Komet - Claire Holroyde - E-Book
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Komet E-Book

Claire Holroyde

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Beschreibung

Was tun wir, wenn das Ende der Welt bevorsteht? Ein riesiger Meteorit rast auf die Erde zu. Die einzig mögliche Rettung: Eine Atombombe muss die Flugbahn des Meteoriten umlenken. Es ist bereits eine Sekunde vor 12 und allen ist klar: Damit dies gelingt, müssen sämtliche Regierungen der Welt ihre besten Leute schicken. Während der Kampf gegen die Zeit läuft, bricht allerorten das Chaos aus. Der bevorstehende Weltuntergang führt zum Zusammenbruch sämtlicher Gesellschaftssysteme und Technologien, Kriege, Plünderungen und Hunger sind die Folge. Hiervon unberührt bleibt lediglich die Crew eines Forschungsschiffes, das von allem abgeschirmt mit einem Klimaforschungsauftrag in der Arktis unterwegs ist …

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Seitenzahl: 546

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Über das Buch

Bei seiner Entdeckung in der Nähe des Jupiters wurde das Objekt UD3 zunächst ignoriert. Abgesehen von jenen, denen die Bedrohung durch ein solches Objekt mit acht Kilometern Durchmesser nur zu bewusst war, konnte sich niemand die mögliche Auslöschung allen Lebens auch nur vorstellen. Das Zeitalter der Dinosaurier endete nach einem solchen Einschlag, was würde passieren, wenn ein ähnliches Event auf einer mit über sieben Milliarden Menschen bevölkerten Erde stattfindet?

In Südamerika findet sich ein Team zusammen, um nichts Geringeres als die Rettung der Menschheit zu organisieren. Gleichzeitig kreuzt in der Arktis eine Crew mit dem letzten Forschungsauftrag zur Auswirkung des Klimawandels auf das ewige Eis, bevor es womöglich für immer verschwindet …

Sie alle kämpfen ums Überleben in einer ungewissen Zukunft ohne Regeln und Sicherheiten, denn während der Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bricht überall das Chaos aus. Ist die Menschheit noch zu retten oder steht nun unausweichlich ihr Untergang bevor?

CLAIRE HOLROYDE

KOMET

Roman

Aus dem amerikanischen Englischvon Gerald Jung

 

 

 

 

Gewidmet meinen Erstlesern und ErstleserinnenChris, Bernadette und Matt … und dem wunderschönen blauen Planeten,auf dem wir alle gemeinsam leben

 

 

 

 

»Früher oder später kommt einer, auf dem unser Name steht. Es ist lediglich eine Frage wann, nicht ob.«

Alan Duffy, wissenschaftlicher Leiter der Royal Institution of Australia

 

 

»›Er war ganz plötzlich da‹: Forschungsteam von ›City Killer‹-Asteroiden überrumpelt, der die Erde nur knapp verfehlt hat.«

Allyson Chiu, Washington Post vom 26. Juli 2019

PROLOG

RESERVAT DER TOHONO O’ODHAM, KITT PEAK, ARIZONA 30. JULI

Hinterher konnte sich bei Spacewatch niemand mehr daran erinnern, ob Jeff oder Jim ihn entdeckt hatte. Die beiden waren sich so ähnlich, und keiner von ihnen wollte die Lorbeeren dafür haben. Beide Männer waren Ende zwanzig und arbeiteten nach ihrer Promotion am Forschungszentrum für Planetologie der Universität von Arizona. Am Morgen des 30. Juli kamen beide früh ins Labor, beide trugen Cargo Shorts und Birkenstocksandalen. Nachdem sie sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatten, setzten sie sich vor ihre Computer, um die Ergebnisse der vergangenen Nacht zu begutachten.

Jim und Jeff waren Asteroidenjäger, und wie die meisten Menschen auf Jagd, die es mit einem verdichteten Beobachtungsfeld zu tun hatten, benutzten sie Bewegungen zum Aufspüren ihres Ziels. Die beiden Teleskope der Universität auf dem Gipfel des Kitt Peak wurden bei jeder Lunation – dem Ablauf einer vollständigen Mondphase – von automatisierter Software vierundzwanzig Nächte lang überwacht. Im Minutenabstand wurden Bilder desselben Ausschnitts des Nachthimmels aufgenommen, um Positionsveränderungen zu entdecken. Diese digitalen Bilder sahen wie Fotonegative aus, denn das dunkle, von Lichtflecken übersäte Universum war auf ihnen in eine Art weißes Rauschen umgewandelt.

Von dem größeren 1,8-Meter-Teleskop wurden in erster Linie lichtschwächere Objekte im Sonnensystem beobachtet, da diese von den anderen wahrscheinlich weniger beachtet wurden, die rings um den Globus auf Asteroidenjagd waren. Jeff und Jim arbeiteten immer im Team, aber einer von ihnen musste es zuerst gesehen haben: ein neues Objekt, das in der vorangegangenen Nacht noch nicht zu sehen gewesen war – ein sehr großes Objekt, das erst vor Kurzem hinter dem gleißenden Rand der Sonne hervorgekommen sein musste. Bin ich verrückt oder ist da wirklich was?, rief derjenige womöglich dem anderen zu. Denn ich wäre lieber verrückt, als …

Für den zweiten Betrachter muss es noch schlimmer gewesen sein. Denn sobald er seinen ergonomischen Schreibtischstuhl herangerollt und sich herübergeneigt hatte, bis sein bärtiges Gesicht nur wenige Zentimeter vom Computerbildschirm entfernt war, musste er den undeutlichen schwarzen Punkt bestätigen, der sich dort im Orbit des Jupiter abzeichnete. Als ihm klar wurde, was er da sah und was es unweigerlich zu bedeuten hatte, muss er vor Schreck aufgesprungen sein und dabei seinen Stuhl umgeworfen haben.

1

AUS DEM SCHATTEN DER SONNE

PASADENA, KALIFORNIEN 31. JULI

Eine Woche bevor die Nachricht von der Entdeckung des dunklen Kometen UD3 an die Öffentlichkeit gelangte, klingelte Dr. Ben Schwartz’ Telefon mitten in der Nacht. Unbekannte Nummer. Ben leitete den Anruf an seine Voicemail weiter, aber kurz darauf klingelte das Telefon erneut. Wer ist gestorben?, fragte er sich. Tante Rachel? Meine Mutter oder mein Vater? Ben setzte sich rasch die Brille auf und rief zurück. Eine knarrende Stimme mit deutlichem Akzent verlangte namentlich nach ihm.

»Vom Jet Propulsion Laboratory der NASA«, fügte der Mann hinzu.

Niemand vom Strahlenantriebslabor sprach den Namen komplett aus. Es hieß sonst immer nur JPL, eine Abkürzung von vielen, wie sie von sehr effizienten Sprechern oder Sprecherinnen benutzt wurde. Gab es einen Notfall im Labor? Eine Sicherheitsverletzung? Eine Explosion?

Bens Freundin Amy stöhnte leise, als er das grelle Deckenlicht anmachte. Sie legte die Hand über die Augen und entblößte das Pfauenfedertattoo, das die weiche Innenseite ihres Unterarms zierte. Amys platinblonde Haare waren damals, als sie sich bei einer CosCon-Sci-Fi/Fantasy-Convention begegnet waren, flammend rot gewesen und hinter spitze Elfenohren geschoben. Nimm das, Tolkien! Während ihrer Steampunk-Phase waren sie schwarz gewesen, aber noch nie braun. Braun war viel zu normal, und mit normal hatte Amy nichts am Hut.

»Ja, hier ist Ben«, bestätigte er. »Und wer sind Sie?«

Die Namen berühmter alter Meister fallen in Wissenschaftskreisen ständig, weshalb es einen Augenblick dauerte, bis Ben klar wurde, dass er tatsächlich mit einem von ihnen sprach.

»Ach du Scheiße! Echt jetzt?«, fragte er.

Amy fluchte und warf ein Kopfkissen nach ihm. Hätte sie etwas Schweres oder Spitzes in die Finger bekommen – einen Wecker, eine Lampe, einen Morgenstern –, hätte sie ihm garantiert die Zähne ausgeschlagen. Ben machte das Schlafzimmerlicht wieder aus, ging in den Flur und tappte barfuß über den Teppichboden, dessen Farbe und Konsistenz ihn an Haferflocken erinnerte. Die sechzig Quadratmeter seiner Eigentumswohnung hatten für die Junggesellenjahre ausgereicht, damals, als er Ende zwanzig, Anfang dreißig war, aber mit zwei Leuten war sie überbelegt. Amy brauchte Platz. Ben hätte gerne eine größere Wohnung gehabt, aber die Immobilienpreise in South Pasadena waren irrsinnig, und er arbeitete für die Regierung, nicht für Google.

»Entschuldigen Sie«, sagte Ben, »aber meinen Sie Tobias Ochsenfeld, den Astrophysiker? Also … den Astrophysiker?«

»Ja«, antwortete der Mann. »Ab und zu schreibe ich auch mal ein Buch, aber das scheint niemanden zu interessieren.«

Dabei hatte der alte Sack mit seiner Essaysammlung zum Thema Symmetrie ein MacArthur-Stipendium gewonnen. Der geborene Australier hatte in Oxford gelehrt und war so brillant in Mathematik, wie man nur sein konnte, ohne schon am Autismus zu kratzen. Angeblich war er sowohl ein Fan von Proust als auch von Fermats letztem Satz.

»Ich kann’s kaum glauben«, sagte Ben und lachte trocken. »Ich habe Ihre Theorien in der Schule gelernt. Also, ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass Sie dran sind, als ich das Telefon abgenommen habe.«

Der berühmte Achtzigjährige wurde todernst. »Das ist bedauerlich. Denn ich habe mir sagen lassen, dass Sie ziemlich gut im Raten sind.«

Die Angst kehrte zurück. Sie breitete sich in Bens Magen aus und stachelte seine Fantasie wieder an. Er wollte Fragen stellen, kam aber nicht sehr weit.

