Kollektive Achtsamkeit organisieren - Annette Gebauer - E-Book

Kollektive Achtsamkeit organisieren E-Book

Annette Gebauer

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Beschreibung

Das Buch liefert einen innovativen Management-Ansatz für Organisationen, für die Hochzuverlässigkeit und ein proaktives Risikomanagement essenziell sind. Zu solchen High-Reliability Organizations (HRO) gehören z. B. Chemieunternehmen, Krankenhäuser und Banken. Als Workbook für die Beratungspraxis beantwortet es grundlegende Fragen wie: - In welchen Kontexten ist der bewusste Umgang mit Sicherheit und Risiko unumgänglich? - Welche Methoden haben sich beim Umgang mit dem Unerwarteten bewährt? - Wie werden sie angewendet? - Wie kann eine Kultur der organisationalen Achtsamkeit entwickelt werden?Geliefert werden Konzepte und Instrumente für den Aufbau zuverlässiger, krisenfester und resilienter Organisationen. Inklusive Fallbeispielen zu verschiedenen Veränderungskonzepten und einem Geleitwort von Kathleen Sutcliffe.

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zum UrheberrechtImpressumGeleitwortTeil I: Theoretische Grundlagen – Einen gemeinsamen Kompass entwickeln1   Einführung: Warum kollektive Achtsamkeit?2   Was bedeutet Organisieren kollektiver Achtsamkeit?2.1   Zum Begriff der Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Achtsamkeit2.2   Erste Beispiele für kollektive Achtsamkeitspraktiken2.3   Entwickeln von Antizipations- und Resilienzfähigkeiten2.3.1   Antizipation: Zukunft im Hier und Jetzt konstruieren2.3.2   Resilienz: Geistesgegenwart üben2.4   Kollektive Achtsamkeit als Frage der Sinnproduktion2.4.1   Sinnproduktion als überlebenskritische Fähigkeit2.4.2   Sinnproduktion als blinder Fleck2.5   Gestalten der Sinnproduktion2.5.1   Konzepte und Erfahrungen als Grundlage2.5.2   Beschreiben, Erklären und Bewerten2.5.3   Gestalten der Entscheidungskommunikation2.6   Neuer Stellenwert von Interaktionen2.6.1   Interaktion als Einfallstor für Irritation2.6.2   Nahtstelle zwischen Organisation und Psyche3   Kultur als Ansatzpunkt für kollektive Achtsamkeit?3.1   Systemtheoretisches Organisationsverständnis3.1.1   Vier Entscheidungsprämissen als Landkarte3.1.2   Programme, Kommunikationswege, Personen3.1.3   Organisationskultur3.2   Erste Fragen zur Gestaltung der kollektiven Achtsamkeit4   Gestaltungsprinzipien für kollektive Achtsamkeit4.1   Intensive Beschäftigung mit Abweichungen und Fehlern4.2   Großes Interesse für das Hier und Jetzt4.3   Vermeiden vorschneller Vereinfachungen4.4   Bereitsein für Resilienz4.5   Expertise vor Rang5   Sicherheit und Risiko – eine Begriffsbestimmung5.1   Vier Spielarten im Umgang mit Risiken und Sicherheitsbedürfnissen5.2   Sicherheit als Frage der Komplexitätsbewältigung5.3   Sicherheit als soziale Fiktion5.4   Zwei Interventionslogiken: Die Glasdecke überwinden6   Logik I und Logik II im Alltag erkennen6.1   Von der Fehlervermeidung zur Resilienz6.2   Störung oder Fenster zum System6.3   Von human failure zu human performance6.4   Von eindeutigen Ursachen hin zu retrospektiven Erklärungen6.5   Von Achtsamkeit zwischen den Ohren zur Achtsamkeit zwischen den Köpfen6.6   Von zurückschauender zu vorwärtsgewandter Verantwortung6.7   Von misstrauischer Kontrolle zu respektvollen Beziehungen6.8   Vom Vergangenheitsbezug zu einer gegenwartsoffenen Haltung6.9   Von heroischer zu post-heroischer Führung6.10   Von Ergebnisorientierung zum Fitness-Check7   Zusammenschau: Paradoxien bewusst bearbeiten7.1   Typische Ambivalenzen7.2   Bearbeiten von ParadoxienTeil II: Methoden und Instrumente – Kollektive Achtsamkeit in der Praxis8   Überblick über die Methoden und Instrumente9   Unerwartete Ereignisse als Fenster zum System9.1   Musteranalyse9.1.1   Prinzipien von Musteranalysen9.1.2   Durchführen einer Musteranalyse9.1.3   Kurzfristige und langfristige Effekte9.1.4   Vorbereitung als Teil der Intervention9.2   Fragetechniken9.2.1   Unterscheiden zwischen Beschreiben, Erklären und Bewerten9.2.2   Gezieltes Fragen nach Überraschungen, Ausnahmen und Unterschieden9.2.3   Fragen zur Fokusverschiebung9.2.4   Fünf Fragen nach Verantwortung9.3   Ereignisanalysen im Alltag9.3.1   Gestaltungsprinzipien von Ereignisanalysen9.3.2   Durchführen der Ereignisanalyse9.3.3   Ursache-Wirkung-Analysen weiterentwickeln9.3.4   Lernen aus den Fehlern anderer9.3.5   Schnellanalyse mit Churchills Audit9.4   Zuschreiben von Verantwortung9.4.1   Frage nach der Verantwortung nicht eindeutig9.4.2   Person oder System?9.4.3   Muster für die Zuschreibung von Verantwortung9.4.4   Gestalten eines nachvollziehbaren Zuschreibungsprozesses10   Antizipieren10.1   Praktiken zur Reflexion der Arbeit10.1.1   Gestaltungsprinzipien von Briefing- und Debriefing-Gesprächen10.1.2   Briefing-Gespräche durchführen10.1.3   Debriefing-Gespräch10.1.4   Wichtig bei der Durchführung10.2   Lernen aus potenziellen Ereignissen10.2.1   Ereignis-Simulationen (Gun Drills)10.2.2   Auswertung schwacher Signale im Alltag10.2.3   Arbeit mit Szenarien10.3   Checklisten10.3.1   Ziel und Nutzen10.3.2   Verschiedene Checklistentpyen10.3.3   Checklisten für komplexe Aufgaben10.3.4   Typische Fallstricke bei der Nutzung11   Resilienz entwickeln11.1   Agiles Planen11.1.1   Planning Poker11.1.2   Übergreifende Ziele schaffen11.2   Entscheidungsfindung11.2.1   Kollegiale Fallberatung zur Lösung komplexer Probleme11.2.2   Entscheidungsfindung im Moment11.2.3   FLARE-Prozess für Risikoentscheidungen11.2.4   Soziokratisches Entscheidungsprinzip12   Kontinuierliches Prüfen der Systemfitness12.1   Selbsteinschätzung mit Kultur-Dialogen12.1.1   Idee, Ziel und Nutzen12.1.2   Ansatz und Vorgehen12.1.3   Stufenmodell als gemeinsame Referenz12.1.4   Themen zur Selbstbeobachtung12.1.5   Prinzipien für den Veränderungsprozess12.1.6   Durchführung12.1.7   Fallstricke bei der Durchführung12.2   Echtzeit-StimmungsbilderTeil III: Intervention – Veränderungsprozesse gestalten13   Gestalten von Veränderungsprozessen13.1   Fünf Phasen des Veränderungsprozesses13.2   Entwickeln der Interventionsstrategie14   Intervenieren in nicht-triviale Systeme14.1   Grenzen und Möglichkeiten des Intervenierens14.2   Entwicklung der Unternehmenskultur: Nur über Bande14.3   Selbstbeobachtung als Entwicklungsmotor14.4   Zusammenspiel der sachlichen, sozialen und zeitlichen Dimension14.5   Die Rolle von Beratung14.6   Entwicklung eines gemeinsamen Interventionsverständnisses15   Planen und Gestalten der Interventionsarchitektur15.1   Interventionsfokus: Wo werden wir wirksam?15.1.1   Ansatzpunkt für die Entwicklung: Koevolution von Organisation und Individuum15.1.2   Zielgruppen im Veränderungsprozess15.1.3   Zentral-gesteuerte oder organisch-evolutionäre Entwicklungsstrategien15.2   Interventionsprinzipien: Mehr, weniger, anders …15.2.1   Erfahrungen mit neuen Mustern15.2.2   Abbau hinderlicher Muster15.3   Interventionsarchitektur: Was, wann und wie?16   Aus der Praxis: Musterwechsel in der Sicherheitsarbeit16.1   Ausgangslage und erste Hypothesen16.2   Phasen im Veränderungsprozess16.2.1   Phase 1: Gemeinsame Referenzen entwickeln und den Prozess planen16.2.2   Phase 2: Muster beobachten und Maßnahmen ableiten16.2.3   Phase 3: Maßnahmen umsetzen und Erfolge stabilisieren16.2.4   Phase 4: Selbstlernfähigkeit in der Organisation verankern16.3   Erfahrungen im Verlauf17   Aus der Praxis: Integrierter Lernprozess für das Topmanagement17.1   Ausgangslage und erste Hypothesen17.2   Phasen im Veränderungsprozess17.3   Phase 1: Lernprozess für Topführungskräfte17.3.1   Der Lernprozess17.3.2   Evaluation der Ergebnisse und Erfahrungen im Verlauf17.3.3   Unerwartete Pausierung und Wiederaufnahme17.3.4   Analyseworkshop und erste Hypothesen17.3.5   Interventionsprinzipien und Vorgehen17.4   Phase 2: Entwickeln der Experten-Community und Pilotierung der Methoden17.5   Phase 3: Durchführung des integrierten Lernprozesses17.6   Phase 4: Internalisierung und Institutionalisierung17.7   Erfahrungen im Verlauf18   Zusammenfassung: 10 Gebote zur InterventionsgestaltungLiteraturStichwortverzeichnisDie Autorin
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH, Stuttgart

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Print:ISBN: 978-3-7910-3165-1Bestell-Nr.: 20193-0001ePDF:ISBN: 978-3-7992-6611-6Bestell-Nr.: 20193-0150ePub:ISBN: 978-3-7910-4045-5Bestell-Nr.: 20193-0100

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2017 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht [email protected]

Umschlagentwurf: Goldener Westen, BerlinUmschlaggestaltung: Kienle gestaltet, StuttgartLektorat: Friederike Moldenhauer, HamburgSatz: kühn & weyh Software GmbH, Satz und Medien, Freiburg

Juni 2017

Schäffer-Poeschel Verlag StuttgartEin Tochterunternehmen der Haufe Gruppe

Geleitwort

Kathleen M. Sutcliffe

In jeder Organisation werden wir früher oder später mit Ereignissen konfrontiert, die wir nicht kommen gesehen haben. Diese Vorfälle stellen unsere Resilienz auf die Probe. Dabei kommt es darauf an, wieweit wir in der Lage sein werden, adäquat zu reagieren und unsere Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.[2]

Annette Gebauer zeigt in diesem klugen und sehr lesenswerten Buch zahlreiche Wege auf, wie Unternehmen mit unerwarteten Ereignissen erfolgreich umgehen können. Neben einem umfassenden Überblick über organisationale Strategien, um unter schwierigsten Bedingungen Tag für Tag Spitzenleistungen zu erbringen werden die wichtigsten Konzepte anhand von Fallbeispielen und Interventionen aus der Praxis dargestellt. Nur wenige Bücher bieten sowohl eine zeitgemäße Darstellung achtsamen Organisierens, das auf ein wirksames Managen des Unerwarteten zielt, als auch eine Hilfestellung, wie diese Praktiken im organisationalen Alltag umgesetzt werden können. Ansprechend und lesbar geschrieben können verschiedene Berufsgruppen davon profitieren – vom Topmanagement über mittlere Führungskräfte und Linien-Manager bis zu denjenigen, die in der Organisation an vorderster Front tätig sind. Nur wenig Vordenker haben sich bisher mit diesem Thema intensiv beschäftigt und die Konzepte erfolgreich in die Praxis umgesetzt. Und nur wenige Experten haben ein so tief greifendes Verständnis für die Feinheiten von Unternehmen und Abläufen entwickelt und engagieren sich dafür, dass Organisationen die notwendigen Veränderungen nachhaltig umsetzen und somit besser werden.

