Kollischek - Wolfgang K. Mayer - E-Book

Kollischek E-Book

Wolfgang K. Mayer

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Beschreibung

Wien im heißen Sommer. Die Straßenbahnen rattern durch die Stadt, doch unter der Oberfläche brodelt das Verbrechen. Kommissar Kollischek, ein erfahrener Ermittler, steht vor einer Serie von mysteriösen Morden. Die Opfer? Passagiere, die scheinbar zufällig in den Bahnen unterwegs waren. Das Ermittlungsteam um Kollischek kämpft gegen die Zeit, während er selbst mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat. Zwischen den Schienen und den schattigen Gassen Wiens entfaltet sich ein düsteres Geheimnis.

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Seitenzahl: 556

Veröffentlichungsjahr: 2024

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ich möchte mich von Herzen bei all den wunderbaren Menschen bedanken, die dazu beigetragen haben, dieses Buch zu einem besseren Werk zu machen. Eure Unterstützung, euer Feedback und eure sorgfältige Korrektur haben einen entscheidenden Unterschied gemacht.

Ohne euch wäre dieses Buch nicht dasselbe. Danke für eure Zeit, eure Hingabe und eure Liebe zur Literatur.

Mit herzlichen Grüßen, Wolfgang K. Mayer

Wolfgang K. Mayer

Kollischek

Heißer Sommer, eiskalte Morde

© 2024 Wolfgang K. Mayer

Umschlag, Illustration: tredition GmbH

Lektorat, Korrektorat: www.swkorrekturen.eu

Druck und Distribution im Auftrag des Autors

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-384-28652-9

e-Book

978-3-384-28653-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kollischek

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Kapitel 1

Kapitel 40

Kollischek

Cover

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Kapitel 1

Klaus Pollak brach auf, da war es bereits nach Mitternacht. Es war Freitag, der 13. August. Ein Datum, das ihn noch nie besonders beeindruckt hatte. Alles Spinner, die diesem Tag eine geheimnisvolle Macht zusprachen. Für ihn war das ein Tag wie jeder andere. Durch den überhöhten Alkoholkonsum wankte er leicht. Die Luft war kühl, es hatte den ganzen Tag geregnet. Der Regen ließ auch in der Nacht nicht nach, so waren wenig Nachtschwärmer unterwegs. Er sah sich um. Die Straßen waren so gut wie menschenleer. Um wieder klarer im Kopf zu werden, beschloss er, ein wenig spazieren zu gehen. Mit einem Kater in der Früh rechnete er jetzt schon. Er hatte es vorab bereits gewusst, natürlich wurde viel mehr als geplant getrunken. Nicht, dass er nichts vertrug. Daran lag es nicht. Doch jedes Mal „passierte“ ihm der unverzeihliche Fehler aus seiner Jugend. Ein paar Einladungen an der Bar lehnte er erfolgreich ab. Im Laufe des Abends wurde er jedoch inkonsequent. Dann tranken er und die Gruppe alles durcheinander. Das, dessen waren sich auch seine Freunde bewusst, war keine gute Idee. Die Rechnung würde am nächsten Tag präsentiert werden. In diesem Moment jedoch war ihm das egal. „Heute leben wir. Was morgen ist, das wissen wir nicht“, prosteten sie sich bei jedem Schnaps zu. Und es waren viele. Über kurz oder lang ging bei ihm dann nichts mehr. „Freunde, ich bin erledigt. Ehrlich, ich bin abgefüllt. Ich werde nach Hause fahren. Feiert noch schön weiter und bleibt brav. Ich möchte morgen keine schlimmen Nachreden hören.“ Er wurde lautstark verabschiedet. Seine Schulter wurde anerkennend geklopft, Wangen geküsst und noch Schnäpse weiterhin angeboten. Fast wäre er schwach geblieben. Morgen vormittags standen Meetings an, daher siegte die Vernunft. Jedenfalls der Rest, der noch vorhanden war. Er zahlte seine Rechnung und verließ das Restaurant. Vom überhitzten Lokal begab er sich in die regnerische Nacht hinaus. Die Feier lief ohne ihn weiter. Nun war er auf dem Heimweg, das war gut so.

Die kühlen Temperaturen und die durchdringende Nässe waren wirklich unangenehm. Klaus schloss den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke und stellte den Kragen auf. So war er ein wenig geschützt. Aufgrund des Windes kam der Regen von vorn. Durch diesen Umstand war er trotzdem in kürzester Zeit durchnässt. Kälte stieg in ihm auf. In der Ferne war die Sirene eines Einsatzfahrzeuges zu hören. Er sah sich um. Soweit sein Zustand es zuließ, vermochte er, nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Es waren keine weiteren Passanten unterwegs. „Bei diesem Wetter jagt man nicht mal einen Hund auf die Straße“, brummte er. Zu dieser Zeit fuhren keine Autos. Tagsüber herrschte hier reger Verkehr, jetzt sah er nicht einmal ein Taxi in der Ferne. Dieses hätte er, wäre es bei ihm vorbeigekommen, sofort angehalten. Der Blick auf die Armbanduhr erwies sich als schwierig. Die Zeiger waren schwer zu erkennen und verschwammen immer wieder. Das war sicher dem Alkohol geschuldet. „Doch ein bisschen zu viel getankt“, lallte er vor sich hin. Leicht wankend bewegte er sich weiter in Richtung Haltestelle. Hier setzte er sich in das windgeschützte Häuschen und wartete so auf eine der letzten Straßenbahnen. Hinter dem Wartehäuschen, auf einem Pfeiler befestigt, hing auf fünf Metern Höhe eine gut sichtbare digitale Uhr. Hier wurden in gleichbleibenden Intervallen Uhrzeit und Temperatur angezeigt. 00:39 und 19 Grad Celsius. Durch Regen und Wind kam es ihm um einiges kälter vor. Umständlich erhob er sich und begab sich zum Fahrplan. Mit dem Zeigefinger wischte er über die Zeiten bis zur richtigen Spalte, wo die Ankunftszeit der Züge stand. Das war bereits im nüchternen Zustand eine Herausforderung. Jetzt war es für ihn fast unmöglich. Klaus gab es auf und beschloss, einfach zu warten. Was soll’s, die Straßenbahn würde schon kommen. Früher oder später würde sie hier einfahren. Die letzte hatte er sicher noch nicht verpasst. Es bestand die Möglichkeit, dass vorher ein Taxi vorbeikam, das würde er aufhalten. Wenn es ihm zu lange dauern würde, könnte er eines per Handy bestellen. Dadurch ließ er sich seine gute Laune nicht verderben. Was war das doch für eine gelungene Feier. Dank seiner Hartnäckigkeit kam es zu diesem Treffen. Es kam sehr selten, so gut wie nie, vor, dass all seine Freunde einen gemütlichen Abend zusammen verbrachten. Es glich fast einem Wunder, dass dieser Termin zustande kam. Es war mühselig und schwierig. Schon seit Längerem wurde der Wunsch geäußert, dass sich alle wieder einmal zusammensetzen wollten. Vor einem halben Jahr hatte er die Planung in Angriff genommen. Seine Freunde belächelten ihn, nachdem er sein Vorhaben der „alten Garde“ mitgeteilt hatte. Sie zweifelten am Gelingen und meinten, sein engagiertes Vorgehen wäre schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. Nicht, dass sich nicht alle über eine Zusammenkunft freuten, doch keiner seiner Freunde nahm an, dass es zeitlich möglich wäre. In der Vergangenheit kamen immer Termine oder kurzfristige Absagen dazwischen. Das war für Klaus Motivation genug, es trotzdem zu versuchen. Es kostete ihn sehr viele E-Mails und Telefonate. Rückschläge den Termin betreffend brachten ihn zeitweise zur Verzweiflung. Schlussendlich hatte er es trotz ihrer Unkenrufe geschafft. Keiner seiner Freunde hatte für diesen Tag abgesagt. Seit zwölf Jahren waren endlich wieder alle an einem Tisch versammelt. Sie beglückwünschten ihn zu seiner Beharrlichkeit und Ausdauer. Sein Bestreben war nie die Anerkennung, daher war ihm das viele Lob unangenehm. Sein Ziel war es, ein Treffen zu organisieren, nicht lobende Worte zu kassieren. Trotzdem erfüllte es ihn mit Stolz. Der gesamte Stress und die Anspannung ließen nun allmählich nach. Rotwein, die Schnäpse und der Rauch der vielen Zigarren benebelten seinen Verstand vollkommen. Jetzt, an der feuchten Luft, besserte sich sein Zustand. Die Kühle und die Stille der Stadt ließen ihn wieder klarer denken. Wenn nur der Regen und der unangenehme Wind nicht wären. Klaus kehrte zum Wartehäuschen zurück. Hier nahm er Platz und war so von den Elementen geschützt. Der Wind wurde stärker, der Niederschlag machte keine Anstalten, weniger zu werden. Abermals sah er auf seine Uhr.