»Ich muss Sie unterbrechen, Ben. Ich darf Sie doch Ben nennen?«

»Sir –«

»Und Sie nennen mich Professor, wenn Sie wollen. Ich habe mein ganzes Leben in der akademischen Welt gearbeitet und bin inzwischen steinalt. Also, Ben, Sie müssen zum Flughafen Los Angeles. Sofort.«

Ben stutzte und sprach das einzige Wort aus, das der Situation angemessen schien. »Warum?«

»Weil die UN für Sie einen Flug nach Französisch-Guayana gebucht hat«, antwortete der Professor. »Bevor Sie durch die Sicherheitskontrolle gehen, brauchen Sie noch eine Gelbfieberimpfung.«

Ben machte vorsichtig einen Schritt in seine Wohnküche. »Warum –«

»Ich rufe aus Brüssel an«, unterbrach ihn der Professor, »aber ich fliege heute ebenfalls noch los. Ich verspreche, dass ich Ihnen alles Weitere persönlich erkläre. Vor Ihrem Haus wartet bereits ein Wagen, der Sie zum Flughafen bringt. Sie brauchen nichts weiter als Ihren Pass.«

Nach einer Schrecksekunde ließ Ben das Telefon sinken und ging geduckt zur gläsernen Schiebetür, die auf seinen Balkon im zweiten Stockwerk führte. Der Vorgarten der Wohnanlage sah aus wie immer: überall Kunstrasen, bis auf den von kleinen Strahlern beleuchteten Betonweg.

Als Ben hier eingezogen war, hatte es dort noch Staudengärten und richtiges Gras mit automatischer Bewässerung gegeben, aber die so noch nie da gewesene kalifornische Trockenheit und die Wasserspargesetze hatten derlei Gartenschmuck unbeliebt gemacht. Der Kieselgarten mit den blühenden Kakteen, der sie ersetzt hatte, war nicht lange danach in El Niños Regengüssen weggespült worden. Laut Eigentümergemeinschaft kam Kunstrasen mit derlei Klimabedingungen am besten klar. Woraufhin sich nicht wenige darüber beschwert hatten, dass das Gelände jetzt wie eine Minigolfanlage aussah, es fehlten nur noch ein paar Löcher und herumliegende Schläger.

Ben erblickte eine am Straßenrand parkende Limousine. Im Licht der Laterne sah er dunkle Bewegungen hinter der Scheibe auf der Fahrerseite. Er bekam eine Gänsehaut. Dann fingen alle zu schreien an: Ben schrie seine Fragen, der Professor schrie, dass für Fragen keine Zeit bleibe, und Amy schrie aus dem Schlafzimmer, Ben solle verdammt noch mal leise sein, sie wolle schließlich schlafen.

»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Ben, »bevor ich nicht weiß, worum es überhaupt geht.«

»Verlieren Sie jetzt bloß nicht den Kopf«, ermahnte ihn der Professor. »Denn Ihren Kopf brauche ich noch!«

»Sie werden schon sehen!«

Ben ging in die Mitte des Wohnzimmers, um besser nachdenken zu können. Er stand da in Boxershorts und einem weißen Unterhemd und starrte auf seinen an der Wand hängenden Flachbildschirm. Während er darin die schmale Silhouette und die knochigen Gliedmaßen seiner 1,75 Meter betrachtete, sprang die Klimaanlage mit leisem Surren an. Im Vergleich zu Bens außergewöhnlichem Verstand war sein Körper nur dessen weniger leistungsfähiges Vehikel.

»Gestern ist ein dunkler Komet entdeckt worden«, sagte der Professor. »Er kam gerade auf einer exzentrischen Umlaufbahn hinter der Sonne hervor –«

»Ich wusste es!«, rief Ben.

Im Herbst 2014 hatte das Thema Kometen Ben zu seinen fünfzehn Minuten Ruhm verholfen. Der Komet Siding Spring war gerade in einer Entfernung, die halb so groß war wie die zwischen der Erde und ihrem Mond, am Mars vorbeigesaust. Erst zweiundzwanzig Monate vorher hatten Astronomen in Australien den Kometen entdeckt. Als Manager des NASA-Zentrums für erdnahe Objekte (CNEOS) beim JPL hatte Ben eine Pressekonferenz abgehalten und die Gelegenheit genutzt, die Gefahren sogenannter »dunkler« oder auch schlecht zu erkennender Kometen anzusprechen. Zum ersten Mal in seinem Leben waren Bens Warnungen von den großen Medien verbreitet worden.

»Glückwunsch«, sagte der Professor mit einem leicht feindseligen Unterton.

Ben riss sich zusammen und hielt die Klappe, damit der alte Mann fortfahren konnte.

»Der Komet hat keinen Namen, nur die Bezeichnung UD3. Bei Spacewatch wollte niemand damit in Verbindung gebracht werden.«

»Langsam«, ging Ben dazwischen. »Wollen Sie damit sagen, diese Typen in Arizona haben Sie zuerst angerufen?«

»Nein. Sie haben zuerst bei der NASA angerufen. Und die hat im Präsidialamt Ihrer Regierung angerufen.«

Ben wartete nur wenige Herzschläge. »Und?«

»Die oberste Führung Ihres Landes will Gewissheit haben«, sagte der Professor. »Sie will eine nachgewiesene Flugbahn, die Wahrscheinlichkeit eines Einschlags … also alles, was wir nach einer ersten Sichtung noch nicht liefern können. Was diese Leute auf gar keinen Fall wollen, sind verfrühte Schätzungen, die sich als falsch erweisen können und das Land unnötigerweise in Panik versetzen.« Er stieß ein merkwürdiges Geräusch aus, eine Mischung aus Seufzen und Räuspern. »Ich gehe davon aus, dass die totale Auslöschung … undenkbar ist«, sprach der Professor weiter. »Nicht nur für die in der Regierung, die immer noch an den Kreationismus glauben, sondern auch für alle anderen. Vermutlich sind wir doch alle der Mittelpunkt unseres eigenen Universums –«

»Auslöschung? Wie groß ist der Komet denn?«

»Acht Kilometer.«

Schweigen.

»Genau«, sagte der Professor, »und deshalb hat mich die NASA angerufen. Ich konnte eine Verbindung mit den Vereinten Nationen und der EU herstellen. Die sind bereit, mit uns zusammenzuarbeiten.«

Ben holte tief Luft, wobei er erst jetzt merkte, dass er sie angehalten hatte.

»Sagten Sie gerade acht Kilometer?«, fragte er.

»Ja. Bedauerlicherweise.«

Ben hörte sich selbst keuchen. Nach weniger als vierundzwanzig Stunden ließ sich nicht viel mehr als die Größe und Geschwindigkeit des Kometen bestimmen, und beide waren mehr als erschreckend.

»Wie sieht der Plan jetzt aus?«

»Deshalb habe ich Sie angerufen«, sagte der Professor, der allmählich die Geduld verlor. »Sie leiten doch das Zentrum für erdnahe Objekte bei der NASA. Sie sind der Experte, oder etwa nicht?«

»Ja schon«, stammelte Ben und richtete sich auf. »Ich habe mich schon mein ganzes Leben mit Asteroiden und Kometen beschäftigt.«

Ben kam oft außer Atem, wenn er über Einschläge aus dem All redete. Sogar Amy als großer Star Wars-Fan, Fantasy-Gamerin, Manga-Leserin – und zweifellos die coolste Person in Sci-Fi-Convention-Kreisen – musste ihn ab und zu fragen: Kannst du auch mal über was anderes als über Asteroiden und Kometen reden? Ehrlich gesagt: nein. Ben antwortete darauf immer: Wie kann man nicht darüber reden?

Die Dinosaurier waren seine erste große Liebe gewesen. Als Sechsjähriger hatte er Plastikdinos gesammelt und auf dem Flokati seiner Eltern gewaltige Echsenschlachten inszeniert. Als er älter wurde, hatte er von einer noch viel größeren Naturgewalt erfahren. Die entsetzlichen Zähne eines Tyrannosaurus Rex waren nichts im Vergleich zu einem Asteroiden von zehn Kilometer Durchmesser. Letztendlich hatte die hundertsiebzig Millionen Jahre dauernde Herrschaft der Dinosaurier ein jähes Ende gefunden, nachdem der Aufschlag eines Asteroiden die Energie von mehr als einer Milliarde Atombomben entfesselt hatte. Für das komplexe Leben auf der Erde stellte nichts eine größere Bedrohung dar als der Einschlag eines Himmelskörpers aus dem Weltall. Einmal abgesehen davon, was sich der Mensch selbst antat.

»Und ich bin der Vorsitzende der IAA-Konferenz zur planetaren Verteidigung«, schob Ben hinterher. »Wir haben hundertzweiundzwanzig mögliche kosmische Einschlagsszenarien durchgespielt und –«

»Sehr gut. Denn wir brauchen einen Plan für das Worst-Case-Szenario – den schlimmsten aller möglichen Fälle. Falls Sie jetzt nicht noch mehr Zeit verplempern wollen, schlage ich vor, dass Sie sich in dieses Flugzeug setzen und schon mal ein paar Namen für ihre Auswahlmannschaft zusammenstellen.«

Der Professor räusperte und hustete die Motten und Spinnweben aus seiner Kehle und fuhr dann fort: »Wir sehen uns am Äquator.«

Nachdem er aufgelegt hatte, ging Ben zurück ins Schlafzimmer und machte das Licht wieder an.

»Herrgottnochmal«, zischte Amy. »Ich will schlafen. Ich muss morgen arbeiten.«

Ben schaltete das Licht wieder aus und blieb im Dunkeln stehen. Er wusste nicht, wie lange er so dagestanden hatte, bis er das Licht wieder anknipste.