Antizipation und Resilienz

Das Buch folgt der Einsicht, dass um eine äußerst zuverlässige Organisation zu entwickeln, die ihr anspruchsvolles Leistungsversprechen auch unter sich verändernden Bedingungen einlösen kann, die Fähigkeit erforderlich ist, auch angesichts von Mehrdeutigkeiten und Unsicherheit Sinn herzustellen. Leadership und Strategie beeinflussen das Denken von Führungskräften hinsichtlich zukünftiger Organisationsziele.[3]

Operative Exzellenz erfordert zum einen ein profundes Verständnis für die Beziehungen im System und die Art und Weise, wie die Arbeit erledigt wird. Darüber hinaus müssen die Organisationsmitglieder modernste Analysetools und -methoden einsetzen, um Ereignisse, die nicht passieren dürfen, vorwegzunehmen sowie ihre kausalen Vorläuferereignisse auszumachen und entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Leistungsfähigkeit entsteht dann durch die Abwesenheit von Varianz (z. B. indem man Aufgaben mithilfe von Routinen, Prozessen und Strategien immer gleich ausführt).

Wie dargelegt sind hochzuverlässige Organisationen besessen von dieser Logik der Vorwegnahme. Sie nutzen moderne Analysemethoden, um das Verhalten der Organisationsmitglieder zur effektiven Sicherung der Leistung zu kontrollieren. Diese Form der Antizipation reduziert Unsicherheit und die Fülle an Informationen, die verarbeitet werden muss. Ebenso reduziert sie die Gefahr, dass Erinnerungslücken, Fehleinschätzungen oder andere Verzerrungen passieren, die zu Störungen und Versagen beitragen können. Diese Vorwegnahme leitet Lernprozesse ein, schützt den Einzelnen vor Schuldzuweisungen, wirkt idiosynkratischen informellen Anpassungen entgegen und bietet Anlass für mögliche Verfahrensänderungen und Prozessanpassungen.[4]

Doch wie Annette Gebauer unterstreicht, können die existierenden Verfahrensabläufe nicht verarbeiten, was sie nicht antizipieren können. Antizipation ist nur ein Teil der Story. Um angesichts unerwarteter Überraschungen wirklich zuverlässig zu funktionieren, gehen die meisten hochzuverlässigen Organisationen einen Schritt weiter: Sie stärken ihre Resilienz, ihre Fähigkeit, in Echtzeit flexibel zu reagieren, Ressourcen zu reorganisieren und Maßnahmen zu ergreifen, um trotz unvorhergesehener Überraschungen, Variationen oder umfassendem Versagen funktionstüchtig zu bleiben. Dazu braucht es kollektive Achtsamkeit.

Kollektive Achtsamkeit

Kollektive Achtsamkeit, so zeigt Annette Gebauer im ersten Teil, kann uns davor schützen, von Überraschungen überwältigt zu werden. Kollektive Achtsamkeit ist mehr als ein kognitiver Zustand oder die Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu bündeln. Sie besteht in einem umfassenden Gewahrsein für Details und der Fähigkeit, unerwartete Ereignisse zu entdecken und sie zu managen. Kollektive Achtsamkeit ist ein Weg, klarer zu sehen, nicht klarer zu denken. Es geht um die Qualität der Aufmerksamkeit, die in der Organisation praktiziert wird, ihre Stabilität, Dauerhaftigkeit und Lebendigkeit. Achtsam zu sein bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: Statt sich auf Dinge zu konzentrieren, die das eigene Denken bestätigen, lautet das Ziel, Hinweise zu suchen, die das Gedachte infrage stellen oder unangenehm sind.[5]

Organisationen, die achtsam agieren, schaffen durch ihre Prozesse eine Aufmerksamkeitsqualität, die es ermöglicht, Signale dafür, dass die Dinge nicht wie erwartet laufen, deutlicher und früher wahrzunehmen. Zudem können die Betroffenen resilienter agieren, sobald unerwünschte Prozesse auftreten. Unfälle und Versagen sind in den seltensten Fällen das Resultat von Einzelhandlungen (auch wenn es natürlich die Tendenz gibt, die Schuld Einzelnen zuzuschreiben) und lassen sich nicht auf eine einzige Ursache zurückführen. Oft verbinden sich kleine Vorfälle miteinander und weiten sich dann aus. Deswegen müssen Organisationen lernen, früh kleine Irrtümer und Fehler zu entdecken und zu korrigieren, bevor sie sich zu größeren auswachsen. Solange Probleme klein sind, bestehen oft vielfältige Lösungsoptionen. Werden sie größer, tendieren Probleme dazu, sich mit anderen Schwierigkeiten zu verstricken, was die Auswahl an Lösungsmöglichkeiten deutlich einschränkt.

Gestaltung einer kollektiv achtsamen Organisation

In den letzten beiden Teilen ihres Buches zeigt Annette Gebauer, wie jede Organisation kollektive Achtsamkeit durch entsprechende Führungs- und Teambildungspraktiken erzeugen kann und wie Unternehmen adäquate Umsetzungsprozesse anstoßen können. Diese Vorgehensweisen gehören mit der Zeit natürlich zu der Art und Weise, wie die Organisation agiert – der Stoff, aus dem ihre Kultur gemacht ist.

Oft hört man in Organisationen: „Wenn wir nur eine bessere Kultur hätten, wäre die Leistung bei uns auch besser und sehr viel zuverlässiger.“ Ob das stimmt, ist schwer zu beurteilen, denn oft bleiben solche Aussagen eher vage und nur in den seltensten Fällen greifen sie konkrete Themen auf, wo etwas falsch läuft. Kulturwandel ist ein langer, beschwerlicher Weg. Wer sich mit dem Thema Organisationskultur beschäftigt, weiß, dass der Wunsch, die Kultur zu ändern, nie am Anfang stehen sollte. Man fängt immer mit den bestehenden Problemen an, für die eine Organisation eine Lösung sucht. Es geht darum, eingehender zu analysieren, um diese Probleme besser verstehen zu können. Wie verhalten sich die Mitarbeiter, wie sie sich ihrer eigenen Meinung nach nicht verhalten sollten? Was tun sie nicht, was sie ihrem Ermessen nach aber tun sollten? Und warum ist das so? Um einen Kulturwandel zu erreichen, muss man zunächst damit anfangen, sich mit den operationalen Problemen zu beschäftigen, die direkt vor einem liegen. Wenn es gelingt, Menschen dazu zu bringen, sich anders zu verhalten, entsteht eine neue Kultur. Sie nimmt die Form eines neuen Sets von Erwartungen und Standards (Normen) an, mit neuer Dringlichkeit werden die Mitarbeiter diesen Erwartungen und Standards auch gerecht. Sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte übernehmen neue Werte, Überzeugungen, Einstellungen und Gewohnheiten im Tun.[6]

Eine wirksame Organisationskultur wird von ihren Führungskräften durch ihre Handlungen und die von ihnen gestalteten Systeme ermöglicht, sie wird von Organisationsmitgliedern hervorgebracht, indem sie vorhandene Instrumente und Technologien nutzen und die Prozessrichtlinien und Verfahrensvorgaben in der Praxis anwenden. Mit der Zeit werden diese kontinuierlich weiterausgebaut und gestärkt, weil die Mitarbeiter dazu angeregt werden, über die erbrachte Leistung und andere Feedback-Indikatoren nachzudenken.[7]

Das Schöne an dem vorliegenden Buch ist, dass es uns nicht nur zeigt, was erforderlich ist, um kollektive Achtsamkeit zu entwickeln, sondern auch, wie Organisationen dieses Ziel erreichen können. Die Empfehlungen, die Annette Gebauer ihren Lesern an die Hand gibt, können in ihrem Wert nicht hoch genug geschätzt werden.

Teil I: Theoretische Grundlagen – Einen gemeinsamen Kompass entwickeln

1   Einführung: Warum kollektive Achtsamkeit?

Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt uns die Frage, wie zuverlässigkeitsorientierte Organisationen angemessene Formen für den Umgang mit Risiken und hoher Komplexität entwickeln können: Unternehmen der chemischen oder der Schwerindustrie, Krankenhäuser, Banken, Automobilhersteller, Dienstleister oder Pharmakonzerne. Wenn diese Unternehmen sich an uns wenden, stellen sie sich meistens folgenden Fragen: Wir tun so viel für Sicherheit, Qualität oder für das Risikomanagement – teilweise tun wir sogar zu viel und trotzdem passieren noch immer unerwartete und unerwünschte Vorfälle, die wir uns in Zukunft aber nicht mehr leisten können. Tun wir überhaupt die richtigen Dinge? Und wie tun wir die Dinge, die wir tun?[8]

Viele dieser Unternehmen erwägen einen grundlegenden Musterwechsel im Umgang mit Risiken, denn das Prinzip „mehr Systeme und mehr Vorgaben“ funktioniert für sie nicht mehr. Sie erleben, wie ihr bisheriges Muster, Unsicherheit ausschließlich durch Kontrolle und immer weiter ausufernde Vorgaben zu bearbeiten, an eine Grenze stößt.

Dieses Buch widmet sich der Frage, wie alternative, angemessenere Formen des Organisierens für die Bewältigung von Risiken und Komplexität aussehen und wie sie in der Praxis nachhaltig umgesetzt werden können. Wir stützen uns dabei auf die Erkenntnisse besonders zuverlässiger Organisationen, die es geschafft haben, ihre Leistungsfähigkeit durch das gezielte Organisieren ihrer kollektiven Achtsamkeit zu steigern.