In diesem Moment bog die Straßenbahn um die Ecke und kam langsam die lange Straße auf ihn zu. Als sie in die Station einfuhr, stand Klaus noch leicht wankend auf. Die Garnitur blieb stehen, die Tür beim Fahrer öffnete sich. Dankend begab er sich ins Innere des Zuges. Im Wageninneren war es wärmer. Die Scheiben waren durch das feuchte Wetter angelaufen. Bis auf einen Fahrgast fuhr niemand mit. Kurz musterte er den Mann. Ein sportlicher Typ um die dreißig Jahre. Eine schwarze Kappe mit Aufschrift zog sich tief in sein Gesicht. Klaus schenkte ihm keine weitere Beachtung mehr. Er widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem Fahrscheinautomaten. Sobald die Straßenbahn ruckartig losfuhr, war es für ihn schwer, das Gleichgewicht zu halten und einen Fahrschein zu lösen. Nach einigen Versuchen, die passenden Münzen einzuwerfen, gelang ihm dies auch. Er hielt sich fest und versuchte, unter der Fahrt einen Einzelplatz anzusteuern. Nachdem er Platz genommen hatte, sah er aus dem Fenster. Umständlich fischte Klaus sein Smartphone aus der Außentasche seiner Jacke. Immer, wenn er am Heimweg war, telefonierte er mit seiner Frau. Das hatte er ihr versprochen, das war so ausgemacht. Egal um welche Uhrzeit, er rief sie an. Das Entsperren des Displays war mühevoller als gedacht. Nachdem das geschafft war und die Kurzwahltaste gedrückt wurde, ließ er es klingeln. Beim dritten Signalton meldete sich eine etwas verschlafene Frauenstimme. „Hallo, Schatz. Na, bist du schon auf dem Weg nach Hause? Wie war dein großes Treffen?“ Klaus räusperte sich. Sein Hals war trocken und rau. „Hallo, Schatz, ja, ich komme schon nach Hause. Ich sitze bereits in der Straßenbahn. Es war ein gelungener Abend. Ich kann es noch gar nicht fassen, es waren wirklich alle da.“ „Das freut mich für dich. War diese Caroline auch da?“ Lag da etwa Misstrauen in der Stimme? Caroline war mit ihm zusammen gewesen, bevor er seine Frau Marie getroffen hatte. Sie schmiedeten Zukunftspläne über ein gemeinsames Leben, Haus im Grünen, sogar Kinder waren schon ein Thema. Nachdem er Marie kennenlernte, war dann schlagartig alles anders. Die Frau, mit der er seine Zukunft geplant hatte, war mit einem Schlag für ihn nicht mehr interessant. Er hatte nur noch Augen für sie, Marie. Er glaubte nicht daran, doch es war Liebe auf den ersten Blick. Caroline sah das natürlich anders, akzeptiere das nicht. Wochenlang machte sie ihnen das Leben zur Hölle. Die nächtlichen Anrufe und die Sprachnachrichten. Erst nachdem ihm Marie sein Handy während eines Gespräches mit Caroline entriss und mit Anzeige drohte, hörte es auf. „Ja, sie war auch da. Aber stell dir vor, die hat sich verlobt. Mit einem Steuerberater.“ „Na, das freut mich für sie“, kam es unterkühlt. „Du, ich habe dir so viel zu erzählen, also schlaf nicht ein. Ich bin in circa zehn Minuten bei dir. Sei so gut und mache mir einen guten starken Kaffee, weil ich jetzt sicher noch nicht schlafen kann.“ „Okay, ich warte. Doch ich muss zeitig aufstehen, denn die Arbeit lässt sich wegen einer durchzechten Nacht nicht verschieben. Also beeile dich. Bis später.“ Klaus legte auf und verstaute das Handy in seiner Jacke. Der Regen ließ etwas nach. Wieder ein flüchtiger Blick auf seine Uhr. In fünf Minuten war die Endstation erreicht. Die paar Schritte bis zum Haus waren dann nicht mehr der Rede wert. Das Kratzen im Hals legte sich nicht. Auch nicht durch räuspern. Er begann zu husten, doch es wurde nicht besser. Er hielt sich die Hand vor den Mund und hustete immer mehr. Dieses verdammte Rauchen. Das war stets nach einer wilden Nacht mit Nikotin und Alkohol. Inmitten des Anfalls gab es einen plötzlichen heftigen Schmerz in der linken Lunge. Eine warme Flüssigkeit füllte seinen Mund. Gleich darauf fühlte er einen zweiten, einen intensiveren. Spuckend und röchelnd sah er entsetzt, dass das, was da aus ihm herausquoll, Blut war. Sein Blut. Panisch vor Angst versuchte er aufzustehen, doch augenblicklich verließ ihn die Kraft. Sein Blick trübte sich. Es wurde immer dunkler um ihn herum. Die Geräusche wurden langsam leiser. Alles war nun schwarz und sehr weit entfernt. Seine Hände verkrampften sich in den Griffen des Vordersitzes. Das Blut quoll aus seinem Mund. Die Orientierung setzte vollkommen aus. Je mehr er sich konzentrierte, desto schwächer wurde er. Die Straßenbahn fuhr in die vorletzte Station ein, von Klaus kam nur noch ganz leises Röcheln. Der zweite Fahrgast, der hinter ihm stand, bewegte sich Richtung Ausstieg und drückte die Stopp-Taste. Da er genug Zeit hatte, ging er noch einmal zurück. Aus seiner Jacke zog er eine kleine Taschenlampe und leuchtete damit den Boden ab. Er fand, wonach er suchte. Zwei Messinghülsen, eben abgefeuert, rollten auf und ab. Diese verschwanden in seiner Jacke. Dann erlosch die Lampe und wurde wieder verstaut. Die Straßenbahn bremste ab und kam in der Station zum Stehen. Ohne sich umzudrehen, stieg der Mann mit Kappe aus. Klaus starrte mit offenen Augen ins Nichts. Seine Hände hielten die Lehne vor ihm fest. Sie waren verkrampft und vermochten sich nicht mehr zu lösen. Der Zug schloss die Türen und beschleunigte wieder. Der Körper bewegte sich, knickte nach ein paar Sekunden vornüber. Jetzt lag der Oberkörper auf den Händen.