»Was denn?«, rief Amy. »Was ist denn so verdammt wichtig mit diesem Weltall? Es ist ja nicht so, als wäre es morgen nicht mehr da!«

Ben gingen tausend Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Seine Lippen und Augenlider zitterten vor Anspannung. Als Amy ihn so sah, warf sie die Bettdecke beiseite und ging zu ihm.

»Tut mir leid, Schatz«, sagte sie. »Was ist denn los?«

Amy wusste, dass sie nicht in seinen Schädel vordringen konnte. Sie musste ihn sanft daraus hervorlocken.

»Ben?«

Amy nahm seine kleine Hand in ihre noch kleineren Hände. Ben hatte lange, feingliedrige Finger, was er seit jeher verabscheut und sie schon immer an ihm geliebt hatte.

»Ben!«

»Weißt du noch, als vor ein paar Jahren der Komet Siding Spring an der Erde vorbeigeflogen ist? Du warst genervt, weil ich im Büro übernachtet habe, als wir sämtliche Marssonden auf der anderen Seite des Planeten zusammengezogen haben –«

»Das Manöver Kopf einziehen und in Deckung gehen«, beendete Amy den Satz für ihn.

Bens feines Lächeln verschwand, kaum dass es seine Lippen erreicht hatte.

»Es ist wieder ein dunkler Komet aufgetaucht«, sagte Ben langsam.

Amy wollte ihn unterbrechen und nach der voraussichtlichen Flugbahn, der Wahrscheinlichkeit und dem angenommenen Zeitpunkt des Einschlags fragen, aber Ben ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Sie haben ihn erst gestern entdeckt – und er ist verdammt groß.«

Ben hatte mit Amy schon immer Klartext geredet und nie sein Alter mit einer irgendwie gearteten Überlegenheit gleichgesetzt. Er war zweiundvierzig und sie vierunddreißig. Auch seine Intelligenz hatte er nie ins Feld geführt. Seit jeher hatte er Amy alles aus dem einfachen Grund erzählt, dass er es wollte. Letztendlich war er ein einsamer, nervöser Mensch. Amy ergänzte seinen verhaltenen Eifer durch eine sehr willkommene Portion Dreistigkeit und Durchsetzungskraft.

»Ich muss los«, sagte er. »Draußen … wartet schon ein Auto auf mich.«

Sie sahen einander schweigend an, bevor Amy ihn fragte, wohin er musste.

»Flugplatz. Äquator. Südamerika. Wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten. Sie wollen von dort eine Abfangrakete starten, falls es so weit kommen sollte. Oder wohl eher: Ich werde sie starten. Jedenfalls muss ich den genauen Plan dafür ausarbeiten.«

Er unterbrach sich und führte seine Fantasie in einem Raum mit allem Anschein nach endlosen Möglichkeiten spazieren, um sie kurz darauf vor lauter Unschlüssigkeit erstarren zu lassen. Er spürte die Galle in seiner Speiseröhre emporsteigen, er spürte den säuerlichen Geschmack im Mund. Blinde Flecken wucherten am Rand seines Gesichtsfelds. Er näherte sich dem Augenblick eines Traumes, in dem man das Gleichgewicht verliert und fällt, um kurz darauf erschrocken aufzuwachen.

»Er hat mich gewarnt. Ich darf nicht den Kopf verlieren.«

Ben setzte sich aufs Bett und schloss die Augen, aber das reichte nicht aus. Er wankte ins Bad nebenan und übergab sich in die Toilettenschüssel. Als er nur noch trocken würgte, kam Amy auf Zehenspitzen hinterher, holte einen Kulturbeutel unter dem Waschbecken hervor und packte ihre Zahnbürste, Zahnseide, Deo und Tampons ein.

»Moment mal«, sagte Ben. »Was machst du da?«

Er setzte sich auf die kühlen Fliesen und wischte sich über den Mund und das vorstehende Kinn.

»Ich packe«, antwortete Amy und sprang schon unter die Dusche. »Bin gleich fertig.«

Ben schüttelte den Kopf und schwankte leicht. Als er ihr widersprechen wollte, fuhr Amy herum und funkelte ihn mit ihren grauen Augen an.

»Du gehst nicht ohne mich.«

Amy war als Kind von Armeeangehörigen auf etlichen Militärstützpunkten aufgewachsen. Nachdem sie mit achtzehn die Schule abgeschlossen hatte und volljährig geworden war, hatte sie alles Mögliche gearbeitet, mit mehreren Freunden zusammengelebt und diverse Abendkurse belegt. Jedes Mal, wenn Ben den Umzug in eine größere Wohnung erwähnte, sah Amy ihn entschlossen an und sagte: Ich bin in meinem Leben schon genug umgezogen. Sie brauchte die Gewissheit eines geregelten Zuhauses mit Ben als permanentem Fixpunkt.

»Deckel drauf.«

»Was?«

»Mach die Kappe auf deinen Rasierer«, sagte Ben und zeigte auf den pinkfarbenen Einwegrasierer in ihrer Hand. »Sonst schneidest du dich.«

Amy stand in ihrem zerknitterten Mystery Science Theater 3000-T-Shirt und einer seiner Boxershorts hoch über seiner auf dem Fliesenboden zusammengesunkenen Gestalt. Das mit den Boxershorts gefiel ihm schon allein deshalb nicht, weil sie an ihrem flachen Bauch viel besser aussahen als an ihm.

»Komm schon«, sagte Amy nachsichtig. »Beruhige dich erst mal, und dann ziehst du dich an.«

Sie stellte den Kulturbeutel aufs Waschbecken, fasste Ben unter den Achseln und zog ihn hoch.

»Jetzt hol schon mal unsere Reisepässe«, spornte sie ihn an.

Normalerweise wusste Ben immer, wo alles war, weil er derjenige war, der alles wegräumte. An die Wände gestützt folgte er Amy ins Schlafzimmer. Dort standen bereits zwei leere, aufgeklappte Koffer auf dem Bett. Amy nahm stapelweise Klamotten aus dem Schrank und packte sie in die Koffer, mit Kleiderbügeln und allem. Ben zog eine Jeans an und schob seine Brieftasche und ihre Pässe in die Gesäßtaschen. Von draußen war ein kurzes Hupen zu hören.

»Stellt euch nicht so an, ihr Idioten!«, brüllte Amy.

Die lauten Geräusche ließen Ben zusammenzucken. Seine Hände zitterten, aber Amys Hände gingen ruhig und entschlossen vor. Die vielen Stunden, die sie allein in ihrem winzigen Schlafzimmer damit verbracht hatte, Science-Fiction-Romane und Comics zu lesen, hatten sie darauf vorbereitet.

»Amy, du weißt schon, dass das hier echt ist?«

Sie nickte. Schon seit der fünften Klasse hatte sie darauf gewartet, die Welt zu retten.

»Alles, was wir kennen und wissen, steht auf dem Spiel.«

»Ja, ich hab’s kapiert«, erwiderte sie und packte die Griffe der beiden Koffer.

Ben sah, wie sie sich abmühte. Ein mutigerer, einfacher gestrickter Mann wäre ihr zu Hilfe geeilt. Aber Ben war weder mutig noch einfach gestrickt. Sein Verstand überschlug sich immer noch.

»Mein Gott«, flüsterte Ben. »Was wird bloß passieren, wenn die Welt erfährt, was auf sie zukommt?«

2

DUNKLER KOMET

PAZIFISCHER NORDWESTEN7. AUGUSTT MINUS 178 TAGE BIS ZUM START

Auf dem Weg nach Alaska las Jack Campbell bei der Zwischenlandung in Seattle die Worte »dunkler Komet« auf einem Bildschirm. Die Nachricht auf dem Newsticker lief immer wieder durch, während Jack auf seinen heißen Kaffee pustete. Seine gespitzten Lippen erstarrten, als die komplette Schlagzeile zu lesen war: DUNKLERKOMETUD3 VONSPACEWATCHENTDECKT. Er wusste nicht genau, warum es sich so unheilvoll anhörte, deshalb googelte er erst einmal.

Online-Artikel beschrieben diejenigen Kometen als dunkel, die von der Erde aus nicht zu sehen waren. Einem NASA-Bericht zufolge war UD3 ein langperiodischer Komet, der sich auf der Rückseite der Sonne angenähert hatte, um die gewaltige Masse des Sterns herumgeschleudert wurde und erst danach von den Teleskopen zu erfassen war. Die NASA behauptete, bislang gebe es noch nicht genügend Informationen, um die Flugbahn des Kometen einzuschätzen oder eine Voraussage hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eines Einschlags machen zu können. Jack blickte von seinem Handy auf und betrachtete die anderen Reisenden, die am Gate 36 warteten. Gefahren fühlten sich immer gleich viel echter an, wenn andere sie ebenfalls empfanden, aber alles schien völlig normal zu sein. Männer, Frauen und Kinder beugten sich entweder über ihre Handys, Laptops, Bücher oder Zeitschriften, oder sie dösten – bis eine Flugbegleiterin ihr Mikro anmachte und alle Passagiere willkommen hieß, insbesondere die Mitglieder des American-Airlines-Vorteilsprogramms.

Jack ging an Bord und verstaute seine Kameratasche in der Gepäckablage. Er war Fotojournalist und unterwegs zu einem Auftrag an Bord einer Arktisexpedition. Eine solche Gelegenheit bekam man nur einmal im Leben, weshalb er vor Begeisterung eigentlich völlig aus dem Häuschen sein müsste.

»Was halten Sie von diesem Kometen?«, fragte Jack die grauhaarige Passagierin auf dem Fensterplatz. »Der gerade in den Nachrichten kam.«

Er wollte ihr seinen Handybildschirm zeigen, aber sie winkte ab.