Steigende Anforderungen an die Bearbeitung von Komplexität und Risiken

So unterschiedlich die Anforderungen der genannten Unternehmen sind – sie alle stehen vor der Herausforderung, ein steigendes Ausmaß an Risiken, Komplexität und Dynamik bewältigen zu müssen, sei es durch den zunehmenden Einsatz hoch spezialisierter Technologien, der digitalen Transformation oder aufgrund fortschreitender Globalisierung. Neue Risiken entstehen zudem durch einen reflexiven Umgang mit Gefahren: Risikoerwartungen führen zu unerwarteten Verhaltensveränderungen, die neue Risiken und Ungewissheiten produzieren.

Zeitgleich steigen die Erwartungen der Außenwelt an die Zuverlässigkeit dieser Organisationen. Kunden, Patienten, Mitarbeiter, Regulierungsbehörden und die mediale Öffentlichkeit beobachten sie kritisch und verlangen von ihnen Berechenbarkeit und Transparenz. Krankenhäuser stehen zum Beispiel zunehmend in der Pflicht, Auskunft über Patientensicherheit und Behandlungsqualität zu geben und müssen sich mit den Leistungskennzahlen anderer Häuser vergleichen. Banken müssen die Auflagen der Mindestanforderungen an das Risikomanagement (MaRisk) der Finanzaufsichtsbehörde erfüllen, ebenso wird ihr Umgang mit operationellen Risiken kontrolliert. Produzierende Unternehmen sind verpflichtet, über ihre Performance in der Arbeits- und Umweltsicherheit oder im Risikomanagement zu berichten und werden danach bewertet. Weil sie in einem riskanten Umfeld tätig sind, dürfen sich diese Unternehmen nur eine minimale Anzahl an unerwarteten, unerwünschten Ereignissen leisten.[9]

Sicherheit als Trend

Nicht das Thema Risiko, sondern das Thema Sicherheit hat Hochkonjunktur. Das Institut für Zukunftsstudien wertet Sicherheit bereits als neuen Megatrend (vgl. Seitz, 2015). Anders als der Begriff Risiko ist der Wunsch nach mehr Sicherheit mit der Vorstellung verbunden, dass es einen bereits erreichten „sicheren“ Zustand zu erhalten und zu schützen gilt. In Zeiten erlebter Unsicherheit ist es offenbar naheliegender, den Schutz der Sicherheit zu fordern, statt sich mit selbst produzierten Risiken auseinanderzusetzen. Der Ruf nach mehr Sicherheit führt allerdings häufig zu einer sich selbstverstärkenden Spirale: Die Sensibilität für erlebte Unsicherheit steigt und damit wiederum der Anspruch an Sicherheit.[10]

Sinnvoller wäre es, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass wir mit jeder unternehmerischen Entscheidung zwangsläufig Risiken produzieren und dass die Aufgabe darin besteht, für diese Risiken angemessene Bewältigungsformen zu entwickeln. Wir behandeln Sicherheit deshalb nicht als eine Frage von Security oder geeigneten Schutzmaßnahmen, wie es auch das Institut für Zukunftsstudien sieht. Es geht darum, wie Organisationen die notwendige Resilienz oder gar Antifragilität (vgl. Taleb, 2012) entwickeln, um mit unerwarteten Veränderungen, Brüchen und Krisen umgehen zu können.

Alte Bewältigungsmuster reichen nicht mehr aus

Geht es um die Bearbeitung von Sicherheits- bzw. Risikofragen, verfolgen viele Unternehmen immer noch vor allem kontrollorientierte Strategien. All diesen Bemühungen ist der Versuch gemein, das „Problem der Komplexität“ durch Regulierung und Technisierung zu lösen. Das Unbeherrschbare soll beherrschbar, das Unerwartbare erwartbar gemacht werden.

Mit diesem Vorgehen haben viele Unternehmen einiges erreicht. Sie haben zum Beispiel umfangreiche Systeme für das Risiko-, das Sicherheits- oder das Qualitätsmanagement eingeführt und haben sich zertifizieren lassen. Konzerne schulen ihre Mitarbeiter vorschriftsmäßig und führen regelmäßig Initiativen zu ihrer zusätzlichen Motivierung durch. Diese Sicherheitsstrategien haben in den ersten Jahren zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Kennzahlen geführt. Doch mittlerweile klagen viele Unternehmen, sie kämen über ein bestimmtes Niveau in der Risikobewältigung nicht hinaus, während die Komplexität ihrer Sicherheitsherausforderungen sowie der Anspruch an Sicherheit steige.[11]

Es lässt sich beobachten, dass in besonders sicherheitsorientierten Unternehmen die formalen Systeme aus Vorschriften, Regeln, Checklisten und Prozessvorgaben, Ampelsystemen, Dokumentationspflichten, Statistiken oder Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein Eigenleben entwickeln und als wenig effektiv und extrem zeitaufwendig erlebt werden. Banken und Chemieunternehmen gehören zum Beispiel zu den am stärksten regulierten Branchen. Neue Vorgaben für das Risikomanagement in Krankenhäusern lassen vermuten, dass diese Systemlogik nun auch auf das Gesundheitswesen übertragen wird. Kontrollorientierte Strategien im Umgang mit Komplexität, Risiko und Unsicherheit führen dazu, dass Mitarbeiter nur noch Systembefriedigung betreiben. Damit wird ihre Aufmerksamkeit von den eigentlichen Problemen und Risiken abgelenkt. Die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen sinkt. Mitarbeiter sichern sich lieber in alle Richtungen ab, bevor sie eine Entscheidung treffen.

Entwicklung einer Sicherheits- bzw. Risikokultur als Lösung?

Weil die Erfolge etablierter Managementsysteme für den Arbeits- und Umweltschutz, das Risikomanagement oder die Qualitätssicherung ausbleiben, sehen viele Entscheider die Lösung in einer neuen Kultur. Hinter der Forderung steckt häufig der Wunsch nach einem „ganzheitlichen Ansatz“. Dieser soll sich zum Beispiel in den Unternehmenswerten, im Verhalten und den Einstellungen der Führungskräfte und Mitarbeiter sowie der Zusammenarbeit in der Organisation niederschlagen. So definiert die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht in ihren Mindestanforderungen an das Risikomanagement für Banken (MaRisk) einen unternehmensweiten Ansatz zum Risikomanagement (ERM) sowie die Entwicklung der Risikokultur. In einem Rundschreiben fordert der Exekutivdirektor der Bankenaufsicht Röseler die Unternehmensführung aller Banken auf, die Entwicklung dieser Risikokultur aktiv voranzutreiben (vgl. Rundschreiben der Bafin vom 18.02.2016). Auch Krankenhäuser, Chemie- und Industrieunternehmen suchen verstärkt nach Wegen, ihre Sicherheits- bzw. Risikokultur weiterzuentwickeln. Ebenso hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallversicherung (DGUV) jüngst eine zehnjährige Kampagne zur Entwicklung der Präventionskultur für Sicherheit und Gesundheit ins Leben gerufen, die nun von den Berufsgenossenschaften umgesetzt werden soll (DGUV, 2016).[12]

Organisieren kollektiver Achtsamkeit

Wenn man Führungskräfte oder Experten fragt, wie die geforderte neue Sicherheits- oder Risikokultur aussehen soll, gehen die Meinungen schnell auseinander. Ein erster wichtiger Schritt in der Kulturentwicklung ist deshalb, mit der Unternehmensführung ein gemeinsames Zielbild zu entwickeln und die damit verbundenen, meist impliziten Steuerungs- und Interventionsvorstellungen zu reflektieren: Wie stellen wir uns zuverlässiges Organisieren vor? Wie entsteht „Sicherheit“ bzw. wie sieht aus unserer Sicht eine angemessene Bearbeitung von Risiken und Unsicherheit aus? Was sind aus unserer Sicht erfolgsversprechende Hebel, um Zuverlässigkeit gezielt zu beeinflussen?[13]

Aufschlussreiche Erkenntnisse zur Bearbeitung dieser Frage liefern die Forschungsergebnisse über sogenannte high reliability organizations, also Organisationen wie Feuerwehren oder Flugzeugträgermannschaften der US Navy, die durch eine überraschend hohe Zuverlässigkeit aufgefallen sind – trotz der hohen Risiken und Unberechenbarkeiten, mit denen sie es zu tun haben.

Bereits 2003 veröffentlichten Weick und Sutcliffe das Buch Managing the Unexpected, das bei Führungskräften und Beratern in den USA und Europa auf große Aufmerksamkeit stieß – vor allem nach aktuellen Krisen (vgl. Weick u. Sutcliffe, 2003). Eine grundlegende Erkenntnis dieses Buches und der vorausgegangenen Forschung ist, dass Zuverlässigkeit, Sicherheit und hohe Leistungsfähigkeit unter Bedingungen von Unsicherheit, Komplexität und hohem Risiko weder allein durch ein wohlgestaltetes System aus Regeln und Prozessen noch durch das Kontrollieren und Beseitigen von Störfaktoren und Fehlern erreicht werden kann. Zuverlässigkeit entsteht den Forschungserkenntnissen zufolge vielmehr durch die organisationale Fähigkeit, sich immer wieder an neue Bedingungen anzupassen. Wenn es um das Überleben im unsicheren Terrain geht, müssen Organisationen und ihre in diesem Umfeld agierenden Teams in der Lage sein, sich auf neue, sich permanent wandelnde Bedingungen einzustellen. Notwendige Voraussetzung für diese „resilienten“ Anpassungsleistungen ist das Vermögen einer Organisation, Sinn zu produzieren, um die entwickelten Erwartungen regelmäßig gegen den Strich zu bürsten und eingespielte Routinen im entscheidenden Moment geistesgegenwärtig auf ihre Brauchbarkeit zu überprüfen. So beobachteten die Forscher in überraschend zuverlässigen Unternehmen wiederkehrende Formen eines high reliability organizing, [14]das bestimmten Prinzipien folgte. Es handelt sich dabei nicht um festgelegte Abläufe oder Handlungsanweisungen. Vielmehr waren es eher kollektive kognitive Routinen, die strukturieren, wie Mitarbeiter und Führungskräfte in unbekannten, hochkomplexen Situationen oder Krisen gemeinsam Sinn produzieren, also ein im Moment tragfähiges Bild von der Wirklichkeit erzeugen. So entsteht die notwendige kollektive Aufmerksamkeit, die es für einen angemessenen Umgang mit Unerwartetem und zuverlässige Leistungen braucht.