Zwei Minuten später fuhr die Garnitur in die Endstation ein. Die Fixierbremse wurde angezogen, dann öffnete sich die Fahrertür. Feuchte, kühle Luft drang in den Zug und setzte sich wohltuend gegen die abgestandene durch. Der Fahrer streckte sich mit lauten Geräuschen. Routinemäßig sah er in den Rückspiegel. Kurze Kontrolle des Fahrgastraumes. Mit grimmigem Blick nahm er zur Kenntnis, dass der letzte Fahrgast noch nicht ausgestiegen war. „Na großartig, jetzt ist der eingeschlafen. Hoffentlich macht er mir keine Schwierigkeiten, wenn ich ihn aufwecke. Ich habe es satt, immer wieder von den Betrunkenen beschimpft und beleidigt zu werden, nur weil sie sich ihren Rausch ausschlafen wollen.“ Er war müde und wollte nach Hause. Er hatte schon zehn Stunden Dienst hinter sich. Er kontrollierte sicherheitshalber, ob die Bremse des Zuges richtig angezogen war. Dann stand er auf und begab sich in Richtung des Fahrgastes. Nachdem er auf dessen Höhe war, sah er zu Boden. Alles war nass und schmutzig. Da die Innenbeleuchtung teilweise ausgefallen war, erkannte er auf den ersten Blick nicht, woraus die Verschmutzung bestand. „Na super, jetzt ist hier alles vollgekotzt.“ Ekel überkam ihn. Die Abneigung gegenüber diesen Menschen steigerte sich. Aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass nun eine sinnlose Diskussion über den Preis der Reinigung stattfand. Es war nicht das erste Mal und bei Gott sicher auch nicht das letzte Mal. „Junger Mann, wir sind da. Endstation. Es wird Zeit, dass Sie aussteigen. Ich fahre nicht mehr weiter. So wie es aussieht, haben Sie mächtig einen über den Durst getrunken. Sie haben hier alles versaut. Ich brauche Ihre Daten, damit wir Ihnen die Reinigung in Rechnung stellen können. Hallo, hören Sie mich? Aufwachen!“ Jetzt, wo er ganz nahe bei dem Fahrgast war, berührte er ihn vorsichtig. Betrunkene waren unberechenbar, daher blieb er wachsam. Da sich der Mann nicht bewegte, schüttelte er ihn leicht. Dann immer stärker. Keine Reaktion. Er packte ihn an der Schulter und zog den Oberkörper nach hinten. Langsam begriff er die Situation. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm. Und er war mittendrin. Der Fahrgast klammerte sich am Vordersitz fest. Er hatte weit aufgerissene Augen. Sein Mund war voll Blut. Dieses rann auch über sein Hemd und die Hose. Entsetzt schreckte der Fahrer zurück. So etwas hatte er noch nie gesehen. Von dem Anblick wurde ihm übel. Er drehte sich langsam, den Blick nicht abwendend, um und lief dann stolpernd in Richtung der Fahrerkanzel. Nervös fischte er das Funkgerät aus der Halterung. Ungeduldig drückte er mehrmals den Knopf. Es war nur ein Rauschen zu hören. „Zug 671, was gibt es?“, fragte die weibliche Stimme auf der anderen Seite. Der Fahrer drehte sich noch einmal um. Ungläubig sah er in die Richtung der Leiche. Diese starrte gespenstisch zurück. Mit letzter Kraft drückte der Fahrer den Sprechknopf des Funkgerätes und sagte mit leiser Stimme: „Zug 671, ich habe da einen toten Fahrgast. Bitte leite alles in die Wege. Ich muss jetzt mal hier raus. Ende.“

Kapitel 2

Mit seinem unangenehmen Ton erfüllte der Alarm des Weckers den ganzen Raum. Unwillig öffnete Josef, von allen nur Joe genannt, seine Augen. Mit der rechten Hand versuchte er, den Wecker zum Schweigen zu bringen. Da er wusste, wo dieser stand, hörte das Läuten nach ein paar Sekunden auf. Die Sonne drang ins Schlafzimmer, sie erhellte den ganzen Raum. Das Zimmer war von einer angenehmen Wärme erfüllt. Das Wetter in der letzten Zeit war nicht gerade berauschend. Seit drei Tagen waren sie aus dem Urlaub zurück. Und seither hatte es ununterbrochen geregnet. So wie es aussah, würde es nun wieder besser. Normalerweise stand Joe am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub gerne auf. Heute fühlte er sich jedoch müde und matt. Er hatte eine sehr unruhige Nacht hinter sich. Schweißausbrüche hatten ihn immer wieder geweckt. Sein Instinkt prophezeite ihm nichts Gutes. „Hoffentlich werde ich nicht krank. So etwas kann ich nun wirklich nicht gebrauchen“, waren seine Gedanken. Leichter Schwindel überkam ihn, als er aufstand. Auf der anderen Seite des Bettes wälzte sich Lydia, seine Frau, unruhig herum. Sie blinzelte schlaftrunken. Bevor sie etwas sagen konnte, strich er ihr durchs Haar. „Hey, Schatz, schlaf weiter. Ich bin leise. Ich gehe noch duschen, dann bin ich schon weg.“ „Hey, wie geht’s dir, du warst die ganze Nacht so unruhig, ich glaube, du hast Fieber. Das geht jetzt schon eine Woche so. Du solltest endlich zum Arzt gehen.“ „Du hast recht, sobald ich mehr Zeit habe, werde ich zum Arzt gehen. Doch nun gehe ich duschen und dann ab ins Polizeipräsidium. Ich hoffe, dass es ein ruhiger Tag wird. Ich möchte mir noch ein wenig Urlaubsstimmung behalten.“ „Du warst jetzt drei Wochen auf Urlaub, da hättest du Zeit genug gehabt, dich zu erholen. Schau nicht so, ich bin schon still. Dann pass gut auf dich auf. Ich wünsch dir was.“ Joe lächelte ihr zu und verließ das Zimmer. In der Küche schaltete sich die Kaffeemaschine automatisch ein. Ein kurzer kontrollierender Blick darauf, dann begab er sich ins Badezimmer. In der Dusche drehte er die Armatur auf heiß auf. Trotz des dampfenden Wassers war da immer noch eine innere Kälte in ihm, die sich hartnäckig hielt. Das war ungewohnt und neu. Wenn es nun eine Erkältung war? Was signalisierte ihm sein Körper damit? Die Analyse fiel spärlich aus. Hunderte Gedanken, doch keiner brachte etwas. Grippe, Viren aus dem Flugzeug, das Kind, das vor ihnen ununterbrochen gehustet hat. Alles nur Spekulationen, nichts Konkretes. Das waren keine Symptome, die er schon einmal hatte. Dies war komplett neu für ihn. Hier war hilfreicher Rat teuer. Er konnte zum Arzt gehen, doch wer hatte dazu die Zeit? Minutenlang rannte der heiße Schauer über seinen Köper. Die innere Kälte blieb. Widerwillig drehte er das Wasser ab. Nach dem Öffnen der Tür der Duschwand griff er zum Badetuch am Waschbecken. Leicht schwindelig stieg er aus der Dusche, trocknete sich ab und zog sich an. Ein sportlicher, grauer Anzug mit einem blauen Hemd, welches Lydia am Vortag gebügelt hatte. Es war eine liebe Angewohnheit von ihr, sie richtete jeden Abend seine Garderobe für den nächsten Tag her. Die Krawatte blieb am Sessel. Für heute war ein sommerlicher Tag angesagt. Nachdem er sich seine Schuhe angezogen hatte, begab er sich in die Küche, trank rasch den nicht mehr heißen Kaffee und holte seine restlichen Utensilien. Die Geldspange, welche in seiner rechten Hosentasche verschwand, Handy und Autoschlüssel steckte er links ein. In der rechten Gesäßtasche verstaute er das Ausweisetui. Auf die linke Hand band er die Armbanduhr. Dann kamen seine Ringe dran. Ehering links, rechts ein modischer Silberring. Den hatte ihm Lydia vor einigen Jahren geschenkt.

Ein kurzer Blick in den Vorzimmerspiegel, dann war er auch schon aus der Wohnung. Obwohl das Haus einen Aufzug besaß, verwendete Joe täglich die Treppe, das wurde zur Gewohnheit. Das hielt ihn fit, war seine Überzeugung. Sein Auto stand unmittelbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Blinker leuchteten und signalisierten so das Öffnen des Fahrzeuges. Beim Anlassen schnurrte der Motor leise vor sich hin. Sekunden später verband sich sein Handy mit der eingebauten Freisprecheinrichtung des Wagens. Wie bei jedem Dienstantritt nach dem Urlaub rief er beim Wegfahren sein Büro an. So gab es vorab die Information, ob es sich auszahlte, in die Dienststelle zu fahren. Es läutete viermal, bevor jemand abhob. „Hallo, Joe, ist dein Urlaub schon wieder vorbei? Wie schnell drei Wochen doch vergehen“, meldete sich Thomas Kellner, sein Kollege. „Hi, Tom, ja, leider. Ich hätte noch ein paar Tage vertragen. Leider sind drei Wochen nicht länger. Was steht an? Soll ich ins Büro kommen?“ „Wann wärst du da? Wir fahren in zehn Minuten los. Uns wurde von der Nachtschicht ein Mord in einer Straßenbahn gemeldet. Das Team bereitet sich zur Ausfahrt vor. Die Spurensicherung und die Nachtschicht sind vor Ort.“ „Zehn Minuten gehen sich nicht aus. Sag mir gleich die Adresse. Ich komme direkt hin und wir treffen uns dort.“ „Alles klar, hast du was zum Schreiben dabei?“ Tom gab Joe den genauen Standort durch. Er notierte diesen, verabschiedete sich von ihm, wendete das Auto und fuhr los. Da es nicht weit von seinem Zuhause entfernt war, traf er sicher vor seinen Kollegen am Tatort ein. Zeit, um sich selbst gleich ein Bild zu machen. Acht Minuten später bog sein Wagen langsam in die Sackgasse ein. Hundertfünfzig Meter dahinter lag die Straßenbahnendstation. Es war eine lang gezogene Linkskurve, in der zwei Gleisanlagen parallel in der Endstelle endeten. Auf beiden Gleisen standen Züge. Im inneren Teil der Station war der Tatort. Hier erkannte er reges Treiben. Fahrzeuge der Forensik parkten neben der Garnitur. Diese hatten die Warnblinkanlage eingeschaltet. Er stellte seinen Wagen hinter den der anderen. Aus dem Kofferraum entnahm er einen Wegwerfoverall. Davon hatte er immer eine ganze Schachtel voll mit. Dieser war beim Betreten eines Tatortes Vorschrift. Der Overall wurde über die normale Kleidung angezogen, daher war er um ein paar Nummern zu groß. Er schloss sein Auto ab und begab sich zum Tatort. Die Arbeiten der Spurensicherung waren voll im Gang. Alle waren so beschäftigt, dass sie sein Ankommen nicht gleich registrierten. „Hallo, Jungs, wie geht’s?“ Sie sahen auf und nickten. Im hinteren Teil der Straßenbahn erhob sich ein blonder Schopf. Erst jetzt bemerkte er seine Kollegin Sabrina.