»Mein Lieber, ich schau mir schon lange keine Nachrichten mehr an. Viel zu deprimierend. Kriegen wir in dieser Kiste eigentlich was zu essen, oder müssen wir alles selbst bezahlen?«

Das Flugzeug landete kurz nach 15 Uhr in Anchorage, Alaska. Die anderen Passagiere hasteten mit ernsten Mienen sofort los zu ihren Jobs, ihren Familien oder ihren Anschlussflügen. Ein Junge, der auf sein Handy starrte und wahrscheinlich Pokémons jagte, lief gegen eine Wand, prallte ab und ging einfach weiter. Auch er war eine lebende Erinnerung daran, dass das Leben zumeist mit gesenktem Kopf geführt wurde und man von der großartigen Natur und all ihren Problemen nur sehr flüchtige Eindrücke mitbekam.

Die Redaktion bei National Geographic hatte für Jack einen Fahrer bestellt, der ihn das letzte Stück bis nach Seward bringen würde. In seinem Beruf waren die Terminpläne bei Reisen mörderisch, aber mit zweiunddreißig und ohne große Verpflichtungen war Jack durchaus bereit, diesen Preis für eine Arbeit, die ihm sehr viel Spaß machte, zu zahlen. Er streifte die Turnschuhe von den Füßen, streckte seine schlaksigen ein Meter neunzig quer auf der Rückbank der Limousine aus, und los ging’s.

Auf dem Flug von Seattle hatte Jack im Netz herausgefunden, dass Einschläge aus dem Weltraum nichts Neues waren. Nur größere Himmelskörper waren in dieser Hinsicht eher selten. In den letzten siebzig Millionen Jahren hatte die Erde eine Glückssträhne gehabt … aber irgendwann war das Glück aufgebraucht, jedenfalls allen Wahrscheinlichkeitsrechnungen zufolge.

Jack zog sein Handy hervor und ignorierte alle neuen E-Mails und Textnachrichten von Freundinnen, Kollegen und Ex-Liebschaften aus der ganzen Welt. Er beantwortete auch die letzten E-Mails seiner Mutter nicht, deshalb war es kein Wunder, dass sie ihn am Ende seiner dreistündigen Fahrt anrief. Sie erkundigte sich nach dem Flug und so weiter, aber Jack wollte nur über den Kometen reden.

»Glaub doch nicht immer alles, was du liest«, riet ihm seine Mutter.

»Mom, es lief auf CNN.«

»Genau!«

Er wusste, worauf die Unterhaltung hinauslaufen würde.

»Warum sollen das jetzt Fake News sein?«, fragte er. »Es gibt politisch nichts zu gewinnen, wenn man den Leuten Angst einjagt.« Wobei er wusste, dass das nicht stimmte, also wechselte er die Taktik. »Erst im März gab es einen Asteroiden von der Größe eines Schulbusses, der uns näher gekommen ist als der Mond«, konterte er. »Er wurde nur fünf Tage vorher entdeckt, bevor er vorbeigesaust ist. Und 2014 gab es noch so einen dunklen Kometen, Siding Spring. Er kam aus unserem blinden Fleck hinter der Sonne hervor und hätte beinahe den Mars erwischt.«

»Davon hab ich nie was gehört.«

»Ich auch nicht, bis ich es vorhin gelesen habe. Nur weil wir nicht richtig aufpassen, heißt es noch lange nicht, dass solche Sachen nicht passieren, Mom.«

»Ich höre dich seufzen. Wie würde es dir gefallen, wenn ich jedes Mal seufzen würde, wenn du mir deine Ansichten aufs Brot schmierst?«

»Das sind Tatsachen. Tatsachen sind etwas anderes als Ansichten.«

»Ich hab nicht angerufen, um mit dir zu streiten.«

Jack hörte sein Seufzen zu spät, um es zu unterdrücken.

»Willst du denn immer noch weg?«, fragte sie.

Diese Frage stellte ihm seine Mutter jedes Mal.

»Wenn du nämlich deine Meinung änderst, könnten dein Vater und ich dich besuchen kommen …«

Jack tippte auf Lautsprecher, damit er zuhören und gleichzeitig die neuesten Meldungen online lesen konnte:

1.Patriots gegen New York Giants

2. Taylor-Swift-Konzert

3. Autismus und Antidepressiva in utero

4.FIFA-Weltmeisterschaft

5. Haarausfall durch Shampoo

6. …

Komet UD3 kam erst an sechzehnter Stelle, kurz vor dem Fußballclub Manchester City. Offensichtlich war Jacks Mutter nicht die Einzige, die diese Meldung verpasst hatte.

»Wir nehmen deine Zeit ja nicht komplett in Anspruch«, versicherte sie ihm. »Wir können am Vormittag etwas zusammen machen und uns dann wieder zum Abendessen treffen. Wir waren schon so lange nicht mehr in der Stadt …«

»Ich muss aufhören, Mom. Die vielen Flüge machen mich ganz fertig.«

Was durchaus stimmte. Über manche Themen stritt seine Mutter nicht mit ihm. Jack sagte, dass er sie lieb habe, was ebenfalls stimmte, und beendete den Anruf.

Als sein Wagen in Seward ankam, ging Jack noch einmal auf Google. Einige Artikel, die er auf dem Flug gelesen hatte, bezogen sich auf ein offizielles Dokument, das vor einigen Jahren von der scheidenden Präsidialverwaltung veröffentlicht worden war. Jack gab ein paar Wörter ein, an die er sich erinnern konnte, und klickte auf die erste angebotene Möglichkeit: Nationale Strategien zur Vorbereitung auf erdnahe Objekte. Der erste Link schickte ihn auf eine nicht erreichbare Seite der derzeitig offiziellen Webseite des Weißen Hauses, eine von mehreren, die bis auf Weiteres entfernt worden waren.

Vielen Dank für Ihr Interesse an diesem Thema, las Jack. Bleiben Sie dran – diese Seite wird ständig upgedated. Vor einer verschwommenen amerikanischen Flagge waren im Vordergrund zwei Mikrofone auf einem Stehpult mit dem Präsidentschaftssiegel zu sehen, als würde jeden Moment eine wichtige Persönlichkeit erscheinen und etwas verkünden.

Jacks Fahrer parkte am Hafen von Seward, lud sein Gepäck aus und stellte es auf den Betonboden. Als er um den Wagen herumkam und ihm die Tür aufhielt, machte Jack keine Anstalten auszusteigen. Noch nie hatte er vor einem langen Auftrag derlei Bedenken gehabt. Damals nicht, als sein Vater vor einer Herzoperation stand, auch nicht, als ihn eine Ab-und-zu-Freundin schluchzend anrief, und auch nicht, als sich eine alte Sportverletzung wieder meldete und er unter Schmerzen mit seinen schweren Kamerataschen losgehumpelt war. Jack glaubte nicht an Vorahnungen. Trotzdem hatte er eine, obwohl alle anderen Leute, denen er begegnete, einfach ganz normal weiterfunktionierten.

Der Fahrer beugte sich verwirrt zu ihm herab, dann sah er Jacks Gesicht.

»Ich kann Sie auch wieder zurück nach Anchorage fahren. Das würden die bestimmt verstehen«, fügte er hinzu und nickte in Richtung des großen Schiffes im Hafen.

Doch Jack bedankte sich bei dem Fahrer für seine Geduld, stieg aus und schüttelte ihm die Hand. Die Luft war feucht, es roch nach Salz und Fäulnis. Der Nebel, der sich an den Hängen der mit Schneestreifen überzogenen Berge rings um die Resurrection Bay herabschob, war dick wie Rauch. Jack warf sich die Taschen über die Schultern, wobei er sorgfältig auf seine Kamera aufpasste, und ging mit gesenktem Kopf über den lang gezogenen, schmalen Kai.

Seiner Meinung nach waren alle seine Aufträge bedeutend, die Dokumentation der letzten Expedition des Kutters Healy der US-Küstenwache war da keine Ausnahme. Nur zwei Gästeplätze waren zu vergeben gewesen, und Jack hatte seine Redaktion praktisch angebettelt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihm einen davon zu sichern. Im Juni hatten sie sich alle in der Hauptgeschäftsstelle in Washington, D. C., getroffen, um über den Umfang dieser Mission zu diskutieren. Es ist so, als würdest du einen Chinesischen Flussdelfin fotografieren, hatte ein Redakteur zu Jack gesagt. Tasmanische Ureinwohner. Den javanischen Tiger. Den Volksstamm der Bo auf den Andamanen. Wandertauben, deren Schwärme einst die Sonne verdunkelt hatten … Der Redakteur hatte das Gesicht verzogen und den Kopf geschüttelt. Alle wunderschön und ausgerottet. Nur noch Fossilien und Fotos übrig. Jack bekam den Auftrag, die Schönheit der Arktis mit seiner Kamera festzuhalten, bevor sie unwiederbringlich dahin war.

Erst als er näher am Wasser war, erblickte Jack die über fünfzig großen, gefiederten Kadaver, die in der Bucht trieben. Er ging an den Rand des Kais, stellte sich neben einen Poller, der mit Seilen dicker als sein Handgelenk umwickelt war, und blickte zu den dunklen, toten Raubvögeln hinaus. Ein großer, junger Typ, der mehrere Meter hinter ihm gegangen war, ließ plötzlich seinen Seesack fallen, stellte sich neben Jack und betrachtete ebenfalls den schrecklichen Anblick. Er trug eine marineblaue Mütze mit Krempe und einen Kapuzenpulli, auf dem quer über die breiten Schultern in gelber Druckschrift HEALYCREW stand.

»Das sind Adler«, sagte er und runzelte staunend die Stirn. »Bis jetzt waren es immer nur Lummen.«

Er ließ den Blick über das Wasser schweifen und zeigte dann auf den Kadaver eines pinguinartigen Vogels.

»Das ist eine Lumme. Bei diesem globalen Durcheinander gerät alles aus dem Gleichgewicht. Sie sind verhungert. Zu Tausenden.«

Jack erkundigte sich nach den Adlern, aber der junge Mann zuckte die Schultern und sagte, darüber wisse er nichts.