Damit rücken Fragen der kontinuierlichen Verbesserung, Agilität und Lernfähigkeit in den Vordergrund. Zuverlässigkeit und Sicherheit sind aus dieser Sicht das Ergebnis permanenter Selbsterneuerung und kontinuierlichen Lernens der Organisation und bilden die Grundlage für die allgemeine, organisationale Leistungsfähigkeit. Weick und Sutcliffe nennen diese neue Qualität der Sinnproduktion auch das Organisieren kollektiver Achtsamkeit (organizing collective mindfulness[15]). Diese zukunftsweisende Form des Organisierens haben wir als Titel für dieses Buch gewählt. Er markiert bereits drei wichtige Aspekte:

Organisieren Es geht um einen fortwährenden Prozess der Selbstorganisation, um eine bestimmte Aufmerksamkeitsqualität für einen proaktiven Umgang mit Risiken zu erreichen (und nicht um das Erreichen und Schützen eines bestimmten Zustandes).

Kollektiv Ziel ist die gemeinschaftliche Sinnproduktion (und es ist nicht einfach mit dem Bündeln individueller Einzeleindrücke getan).

Achtsamkeit Der sinnlichen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit der Mitglieder kommt wachsende Bedeutung zu. Unternehmen müssen sie als wertvolle Ressource für den Umgang mit Risiken künftig besser nutzen.

Herausforderungen bei der Übersetzung in die Praxis

In unserer Beratungspraxis nutzen wir die in der Folge diskutierten Prinzipien für das Organisieren kollektiver Achtsamkeit für die Entwicklung einer proaktiven Risiko- bzw. Sicherheitskultur. Obwohl das theoretische Wissen und die empirischen Befunde vordergründig überzeugend klingen, tun sich insbesondere sicherheitsorientierte Unternehmen in der Praxis schwer, auf diese Erkenntnisse zu reagieren und ihre Form des Organisierens zu überdenken:

Ein Problem besteht darin, dass die Bereitschaft, einen nachhaltigen Umdenk- und Veränderungsprozess anzustoßen, in vielen Unternehmen noch fehlt. Meistens wird die Unternehmensführung durch konkrete Krisen- oder Unfallerfahrungen zwar kurzfristig aufgeschreckt, aber diese reaktive Energie reicht nur selten aus, die bisherigen Prämissen in der Risikobewältigung infrage zu stellen und einen nachhaltigen Veränderungsprozess anzustoßen. Nach Krisen neigen Unternehmen deshalb eher zu Aktionismus. Sie entscheiden sich entweder für symbolische, kurzfristige Initiativen, die schnell im Sande verlaufen, weil alle Beteiligten bereits erwarten, dass sich nur wenig ändern wird. Nur wenige Unternehmen schaffen es, die Ernsthaftigkeit und das Durchhaltevermögen für den notwendigen grundlegenden Musterwechsel aufzubringen, um kollektive Achtsamkeit zu entwickeln.[16]

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass oft unklar ist, wie eine nachhaltige Kulturentwicklung eigentlich erreicht werden kann. Häufig entscheidet sich die Unternehmensführung für Sensibilisierungsaktionen wie Sicherheitstage, Mitarbeiterschulungen, Kommunikationsoffensiven oder die Arbeit an Leitbildern oder Wertekatalogen. Aber häufig handelt es sich dabei eher um Absichtsbekundungen für die Kommunikation nach außen, die wenig Einfluss auf die organisationale Wirklichkeit im Inneren haben und von der Belegschaft eher als Widerspruch zu den eingespielten Mustern in der Praxis erlebt werden.

Erschwerend hinzu kommen Übersetzungsprobleme. Die konzeptionellen Überlegungen, kollektive Achtsamkeit zu organisieren, erscheinen Praktikern abstrakt und fremd, sie werden entweder als zu theoretisch abgelehnt oder im Sinne der bestehenden Systemlogik „verstanden“. Sie sind über Jahre mit einer kontrollorientierten, mechanistischen Steuerungslogik sozialisiert und sind damit auch gut gefahren. Warum sollten sie das Bisherige grundlegend infrage stellen? Es ist nachvollziehbar, dass die alte Systemlogik zunächst verteidigt wird: „Bei uns passiert nicht so viel Unerwartetes, man kann auch vieles festlegen. Wenn unsere Mitarbeiter die Regeln und Vorschriften richtig anwenden würden, wären wir einen ganzen Schritt weiter.“[17]

Darüber hinaus stehen sicherheitsorientierte Unternehmen häufig unter hohem öffentlichen Druck. Medien und Politik reagieren höchst sensibel auf die kleinsten Hinweise, dass diese Organisationen etwas nicht im Griff haben und deshalb müssen sie die Illusion von Kontrolle nach Außen aufrechterhalten. Die Auseinandersetzung mit dem Organisieren kollektiver Achtsamkeit bedeutet einen bescheideneren Umgang mit sicherheitsstiftenden Berechenbarkeitsvorstellungen und stellt damit erst einmal selbst ein Risiko dar. Zum einen geht es um das Eingeständnis, dass die alten Verfahren nicht mehr ausreichen, Sicherheit herzustellen. Zum anderen aber geht es auch um die Erkenntnis, dass künftig weniger mit Sicherheit bzw. zero accidents, sondern mit prinzipieller Unsicherheit zu rechnen ist.

Ein weiterer Fallstrick bei der Umsetzung ist, dass wichtige Kompetenzen in den Unternehmen fehlen, um den grundlegenden Wandel zu vollziehen. Das betrifft zum einen die Expertise für einen reflektierten Umgang mit Risiken sowie die Erfahrungen in der Begleitung des notwendigen Veränderungsmanagements. Und auch das Rollenverständnis der Führungs- und Expertenfunktionen muss weiterentwickelt werden. Führungsteams müssen überhaupt erst einmal ein gemeinsames Zielbild entwickeln und zugrunde liegende Vorstellungen über Organisation, ihre Steuerung und Gestaltbarkeit hinterfragen. Auch die Risikomanager, Sicherheits- oder Qualitätsexperten müssen ihre Rolle grundlegend überdenken. Statt als Fachexperte vorzugeben, was richtig und was falsch ist, müssen sie einen gemeinsamen, fortwährenden Suchprozess begleiten, um bestehende Formen der Sinnproduktion kritisch zu prüfen mit dem Ziel, diese gegebenenfalls zu optimieren.[18]

Als letzter Punkt ist die in der Regel stark ausgeprägte Orientierung an den Sicherheitskennzahlen, also den Ergebnissen, zu nennen. Die Entwicklung der kollektiven Achtsamkeit zielt auf die Qualität der Zusammenarbeit und das Organisieren ab und bedeutet erst einmal einen Zusatzaufwand, der sich nicht sofort in den Kennzahlen bemerkbar macht. Oft dauert es ein bis zwei Jahre, bis sich die Ergebnisse verbessern. Dies erfordert im Veränderungsprozess viel Durchhaltevermögen. Für Führungskräfte ist das keine leichte Aufgabe, wenn die Belohnungssysteme auf die Ergebniskennzahlen und nicht auf die Prozessqualität ausgerichtet sind.

Ziel und Aufbau dieses Buches

Die Entwicklung einer proaktiven Risiko- oder Sicherheitskultur ist ein anspruchsvoller Veränderungsprozess. Das vorliegende Buch bietet Hilfestellung auf diesem Weg. Die Ausführungen basieren auf unseren Praxiserfahrungen, den Erkenntnissen aus der Forschung zum high reliability organizing[19] und resilience engineering, die wir mit Ansätzen des systemischen Managements und Beratung kombinieren.

Das Buch gliedert sich in drei Teile:

Ziel des ersten Teils ist die Entwicklung eines gemeinsamen Kompasses für das Organisieren kollektiver Achtsamkeit für eine proaktive Sicherheits- bzw. Risikokultur: Wir erörtern, was wir unter kollektiver Achtsamkeit verstehen und wo wir geeignete Ansatzpunkte für ihre Entwicklung sehen. Es geht uns in diesem Teil vor allem um das Herausarbeiten des Unterschieds zwischen einer traditionellen und einer angestrebten neuen Logik, wie sie Ansätze zum Organisieren kollektiver Achtsamkeit nahelegen. Dafür setzen wir uns mit dem Begriff der Sicherheit und Risiko auseinander und diskutieren vier verschiedene Spielarten im Umgang mit Sicherheit bzw. Risiko. Wir geben Hinweise, wie sich die beiden Logiken im Unternehmensalltag bemerkbar machen und bieten Hilfestellungen, wie sie beobachtet und bearbeitet werden können.

Im zweiten Teil stellen wir einige ausgewählte und bewährte Methoden und Werkzeuge für das bewusste Organisieren kollektiver Achtsamkeit vor. Die Methoden sind nach drei Aspekten geordnet: Zum einen erläutern wir Vorgehensweisen, um das Lernen von unerwarteten Ereignissen in der Organisation zu fördern. Zweitens stellen wir Methoden vor, die die Sinnproduktion im Unternehmensalltag fördern. Drittens zeigen wir Methoden und Instrumente auf, die der kontinuierlichen Selbstbeobachtung zur nachhaltigen Kulturentwicklung dienen.[20]

Im dritten Teil diskutieren wir schließlich unsere Überlegungen, einen nachhaltigen Veränderungsprozess zu gestalten und schildern konkrete Erfahrungen mit seiner Durchführung. Wir zeigen die notwendigen Schritte für die Entwicklung einer Interventionsstrategie und stellen mithilfe zweier Beispiele aus der Praxis einen evolutionären und einen top-down gesteuerten Entwicklungsverlauf dar.

Dank

Ideen entstehen zwischen den Köpfen. Viele der Überlegungen, Ansätze, Methoden und Erfahrungen sind in Diskussionen und gemeinsamen Projekten in einem Netzwerk von geschätzten Experten entstanden, ohne die dieses Buch nicht denkbar gewesen wäre. Ich möchte mich vor allem bei denen bedanken, mit denen ich in den letzten Jahren intensiv zusammen gearbeitet habe, um die Theorie in die Praxis zu bringen: Bert Slagmolen, Stefan Günther, Fabian Brückner, Marc Otten, Beth Lay, Ursula Kiel-Dixon, Kathleen Sutcliffe, Henning Breuer, Torsten Groth, Athanasios Karafillidis, Wolfgang Dehm, Stephan Kasperczyk, Peter Pawlowsky, Daved van Stralen, Robert Taen, Bert van Dalen, Francois Smith, Silvia Puhani, Thomas Makait, Ralph Diener, Gerard Uittenhout, Jörg Arnold, Rainer Nielinger, Ulrich Schwalm, Just Mields, Gundolf Lange, Rudolf Wimmer, Fritz Simon, Dirk Baecker u.v.m.