Es war immer wieder ein seltsames Gefühl, wenn sie sich sahen. Vor ein paar Jahren waren sie für kurze Zeit liiert gewesen. Sie lernten sich in ihrer Schulzeit kennen. Zufällig besuchten sie danach dieselbe Abendschule. Beide holten dort die Matura nach. In dieser Zeit stellten sie eine gewisse gegenseitige Sympathie fest, doch es blieb nur bei einer Freundschaft. Nachdem sie die Schule positiv abgeschlossen hatten, trennten sich ihre Wege wieder. Ein Zufall brachte sie zum gleichen Dienstgeber, der Polizei. Sie stellten fest, die Anziehung war noch immer auf beiden Seiten vorhanden. Die nächsten Monate waren wegen der Doppelbelastung zwischen Job und Seminaren ziemlich intensiv. Sabrina hatte die Idee, gemeinsam zu lernen. Das funktionierte von Beginn an hervorragend. Sie kamen mit dem Lernstoff schnell voran. Auch menschlich und körperlich war das der Fall. Es folgten Monate voller Glückseligkeit, beruflich, schulisch wie auch privat. Sie erlebten eine Affäre, die keiner von beiden so richtig verstand. Trotzdem war da immer ein Gefühl, dass es nicht halten würde. Nachdem sie die Prüfungen bestanden hatten, gab es eine große Feier in der Schule. Sie feierten ausgelassen den erfolgreichen Abschluss. Wie immer gingen sie anschließend zu ihr. Es fühlte sich an so wie immer. An diesem Abend war trotzdem etwas anders. Am nächsten Morgen hatten sie ein langes, ausführliches Gespräch. Sie waren sich nicht sicher, ob nicht einer von ihnen genötigt werden würde, seinen beruflichen Traum aufzugeben, wenn sie weiterhin ein Paar blieben. Zu seiner Überraschung war es Sabrina, die die Beziehung beendete. Sie beschlossen und regelten dies wie Erwachsene, keine Streitereien. Alles sollte ruhig über die Bühne gehen. Zu Beginn bezweifelte Joe, ob das möglich war. Schafften sie es, professionell zu arbeiten, egal, was da einmal war? Zu seiner Verwunderung funktionierte es. Sabrina war eine hervorragende Kriminalistin, mit der man gut zusammenarbeiten konnte. „Und Mädel, hi, Sabrina.“ Sie nickte ihm lächelnd zu. Auch die Kollegen, welche die Nachtschicht hatten, begrüßten ihn. „Hi, Joe, hast du deinen Urlaub genossen? Jetzt beginnt wieder der Alltag und dieser hat sich in den letzten drei Wochen nicht geändert.“ „Du weißt ja, der Urlaub ist am ersten Tatort gleich wieder dahin. Was haben wir denn da?“, war seine Frage und schon war er mitten in den Ermittlungen. Augenblicklich war die Erholung des Urlaubes verflogen. Ihm wurde urplötzlich heiß. Ein Gefühl, wie er es letzte Nacht schon verspürt hatte. Da war es der Schweißausbruch. Dies geschah jetzt ohne Vorwarnung. Das war ihm zwar unangenehm, doch änderte nichts an der Tatsache, dass es passierte. „Klaus Pollak, 35 Jahre, Tötung durch Schusswaffe. Zwei Schüsse in den Rücken. Unser Doc meinte, es ging ziemlich schnell. Vermutlich Lungenschuss, er konnte nicht mal schreien. Sein Mund hat sich augenblicklich mit Blut gefüllt. Scheußliches Ende, wünsche ich keinem“, sagte Georg Walch, Leiter des anderen Teams. Joe und Georg kannten sich schon eine halbe Ewigkeit. Sie waren fünf Jahre lang ein eingespieltes Gespann. Nachdem Joe die Ausschreibung für den Posten als Leiter eines zweiten Teams für sich entschied, sehr zum Leidwesen von Georg, blieben sie dennoch gute Freunde. Georg verlor einen sehr verlässlichen Mitarbeiter, Kollegen und vor allem Freund an seiner Seite. Er wusste, dieses Team brauchte einen fähigen und erfahrenen Mann als Leitung. So blieb ihm nichts anderes über und er ließ Joe zähneknirschend gehen. Wenn es der Dienst erlaubte, so wurde es während der letzten gemeinsamen Schicht ausgemacht, gingen sie immer noch zusammen in ihr Stammlokal. Dieses besuchten auch die Kollegen gerne. „Gab es denn irgendwelche Augenzeugen?“ wollte Joe wissen. „Nicht wirklich. Der Fahrer hat zwar registriert, dass ein zweiter Fahrgast anwesend war, er konnte uns aber keine genaue Beschreibung der Person geben. Nur, dass er ein oder zwei Stationen vor der Endstation ausgestiegen ist.“ „Das ist sehr wenig. Hat er nichts gehört?“ „Nun, dies hier ist eine ältere Garnitur. Die macht noch jede Menge mehr Lärm, viel mehr als die neuen Niederflurgarnituren, habe ich mir erklären lassen. Außerdem hat es geregnet. Es war mitten in der Nacht. Da hat er sich auf seine Strecke konzentriert. Wahrscheinlich wurde auch ein Schalldämpfer verwendet. Der Fahrer hat jedenfalls keinen Schuss oder Knall gehört“, entgegnete Georg. „Fingerabdrücke können wir wohl auch vergessen. Hier gibt es Tausende davon. Das ist vergebliche Mühe. Es war finster, letzte Nacht war es auch kühler. Wenn der Täter Handschuhe getragen hat, dann hat es sich für uns sowieso erledigt“, fügte Georg hinzu. „Auswerten müssen wir die Spuren auf alle Fälle. Ich rede mal mit der Forensik.“ Joe sah sich kurz um. Alfred Peter von der Spurensicherung war schon eifrig bei der Sache. Dieser sicherte beim Sitz des Opfers die Spuren. „Hallo, Fred, was haben wir hier? Gib mir was, mit dem ich arbeiten kann.“ Fred wischte sich den Schweiß von der Stirn und steckte das Taschentuch durch den Kunststoffoverall in seine Hose. Er war bedacht, keine falschen Spuren zu hinterlassen. Er wechselte sofort die Gummihandschuhe und warf die alten in eine Kiste. Darin lagen schon einige Paare. Fred hasste es, gestört zu werden. Diese „Was haben wir“-Fragen nervten ihn ungemein. Er arbeitete zwar langsam, dafür immer sehr genau. „Joe, wie oft soll ich dir noch sagen, dass das einige Zeit dauern wird. Ich muss erst die Spuren sichern, dokumentieren und im Labor auswerten. Und erst dann bekommst du etwas von mir.“ „Das weiß ich doch. Du verstehst, ich muss es einfach versuchen“, antwortete er mit einem Augenzwinkern. Fred nickte nur. Er kannte Joe seit seinem Eintritt in die Mordkommission. Dieses Spielchen hatten sie bei jedem Tatort. Fred zwinkerte Joe ebenfalls zu. „Großer, ich habe da doch was für dich.“ „Ich wusste es“, kam prompt die Antwort. „Was ist es? Spann mich nicht unnötig auf die Folter.“ „Die Waffe war aller Wahrscheinlichkeit nach eine Pistole Kaliber 0.22. Ich gehe von einem Schalldämpfer aus. Genaueres kann ich dir erst sagen, wenn ich die Projektile aus der Rechtsmedizin bekomme. Das Kaliber kann ich dir sagen, weil der Sitz nur kleine Einschusslöcher aufweist. Hülsen habe ich bis jetzt noch nicht gefunden, aber der Zug ist groß und ich bin erst bei der Sitzbank des Opfers. Da könnten wir also noch etwas finden.“ „Nimmst du bitte die Fingerabdrücke vom Haltegriff hinter dem Opfer?“ „Schon geschehen, sind bereits auf dem Weg ins Labor“, murrte Fred. „Tja, was soll ich sagen, Fred. Du bist einfach der Beste!“ „Danke, immer wieder gern“, brummte dieser. Er war wieder in seine Arbeit vertieft. Das war für Joe das Signal, das Gespräch zu beenden. Jedes weitere Wort machte Fred nur zornig. Fred beendete immer die Unterhaltung.