»Vielleicht haben sie die Schlagzeilen mit dem Kometen gelesen«, sagte Jack und blinzelte in den Himmel, in dem es jetzt keine Adler mehr gab. »Oder sie wissen etwas, was wir nicht wissen.«

»Ach, ich hab gehört, dieser Komet ist bloß wieder so eine Verschwörungstheorie. Aber lassen wir’s gut sein mit der Politik. Ich bin Ned Brandt.«

Der junge Mann hatte den Unterkiefer, den Nacken und den Oberkörper eines bulligen Footballspielers. Seine Wangen waren vom nasskalten Wind gerötet, sein Gesicht machte einen ehrlichen, offenen Eindruck und wirkte durchaus attraktiv, ungefähr so wie Chris Pratt. Ned war Oberleutnant bei der Küstenwache und Helikopterpilot, und er kam gerade von einem kurzen Landurlaub zurück.

Jack nannte seinen eigenen Namen, und die beiden gaben sich die Hand.

»Ich bin einer der Gäste«, erläuterte er.

»Der Dichter?«

»Nein, der andere. Der Fotojournalist.«

»Echt? Wenn du ein paar Luftaufnahmen haben willst, nehm ich dich mal im Hubschrauber mit«, bot ihm Ned an. Dann grinste er auf einmal. »… es sei denn, dein Komet setzt uns dermaßen zu, dass wir VAA sind.«

»Was?«

»Voll am Arsch«, erklärte Ned. »Beim Militär haben wir jede Menge Abkürzungen.«

Er trabte zu seinem Seesack und warf ihn sich wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter. Dann gingen die beiden Männer gemeinsam bis zum Ende des Kais. Vor ihnen ragte der Küstenwachenkutter U. S. Healy auf, der technisch am besten ausgerüstete Polareisbrecher im ganzen Land. Das Schiff war länger als ein Footballfeld, neun Stockwerke hoch und es ging, soweit man das mit bloßem Auge erkennen konnte, noch mindestens zehn Meter unter der Wasserlinie hinab. Trotzdem zweifelte Jack nicht daran, dass es auf ihrer spätsommerlichen Reise an Bord durchaus beengt werden konnte. Alles, was einem vertraut war, wurde einem irgendwann zu eng.

Die beiden Männer näherten sich dem knapp hundertdreißig Meter langen Schiff, das der besseren Sichtbarkeit im Eis wegen hellrot gestrichen war. Ned stieß Jack mit dem Ellbogen an und forderte ihn mit einem kurzen Nicken auf, ihm zu folgen – vorbei an der langen Schlange von Personen in Zivil, allesamt Teil des Forschungsteams, die darauf warteten, mitsamt ihrem Gepäck eingecheckt zu werden. Am unteren Ende einer steilen Gangway stand eine »Coastie«, wie die Leute von der Küstenwache genannt wurden, und begrüßte die Neuankömmlinge. Sie lächelte Ned freundlich an und suchte Jacks Namen auf der Passagierliste. Als sie ihm einen Pager aushändigte, musste Jack über das etwas antiquierte Gerät lachen.

»So was hab ich zuletzt im ersten Jahr Oberstufe gesehen, an den Shorts von meinem Dope-Dealer.«

Die Frau reichte Jack auch eine Willkommen-an-Bord-Broschüre und eine neue Passagierkarte, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden. Auf der Karte stand die Nummer seines Rettungsfloßes, seine Pager-Nummer und die Zuweisung zu seiner Kabine. Jack würde sich die Unterkunft mit dem anderen Gast der Expedition teilen, einem Dichter und Literaturnobelpreisträger. Ein Dichter war eine ungewöhnliche Wahl für die Expedition, da die Gästeplätze sonst immer an Wildtierbeobachter, Filmemacherinnen, Fotografen und Expertinnen für indigene Bevölkerungen vergeben wurden. Jack fragte sich, ob die Auswahlkommission bei dieser letzten Runde sentimentaler geworden war und die Arktis in der Unsterblichkeit des geschriebenen Wortes bewahrt wissen wollte.

Ned ging voraus, und die beiden Männer schleppten ihre Taschen zuerst die metallene Gangway der Healy hinauf und dann in den roten Bauch des Schiffes hinein. Gleich rechts befand sich eine schmale Treppe mit der Aufschrift »Hauptdeck«. Ned kletterte wie eine Bergziege hinauf, aber Jack musste sich auf den steilen und schmalen Stufen vorsehen und gleichzeitig das Gewicht seiner Reisetaschen und der Kamera balancieren. Dann ging er auf dem Deck 02 einen Gang entlang und stand schließlich vor seiner geschlossenen Kabinentür. Er klopfte an und betrat einen dunklen, fensterlosen Raum. Nachdem er das Licht angeschaltet hatte, zuckte er mit einem Fluch auf den Lippen zurück. Da saß ein kleiner Mann an einem Schreibtisch.

»Entschuldigen Sie«, sagte Jack rasch, »aber Sie haben mir einen ziemlichen Schrecken eingejagt.«

Der andere Mann erhob sich. Er reichte Jack gerade bis zum Schlüsselbein. Zwischen seiner Nase und den schwarzen Augen zogen sich tiefe, ringförmige Falten von den eingefallenen Augenhöhlen bis zu den breiten Wangenknochen. Seine Haare – ein gestutzter Pony vorne und weiter hinten lang und glatt – waren noch schwarz und dicht, obwohl seine Gesichtshaut ziemlich verwittert aussah. Jack schätzte den Mann auf Ende vierzig, Anfang fünfzig, aber es ließ sich schwer sagen.

»Jack. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Gustavo«, sagte der Mann, ohne zu lächeln.

Seine durchhängenden Jeans waren weit oben um erschreckend schmale Hüften mit einem Ledergürtel festgegurtet. Jack wunderte sich nicht, als sich Gustavo rasch entschuldigte, weil ihm übel wurde. Er trat rasch beiseite, um Gustavo durchzulassen, wobei es nicht einfach war, jemandem auf so beengtem Raum aus dem Weg zu gehen. Gustavo schleuderte seine ausgelatschten Lederschuhe von den Füßen und knöpfte sein Leinenhemd auf. Als er nur noch in verschlissener weißer Unterwäsche dastand, schwang der Dichter seinen knochigen Körper flink auf die obere Pritsche hinauf und zog den Vorhang vor.

Jack blickte sich in der Kabine um, aber viel gab es nicht zu sehen. Die kistenartigen Stauräume, die Stockbetten und die Wandschränke waren aus billigem Metallblech. Links von der Tür hing ein Telefon mit einem Pager-Verzeichnis an der Wand. Außerdem gab es ein kleines Waschbecken mit einem Wandschränkchen, einen Spiegel und zwei Schreibtische mit jeweils einem Stuhl davor. Auf Gustavos Schreibtisch lag nichts – kein Handy, kein Laptop, kein Buch, keine Zeitschrift, kein Notizbuch. Der Dichter musste einfach so in der Dunkelheit gesessen und seinen Gedanken nachgehangen haben.

Jack stellte seine Taschen in den offen stehenden und leeren Schrank. Die lange Anreise steckte ihm in den Knochen, weshalb er sich an die alte Infanterieweisheit hielt: Nutze jede Gelegenheit zum Schlafen, Essen oder Scheißen. Jack zog Turnschuhe und Hose aus, kletterte ins untere Bett und zog den Vorhang hinter sich zu.

Jack erwachte kurz nach drei in der Nacht. Er wälzte sich auf seiner schmalen Pritsche hin und her, aber dieselbe Vorahnung von Gefahr wie am Tag zuvor hielt ihn wach. Vor der Kabine brannten in den Gängen der Healy rote Lampen, wie damals in den Dunkelkammern, als Jack seine Fotos noch selbst entwickelt hatte. Ein Netzwerk offen liegender Kabel und Rohre zog sich an den Decken entlang. Im roten Licht der Nachtbeleuchtung sahen sie wie Arterien oder Eingeweide eines gewaltigen Tiers aus, so als wäre Jack Jona im Inneren des Wals.

Seine rastlosen Wanderungen führten Jack in den Aufenthaltsraum des Forschungsteams auf Deck 02, in dem Computer und Sessel, billige Sofas und Breitbildfernseher standen. Bis auf eine einzige jüngere Frau, die gebückt über der Tastatur eines Mac Mini an der Wand saß, hielt sich dort niemand auf. Ihre glatten schwarzen Haare waren zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengefasst, der fast bis auf die schlabbrige Kapuze ihres Sweatshirts reichte. Da die Frau sich nicht zu ihm umdrehte, ging Jack zu einem der weniger guten HP-Laptops auf einem langen Tisch in der Mitte des Raums.

Er meldete sich als Gast an und öffnete einen Browser. Mit trommelnden Fingern wartete er ungeduldig, während sich die Internetseiten langsam aufbauten, bis die Frau sich genervt räusperte. Jack suchte nach »Verschwörung UD3« und las flüchtig über die Kommentare am Ende der Online-Artikel hinweg. Ein User schrieb:

Fake News! Das Foto wurde mit CGI gemacht!

Jack scrollte zu dem Bild hinauf, das den Artikel begleitete, und las die Bildunterschrift: Künstlerische Darstellung eines Kometen im All.

Die einzige plausible Verschwörungstheorie war, dass die NASA den Kometen erfunden hatte, weil der Asteroidenumleitungsmission im März die Finanzierung entzogen worden war. Jack loggte sich wieder aus und blickte zu der Frau an der Wand hinüber. Wenn er sich ernsthaft über den Kometen unterhalten und das Thema aus seinen Gedanken verscheuchen konnte, war es vielleicht auch möglich weiterzuschlafen.

Die Frau hörte ihn nicht näher kommen, sie saß nach wie vor wie hypnotisiert im bläulich schimmernden Bildschirmlicht, das ihre Haut ganz blass aussehen ließ und sich in ihren Brillengläsern spiegelte. Jack entschuldigte sich dafür, dass er sie erschreckt hatte, warf dann aber selbst einen Blick auf ihren Bildschirm, auf dem ein Negativabbild von Sternen zu sehen war. Der größte schwarze Fleck war rot eingekreist und mit »UD3« beschriftet.