Mein besonderer Dank gilt Oliver Ziegenbalg, Sandra Schaede und Anja Wollenberg, die mir als Partner und Freunde wertvolle, kreative und reflektierte Impulsgeber und Sparringspartner für meine Arbeit sind.[21]

2   Was bedeutet Organisieren kollektiver Achtsamkeit?

Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit ist eine Antwort auf die Frage eines angemessenen Umgangs mit dem Unerwarteten. Kollektive Achtsamkeit beschreibt eine besondere Qualität der Aufmerksamkeit, die es Unternehmen ermöglicht, trotz hoher Komplexität, Risiken und Unsicherheiten ein hohes Maß an Zuverlässigkeit und Sicherheit zu erzeugen. Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit beschreibt eine bestimmte Qualität der Systemfitness. Eine Organisation entwickelt Routinen, um bisherige Erwartungen und Routinen zu hinterfragen und immer wieder auf ihre Brauchbarkeit im Hier und Jetzt zu überprüfen.

Diese Fähigkeit ist immer dann gefragt, wenn man sich nicht mehr darauf verlassen kann, dass die bisherigen Routinen und Vorstellungen von den Zusammenhängen noch zur erlebten Wirklichkeit passen. Dieses permanente „Fitnesstraining“ – der Abgleich unserer Konzepte mit unseren Erfahrungen im Hier und Jetzt – ist die Essenz einer proaktiven Risiko- bzw. Sicherheitskultur.

Organisieren kollektiver Achtsamkeit bedeutet aus unserer Sicht

gezielt Antizipations- und Resilienzfähigkeiten in der Organisation zu entwickeln, um unerwartete Entwicklungen früher zu erahnen und schneller auf sie reagieren zu können (Abschnitt 2.3).

die Art und Weise des Konstruierens von Wirklichkeit in der Organisation bewusst zu gestalten und zum Führungsthema zu machen, um auf neue Entwicklungen schnell Antworten zu finden. Wir sprechen in der Folge von Sinnproduktion (Abschnitt 2.4 und Abschnitt 2.5).[22]

der Gestaltung von unmittelbaren Interaktionen in Besprechungen, OP-Räumen, Kontrollräumen, Krisensitzungen usw. eine höhere Aufmerksamkeit zu schenken. Interaktionen sind ein wichtiges Einfallstor für individuelle Wahrnehmungsleistungen, die bei der Kommunikation von Entscheidungen effektiver und effizienter genutzt werden müssen (Abschnitt 2.6).

2.1   Zum Begriff der Achtsamkeit: Individuelle und kollektive Achtsamkeit

Zu Beginn und für eine bessere Orientierung kommen hier einige Anmerkungen zum Begriff der Achtsamkeit und wie wir ihn verwenden. „Achtsamkeit“ bzw. mindfulness ist in aller Munde und wird in unterschiedlichen Kontexten verwendet – angefangen vom Buddhismus und der darauf gründenden Yogabewegung, in Ansätzen der Work-Life-Balance oder in Ratgeberliteratur für eine achtsamere Lebensführung, in Therapieformen zur Stressreduktion und Behandlung von Burn-out.

Achtsamkeit wird definiert als eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht und nicht wertend ist (vgl. Kabat-Zinn, 1982).

Gemeint ist damit in der Regel eine bestimmte Form der individuellen Aufmerksamkeit, die sich stärker auf das Hier und Jetzt bezieht und sich nicht durch Erwartungen ablenken oder beeinflussen lässt. Die Idee dahinter ist, dass eine größere persönliche Ausgeglichenheit, Erfülltheit und Sensibilität einen positiven Effekt auf die Leistungsfähigkeit hat und damit auch der Organisation zugute kommt.[23]

Unternehmen versuchen diese individuelle Achtsamkeit bei ihren Mitarbeitern gezielt zu fördern, zum Beispiel mit bewusstseinserweiternden Meditationstrainings, wie etwa in dem „Search-Inside-Yourself-Programm“ von Google (vgl. Chade-Meng Tan, 1982) oder das an dieses Konzept angelehnte Achtsamkeitstrainingsprogramm bei SAP, die auf mehr „Klarheit im Kopf“ abzielen (vgl. Falk, 2016).

Wir vertreten hier die These, dass Organisationen auch auf kollektiver Ebene ihre Achtsamkeit erhöhen können und müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Ein mentales Training für individuelle Achtsamkeit ist aus unserer Sicht dabei jedoch nur eine Seite der Medaille. Bewusstseinserweiternde Trainings erhöhen die Wahrnehmungsfähigkeit und Denkfähigkeit des Einzelnen. Sie beantworten jedoch noch nicht die Frage, wie diese erhöhte individuelle Aufmerksamkeit von der Organisation genutzt werden kann. Daraus entstehen wichtige Führungsfragen: Wie kann die erweiterte Aufmerksamkeit zum Beispiel im Sinne der Organisationsziele und -herausforderungen gelenkt werden? Was hilft den Organisationsmitgliedern zu unterscheiden, was für das Unternehmen relevant ist und was nicht? Und wie kommen die individuellen Eindrücke dann in der Entscheidungskommunikation ins Spiel? Wie werden sie ausgewertet und interpretiert?

Wir konzentrieren uns deshalb hier vorrangig auf die andere Seite der Medaille und beschäftigen uns mit der Frage, wie kollektive Praktiken, Rituale und Prozesse auf der Ebene der Organisation gestaltet werden sollten. Wie müssen Unternehmen sich organisieren, damit aus individuellen Wahrnehmungen im sozialen Miteinander die gewünschte Qualität einer kollektiven Achtsamkeit entstehen kann, die es ihnen ermöglicht, trotz volatiler Bedingungen zuverlässige Leistungen zu erbringen?[24]

2.2   Erste Beispiele für kollektive Achtsamkeitspraktiken

Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit kann in unterschiedlichen Facetten und Kontexten beobachtet werden. Folgende Beispiele illustrieren kollektive Achtsamkeitspraktiken, die wir in der theoretischen Einordnung immer wieder aufgreifen werden:

Meerkat Board in der Produktion

In einem Zementunternehmen in Südafrika kommen die Werksmitarbeiter einer Schicht einmal täglich zusammen und tauschen sich am sogenannten Meerkat Board über ihre Eindrücke aus. Meerkats sind Erdmännchen und in Südafrika weit verbreitet. Die Tiere haben eine besondere Rollenteilung: Sie positionieren Wächter an ihren Höhlen, die nach unerwünschten Feinden und Bewegungen Ausschau halten. So können die anderen Tiere sicher Nahrung suchen. Die Teams treffen sich regelmäßig in „Höhlen-Meetings“, um ihre Beobachtungen in geschützter Atmosphäre zu teilen. Speziell dafür ausgebildete „Wächter“, zumeist der Schichtleiter, moderieren den Prozess und verfolgen die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen: Was haben wir Ungewöhnliches in der letzten Schicht bemerkt, wo vermuten wir Schwierigkeiten, wo haben sich neue Risiken ergeben oder wo haben sich riskante Arbeitsweisen eingespielt? Der Wächter überlegt gemeinsam mit seinen Kollegen, wie man am besten darauf reagiert und wer welche Aufgabe übernimmt.[25]

Foreign Object Damage Walk auf Flugzeugträgern (FOD Walks)

Auf dem Flugzeugträger Carl Vinson kann man beobachten, wie sich die gesamte Crew einmal täglich auf dem Deck zu einem Foreign Object Damage Walk trifft. Betanker, Piloten, Techniker und Sicherheitsexperten u. a. suchen gemeinsam das Deck ab, um überraschende, fehlerhafte Kleinstpartikel aufzuspüren: Wie ist dieser kleine Ölfleck entstanden? Wo kommt diese Schraube her? Warum liegt hier ein kleines, abgebrochenes Teilchen? Was könnte passieren, wenn das hier liegen bleibt? Was wissen wir noch nicht über unsere Arbeit hier? Vom Betanker, den Signalgebern über die Piloten bis zum Offizier – jeder Blick und jede Meinung ist hier gefragt. Manchmal treten mehr als hundert Personen an. Die verschiedenfarbigen Uniformen kennzeichnen ihre unterschiedlichen Funktionen und Ränge an Bord: Weiß für das medizinische Personal, rot für die Feuerwehr und andere Kontrollfunktionen, grün für die Mechaniker und Deckoperatoren, gelb für die Sicherheitsexperten auf dem Deck, braun für die Chefingenieure und lila für die Betanker. Alle Beteiligten bilden eine Linie und laufen das Deck von vorne bis hinten ab. Nicht, weil etwas Ungewöhnliches passiert ist, das sie näher untersuchen müssten, vielmehr suchen[26] sie bewusst nach Ungewöhnlichem und Unklarheiten – ohne einen bestimmten Anlass zu haben. Sie werden erst wissen, was sie suchen, wenn sie es gefunden haben. Jede kleinste Abweichung kommt ins Visier der zahlreichen Augenpaare. Alle wissen, dass sie so etwas über mögliche Zusammenhänge im System lernen können, besser zu verstehen: Wie können wir flexibel auf Überraschendes reagieren, bevor etwas Schlimmeres geschieht?

Cold Readings bei der Filmproduktion

Der Austausch mit Filmteams ermöglicht Einblicke, wie sich Filmproduktionen auf die anspruchsvollen, unter Hochdruck stattfindenden Dreharbeiten vorbereiten (vgl. Gebauer, 2014). Zum Beispiel führen viele von ihnen sogenannte Cold Readings durch. Zu Beginn des Drehs sitzen alle Abteilungen – Regisseur, Schauspieler, Kamera, Garderobe, Kostüm, Schnitt, Produzent, Ausstattung, Herstellungsleitung etc. – für einen oder mehrere Tage zusammen. Viele von ihnen treffen sich bei der Leseprobe zum ersten Mal und lernen sich an diesem Tag erst kennen. Doch es geht in diesem Treffen nicht darum, den Produktionsplan durchzugehen, damit jeder genau weiß, was von ihm erwartet wird. Das Cold Reading hat einen anderen Zweck: Alle Beteiligten lesen das Drehbuch und entwickeln so eine Idee und vor allem eine gemeinsame Haltung zum Film. Der kollektive Geist, die Story, die so in den Köpfen beim Lesen und Reden entsteht, hilft den Beteiligten später, wenn es hektisch wird. Sie können dann besser einschätzen, was für wen wichtig ist und was nicht, wie die Dinge ineinandergreifen und wie sie ihre Aufgabe im Sinne des kollektiven Ziels am besten erfüllen. Und später, wenn die Dinge dann wie immer anders kommen als gedacht, haben sie zwar kein fixes Rezept, das ihnen genau vorgibt, was zu tun ist, aber sie haben eine einvernehmliche Haltung und ein Gespür für die Zusammenhänge. Beides dient als Kompass, mit dem sie Schwierigkeiten gemeinschaftlich umschiffen können und die einmal angefangene Idee spontan weiterentwickeln, häufig sogar verbessern können.[27]

Ad-hoc-Teams zur Problemlösung bei der Boeing 737-Produktion

Ähnliche Beobachtungen machten wir beim Besuch der Fertigungsstätte der Boeing 737 in Seattle. Auch Boeing verbessert das Zusammenspiel seiner zahlreichen Gewerke und Partner. Jeder externe Mitarbeiter erhält Schulungen über die Produktionsabläufe und Arbeitsweisen im Werk, unabhängig davon, ob er direkt mit ihnen zu tun hat oder nicht. Dazu gehören auch detaillierte Begehungen vor Ort, damit die Beteiligten sich besser vorstellen können, wie was zusammenhängt und welche wechselseitigen Abhängigkeiten und Erwartungen es gibt. Dieses Vorgehen zeigt, wie es durch intelligentes Organisieren auch bei standardisierten Arbeiten am Fließband (moving line) möglich ist, flexibel auf Unerwartetes reagieren zu können.