Joe sah aus dem Fenster der Tramway. Der Rest seines Teams stieg gerade aus dem Auto aus. Bei der offenen Tür erwartete er seine Kollegen. Als Erstes kam seine Kollegin Michaela Loret. Sie hatte den weißen Overall schon an. Joe begrüßte sie mit einem Nicken. Sie nickte zurück und stieg in die Straßenbahn ein. Unmittelbar nach ihr kam Thomas Kellner umgezogen dazu. Hier war die Begrüßung ebenso kurz mit einem Nicken. Tom stieg ein. Als sein Team komplett war, konnten sie mit der Übergabe beginnen. Die Truppe der Nachtschicht wurde nun offiziell abgelöst. Joe begab sich zu seinem Freund Georg. „Wir sind nun komplett, euer Dienst ist hiermit beendet. Gebt mir bitte noch die Daten des Opfers und des Fahrers und dann trinkt einen starken Kaffee für mich mit. Meiner war heute nur lauwarm. Ich wünsch euch noch einen schönen Tag beziehungsweise eine gute Nacht. Wir sehen uns in ein paar Stunden im Besprechungszimmer.“ Das Team verabschiedete sich. Es war klar, dass sie noch auf einen Absacker gingen. „Wahrscheinlich gehen sie jetzt auf ein Bier, denn nach so einer Nacht kann man nicht gleich schlafen gehen“, dachte er. Das war auch in seiner Zeit im Nachtdienst so. Nach einem Tatort in der Nacht brauchte man etwas Zeit, um herunterzukommen. Wieder ein Grund mehr, froh zu sein, keine Nachtdienste machen zu müssen. Mit dem Notizblock in der Hand wandte er sich nun zu seinem Team. Leichter Schwindel überkam ihn. Ein kurzes Wanken, das sofort wieder verflog. Seinen Kollegen entging das nicht. Beide sahen ihn fragend an. „Alles okay mit dir? Du siehst kränklich aus“, fragte Michaela besorgt. „Alles bestens, kein Grund zur Panik. Mit mir ist alles okay“, beschwichtigte Joe. War es jetzt so offensichtlich gewesen? Sahen andere, dass etwas nicht mit ihm stimmte? Das passte Joe überhaupt nicht. Seit einiger Zeit fühlte er sich schon schlapp und müde. So ein Gefühl kannte er nicht. Vor zwei Tagen kamen nun diese unangenehmen Schweißausbrüche dazu und jetzt überraschte ihn dieses Schwindelgefühl. „Verdammt noch mal, was ist da bloß mit mir los?“, murmelte er halblaut vor sich hin und bedachte nicht, dass ihn seine Kollegen auch hören konnten. „Joe, was ist los mit dir? Du solltest nicht hier sein, du solltest im Bett liegen.“ Michaela sah ihn besorgt an. Da sie ihren Blick nicht abwandte, war ihm eines klar: Ohne eine befriedigende Antwort kam er nicht davon. „Ich dürfte mich im Urlaub verkühlt haben. Seit ungefähr einer Woche fühl ich mich nicht wohl. Aber keine Sorge, das wird schon wieder.“ Er erstickte hier eine endlose Diskussion im Keim, indem er sich an die Kollegen der Spurensicherung wandte. „Wenn ihr uns hier nicht mehr braucht, dann machen wir uns auf den Weg.“ „Jaja, geht nur. Ich weiß, wie ich euch erreiche“, murmelte Fred in seine Richtung. Er sah nicht auf und konzentrierte sich weiterhin auf seine Arbeit. Fred war es nur recht, dass er und seine Mannschaft den Tatort für sich allein hatten. Das Über-die-Schulter-Schauen mochte er überhaupt nicht. Joe wusste das. Man konnte sich auf Fred und das Team verlassen. Hier gab es nichts mehr zu tun. Joe griff in die Innentasche seines Sakkos. „Michaela, Tom! Kommt mal her.“ Während die zwei sich in seine Richtung bewegten, zog er sein Smartphone heraus und entsperrte es. „Ich schicke euch mal die Daten, die ich von Georg bekommen habe. Das Opfer heißt Klaus Pollak. Michaela und ich fahren zu seiner Wohnadresse. Tom, du übernimmst den Fahrer der Straßenbahn. Er heißt Clemens Brändler und wartet in seiner Dienststelle auf uns. Schau, dass du so viele Informationen wie möglich aus ihm herausbekommst. Vielleicht hat er mehr gesehen, als er bei der ersten Einvernahme angegeben hatte. Es kommt immer wieder vor, dass Zeugen nach dem ersten Schock hervorragende Aussagen machen. Das sollten wir nicht außer Acht lassen.“ Beide Kollegen nickten. Sie wussten, was zu tun war. Tom grüßte, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Er zog seinen weißen Overall aus. Auf dem Weg zum Auto las er am Handy die übermittelten Daten. Joe nickte Michaela zu, verabschiedete sich nochmals von Fred und seinem Team mit den Worten: „Wenn ihr was für mich habt, ruft mich bitte an.“ Wissend, dass sie ihn hörten, erwartete er sich jedoch keine Antwort. Sie waren schon wieder voll in ihre Arbeit vertieft.

Beim Auto angekommen, entledigten sie sich ebenfalls der Einweganzüge. Sie verstauten die Anzüge im Kofferraum und stiegen ein. Nach dem Starten des Wagens aktivierte sich das eingebaute Navigationssystem. Dort gab Michaela die Adresse des Opfers ein. Nachdem sie das Ziel bestätigt hatte, fuhren sie los.