»Sieht nicht allzu bedrohlich aus«, gab er zu. »Aber ist schon irgendwie seltsam, dass die NASA noch keine Einzelheiten bekannt gemacht hat, oder?«

Sie seufzte und drehte ihm den Oberkörper zu. Die Buchstaben auf der Vorderseite ihres Sweatshirts ergaben das Wort BERKELEY.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie und zuckte die Achseln.

»Aber Sie sind beunruhigt?«

»Wenn ich nicht beunruhigt wäre, würde ich nicht mitten in der Nacht hiersitzen, statt zu schlafen.«

Sie wollte nicht unhöflich sein, sondern einfach nur das Offensichtliche aussprechen. Dann erzählte sie Jack, dass noch bis in den späten Abend etliche aus ihrem Team hier gesessen und gelesen hätten, die dann aber einer nach dem anderen gegangen waren, um vor Sonnenaufgang möglichst noch ein paar Stunden zu schlafen. Jack wünschte ihr eine gute Nacht und ließ sie in Ruhe.

Er verließ den Aufenthaltsraum des Forschungsteams und spazierte weiter durch die Gänge der Healy. Im Pausenraum der Besatzung ging es angenehm lebhaft zu. Jack schaute kurz hinein und musste bei der grellen Neonbeleuchtung die Augen zusammenkneifen. An den Wänden standen mehrere Computer-Arbeitsplätze, einige Laptops standen auf langen Tischen, aber keiner der Coasties saß davor. Die Stimmung war insgesamt lockerer und freundlicher, ein ganzes Dutzend Personen mit Nachtschicht verbrachte hier seine Freizeit.

Zwei Männer standen vor einem großen Flachbildschirm, fuchtelten mit den Armen und beobachteten ihre Mario Tennis Aces-Figuren auf dem Nintendo Switch. Andere lungerten in Socken auf Sofas herum oder spielten an einem Tisch Karten. In einer Ecke saßen drei Frauen beisammen, strickten und plauderten angeregt. Die Mannschaft war bereits miteinander bekannt und hatte ihre eigenen Routinen, und Jack wünschte sich, er könnte einfach reingehen, sich an einen Tisch setzen und bei einem Kartenspiel mitmachen.

Wieder in seiner Kabine angekommen, versuchte er, so leise wie möglich zu sein. In der Stille vor dem Schlaf hörte er gedämpftes Schluchzen von dem Mann, der kaum anderthalb Meter über ihm lag.

3

ANKUNFT

KOUROU, FRANZÖSISCH-GUAYANA 2. AUGUST

Amy machte das Beste aus dem frühen Jetlag-Morgen. Sie hatte gerade ihre beste Seidenbluse gebügelt, da klopfte es an ihrer Hoteltür. Amy spähte durch die Fischaugenlinse des Türspions und sah Bens Kollegen Chuck Maes. Er hatte sie auf dem Flug von Los Angeles nach Französisch-Guayana begleitet und stand jetzt in zerknitterten Khakishorts, Flipflops und T-Shirt gähnend im Flur. Kurz nachdem sie Chuck aufgemacht hatte, kam Ben aus dem dunstigen Bad. Genau wie Chuck kleidete er sich in den Anti-Stil derjenigen, denen es scheißegal war, wie sie aussahen. In weniger als fünf Minuten hatte Amy einen Jeansrock, Sandalen und eines von Bens Wissenschaftskonferenz-T-Shirts an, das sie an ihrer schlanken Taille mit einem Knoten versah. Wennschon, dennschon.

Noch vor Tagesanbruch stiegen die drei in ein kostenloses Shuttle, bewaffnet mit ihren Laptoptaschen und Kaffee in Pappbechern. Das Hotel befand sich am Stadtrand von Kourou, weniger als fünf Autominuten vom Raumfahrtzentrum Guayana entfernt. Chuck erkundigte sich, ob Ben irgendwelche Neuigkeiten hatte.

»Nichts«, antwortete Ben und warf reflexartig einen Blick auf sein Telefon. »Sieht so aus, als wollte mir der Professor alles persönlich erzählen.«

Ein kurzes, nervöses Schweigen trat ein, dann führten die drei ihre Diskussion des »Plans« fort. Amy klappte ihren Laptop auf und setzte zum Lesen ihre Hornbrille in Katzenaugenform auf. Sie hörte Ben zu und suchte im Netz nach Fachbegriffen, Organisationen und insbesondere Leuten, bis sie das Geruckel des Shuttles dazu zwang, aus dem Fenster auf die vorübereilende Landschaft zu schauen.

Auf dem Flug über den Atlantik hatte Ben ihr erzählt, dass man bei einem Raketenstart vom Raumflughafen der Europäischen Weltraumorganisation in Äquatornähe die Rotationsgeschwindigkeit der Erde ausnutzte, um eine höhere Geschwindigkeit zu erreichen. Dabei hatte sich herausgestellt, dass sich keiner der drei Amerikaner geografisch besonders gut auskannte. Amy hatte ihre Tastatur eine Weile angestarrt, bevor sie aufgegeben und »Wo zum Teufel ist Französisch-Guayana?« in eine Suchmaschine eingetippt hatte.

Das französische Überseedépartement befand sich an der Nordküste Südamerikas und grenzte im Westen an Suriname und im Süden und Südosten an Brasilien. Es lag nicht besonders hoch über dem Meeresspiegel, und die dichte Vegetation war zum größten Teil gerodet, sodass längs der Straße nur noch ein paar struppige Palmen, Gras und ein paar Büsche zu sehen waren. Im Vergleich zur ausgetrockneten Landschaft Kaliforniens war alles bemerkenswert grün. Die tropische Temperatur betrug schon jetzt dreißig Grad Celsius, aber im Shuttle kam man sich vor wie in einem Gefrierfach. Amy überlegte, ob sie den Fahrer bitten sollte, die Klimaanlage zu drosseln, aber Chuck war ein stämmiger Mann und Ben ein nervöses Energiebündel, weshalb beide an den Schläfen schwitzten.

Amy strich sich über die Gänsehaut auf den blassrosa Armen und massierte den von der Impfung noch schmerzenden Bizeps. Als sie sah, dass Chuck sie betrachtete, lächelte sie ihn an. Er war ein sarkastischer, aber liebenswerter Typ, der sich stets diskret verhielt und sie nie so unverhohlen anstarrte wie manch anderer NASA-Troll. Chuck grinste verlegen und wandte sich an Ben, der ihn als Versuchskaninchen für seinen Vortrag vor dem Technik- und Physikteam benutzte. Amy versuchte, sich die Namen zu merken, die ständig zwischen dem Fachjargon fielen.

»Wer ist Ariane?«, warf sie ein.

»Nicht wer«, stellte Ben klar, »sondern was. Ariane ist ein Raketentyp, so, wie Dr Pepper eine Limonadensorte ist.«

Ben erklärte ihr, dass man eine Trägerrakete brauchte, um ein Raumschiff aus dem Gravitationsfeld der Erde zu transportieren.

»Die Ariane-Rakete auf diesem Weltraumhafen ist der erste Teil unseres Plans«, sagte Ben, der sich bereits die Requisiten für seine ausführliche Erklärung zusammensuchte.

Amy war die einzige Schülerin, die Ben gerne unterrichtete, und er achtete sehr darauf, auf Augenhöhe, aber nicht von oben herab oder allzu sehr auf Fachchinesisch mit ihr zu reden. Manchmal glichen seine Mühen einem Drahtseilakt, aber er war stets bereit, sich dieser Herausforderung zu stellen. Ben zog zwei Geldscheine aus der Brieftasche und zerknitterte sie in der linken Faust, die zu seinen Demonstrationszwecken ein »Raumschiff« war. Dann winkte er mit der leeren rechten Hand, die er »Trägerrakete Ariane« nannte. Mit einer raschen Bewegung packte Ben seine linke Faust mit der rechten und tat so, als würde er sie wie einen Ball hoch in die Luft werfen.

»Ist die erforderliche Höhe erreicht, trennt sich die Trägerrakete von unserem Raumschiff«, sagte er.

Chuck verfolgte die Demonstration schweigend und wie vor den Kopf geschlagen. Zweifellos war er von Bens ungewohnt geduldigen Ausführungen schockiert, der jetzt die linke Faust hochhielt und einen Geldschein daraus hervorzog.

»Das ist der Führungssprengsatz«, sagte er und gab Amy den Ein-Dollar-Schein. »Unser Raumschiff schießt ihn auf den Kometen und sprengt damit einen Krater in die Oberfläche. Dann bohrt sich das Raumschiff in den Krater hinein und löst dort eine Atomexplosion aus, um eine größtmögliche Störung hervorzurufen.«

Ben streckte die linke Faust von sich und öffnete sie. Sie enthielt einen Zwanzig-Dollar-Schein. Amy steckte ihn ein und erkundigte sich erst dann danach, woher Ben wissen wolle, dass der Plan etwas tauge, da man doch bislang doch so wenig über den Kometen wisse. Ben wackelte mit dem Kopf und verzog das Gesicht. Im Lauf der vergangenen achtundvierzig Stunden, in denen er intensiv geplant und wenig geschlafen hatte, hatte er immer wieder Kopfschmerzen erwähnt. Die große Anspannung hatte dafür gesorgt, dass seine Angewohnheit, mit dem Kopf zu wackeln, schlimmer geworden war. Ich spüre, wie sich mein Gehirn abnutzt, hatte er scherzhaft gesagt. Während der letzten Stunden vor der Landung in Südamerika hatte er mit einer Hand ein dickes Büschel seiner dunklen Haare gepackt und den Kopf damit stillgehalten, während er Chucks Ideen mit der anderen Hand ein tapferes Daumen hoch oder Daumen runter gab.