Ein weiteres Beispiel dafür ist das Andon-Cord-Prinzip, ein bekanntes Element des Toyota Produktionsprozesses, das auch Boeing verwendet. Bemerkt ein Mitarbeiter eine kleine Störung am Band, ist er berechtigt, den Produktionsfluss eigenmächtig zu stoppen. Jetzt hat er genau vier Minuten Zeit, das Problem zu erörtern. Kann er es selbst in dieser Zeit nicht lösen oder ist er sich unsicher über die Folgen der Störung, ruft er ein Ad-hoc-Team an einem dafür vorgesehenen Besprechungstisch zusammen, um das Problem aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und um gemeinsam zu entscheiden, wie es weitergeht. Das alles ist nur möglich, weil sowohl die Kollegen als auch das Management nahe an der Produktion sitzen, schnell verfügbar sind und ihr Wissen einbringen können. Über Monitore und Leuchtsysteme erfahren die Kollegen über die Störung und was die Verzögerung für sie bedeutet.[28]

Debriefings im Cockpit

Ein anderes Beispiel für sind sogenannte Debriefings, wie sie ein wichtiges Element des Crew-Ressource-Managements darstellen. Auch an Tagen, an denen die Dinge richtig und scheinbar nach Plan gelaufen sind, analysieren Teams nach getaner Arbeit in einem Tagesrückblick die eigenen Bewältigungsmuster sowie den Umgang mit Komplexität und unvermeidbaren Überraschungen: Was wollten wir heute erreichen? Wann ist etwas Unerwartetes geschehen? Wie haben wir das bemerkt und wie sind wir damit umgegangen? Was wäre fast schiefgegangen und was hat dazu beigetragen, dass es doch noch geklappt hat? Was daran war hilfreich, was eher riskant oder fragwürdig? Was hat uns in der Zusammenarbeit geholfen? Was war schwierig …

Unterschiedliche Kontexte, vergleichbare Herausforderungen

So unterschiedlich die Arbeitsbedingungen und die Anforderungen auf einem Flugzeugträger, der Arbeit am Filmset, beim Bau und beim Fliegen eines Flugzeugs, einer Zementfabrik oder in einem Kraftwerk sein mögen – in allen Beispielen stehen die Teams in ihren Organisationen strukturell vor ähnlichen Herausforderungen:[29]

Sie müssen komplexe, hochanspruchsvolle Aufgaben unter riskanten, widrigen und schwer durchschaubaren Bedingungen erledigen.

Sie stehen unter äußerem Druck und werden von Behörden, der Öffentlichkeit oder Politik kritisch auf ihre Berechenbarkeit hin beobachtet.

Sie müssen die Aufgaben einerseits mit höchster Zuverlässigkeit aber auch mit einem hohen Maß an Effizienz bewältigen.

Sie dürfen sich keine gravierenden Fehler leisten und es gibt wenig Raum für Versuch- und Irrtumslernen.

2.3   Entwickeln von Antizipations- und Resilienzfähigkeiten

Die Beispiele machen deutlich: Bei der Entwicklung kollektiver Achtsamkeit geht es vor allem um das Ausbilden von zwei zentralen organisationalen Fähigkeiten: Eingeübte kollektive Rituale wie die beschriebene Arbeit am Meerkat Board oder die Durchführung eines FOD Walk helfen den Organisationsmitgliedern, früh zu registrieren, dass sich potenzielle Probleme aufbauen und diese Beobachtungen im Hinblick auf die eigene Lage auszuwerten (Antizipation). Zum anderen fördern übergreifende Ziele sowie der gezielte Einbau von Entscheidungsspielräumen in Standardprozesse die Fähigkeit, sich im Falle einer Störung schnell an die neuen Bedingungen anzupassen, um leistungsfähig zu bleiben (Resilienz).[30]

2.3.1   Antizipation: Zukunft im Hier und Jetzt konstruieren

Antizipation bedeutet, sich schon in der Gegenwart vorzustellen, was in der Zukunft potenziell geschehen könnte. Antizipation beschreibt also unsere Erwartungshaltung im Hier und Jetzt gegenüber der Zukunft. Wir beobachten etwas im Hier und Jetzt (zum Beispiel eine Entwicklung, eine Entscheidung etc.) und überlegen, wie sich diese Gegebenheit in der Zukunft entwickeln könnte, um unser Verhalten darauf auszurichten.

Wir können uns Zukunft gar nicht frei von Erwartungen vorstellen. Antizipation läuft in der Gegenwart immer mit, denn wir konstruieren in der Gegenwart unsere Zukunft. Dabei spielen unsere Erfahrungen aus der Vergangenheit eine entscheidende Rolle – zumindest die, an die wir uns im Moment erinnern. Allerdings ist das, was wir als Vergangenheit erinnern, keine fixe Größe. Ebenso wie unsere Zukunft konstruieren wir auch unsere Vergangenheit, wir erfinden unsere Geschichte also jeden Moment neu. Die Art und Weise, wie wir unsere „gegenwärtige“ Vergangenheit und unsere „gegenwärtige“ Zukunft konstruieren, beeinflusst, was wir im Hier und Jetzt wahrnehmen, wie wir es erklären und wie wir es bewerten. Vor der Finanzkrise etwa galten die sogenannten Subprime-Kredite bei Anlegern als attraktiv, ihr hohes Risiko erschien als Chance auf eine hohe Rendite. Die Zukunft, also die Fortschreibung des Immobilienbooms, schien sicher. Nach der Finanzkrise werden die Ereignisse anders beschrieben, erklärt und bewertet. Die ehemals hochattraktiven Kredite erscheinen als faule Kredite und das Vertrauen in die Finanzbranche im Hier und Jetzt erodiert. Nunmehr konstruieren wir unsere gegenwärtige Zukunft und gegenwärtige Vergangenheit in einem anderen Licht.[31]

Die Herausforderung beim Antizipieren besteht darin, dass wir dazu neigen, Erfahrungen aus der Vergangenheit linear in die Zukunft fortzuschreiben. Wenn ein Vorgang lange funktioniert hat, tendieren wir zu der Annahme, dass er es auch in Zukunft tun werde, bis wir durch unerwartete Geschehnisse aus dem Konzept gebracht werden. Michael Lewis (2011) beschreibt in seinem Buch The Big Short anschaulich, wie Investmentbanken, Rating-Agenturen und Immobilienmakler auch nach dem Fallen der Immobilienpreise und dem Öffentlichwerden der notleidenden Kredite noch einige Monate an ihrer Konstruktion festhielten. Man orientierte sich weiterhin an den gut eingespielten Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft, ignorierte frühe Hinweise und sprach von einer vorübergehenden Abkühlung. Diese Tendenz, die Kognitionsforscher heuristisches Denken nennen (vgl. Kahnemann et al., 1982; Gigerenzer, 1991) hat eine wohltuende sowie komplexitätsreduzierende Wirkung, und ermöglicht es, sich zu konzentrieren. Allerdings birgt diese Erfolgsblindheit auch das Risiko des Scheiterns, wenn die Bedingungen sich unbemerkt verändern.

Die Entwicklung von Antizipationsfähigkeiten bedeutet, zum einen das Bewusstsein für die Unberechenbarkeit der Zukunft zu fördern. Es bleibt ungewiss, ob die gegenwärtig vorgestellte Zukunft in der „künftigen“ Zukunft tatsächlich auch eintreten wird. Zudem geht es darum, das Irritationspotenzial im Hier und Jetzt zu vergrößern, um zu angemesseneren und weniger fixen Konstruktionen der gegenwärtigen Zukunft zu kommen.[32]

Antizipation bedeutet, dass wir uns im Hier und Jetzt ein Bild von der Zukunft machen. Das von uns entwickelte Bild von der (gegenwärtigen) Zukunft ist eine Konstruktion und ist unmittelbar mit unserer (gegenwärtigen) Konstruktion der Vergangenheit verbunden. Die künftige Zukunft ist und bleibt ungewiss. Antizipationsfähigkeiten helfen uns, ein möglichst brauchbares Bild von der gegenwärtig denkbaren Zukunft zu entwickeln, um im Hier und Jetzt besser einschätzen zu können, was wichtig ist und was nicht.

2.3.2   Resilienz: Geistesgegenwart üben

Im Gegensatz zu Antizipation beschreibt Resilienz die Anpassungsfähigkeit eines Systems im Umgang mit unerwarteten Ereignissen bzw. Abweichungen. Die Resilienzforschung reicht weit zurück und interessiert sich schon lange und eher auf individueller Ebene für die Frage, warum einige Menschen oder Organisationen, mit Störungen und Krisen besser zurechtkommen als andere. So fand etwa Emmy Werner in einer Längsschnittstudie aus dem Jahr 1977 zur psychologischen Entwicklung hawaiianischer Kinder, die bestimmten Risikofaktoren in der Lebensführung wie Armut, soziale Ausgrenzung, Arbeitslosigkeit der Eltern etc. ausgesetzt waren, dass sich ein Drittel von ihnen besser entwickelte als der Rest. Offenbar konnten diese Kinder mit den Widrigkeiten der äußeren Lebensbedingungen besser umgehen als ihre Kameraden – sie waren resilient. Die Gründe dafür sah das Forscherteam vor allem in den Sozialisationsbedingungen: Resiliente Kinder hatten besseren Zugang zu Bildung, die Eltern waren häufiger berufstätig und seltener geschieden. Zudem hatten die Kinder weniger Geschwister und verfügten über sinnstiftende Orientierungsschemata, wie zum Beispiel Religion.[33]

Auf Ebene der Organisation beschäftigt sich die Tradition des resilience engineering mit der Frage, wie Organisationen ein Handlungsrepertoire entwickeln können, um sich schnell auf unterschiedlichste und unerwartete Situationen einzustellen, ohne dass das Funktionieren des Systems beeinträchtigt wird. Wie schaffen Teams es, Aufgaben zu erledigen, obwohl die dafür vorgesehenen Pläne versagen oder die Bedingungen anders sind, als man dachte?

