach. Warum hatte er nicht einfach gesagt: «Und deswegen sind wir das glücklichste Paar auf Erden!»? Ich begriff das nicht. Insbesondere konnte ich mir nicht erklären, warum er diese Worte mit so großem Nachdruck gesprochen hatte. War er nun glücklich, oder hatte er das Gefühl, eigentlich glücklicher sein zu müssen, als er war? Ich vermochte mich der in mir aufsteigenden Zweifel kaum zu erwehren. Allein, diese Unruhe dauerte nicht allzu lange und legte sich schließlich wie von selbst.

Einmal war der Sensei nicht zu Hause, als ich ihn besuchen wollte, und so kam ich mit seiner Frau ins Gespräch. Er war zum Bahnhof Shimbashi gegangen, um sich von einem Bekannten zu verabschieden, der von Yokohama10 aus ins Ausland reisen wollte. Damals fuhr man, um in Yokohama rechtzeitig an Bord zu sein, um halb neun mit dem Zug von Shimbashi ab. Da ich das Urteil des Sensei über ein bestimmtes Buch hören wollte, war ich, wie verabredet, um neun Uhr bei ihm erschienen, doch war er nun plötzlich aus Höflichkeit gegenüber diesem Bekannten, der ihm am Vortag einen Abschiedsbesuch gemacht hatte, gezwungen worden, bei dessen Abfahrt auf dem Bahnhof Shimbashi zugegen zu sein. Er ließ mir durch seine Frau bestellen, ich möchte doch auf ihn warten, er sei bald wieder da. So trat ich ins Empfangszimmer und unterhielt mich, bis er erschien, mit seiner Frau.

11

Ich studierte damals bereits an der Universität und fühlte mich bedeutend erwachsener als bei meinem ersten Besuch in seinem Haus. Auch das Wohlwollen, das mir seine Frau entgegenbrachte, hatte zugenommen, und ich war vor ihr nicht im Geringsten verlegen. So unterhielten wir uns auch an diesem Tage über alles Mögliche, doch habe ich, da es sich um nichts Wichtiges handelte, alle Einzelheiten vergessen. Nur eins ist in mir haften geblieben. Bevor ich aber davon berichte, möchte ich, der besseren Verständlichkeit halber, noch etwas einschieben.

Der Sensei hatte studiert und sein Studium auch mit einem Examen abgeschlossen – das erfuhr ich von ihm gleich in den ersten Tagen –, doch dass er jetzt ohne jeglichen Beruf dahinlebte, ging mir erst geraume Zeit später auf. Ich zerbrach mir lange den Kopf, warum und wie es dazu gekommen war.

Niemand in der Welt wusste von ihm. Keiner außer mir konnte seine Gelehrsamkeit und die Originalität seiner Gedanken bewundern. Ich sagte ihm oft, wie sehr ich das bedauerte. Doch er entgegnete, er finde es unverantwortlich, wenn jemand wie er in aller Öffentlichkeit seine Meinungen äußerte. Es war vergebliche Mühe, ihn überzeugen zu wollen. Er nahm meine Worte nicht ernst. Mir erschien seine Antwort allzu bescheiden, aber es schwang in ihr auch Kritik an der Welt mit. Er verurteilte nicht selten ehemalige Mitschüler, die inzwischen berühmt geworden waren, mit schneidender Ironie. Eines Tages machte ich ihn offen auf diesen Widerspruch aufmerksam. Ich wollte keineswegs opponieren, es schmerzte mich nur, dass die Welt von diesem großen Mann nichts wusste und ihm gegenüber gleichgültig war.

«Daran lässt sich nichts ändern», meinte er betrübt. «Mir fehlen eben die Eigenschaften, die nötig wären, auf andere einzuwirken!»

Auf seinem Gesicht erschien eine scharfe, tiefe Falte. Ich wusste nicht, ob sich hierin Verzweiflung, Ungenügen mit sich selbst oder Traurigkeit verriet, aber mir schwand jeder Mut, irgendetwas darauf zu sagen.

Während ich mich jetzt mit seiner Frau unterhielt, kam ganz von selbst das Gespräch auf ihn.

«Warum studiert und arbeitet der Sensei nur zu Hause? Warum ist er nicht beruflich tätig?»

«Da ist nichts zu machen. Er mag das halt nicht …»

«Findet er es töricht?»

«Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin ja nur eine Frau – ich fürchte, ich begreife das nicht. Vermutlich ist das aber nicht der eigentliche Grund. Ich glaube, er würde gern irgendwo tätig sein, aber er kann es nicht. Er ist wirklich zu bedauern!»

«Aber der Sensei ist doch völlig gesund, oder …?»

«Ja, er ist gesund. Er leidet an keiner Krankheit.»

«Warum hat er sich denn so von der Welt zurückgezogen?»

«Eben das weiß ich nicht. Wüsste ich es, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Gerade weil ich es nicht begreifen kann, tut er mir so sehr leid …»

Ihre Stimme klang voll Mitgefühl, doch um ihren Mund erschien nun ein leichtes Lächeln. Ohne Zweifel sah ich ernster als sie aus. Ich schwieg mit nachdenklichem Gesicht. Da begann sie von Neuem, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen: «Als er noch jung war, da war er nicht so. Er war ganz anders! Er hat sich von Grund auf verändert!»

«Was verstehen Sie unter jung?»

«Als er noch studierte.»

«Sie kennen Ihren Mann also schon von seiner Studienzeit her?»

Ihr Gesicht überzog sich mit einem feinen Rot.

12

Sie stammte aus Tōkyō. Ich hatte das vom Sensei und auch von ihr selbst gehört. «Offen gestanden», sagte sie einmal zu mir, «bin ich ein Mischling!» Ihr Vater, so berichtete sie in scherzendem Ton, war – wenn ich mich recht erinnere – aus der Präfektur Tottori gebürtig, während ihre Mutter, als Tōkyō noch Edo hieß, aus dem Stadtviertel Ichigaya kam. Der Sensei hingegen stammte aus einer weit entfernt liegenden Präfektur, aus Niigata.11 Hatte sie ihn also während seiner Studienzeit kennengelernt, so führten ihre Beziehungen nicht, wie das sonst oft geschieht, auf eine gemeinsame Heimat zurück. Doch da ich aus ihrem leichten Erröten ihren Unwillen las, mehr darüber zu erzählen, drang ich nicht weiter in sie.

Ich habe, seit ich die Bekanntschaft des Sensei machte, bis zu seinem Tod mit vielen und den verschiedenartigsten Fragen versucht, in die Welt seiner Gedanken und Gefühle Einblick zu gewinnen, aber über die Zeit, als er sich verheiratete, erfuhr ich fast nichts von ihm. Manchmal legte ich das positiv aus. Da er so viel älter war, scheute er sich vielleicht, einem unreifen jungen Menschen intime Erfahrungen preiszugeben. Doch hin und wieder legte ich es weniger günstig aus, und schließlich war ich überzeugt, dass der Sensei und seine Frau eben in alten, starren Konventionen aufgewachsen waren und so nicht den Mut aufbrachten, offen über Dinge der Liebe zu reden. Doch das war eigentlich nichts als eine Vermutung. Im Hintergrund dieser Heirat ahnte ich eine große Leidenschaft. Und damit sollte ich letztlich recht behalten. Freilich hatte sich meine Fantasie nur der einen Seite ihrer Liebe bemächtigt. Es steckte auch eine furchtbare Tragödie dahinter. Und wie grausam diese für den Sensei war, hat seine Frau niemals erfahren. Noch jetzt weiß sie nichts darüber. Er starb, ohne ihr etwas zu verraten. Er zerstörte lieber sein eigenes Leben als das Glück seiner Frau.

Über diese Tragödie werde ich mit keinem Wort sprechen. Weder der Sensei noch seine Frau haben mir, wie ich schon sagte, von dieser Liebe erzählt, die gleichsam aus dieser Tragödie geboren wurde: die Frau aus Scheu und der Sensei aus einem noch tieferen Grund. Nur eines ist in meinem Gedächtnis haften geblieben.

Eines Tages ging ich zur Kirschblütenzeit mit dem Sensei in den Ueno-Park;12 dort sahen wir ein bezauberndes Liebespaar. Eng aneinandergeschmiegt, gingen sie unter den Blüten spazieren. Viele achteten mehr auf sie als auf die Kirschblütenpracht.

«Sie sind wohl jung verheiratet», bemerkte der Sensei.

«Sie scheinen recht verliebt zu sein», meinte ich.