»Das schlimmste Szenario besteht in einer hohen Einschlagswahrscheinlichkeit und weniger als zehn Jahren Zeit für die Ablenkung des Kometen«, presste Ben hervor. »Ein Nuklearsprengsatz wäre die einzige praktikable Lösung für einen so großen und so schnellen Kometen. Modellversuche haben ergeben, dass uns zur Verfügung stehende Atomwaffen ein erdnahes Objekt um einen Kilometer ablenken könnte. Ich meine, in allen unseren Einschlagsszenarien …«

Amy wusste von den hundertzweiundzwanzig Einschlagsszenarien, von denen einige bei der alle zwei Jahre stattfindenden Konferenz zur planetaren Verteidigung vor Ort, andere virtuell innerhalb eines Online-Forums durchgespielt worden waren. Die Szenarien halfen zu beweisen, was sich – theoretisch – durch Computersimulationen, Wahrscheinlichkeitsaussagen und menschliche Rollenspiele nicht darstellen ließ. Ben hatte die meisten vorstellbaren Aktionen, Reaktionen und Resultate bereits durchgespielt. Natürlich waren die Szenarien nicht real, und sie waren auch nicht aktuell genug, um alle derzeitigen Staatsregierungen zu berücksichtigen.

»Es ist der richtige Plan«, behauptete Ben.

Aber er sah auf einmal krank und nicht mehr so überzeugt aus. Und wer wollte es ihm übel nehmen? Falls ein Einschlag tatsächlich sehr wahrscheinlich sein sollte, würde nicht einmal Amy die Frage aussprechen wollen: Und wenn du dich irrst? Die Antwort lag ohnehin auf der Hand: Dann würde es Ben womöglich nicht gelingen, die Vernichtung der Menschheit zu aufzuhalten.

»Wir sind da«, sagte Chuck beinahe flüsternd.

Die Fahrt war nur fünf Kilometer lang und zu Ende, noch bevor sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten. Der Shuttle-Fahrer bog ab auf einen Kreisverkehr mit bunten Fahnen und einem großen Schild mit der Aufschrift »WILLKOMMENIMRAUMFAHRTZENTRUMGUAYANA« auf Französisch und Englisch. Er fuhr am rechter Hand liegenden Touristeneingang vorbei, immer weiter an einem langen, mit Stacheldraht gekrönten Sicherheitszaun entlang. Amy hatte online gelesen, dass sich das Gelände des Raumhafens über ein Gebiet von beinahe der Größe von New York City erstreckte.

Durch die Windschutzscheibe sah sie einen Kontrollpunkt mit fünf bewaffneten Wachposten in dunklen Uniformen. Ben hatte am Telefon einen Tobsuchtsanfall hinlegen müssen, ehe das UN-Hauptquartier damit einverstanden war, dass Amy mit an Bord des Fluges von Los Angeles nach Südamerika kam. Es dürfte noch schwieriger werden, sie durch die Sicherheitskontrolle vor Ort zu lotsen. Sie hatten im Flugzeug lang und breit darüber geredet, bis Amy die Nase voll davon hatte. Du kannst diesem Professor Och-Ochsss … Der Name ging einem wirklich nicht leicht von der Zunge. Ben half ihr rasch mit der richtigen Aussprache aus. Ihm!, fuhr Amy fort, du kannst ihm sagen, dass einer unserer Direktoren für seine Tochter und seinen Schwiegersohn eine Besuchserlaubnis für das verkackte Weiße Haus besorgt hat. Nimm dir an ihm ein Beispiel. Wer das Sagen hat, der bestimmt – und jetzt bist du das, Ben.

Das Metalltor des Kontrollpunkts glitt beiseite, die Wachtposten winkten sie ein paar Meter weiter und ließen sie anhalten. Ein Wachmann redete mit dem Fahrer auf Französisch und ließ ihn dann aussteigen, damit er selbst einsteigen und das Steuer übernehmen konnte. Die Seitentür des Shuttles öffnete sich, helles Sonnenlicht und warme Luft strömten herein. Amy sah eine Frau in Businesskostüm und hohen Absätzen über den Asphalt auf sie zukommen.

»Herzlich willkommen«, sagte die Frau und beugte sich herein. »Ich bin Marielena Acosta von den Vereinten Nationen. Ich habe gehört, dass Sie einen zusätzlichen Passagier dabeihaben?«

Ihre dunklen Augen richteten sich auf Amy.

»Vielleicht möchte sie drinnen mit mir im Sicherheitsbereich warten?«

Amy öffnete den Mund, aber Ben war schneller.

»Das ist Amy Kowalski«, sagte er ruhig. »Ich habe Ihr Hauptquartier gebeten, ihre Akte vor unserer Ankunft zu übermitteln. Miss Kowalski hat ihr eigenes Eckbüro bei Modis Burbank, weil sie eine der besten Referentinnen für technisches Personal an der ganzen Westküste ist – und die einzige, der ich vertraue. Der Professor sagte, ich kann mir mein Team selbst zusammenstellen. Also ist hier meine Personalmanagerin. Sie trinkt ihren Kaffee schwarz.«

Die Frau nickte nachdenklich.

»Sie haben also Miss Kowalski ausgewählt?«, erkundigte sie sich.

»Ich entscheide mich jeden Tag aufs Neue für sie«, erwiderte Ben mit unerschütterlichem Selbstvertrauen.

Sie nickte wieder und winkte den Wachen zu. Amy drückte Bens Hand, ihr Shuttle fuhr weiter. Zuerst fuhren sie an einem einstöckigen Gebäude mit der Aufschrift SÉCURITÉ vorbei und dann zu einem Verwaltungskomplex aus mehreren hohen Gebäuden, die die Namen von Himmelskörpern trugen. Vor dem Eingang eines Gebäudes mit der Aufschrift JANUS wartete eine Frau auf sie. Sie war sehr groß, hatte eine breite Stirn und kurzes aschfarbenes Haar. Ohne sich lange mit der Vorstellung aufzuhalten, führte sie Amy, Ben und Chuck nach drinnen.

»Direktor Durand und Professor Ochsenfeld erwarten Sie im Janus-Sitzungsraum«, sagte sie und überholte sie mit großen Schritten auf ihren hochhackigen Blockabsätzen.

Seit Spacewatch den Kometen gesichtet hatte, waren drei Tage vergangen. Mehrere Angestellte mit ernsten Gesichtern begafften die drei Neuankömmlinge im Gebäudeflur wie Schaulustige, die an einem Verkehrsunfall vorbeikamen. Diese Männer und Frauen wussten mit Sicherheit etwas.

»Dr. Schwartz!«, flüsterte einer von ihnen und stürzte los, um die Gruppe abzufangen. »Wir sind uns schon mal begegnet«, sagte er mit starkem deutschem Akzent. »Ich habe über ein Visum für die NASA gearbeitet und war dabei, als Sie das Manöver ›Kopf einziehen und in Deckung gehen‹ der Marssonden geleitet haben. Damals bei dem Kometen Siding Spring!«

Die hochgewachsene Frau, die sie durch das Gebäude begleitete, schien ganz und gar nicht damit einverstanden zu sein und erinnerte alle daran, dass sie sich sofort irgendwo zu melden hatten, aber Ben unterbrach sie.

»Bitte entschuldigen Sie, aber ich erinnere mich nicht an alle, die früher mit mir gearbeitet haben«, sagte er und schüttelte dem Mann die Hand. »Dieser Vorbeiflug war völlig irre, ich hab echt nicht viel geschlafen.«

Was auch stimmte, aber es stimmte auch, dass Ben sehr unaufmerksam war, was neue Bekanntschaften anging. Das war eher Amys Stärke.

»Sie waren unglaublich«, sagte der Mann ehrfürchtig.

Ben strahlte vor Stolz und dankte dem Mann für seine freundlichen Worte, letztendlich aber dafür, dass er einen Zeitpunkt heraufbeschwor, an dem Ben wirklich außergewöhnlich gewesen war. Nichts konnte diesen vergangenen Triumph schmälern oder ihm wieder wegnehmen. Er gehörte Ben für alle Zeiten. Als sie weiter in Richtung eines Aufzugs gingen, schien Ben schon viel leichter zu atmen. Der Sicherheitsausweis ihrer Begleiterin gab ihnen grünes Licht, um bis ins obere Stockwerk zu fahren. Amy konnte gerade noch »Vizedirektorin« lesen, bevor das elastische Umhängeband wieder zurückschnalzte. Die Aufzugtüren schlossen sich hinter der Gruppe, sodass sie gezwungen waren, einander verlegen anzusehen.

»Ich kann Ihren Akzent nicht richtig zuordnen«, sagte Amy, um das Schweigen zu brechen.

Die Frau hob die Augenbrauen und runzelte die breite Stirn. Amy hatte eine Stimme wie ein rostiges Messer, was Fremde oft vor den Kopf stieß. Als Kind hatte sie Pseudokrupp gehabt und so lange geschrien, bis ihre Stimmbänder vernarbt waren. Mit dreizehn hatte sie wie ein Schlot geraucht und dieses Laster erst mit ihrem Umzug nach Kalifornien von heute auf morgen abgestellt.

»Holländisch«, sagte die Vizedirektorin.

»Ah, ist bestimmt eine sehr schöne Sprache.«

»Von wegen.«

Der Aufzug kam langsam zum Stehen, aber Amy gab noch nicht auf.

»Wo wir gerade von Sprachen reden«, sagte sie. »Was bedeutet ›Janus‹?«

Ben beeilte sich zu erklären, dass Janus ein Saturnmond war, aber die Vizedirektorin ergänzte: »Es ist das erste Gebäude in unserem Hauptquartier. Hierher, in den Sitzungssaal, bringen wir die Staatsoberhäupter.«

Die Aufzugtüren teilten sich, und sie verließ die Kabine.