Kapitel 3

Das Wohnzimmer war schlicht, jedoch modern eingerichtet. Es war alles penibel geordnet. Nichts lag herum. Die Wände waren blütenweiß ausgemalt. Keine Bilder oder Fotos ließen diesen Raum heimelig wirken. Es sah so aus, als wäre die Wohnung gerade erst vor kurzer Zeit renoviert und gereinigt worden. Neben einer beigen Ledercouch stand ein kleiner Glastisch. Ein paar Zeitschriften stapelten sich darauf. Keine der Zeitungen ragte hervor. Fein säuberlich gestapelt, bildeten sie einen Turm. Alles hatte einen Hauch von steriler Krankenhausatmosphäre. Das Licht in der Wohnung war sehr bedrückend, fast unheimlich. Am sechsarmigen Leuchter brannten nur drei schwache Sparlampen. Die anderen Fassungen waren leer. Das Fensterglas war mit schwarzer Folie verklebt. Am Rand der Verklebung waren kleine Risse, durch diese kam nur sehr wenig Licht von draußen rein. Dadurch wirkte der Innenraum noch gespenstischer. Die Küche hatte ihre beste Zeit schon längst hinter sich. Die Geräte waren mindestens dreißig Jahre alt. Trotzdem versprühte dieser Raum, im Gegensatz zum Wohnzimmer, eine fast heimelige Atmosphäre. Das lag jedoch möglicherweise am Kaffeeduft, der sich hier ausbreitete. Eine alte Filtermaschine bereitete ihn mit lauten Geräuschen zu. Hier war das abgeklebte Fenster gekippt. So kam ein wenig Morgensonne herein. Die ganze Nacht hatte es geregnet. Es hörte erst in den Morgenstunden auf. Von draußen drang die frische, feuchte Morgenluft in die Wohnung und vermischte sich mit dem Kaffeeduft. Nur das Vogelgezwitscher der munter werdenden Vögel war zu hören. Kein anderes Geräusch durchbrach die Stille. Im Badezimmer beschlug der Spiegel oberhalb des Waschbeckens mit Dampf. Mathias Sobotka in der Dusche genoss das heiße Wasser, welches über seinen Kopf floss. Der Wasserfluss wurde durch Drehen an der quietschenden Armatur gestoppt. Triefend nass griff er zum Badetuch. Dies lag neben dem Waschtisch. Aus der Dusche kommend trocknete sich Mathias ab. Da der Spiegel vom Dampf beschlagen war, wischte er mit einem Tuch drüber. Kritisch betrachtete er sein Spiegelbild. Da war eine kräftige Statur, etwas trainiert, doch der Ansatz vom Wohlstandsbauch war nicht zu übersehen. Lange sah sich Mathias sein Gesicht an. Er strich sich über sein kantiges Kinn. Dieses befeuchtete er mit Wasser und verteilte den Rasierschaum darauf. Er massierte ihn langsam in den frischen Bartwuchs ein. Sogleich nahm er den Rasierer und rasierte sich gewissenhaft. Das war seine morgendliche Prozedur. Dabei ließ er sich immer Zeit. Mit den Fingern fuhr er sich übers Gesicht und kontrollierte so das Ergebnis, gegebenenfalls wurde korrigiert. Zufrieden wusch er sich den restlichen Schaum weg, trocknete sich ab und massierte ein Gel auf die soeben rasierte Haut. Genauso gründlich putzte er seine Zähne. Ein kurzer Blick auf die analoge Uhr, die mittels Saugnapfes an den Fliesen befestigt war, zeigte fünf Minuten vor sechs Uhr. Mit seinem türkisfarbenen Frotteebademantel bekleidet begab er sich ins Schlafzimmer. Hier roch es nach abgestandener Luft. Auch hier waren die Scheiben abgeklebt. Nachdem das Fenster geöffnet wurde, verdrängte die frische Brise sofort den stickigen, muffigen Duft im Zimmer. Sonnenlicht erhellte den Raum. Die Einrichtung war ebenfalls schon in die Jahre gekommen. Die Türen vom Kleiderschrank waren nur angelehnt. Es fehlten die Schlüssel. Der Spiegeleinsatz an der Front war zerkratzt und matt. Oberhalb des Bettes hing ein Marienbild. An der Wand gegenüber war ein Fernseher. Das hängende TV-Gerät war ebenfalls mit einem schwarzen Tuch abgedeckt, das Doppelbett militärisch korrekt gemacht. Es gab keine Falten in der Bettdecke. Alles war wie aus dem Lehrbuch. Links davon stand ein zusammengeklappter Rollstuhl. Rechts neben dem Bett am Nachtkästchen war eine kleine Nachttischlampe. Hier fehlte die Glühbirne. Darauf standen ebenfalls ein Radiowecker und ein Bilderrahmen. Das Bild zeigte eine ältere Frau. Sie sah nicht gesund aus. Das traurige Gesicht war fahl und faltig. Den Kopf bedeckte ein graues, schmuckloses Tuch. Die Frau sah gequält und ernst in die Kamera. Schmerz und Hoffnungslosigkeit einer resignierenden Person sah man auf diesem Foto. Der Versuch, einmal zu lächeln, misslang. Sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Man sah keine Augenbrauen, die Frau auf dem Bild hatte ihre Haare verloren. Über dem schlichten Rahmen spannte sich ein schwarzes Band der Trauer. Darüber hing ein Rosenkranz. Der Blick auf das Foto schmerzte ihn. Wie konnte es nur so weit kommen? Der Anblick des Fotos erschütterte ihn jedes Mal. Er hielt kurz inne für ein stilles Gebet. Mathias ging Richtung Kleiderschrank und überlegte einige Sekunden, dann öffnete er die knarrende Doppeltür. Sein Blick starrte ins Nirgendwo, als wäre der Schrank leer. Bis vor ein paar Wochen war das der Kasten seiner Mama gewesen. Nun benutzte er ihn. Die Kleidung war gebügelt und penibel sortiert. Die Hemden hingen komplett faltenfrei auf Kleiderbügel der Farbe nach von hell bis dunkel geschlichtet. Die Entscheidung fiel auf ein dunkelblaues Langarmhemd. Beige Socken aus der Lade im unteren Teil des Kastens, graue Boxershorts und eine hellbraune Stoffhose komplettierten die Garderobe. Damit ausgestattet verließ er das Schlafzimmer und begab sich ins Wohnzimmer. Die Tür wurde nur angelehnt. Aus dem Radio erklangen klassische Klänge, seine bevorzugte Musikrichtung. Früher hatte er die Musik mit seiner Mutter gehört. Stundenlang saßen sie auf der Bank und lauschten. Seine Mama strickte und er las. Die Bücher standen, nachdem sie nun nicht mehr da war, im Keller. Zu schmerzhaft war der Gedanke, auch nur eine Seite zu lesen. Die klassische Musik war sein Anker der Erinnerung.

Genau zwei Wochen war sie nun schon weg. Endgültig und für immer aus seinem Leben gegangen. Zuvor war sie jederzeit da gewesen und hatte ihn umsorgt. Der Krebs hatte sie ihm genommen. Er legte sein Gewand auf den Sessel, strich die Falten aus und begab sich in die Küche. Der Kaffee war in der Zwischenzeit schon fertig. Die Tasse betrachtend genoss er ihn. Es war eine besondere. Darauf war ein Bild von seiner geliebten Mutter. Da war sie jung und gesund gewesen. Diese hatte sie ihm geschenkt, als sie die Diagnose bekommen hatte. „So sollst du mich in Erinnerung halten“, waren damals ihre Worte. Darauf lächelte sie und schien glücklich zu sein. Und dieses Lächeln war ansteckend. Immer wenn er das Bild sah, schmunzelte er ebenfalls. Er liebte den Kaffeeduft am Morgen. Mit geschlossenen Augen sog er den Duft in sich auf. Mit der Tasse in der Hand begab er sich ins Wohnzimmer. Im Radio begannen gerade die Nachrichten. „Wien: In der Nacht auf heute wurde in einer Straßenbahn ein Mann erschossen. Wie aus Polizeikreisen bekannt wurde, ist heute Nacht gegen ein Uhr früh in einer Straßenbahn ein Mann erschossen worden. Der Tote wurde vom Fahrer in der Endstation entdeckt. Vom Täter fehlt noch jede Spur. Salzburg: Bei einem Wohnungsbrand sind heute Nacht in Hallein …“ Ein Druck auf die Taste drehte das Radio ab. Es wurde augenblicklich still im Raum. Er roch wieder an seiner Tasse Kaffee. Genüsslich nahm er einen kräftigen Schluck. Langsam ging er zur Balkontür und öffnete diese. Am Balkon holte er tief Luft und schloss die Augen. „So spielt das Leben. Die einen sterben an Krebs, andere wieder an einer Kugel. Was macht das schon für einen Unterschied? Sein Tod war gnädig. Keine Vorwarnung. Bumm und es war vorbei. Keine Schmerzen und kein langes Warten auf den Tod.“ Nach diesem Satz versteinerte sich seine Miene. War da ein Geräusch in der Wohnung? Unmöglich. Außer ihm war niemand da. Trotzdem ließ ein ungutes Gefühl seine Alarmglocken schrillen. Hatte er sich getäuscht oder wirklich etwas gehört? Misstrauisch begab sich Mathias ins Wohnzimmer und lauschte. Nach dem Schließen der Balkontür war nun wieder die gewohnte Stille. Spielte sein Gehirn verrückt? Er war sicher, er hatte sich nicht getäuscht, da war etwas. Es klang wie ein lautes Poltern. Sich konzentrierend schloss er seine Augen. Nein, der Verstand funktionierte noch ausgezeichnet. Genauso wie seine Ohren. Wieder hörte er ein Geräusch. Dieses Mal war es kein Poltern. Es klang wie ein Jammern oder Weinen. Konzentriert versuchte er, die Richtung zu orten. Kam das wirklich aus dem Schlafzimmer? Sein Blick änderte sich schlagartig. Ungläubig sah er zu der Tür. Mathias stellte die Tasse Kaffee auf den Tisch zu den Zeitungen. Vor lauter Nervosität fiel der Stapel Zeitschriften um. Dieser Umstand hatte momentan keine Bedeutung. Sein Blick fixierte die Tür zum Zimmer.