Resilienz beschreibt dabei aber nicht einfach eine Vermeidungsstrategie für erwartbare oder wahrscheinliche Störungen, mit denen zu rechnen ist. Das Treffen von Schutzmaßnahmen wie „wo Funken sprühen, müssen Schutzbrillen getragen werden“; „in volatilen Märkten müssen wir Reserven für Preisschwankungen haben“ oder „bei kurzem Time-to-Market müssen wir Vorsorge für Qualitätsprobleme treffen“ ist natürlich notwendig und sollte nicht unterlassen werden. Als Bewältigungsmuster für Komplexität sind solche Maßnahmen aber nur begrenzt brauchbar und können nicht das einzige Mittel sein, denn das Problem besteht ja gerade darin, dass man nicht alle möglichen Entwicklungen vorausahnen kann.[34]

Wir verstehen Resilienz als die Vorbereitung auf völlig unerwartbare Situationen. Diese Vorbereitung ist blind dafür, worauf sie sich einstellt. Es müssen generelle Problemlösekompetenzen entwickelt werden, wie zum Beispiel Denken in Alternativen, Praktiken für kollektive Reflexion, individuelles Training für den Umgang mit Stresssituationen oder interpersonelle Kompetenzen, um in kritischen Situationen schnell handlungsfähig zu sein.

Hollnagel definiert Resilienz als „the intrinsic ability of a system to adjust its functioning prior to, during, or following changes and disturbances, so that it can sustain required operations under both expected and unexpected conditions.“ (Hollnagel et al., 2010, S. XXIX). Resilienz ist aus dieser Sicht nicht nur eine Fähigkeit, die benötigt wird, um auf große Krisen oder „schwarze Schwäne“ (vgl. Taleb, 2012) zu reagieren, während im Normalbetrieb alles nach Plan läuft. Vielmehr gleichen organisationale Resilienzfähigkeiten aus, dass Pläne, Systeme und Vorgaben die ungleich komplexere, operative Wirklichkeit nicht abbilden können. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, den eigenen Zustand immer wieder an neue, unerwartete Bedingungen anpassen zu können, um im Ergebnis leistungsfähig zu bleiben. Zuverlässigkeit oder Sicherheit sind diesem Verständnis nach also keine festen Zustände, die gegen widrige Außeneinflüsse verteidigt werden müssen. Vielmehr wird der stabile Zustand in jedem Moment und in Auseinandersetzung mit der sich wandelnden Umwelt neu hergestellt. Dies geschieht mithilfe kollektiver, aufeinander abgestimmter Anpassungsleistungen. Die beschriebenen Antizipationsfähigkeiten sind dabei eine wichtige Voraussetzung für resilientes Verhalten. Nur wenn wir Abweichungen wahrnehmen und für bedeutsam halten, können wir uns an die neue Situation anpassen.[35]

Resilienz beschreibt die Fähigkeit, sich flexibel an veränderte Bedingungen anzupassen, um die Leistungsfähigkeit des Systems aufrechtzuerhalten. Resilienzfähigkeit entsteht nicht durch Schutzmaßnahmen vor bekannten Störungen, sondern durch die Entwicklung von Reaktions- und Anpassungsfähigkeit auf noch unbekannte Entwicklungen. Sie ist nicht nur in Ausnahmesituationen gefragt, sondern es handelt sich um eine generell notwendige Leistung, die den unvermeidbaren Unterschied zwischen „Konzepten“ und operativen „Erfahrungen“ ausgleicht.

2.4   Kollektive Achtsamkeit als Frage der Sinnproduktion

„Leute wissen, was sie denken, wenn sie sehen, was sie sagen “

Karl E. Weick

Anders als formale Routinen wie Pläne, Vorschriften oder Standards geben die geschilderten Achtsamkeitspraktiken wie ein FOD Walk, Beobachtungsrituale wie das Meerkat Board oder Briefing-Routinen nicht vor, was richtig und was falsch ist. Es handelt sich um Festlegungen, wie die Organisationsmitglieder jenseits bereits existierender Routinen in der gegenwärtigen Situation Sinn erzeugen. Unter unsicheren Bedingungen wird dieses geistesgegenwärtige Erzeugen von Sinn zu einer überlebenskritischen Fähigkeit. Diese Rituale aktivieren das kollektive Sensorium, sie regen jeden Einzelnen an, seine Eindrücke einzubringen und im Team aus diesen neuen Befunden Sinn zu machen. Sie geben vor, wie das Team in komplexen und hochriskanten Situationen neues Wissen erzeugt und zu brauchbaren Entscheidungen kommt.[36]

Sinn und Produktion von Sinn

Der Begriff Sinn ist in diesem Zusammenhang erklärungsbedürftig. Sinn wird hier nicht verstanden als eine feste und eindeutig zu bewertende Größe, zum Beispiel, das etwas Sinn ergibt oder keinen Sinn ergibt. Wir begreifen Sinn als ein Konstrukt, das von einem Beobachter erzeugt wird. Was für die einen Sinn macht, kann sich für andere als völlig sinnlos darstellen. Luhmann definiert Sinn als ein laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten (vgl. Luhmann, 1984). Jedes soziale System wie zum Beispiel ein Unternehmen, produziert in Auseinandersetzung mit seinen Umwelten fortlaufend Sinn und entwickelt diese selbst konstruierten Sinnhorizonte weiter. Die Funktion der Produktion von Sinn – und das werden wir in den folgenden Abschnitten ausführlicher erörtern – ist immer eine Komplexitätsreduktion. Weil die Welt viel zu komplex ist, als dass sie von einem System vollständig erfasst werden könnte, muss Komplexität reduziert werden, zu sinnvollen Wirklichkeitskonstruktionen.

2.4.1   Sinnproduktion als überlebenskritische Fähigkeit

[37]

Organisationen, die ihre kollektive Achtsamkeit weiterentwickeln möchten, müssen sich intensiver mit der Frage beschäftigen, wie sie Sinn erzeugen bzw. wie sie ihre Wirklichkeit konstruieren. Ihr Bild von der Welt ist nichts Gegebenes, Objektives, sondern es entsteht durch einen sozialen Prozess der Sinnerzeugung, den sie selbst gestalten können. Karl Weick nennt diesen Prozess sensemaking, also wie sich Menschen im sozialen Miteinander in ihrem Organisationsalltag mit all seinen Widrigkeiten, Mehrdeutigkeiten, unvorhergesehenen Entwicklungen, Überraschungen und Unsicherheiten ein brauchbares Bild von der Wirklichkeit machen. Organisationen sind sinnverarbeitende Systeme, deren besondere Qualität darin besteht, Unbestimmtes und Widersprüchliches einen Sinn beizumessen und damit Komplexität auf ein Maß zu reduzieren, das Entscheidungen ermöglicht. Die besondere Qualität beim Organisieren kollektiver Achtsamkeit besteht darin, dass der Prozess der Sinnerzeugung nicht einfach dem Zufall überlassen oder so getan wird, als gäbe es eine objektiv bestimmbare Wirklichkeit. Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit bedeutet, den Prozess der Sinnerzeugung aktiv und bewusst zu gestalten, um so die beschriebene Qualität im Umgang mit Risiken zu erreichen.

Neue Selektionsstrategien für den Umgang mit Unerwartetem

Aber auch das geregelte Gestalten der Sinnerzeugung ermöglicht kein vollständiges Bild. Die Herausforderung für die beschriebenen Rekruten, Filmteams, Schichtmitarbeiter und Crews besteht ja nicht darin, dass sie zu wenig oder unzureichende Fakten haben. Vielmehr stehen sie vor der Frage, wie sie aus der Flut von widersprüchlichen Daten und Eindrücken die wichtigen auswählen[38]. Die Dinge sind zu verwickelt, dynamisch und vielfältig, als dass die Betroffenen in jedem Moment alles berücksichtigen und auswerten könnten.

Organisieren kollektiver Achtsamkeit führt deshalb auch nicht dazu, dass wir am Ende endlich mehr oder alles sehen. Die kollektiven Ver- bzw. Erarbeitungskapazitäten in der Organisation sind und bleiben begrenzt (ebenso wie für den einzelnen Mitarbeiter). Deshalb liegt die Herausforderung darin, gemeinsame Selektionsstrategien zu entwickeln: Was ist relevant und was können wir vernachlässigen? Wie vereinfachen wir auf angemessene Art und Weise, ohne zu trivialisieren, ohne zuzulassen, dass wir wichtige oder riskante Entwicklungen übersehen? Die Bewältigung komplexer Aufgaben zwingt zu einer Auswahl, die immer das Risiko birgt, sich als falsch zu erweisen. Denn im Moment ist noch nicht klar, ob sie angesichts der künftigen Entwicklungen angemessen sein wird. Die Teams können nur versuchen, sich einen momentan tragfähigen Eindruck von den Dingen im Fluss zu verschaffen. Dabei helfen ihnen gemeinsame Rituale, wie wir sie oben beispielhaft skizziert haben.

Notwendige Geistesgegenwärtigkeit im Moment

Kollektives Sensemaking bekommt einen wichtigen Stellenwert, wenn Unsicherheit und Risiken im Inneren und Äußeren der Organisation steigen. Weil für ausführliche Analysen selten die Zeit da ist, steigt der Bedarf, sich geistesgegenwärtig im Moment ein Bild von der Situation zu machen und auf dieser Grundlage zu entscheiden. Wenn sich die Bedingungen schnell verändern, müssen wir auf die Idee, uns auf eine sichere Landkarte verlassen zu können, verzichten. Je schneller sich die Landschaft entwickelt, umso mehr fällt auf, dass Landschaft (was um uns herum geschieht und wie wir es im Moment erfahren) und Landkarte (wie wir unsere Wirklichkeit sehen und beschreiben) nicht dasselbe sind (vgl. Simon, 2007).[39]

Organisationen brauchen weniger Gewissheiten bzw. ein big picture, ein umfassendes Bild, das durch ausgiebige Analysen und Planung entsteht. Vielmehr müssen sie die Fähigkeit entwickeln, schnell und gemeinsam eine big story zu konstruieren (vgl. Weick, 2009), um mit jenen Sinnüberschüssen umzugehen, die für unsere gegenwärtige Gesellschaft charakteristisch ist (vgl. Baecker, 2008). Diese kollektive Geschichte kann und muss im Laufe der Zeit und auf der Grundlage neuer Informationen über die sich ständig ändernden Bedingungen fortlaufend weitergeführt werden. Beim Dreh eines Films sind die unterschiedlichen Abteilungen wie Kostüm, Kamera, Ausstattung mit dem Regieassistenten per Headset verbunden, um sich im Hier und Jetzt über den Stand der Dinge zu informieren. Das Konstruieren von Sinn in Echtzeit steht hier im Vordergrund. Zuverlässige Leistungen entstehen dann weniger durch Vorhersagen und Akkuratesse, sondern durch fortlaufendes Updating und Plausibilisierung. Sensemaking unter unsicheren Bedingungen erfordert deshalb eine selbstkritische Haltung gegenüber den eigenen Erwartungen, Routinen und Vorschriften. Diese sind immer nur ein vereinfachender Prototyp für die komplexe Realität im Fluss, der in der Vergangenheit funktioniert hat, aber für die Zukunft keine Garantie bietet.[40]