»Janus war der römische Gott der Übergänge, des Anfangs und des Endes und der Doppeldeutigkeit. Er wurde mit zwei Gesichtern dargestellt, einem alten und einem jungen.«

Am Ende des kurzen Korridors war eine verschlossene Doppeltür. Die Vizedirektorin öffnete die Türflügel und nickte den Neuankömmlingen zu. Ben betrat den großen Konferenzraum als Erster. Lange Tische bildeten ein großes Quadrat, dessen Stühle allesamt zur Mitte zeigten. Nur zwei Stühle waren besetzt, von zwei Männern, die direkt nebeneinandersaßen. Beide erhoben sich, was jedoch nur bei dem Mann auf der linken Seite reibungslos vonstattenging. Der andere hatte gegen die Schwerkraft zu kämpfen und erhob sich nur mühsam. Offensichtlich waren die Fotos von ihm im Internet alle schon mehrere Jahrzehnte alt. Amy war nicht darauf vorbereitet, dass es mit Professor Ochsenfeld gesundheitlich in den letzten Jahren so bergab gegangen war.

»Sir«, sagte Ben. »Ich meine, Herr Professor. Es ist mir eine große Ehre –«

Ben plapperte weiter drauflos. Amy hatte noch nie gesehen, dass er einem lebenden Menschen so viel Respekt entgegengebracht hatte. Der Professor musste wirklich eine Legende sein – auch wenn er nicht so aussah. Der elegante Gehstock mit einem Perlmuttergriff, der seine gebückte Gestalt stützte, war das einzige äußere Anzeichen dafür, dass er ein angesehener und bedeutender Oxfordprofessor war. Ansonsten hatte seine eher triste Kleidung schon bessere Zeiten gesehen.

»Herr Professor, ich möchte Ihnen Chuck Maes vorstellen«, sagte Ben und wies auf seinen Freund. »Chuck gehört zu meinem JPL-Team.«

Chuck lächelte nervös, nickte und fuchtelte mit den Armen. Bens Blick wechselte zu Amy. Er wusste nicht so recht, wie er sie vorstellen sollte.

»Amy Kowalski«, sagte sie und ging auf die Männer zu.

Vorstellungen waren wichtig, deshalb erledigte sie sie immer mit einem Lächeln, direktem Augenkontakt und einem festen – aber nicht zu festen – Händedruck. Als sie sich ihm näherte, drang der Geruch von Krankheit in ihre Nase. Irgendein Organ oder ein innerer Prozess war da nicht mehr in Ordnung, aber Amy ergriff die knotige Hand des Professors trotzdem ganz herzlich. Alter und Krankheiten hatte es in den Armeestützpunkten, in denen sie die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens verbracht hatte, nicht gegeben. Obwohl diese Erinnerungen an menschliche Vergänglichkeit für Amy immer noch fremd und erschreckend waren, ließ sie sich nicht von ihnen unterkriegen.

»Es ist mir eine Ehre«, wiederholte sie, was Ben gesagt hatte, so, wie er bei manchen anderen Anlässen ihrem Beispiel folgte.

Die dicken Brillengläser vergrößerten von roten Adern durchzogene Augen, deren Lider wie auseinandergefaltetes Origamipapier aussahen. Das Gesicht des Professors war ausdruckslos, wurde aber gelegentlich von einem leichten Zittern erfasst. Nur sein kurzes Zögern verriet seine Überraschung, denn niemand würde sie bei einer Gegenüberstellung für Bens Freundin halten.

Nachdem sie die Türen sorgsam geschlossen hatte, stellte sich die Vizedirektorin neben Direktor Durand. Amy fand ihn recht gut aussehend für sein Alter: Anfang sechzig, kräftiger Körperbau, dichtes weißes Haar und erstaunlich blaue Augen. Erst als sie sein Gesicht etwas genauer betrachtete, spürte sie die Gefahr.

»Irgendwas stimmt nicht«, sagte sie sofort.

Der Direktor hielt kurz die Luft an und stellte sich als Marcel Durand und die Vizedirektorin als Anneke Janssen vor.

»Was ist denn?«, wollte Amy wissen.

Der Professor räusperte sich und erklärte: »Der Komet beschleunigt schneller als erwartet.«

Ben lächelte nicht mehr und schob die Ehrerbietung beiseite. Er war wieder im Krisenmodus, stellte sich schützend neben Amy und blickte in die ungerührten Augen des Professors.

»Wie viele Jahre bleiben uns, Professor?«

Ben hätte ebenso gut »Jahrzehnte« sagen können, denn das war seine optimistischere Schätzung, aber der Professor schüttelte nur den Kopf.

»Was meinen Sie mit Nein?«, fragte Ben etwas lauter.

Sie hatten keine Jahre mehr zur Verfügung, erklärte der Professor. Das Sentry-Überwachungssystem des JPL und das CLOMON-System der Europäischen Weltraumorganisation hatten gemeinsam drei sehr ungefähre Flugbahnen berechnet. Die kürzeste davon prognostizierte einen potenziellen Einschlag bereits im Juni.

»Juni«, wiederholte Ben. »Sie meinen … diesen Juni?«

Der Professor knallte seinen Gehstock auf den dünnen Teppichboden und schrie zurück.

»Ja, diesen Juni! Sie müssen Ihren Plan in Gang setzen, und zwar sofort!«

Ben holte tief Luft und stellte im Geiste mehrere Berechnungen mit der Geschwindigkeit und Präzision eines Taschenrechners an. Dann sagte er der Runde, dass sie einen Raketenstart für den 1. Februar brauchten, für ein mit Sonnenenergie angetriebenes Raumfahrzeug. Beide Leiter des Raumflughafens protestierten gleichzeitig.

»Ist das denn überhaupt machbar?«

»Tja, das werden wir sehr bald herausfinden, oder?«, antwortete Ben. »Stellen Sie schon mal die Uhren.«

4

DIE EXPEDITION IN DIE WESTLICHE ARKTIS

SEWARD, ALASKA 8. AUGUST T MINUS 177 TAGE BIS ZUM START

Der Schlaf verschaffte Jack einen Neustart. Sich Sorgen machen war schließlich anstrengend, er brauchte einfach eine Pause. Der Vorhang vor Gustavos Bett war immer noch komplett zugezogen, also schnappte sich Jack ganz leise Handtuch, Kulturbeutel und seine Flipflops. Die gemeinsame Dusche auf dem Flur war so groß wie ein schmaler Kleiderschrank, an der Wand klebte eine ausgedruckte Gebrauchsanweisung. Alle Passagiere waren gehalten, ihre »Meerdusche« auf einmal am Tag zu beschränken und das Wasser dabei nur zweimal kurz aufzudrehen: einmal, um nass zu werden, und einmal, um sich abzuspülen. Jack wusste sehr wohl, dass warmes und trinkbares Wasser nach Belieben für einen Großteil der Weltbevölkerung immer noch Luxus war. Außerdem machte es ihm nichts aus, schmutzig zu werden und wie das Säugetier zu riechen, das er nun mal war; es war eine Art der Freiheit und Wahrheit.

Um 7:30 Uhr, frisch rasiert und das kurze helle Haar zu stylischen Wirbeln gegelt, fand sich Jack in der Cafeteria-artigen Kantine ein. Besatzungsmitglieder und Forschende saßen kauend und schwatzend an langen Tischen. Es war nicht schwer zu erkennen, wer zu welcher Gruppe gehörte. Die Coasties trugen blaue Sweatshirts oder Arbeitshemden, die Forschenden karierte Hemden, Jeans, Bärte, Daumenringe und Fleecewesten.

Als Gast gehörte Jack nirgendwo dazu. Er besorgte sich einen Stapel Pfannkuchen mit Schokosplittern und setzte sich allein an einen Tisch. Dort schlug er die Willkommen-an-Bord-Broschüre auf und las eine Einführung von Kapitän Weber höchstpersönlich:

Willkommen an Bord der Healy. Bitte lesen Sie sich die beigefügten Unterlagen durch. Die unvermeidlichen Gefahren auf See machen es erforderlich, dass wir alle die grundlegenden Sicherheitsmaßnahmen verstehen und befolgen, die hier …

Jack überflog den Rest. Am meisten interessierte ihn, wie er Zugang zu seinem Healy-E-Mail-Account bekam. Sobald das Schiff den 75. Breitengrad passiert hatte, war die Bandbreite so begrenzt, dass nur noch die Brücke Zugang zum Internet erhielt. Dann konnte man E-Mails nur noch mit den Computern in den Pausenräumen über den Healy-Server an Bord verschicken.

Die Coasties und Forschenden rings um Jack hatten es eiliger mit ihrem Frühstück. Ihre Vormittage waren von vorgeschriebenen Aktivitäten bestimmt, die auf dem Plan des Tages, kurz PDT, festgehalten waren, der überall aushing. Notfallübungen hielten die Mannschaft auf Trab, und ein bedauernswerter Dummy namens Ralph musste Mann über Bord spielen. Die Forschenden teilten sich in zwei Gruppen auf, die entweder die Ausrüstung und die Laborräume inventarisierten oder die Kräne an Deck ausprobierten. Jack war auf sich gestellt.

Draußen war es wärmer, als er erwartet hatte. Zwanzig bis zweiundzwanzig Grad waren laut PDT vorausgesagt. Jack stopfte sich Handschuhe und Mütze in die Taschen seines Parkas und fand, dass es für Alaska ungewöhnlich warm war. Andererseits war es auch nicht ganz ungewöhnlich, wenn man in Betracht zog, dass das vergangene Jahr die wärmsten Temperaturen weltweit hervorgebracht hatte. Das laufende Jahr machte sich schon jetzt daran, weitere Rekorde zu brechen. Jack musste immer öfter an das Gleichnis von dem Frosch denken, der in einem Topf voll Wasser saß, das sich ganz langsam erhitzte – kein Grund zur Beunruhigung, bis man dann zusammen mit Knoblauch und Zitrone auf einem Teller lag, fertig, um verspeist zu werden.