Der Boden knarrte leise unter den Schritten. Kritisch berührte er den Türgriff, hielt jedoch kurz inne. Er überlegte einen Moment und öffnete dann ganz vorsichtig die Tür. Verstohlen wanderte der Blick durch das Zimmer, wohl wissend, dass der Raum leer war. Etwas, er konnte nicht sagen was, lag hier in der Luft. Ein Gefühl, das nicht einzuordnen war. In diesem Augenblick spürte er instinktiv, dass etwas im Zimmer war. Eine Aura, die rational nicht zu erklären war. Argwöhnisch sah er sich im Raum um. Auf den ersten Blick war alles so wie immer. War er sich da sicher? Am Nachtkästchen standen die Lampe und das Radio. Irgendetwas fehlte hier. Nach kurzem Überlegen fiel es ihm ein. Der Bilderrahmen mit dem Foto seiner Mutter war nicht mehr an seinem Platz. Hunderte Gedanken schossen ihm durch den Kopf. In Panik lief er um das Bett herum. Die Erleichterung war groß. Das Porträt seiner geliebten Mutter lag am Boden. Vor lauter Aufregung trat er auf den Rosenkranz. Dieser lag neben dem Bild. Wie von einer Tarantel gestochen hüpfte er zur Seite. Er hob den Bilderrahmen und die Gebetskette ganz behutsam auf und betrachtete beide. „Gott sei es gedankt, es ist noch da.“ Die Erleichterung war groß. Das Bild hatte keine Schäden. Nur das schwarze Seidenband am Rahmen war heruntergerutscht. Der Rosenkranz hatte weniger Glück. Durch sein Gewicht waren Perlen zerbrochen. Zärtlich hob er das Foto und den Trauerflor auf. Er befestigte ihn am Bilderrahmen und strich verträumt darüber. Ungläubig starrte er die Fotografie an. „Mama? Mama, bist du es wirklich?“ Ihm liefen Tränen über die Wangen. Weinerlich presste er das Bild an sein Herz und liebkoste es. „Mama, es ist so schön, dass du wieder bei mir bist. Ich habe dich so sehr vermisst. Versprich mir, dass du mich nie wieder verlässt.“ Er sah mit seinen verweinten Augen das Bild an. Seine Gesichtszüge waren weich und verletzlich. „Ja, Mama. Ich glaube, ich war das. Ich habe den Mann erschossen. Glaub mir, ich wollte es nicht. Ehrlich, glaub es mir bitte. Es lief alles automatisiert ab. Ich habe es wirklich nicht gewollt. Ich bin gestern wie jeden Abend schlafen gegangen. Ich muss im Schlaf aufgestanden sein, anders kann ich es mir nicht erklären.“ Wieder flossen Tränen, das Bild fest ans Herz drückend. Der Schmerz des Verlustes war so unbeschreiblich groß, dass es ihn innerlich fast zerriss. „Mama, es muss mich einfach überkommen sein. Anders kann ich es mir nicht erklären. Verstehst du, ich kann es mir einfach nicht erklären! Es muss so gewesen sein. Ja, genau. So muss es gewesen sein. Ich war heute Morgen so zufrieden und entspannt. Ich habe davon in den Nachrichten gehört und wusste genau, das war ich. Am Nachmittag habe ich mich noch mit Mike besprochen. Du weißt, Michael, mein Freund. Ja, genau, wir arbeiten jetzt zusammen. Wir hatten ein paar Biere getrunken und er war genau wie ich der Meinung, dass etwas passieren muss. So kann es nicht weitergehen. Mich wegen so einer Kleinigkeit zu suspendieren. Ich war nur ein Sündenbock. Hier wurde an mir ein Exempel statuiert. Es interessiert sonst keine Sau. Tut mir leid, Mama. Ich weiß, das sagt man nicht. Es interessiert sonst niemanden, ob man bei einer längeren Wartezeit telefoniert. Nur bei mir wurde es sanktioniert.“ Mit verschwollenen Augen sah er das Bild an. „Kannst du mir das erklären, Mama? O Mama, du fehlst mir so. Ich bin so alleine.“ Mit seinem Handrücken wischte er die Tränen weg. „Ich weiß, dass ich nicht richtig gehandelt habe. Doch bitte, Mama, verstehe mich. Das geht nicht. Irgendwer musste ein Zeichen setzen, oder? Gibst du mir da nicht recht? Es darf einfach nicht sein. Nein, Mama, das ist nicht fair, nicht fair mir gegenüber. Aber ich möchte mit dir nicht darüber streiten. Nein, das will ich auf keinen Fall. Ich bin so froh, dass du wieder bei mir bist.“ Lächelnd himmelte Mathias das Bild an. „Aber nun zu dir, Mama, wie geht es dir? Jetzt, wo du jetzt bei mir bist, wird alles wieder gut. Nein, Mama, ich habe nichts Falsches gemacht. Alles wird wieder gut, du wirst schon sehen. Mama, es ist so schön, dass du wieder bei mir bist. Wir werden auf Urlaub fahren, genau so, wie wir es geplant hatten. Mama, vergiss den Mann. Der war zur falschen Zeit am falschen Ort, sein Pech. Was soll ich denn deiner Meinung nach machen? Er wird jetzt auch nicht mehr lebendig. Ganz ehrlich, Mama, was kümmerts mich. Sag, Mama, was kümmert uns der Mann? Es war ganz allein seine Schuld. Ja, genau! Er ist selbst schuld. Jaja, genau, er ist selbst schuld, nur er selbst. Und sonst niemand, verstehst du? Niemand.“ Er strich liebevoll über das Bild. „Mama, ich habe eine gute Idee. Ich gehe in die Kirche und beichte es unserem Herrn Pfarrer. Der hat dafür sicher Verständnis. Du wirst sehen. Er hatte doch bisher immer Verständnis, wenn ich ihm etwas gebeichtet habe. Und dann, Mama, dann wird wieder alles gut und wir können auf Urlaub fahren, okay? Ich freue mich schon so auf den Urlaub. Ja, das ist eine sehr gute Idee. Dass ich da nicht selbst draufgekommen bin. Oder war die Idee von mir? Keine Ahnung, Mama, was soll’s. Ich habe es ja immer gesagt, du bist die Beste. Du weißt immer, was zu tun ist. Genau so mache ich es. Ich habe jetzt noch ein paar Erledigungen zu machen und dann geh ich gleich zu Pfarrer Hermann. Du wirst sehen, Mama. Es wird alles wieder gut.“

Das läutende Smartphone brachte ihn sofort in die Realität zurück. Nachdem er sich die Tränen abgewischt hatte, hob er ab. „Hallo?“ „Hi, Mathias, wie geht’s dir? Hast du gut geschlafen?“ „Servus, Mike. Ja, kann mich nicht beklagen. Sag, hast du eine Ahnung, was gestern los war? Ich habe heute in den Nachrichten von dem Mord gehört. Genau so etwas hatten wir doch besprochen. Kannst du dich an dieses Gespräch erinnern? Genau so ist es abgelaufen.“ „Ja, Mathias, ich kann mich erinnern. Doch wir sollten das jetzt nicht am Telefon besprechen. Komm heute Abend bei mir vorbei. Dann können wir in aller Ruhe reden. Ich arbeite bis 16 Uhr. Dann gehe ich einkaufen. Eine Stunde später bin ich dann daheim. Komm einfach vorbei, wann du willst.“ „Alles klar, Mike, ich habe jetzt ein paar Dinge zu erledigen. Wir sehen uns am Abend.“ Das Gespräch wurde von beiden ohne ein Wort der Verabschiedung beendet.