2.4.2   Sinnproduktion als blinder Fleck

Jedes Unternehmen hat im Laufe seiner Geschichte seine ganz eigene Art entwickelt, wie es Sinn produziert: Wie es sich mit Entwicklungen in seiner Umwelt auseinandersetzt, mit Risiken und Unsicherheiten umgeht, Informationen kanalisiert und Entscheidungen trifft. Sinnproduktion und Adaption finden permanent statt. Sie werden aber in Organisationen, die einer mechanistischen Steuerungslogik folgen, zu großen Teilen sich selbst überlassen. Ein Geschäftsführer eines großen Versicherers bemerkte uns gegenüber kürzlich in einer Diskussion: „Wenn wir uns beim Aufbau unseres Geschäfts im Osten nach der Wende an die Regeln gehalten hätten, dann hätten wir da gar nichts hinbekommen.“ Die organisationalen Routinen passten nicht zu der neuen Situation und nur durch die Ablehnung der bestehenden Regeln konnte es vorwärtsgehen. Auch operative Mitarbeiter können ein Lied davon singen: Weil die konkreten Situationen auf der Arbeitsebene immer anders sind als ursprünglich geplant, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Vorschriften zu beugen. Wie sie dies tun, bleibt aber häufig ihnen selbst überlassen, dann entstehen informelle Umgangsformen (die wir, wenn sie sich wiederholen, in der Regel als Kultur bezeichnen).[41]

Von entwicklungstauglich zu entwicklungsfähig

Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit bedeutet, die eigenen, eingespielten Formen des Organisierens nicht als gegeben hinzunehmen, sondern sie bewusst auf den Prüfstand zu stellen und auf ihre Brauchbarkeit hin zu untersuchen. Wie erfolgsversprechend sind unsere Bewältigungsmuster für den Umgang mit zunehmender Unsicherheit, Mehrdeutigkeiten, unvorhersehbaren Entwicklungen, Unwägbarkeiten und den damit verbundenen Risiken? Es sollen nicht nur entwicklungstaugliche, sondern entwicklungsfähige Bewältigungsmuster im Umgang mit Komplexität und Risiko entstehen. Die kritische Beobachtung und Reflexion der eingespielten Formen des Organisierens ist dafür ein erster Schritt. Dies ist im Übrigen nicht nur eine Aufgabe für besonders sicherheitsorientierte Unternehmen. Die Prüfung der eigenen Entwicklungs- und Lernmechanismen ist eine überlebenskritische Notwendigkeit für alle Organisationen in der „nächsten Gesellschaft“ (vgl. Baecker, 2008).

Sinnproduktion nicht länger sich selbst überlassen

Die Entwicklung der organisationalen Interpretationsleistungen und das bewusste Organisieren eines Neins zu sich selbst (also den eigenen Erwartungen, Selbstbeschreibungen etc.) war lange kein Thema für die Unternehmensführung, auch heute ist es noch häufig ein blinder Fleck. Solange die Bedingungen einigermaßen stabil sind, ist die bewusste Gestaltung der kollektiven Achtsamkeit auch nicht so wichtig. Solange die Dinge nicht ständig aus dem Ruder laufen und man nur selten mit dem eigenen Unwissen konfrontiert wird, funktionieren triviale Selbstbeschreibungen der Organisation als eine mehr oder weniger berechenbare Maschine. Der Eindruck, man habe die Zusammenhänge durchschaut, verfestigt sich. Diese Erfahrungen prägen das Selbstverständnis und beruhigen alle Beteiligten. Wir kennen die Formel: Wir haben das richtige Bild von der Welt. Wir haben unter Kontrolle, was passiert. Man kann es sich leisten, Anpassungsleistungen eher subversiv, also unbemerkt und im Verborgenen bearbeiten zu lassen.[42]

Mehr desselben funktioniert nicht mehr

Wir befinden uns noch in einer Übergangsphase, in der wir dazu neigen, neue Probleme mit erprobtem Werkzeug zu bearbeiten. Zwar bemerken wir, dass unsere Routinen zunehmend versagen, aber in Ermangelung gesicherter Alternativen halten wir an den in der Vergangenheit tauglichen Selbstbeschreibungen fest. Wir tun so, als sei es prinzipiell möglich, die Dinge vollständig zu erfassen und richtige Lösungen zu finden. Misslingt dies wieder einmal, führen wir dies auf individuelle Fehlinterpretationen oder mangelnde Achtsamkeit Einzelner zurück und versuchen, an dieser Stellschraube etwas zu verändern.

Oft erleben wir, dass Unternehmen im Vorfeld von komplexen Projektvorhaben wie Großbaustellen, komplexe IT-Projekte, Großabstellungen in der Chemie oder anspruchsvollen Reparaturarbeiten von Anlagen zwar viel Aufwand in die Planung stecken, sie machen sich aber wenig Gedanken, wie sie das soziale Miteinander und kollektive Sensemaking gestalten müssen, um mit der gegebenen Komplexität, den Risiken und unabsehbaren Entwicklungen angemessen umzugehen: Wie halten wir uns gemeinsam über die Schnittstellen hinweg informiert? Wie spüren wir systematisch Warnsignale auf der Arbeitsebene auf und verständigen uns darüber? Wie erzeugen wir bei den Beteiligten das notwendige Wissen über die Zusammenhänge, um zu besseren Einschätzungen der aktuellen Situation zu kommen? Wie erzeugen wir im Ausnahmefall eine gemeinsame Einschätzung und wie treffen wir Entscheidungen? Stattdessen heißt es: Das müssen wir dann im Moment entscheiden, dafür haben wir ja erfahrene Mitarbeiter. Das zusätzliche Investment in kollektive Achtsamkeit erscheint vielen Unternehmen noch als unnötig. Sensemaking wird in dieser Logik nicht zu einer Frage der Gestaltung der sozialen Interaktionen, sondern zu einer der individuellen Kompetenz der Beteiligten. Sie sind dafür verantwortlich, zu den „richtigen“ Schlüssen, den „richtigen“ Entscheidungen zu kommen. Die dafür notwendigen kollektiven Interpretations- und Entscheidungsprozesse werden dem natürlichen Drift überlassen und bekannte Schwierigkeiten beim Entscheiden in komplexen Situationen stillschweigend in Kauf genommen.[43]

2.5   Gestalten der Sinnproduktion

„Everything simple is false.Everything which is complex is unusable.“[44]

Paul Valéry

Wollen Organisationen die Art und Weise ihrer Sinnproduktion bewusst gestalten, müssen sie den Unterschied zwischen den von ihnen konstruierten Plänen von der Wirklichkeit und ihrem Erleben in der Wirklichkeit stärker in den Blick nehmen und die Ko-Evolution dieser „Konzepte“ und „Erfahrungen“ bewusst fördern. Dafür ist es hilfreich, in der Entscheidungskommunikation stärker zwischen Beschreiben, Erklären und Bewerten zu unterscheiden.

2.5.1   Konzepte und Erfahrungen als Grundlage

Das Organisieren kollektiver Achtsamkeit setzt voraus, den Unterschied zwischen „der Wirklichkeit“ und unseren Konzepten von dieser Wirklichkeit anzuerkennen. Die tatsächlichen, operativen Ereignisse sind immer viel komplexer, als dass wir in der Läge wären, sie vollständig zu erfassen.

Konzepte und Erfahrungen

Konzepte und Erfahrungen bzw. unsere Landkarte und die konkrete Wahrnehmung der Landschaft sind wechselseitig miteinander verbunden. Unsere Erfahrungen ohne Konzepte sind blind und unsere Konzepte ohne Erfahrungen sind leer (vgl. Weick u. Sutcliffe, 2016). Wir brauchen Konzepte von der Welt, damit unsere Erfahrungen bedeutungsvoll werden können. Auf der anderen Seite benötigen wir Erfahrungen, damit Konzepte mit Inhalten gefüllt werden und wir sie weiterentwickeln können. Dabei ist es müßig zu fragen, was zuerst da war, unsere Konzepte von der Welt oder unsere Erfahrungen. Beide stehen in einem zirkulären, wechselseitigen Verhältnis, sie beeinflussen sich gegenseitig. Organisationen konstruieren auf der Grundlage ihres Wissens und ihrer Vorerfahrungen ihr Bild von sich selbst und von ihren relevanten Umwelten. Die Umwelt beeinflusst Organisationen also nicht direkt, sondern durch die Art, wie sie wahrgenommen wird (vgl. Weick, 2001).[45]

Gezielte Koevolution

Die wechselseitige Beeinflussung unserer Konzepte von der Wirklichkeit und unseren konkreten Erfahrungen in der Wirklichkeit ist ein zentraler Ansatzpunkt für die Sinnproduktion und damit für das Organisieren kollektiver Achtsamkeit: „Basic to any attempt at managing the unexpected are changes either make empty concepts fuller by anchoring them in perceptions or make blind perceptions more meaningful by linking them with plausible, differentiated concepts.“ (Weick u. Sutcliffe 2015, S. 31 f.).

Sensemaking beschreibt den Prozess, wie wir aus dem Ereignisstrom einige Ereignisse selektieren und diesem retrospektiv eine Bedeutung zuzuschreiben. Gerade wenn wir in eine unbekannte Situation hineingeworfen werden, fangen wir zuerst an zu handeln und danach schreiben wir unserem Tun eine Bedeutung zu. Dies wiederum beeinflusst unser Handeln. Wir entwickeln also eine Vorstellung von der Welt, indem wir etwas tun, die Wirklichkeit erfahren und diesen Erfahrungen erst im Nachhinein Sinn geben. Sensemaking geschieht also immer in der Retrospektive. Die entstehenden Vorstellungen bzw. Konzepte dienen uns dann als Landkarte, mit der wir die Welt wiederum „lesen“, also was wir im operativen Ereignisfluss als bemerkenswert erachten und wie wir es einordnen.[46]

Kollektive Achtsamkeitspraktiken, wie die Leseprobe, ein FOD Walk oder ein Reflexionsgespräch im operativen Alltag, schaffen gezielt Gelegenheiten im sozialen Miteinander, um aktuelle Wirklichkeitskonstruktionen absichtlich und im Hier und Jetzt gegen den Strich zu bürsten. Unternehmen, die ihre Sicherheits- oder Risikokultur entwickeln möchten, müssen sich immer wieder folgende Fragen stellen:

Passen unsere Landkarten noch zum Gelände?

Gibt es angemessenere Beschreibungen für unsere Situation?

Welche Entscheidung ist auf der Grundlage dieser Situationsbeschreibung angemessen?