Kapitel 4

Joe war mit Michaela auf dem Weg zur Adresse des Opfers. Während der Fahrt lief bei ihm das Prozedere des Gesprächs mit den Hinterbliebenen ab. Leider war das ein Teil ihrer Arbeit. Hier musste besonders sensibel vorgegangen werden. Die Angehörigen wurden stets brutal von diesen Nachrichten getroffen. Im Vorhinein war nie klar, wie sie reagierten. Er hatte immer Probleme damit, speziell bei emotionalen Ausbrüchen. Ihm blieb nichts anderes übrig, auch weil solche Momente zu seinem Job gehörten. Familienangehörigen die niederschmetternde Nachricht mitzuteilen, dass ein Angehöriger gewaltsam zu Tode gekommen war, war sein persönlicher Albtraum. Als Leiter des Teams übernahm er diese heikle Aufgabe. Auch wenn es ihm unangenehm war, es gehörte zum Job. Es blieb ihm nicht erspart, jemand hatte die Pflicht, es ihnen mitzuteilen. Michaela saß wortlos neben ihm. Auch für sie waren das Momente, auf die sie gerne verzichtete. Sie war zur Begleitung dabei. Die Nachricht überbrachte nie einer allein. Selbst die Verantwortung für die richtigen Worte zu übernehmen, blieb ihr bis heute erspart. Joe war froh, dass die lange Fahrt schweigsam verlief. Ein ruhiger Moment, um die Gedanken zu sortieren. Was war da bis jetzt vorgefallen? Ein Mord in der Straßenbahn mitten in der Nacht und keine Zeugen. Außer dem Opfer und dem Täter war nur ein mit der Situation überlasteter Fahrer in der Garnitur. Fiel ihm vielleicht doch noch etwas ein? Kam die Erinnerung nach dem Schock wieder? Wenn ja, was hatte er rundherum mitbekommen? Es gab begründete Zweifel, dass dieser Zeuge überhaupt etwas gesehen hatte. Die Spurensicherung arbeitete wie immer gründlich und präzise. Diese wertet verlässlich die Beweise aus, mit denen es möglich war, weiterzuarbeiten. Es lief alles routinemäßig ab. Ein Zahnrad griff in das nächste. Nur eines verursachte ihm Kopfzerbrechen: Sein gesundheitlicher Zustand bereitete ihm jetzt doch Sorgen. Was war da heute am Tatort los? Keine Ahnung, was passiert war. Ohne Vorwarnung kam aus heiterem Himmel der Schwindel. „Es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Ich werde doch demnächst einen Arzt aufsuchen müssen.“ Gedankenverloren merkte er nicht, dass er dies leise aussprach. Michaela sah ihn fragend an: „Okay, nun sag, was ist mit dir los? Ich habe es schon in der Früh bemerkt. Irgendwas stimmt nicht mit dir. Du hast dich so unsicher bewegt. So etwas kenne ich von dir nicht. Das habe ich bei dir noch nie gesehen. Das bist nicht du.“ Er überlegte kurz, was er ihr sagen sollte. Ein schweres Unterfangen, speziell, wenn man selbst keine Ahnung hat. Michaela erwartete eine Antwort. Sie würde jetzt nicht lockerlassen. Joe hätte dieses Gespräch gerne ausgelassen. Doch wenn es schon seine Kollegen mitbekamen … „Ich habe ehrlich keine Ahnung, was los ist. Seit ein paar Tagen fühle ich mich richtig mies. Ich gehe davon aus, dass ich mich im Urlaub erkältet habe. Ich hoffe nur, dass es nicht mehr ist. Ich bin heute aufgewacht und war so müde und ausgelaugt, als hätte ich überhaupt nicht geschlafen. Also hätte ich die ganze Nacht durchgemacht, würde ich es verstehen. Doch ich bin ratlos. Ich weiß es wirklich nicht.“ Michaela hörte ihm aufmerksam, ohne ihn zu unterbrechen, zu. Mit einem kurzen Blick auf ihre Seite sah er die Besorgnis in ihrem Gesicht. „Du hast recht, du solltest so schnell wie möglich zum Arzt gehen. Mit der Gesundheit spielt man nicht. Wenn es nur eine Verkühlung ist, dann wäre es nicht so schlimm. Doch, Joe, du bist gewankt. Gewankt, als wärst du betrunken. Joe, glaub mir, das ist keine Verkühlung. Da steckt mehr dahinter.“ Klar, dass seine Kollegin recht hatte. Sie hatten diesen schwierigen Fall und es war sein erster Arbeitstag. Dies waren alles ausgezeichnete Argumente, keine kostbare Zeit zwischen kranken Menschen in einem überfüllten Warteraum zu verbringen. Trotzdem stimmte er ihr zu: „Wenn es die Zeit zulässt, werde ich gehen. Aber jetzt haben wir einen Mord aufzuklären. Da ist keine Zeit dafür, krank zu sein.“

Sie kamen bei der eingegebenen Adresse an. Nach dem Einparken stiegen sie aus. Während sich das Auto absperrte, überquerten sie die Straße. In der Zwischenzeit sind die Temperaturen stark gestiegen. Die Sonne schien und brannte auf den Asphalt. Dieser war vom Regen in der Nacht noch feucht. „Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist wieder alles aufgetrocknet und die schwüle Mordshitze hat uns wieder voll im Griff“, dachte er. Wie er diese Tage hasste. Warm, okay, aber diese Affenhitze, die sich in der Stadt staute, war ihm zuwider. Im Urlaub im Süden hielt er es aus. Die Luft war trocken und die Brise vom Meer erzeugte ein erträgliches Klima. Doch hier im Glutofen der Großstadt war es nur unangenehm. Seine Gedanken schweiften zu weit von der Arbeit ab. Er holte sich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Auf der Gegensprechanlage stand der Name des Opfers. Michaela drückte den Knopf. Beide sahen sich um. Dies war die Gegend, in der er mit Lydia gerne wohnen würde. Einfamilienhäuser, die am Rande der Stadt standen, elegant und modern. Jedoch nicht protzig, wie sie in anderen Teilen zu finden waren. Dies hier war eine neue Siedlung. Wie er vermutete, war das Wohnen hier nicht billig. Nur wie war das mit ihren Gehältern leistbar? „Hallo“, war aus dem Lautsprecher zu hören. „Kollischek, Kripo, dürfen wir reinkommen?“ Das Summen ertönte und signalisierte, dass das Eingangstor nun offen war. Beide atmeten kurz tief durch und nickten sich zu. Joe öffnete die Tür und sie betraten den gepflegten Garten. Auf den paar Schritten zum Haus knirschte der Kieselweg unter ihren Füßen. Bevor sie die Eingangstür erreicht hatten, wurde diese schon geöffnet. Eine Frau, Mitte dreißig, erschien. Sie war blass, trotzdem hatte sie eine gewisse Ausstrahlung. Sie kamen zügig näher. „Kollischek, das ist meine Kollegin Lorent“, stellte Joe sie vor. „Pollak, ist etwas passiert? Kommen Sie wegen meinem Mann? Wissen Sie, wo er ist? Er ist heute nicht nach Hause gekommen.“ „Dürfen wir reinkommen?“ Sie öffnete die Tür und schritt voran. „Sagen Sie schon, was ist passiert? Hatte er einen Unfall?“ „Mein Gott, wie ich diesen Moment hasse“, dachte Joe. „Es tut uns furchtbar leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann Opfer eines Gewaltverbrechens wurde. Er wurde in der Straßenbahn erschossen aufgefunden.“

Frau Pollak verlor nun die ganze Farbe im Gesicht und taumelte zurück. Michaela schnellte vor und hielt sie beim Arm fest. So verhinderte sie, dass sie nach hinten fiel. Sie sah sich kurz um. Ein paar Schritte von ihnen entfernt stand ein Sessel. Vorsichtig bewegten sie sich in die Richtung. Dort angekommen sank diese kraftlos nieder. Ihr ausdrucksloser Blick starrte vor sich hin und kein Wort kam über ihre Lippen. Unangenehme Stille erfüllte den Raum. Die beiden sahen sie an und warteten auf eine Reaktion. Sie saß nur da, von ihr kam absolut nichts. Langsam füllten sich die Augen mit Tränen. Diese liefen ihr seitlich über die Wangen. „Wie ist das möglich? Wir haben doch in der Nacht telefoniert. Er wollte gleich nach Hause kommen. Ich bin dann wieder eingeschlafen. Heute Morgen, als er noch nicht da war, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich habe mich gerade fertig gemacht und wollte zur Polizei, eine Abgängigkeitsmeldung oder wie das heißt machen.“ „Wann haben Sie mit ihm telefoniert?“ Sie sah Michaela an. „Es war gegen halb eins. Er war von einer Feier mit seinen Freunden auf dem Heimweg, als er mich anrief. Er wollte gleich da sein und mir alles erzählen. Sind Sie sicher, dass es Klaus ist? Es handelt sich sicher um eine Verwechslung. Ja, sicher, Sie irren sich hundertprozentig. Sie haben da was