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Ein Roman, so schnell erzählt wie »Kill Bill« von Tarantino.
Ein spektakulärer Kunstraub. Verschollene Gemälde. Eine kurdische Hochzeit. Ein Scharfschütze, der einen Schuss abfeuert. Eine Familie zwischen den Niederlanden und Kurdistan, für die nichts mehr ist, wie es war. Im Stil eines Actionfilms mit schnellen Cuts erzählt Cemile Sahin die Geschichte eines Verrats, von Liebe, Freundschaft und Leben im Exil, so auf der Höhe der Zeit, wie nur sie es kann.
»Es gibt wenige Autorinnen, die so liebevoll und ernst vom Schicksal ihrer Helden erzählen und gleichzeitig ein so ausgeprägtes Gefühl für absurde Komik haben.« FAS.
»Cemile Sahin verwandelt filmische Unmittelbarkeit in mitreißende Literatur. Das Buch vermisst, trauert, liebt und ist dabei rasend schnell.« DER SPIEGEL.
»So temporeich, unverfroren und leichtfüßig erzählt gerade niemand über Migration, Flucht und alte sowie neue Heimaten.« DEUTSCHLANDFUNK BÜCHERMARKT.
»Ein kluges, aktuelles und wirklich witziges Meisterwerk.« MDR.
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2024
1990 ereignet sich in Boston ein aufsehenerregender Kunstraub: Mehrere kostbare Gemälde alter Meister, darunter Vermeer, Rembrandt und Degas, werden aus dem Isabella Stewart Gardner Museum entwendet. Bis heute fehlt von den Gemälden jede Spur. In Cemile Sahins neuem Roman »KOMMANDO AJAX« tauchen die Bilder wieder auf. Durch Zufall geraten sie in die Hände von Ali Hüseyin Korkmaz, Dachdecker und begnadeter Hobbymaler. Ali Hüseyin ist mit seinen Geschwistern aus Dêrsim, Kurdistan, geflohen, nachdem ihre Heimat in Flammen aufgegangen ist. Kaum im Exil in Rotterdam angekommen, ist für die Familie nichts mehr so, wie es war, als auf der Hochzeit des jüngsten Bruders ein Scharfschütze eine alte Rechnung begleicht und ein Leben zerstört. Es folgt eine Kette von Ereignissen, die einen der Brüder ins Gefängnis bringen und die Schwester Fatma zur Premium-Putzfrau machen wird. Und Ali Hüseyin wird sein Talent als Maler für einen spektakulären Bildertausch unter Beweis stellen.
Im Stil eines rasanten Actionfilms mit schnellen Cuts bringt Cemile Sahin die Geschichte einer kurdischen Familie im Exil mit dem Jetset der internationalen Kunstwelt zusammen und erzählt komisch, witzig, cool von Verrat, Liebe und Freundschaft – so neu und auf der Höhe der Zeit, wie nur sie es kann.
Cemile Sahin ist Autorin und Künstlerin und wurde 1990 in Wiesbaden geboren. Sie hat in London und Berlin studiert und ist ars viva-Preisträgerin für Bildende Kunst. »TAXI« war ihr Debütroman, »ALLE HUNDE STERBEN« ihr zweiter, »KOMMANDO AJAX« ihr dritter Roman. Für ihr Schreiben wurde Cemile Sahin mit der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin.
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Cemile Sahin
KOMMANDO AJAX
Roman
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Inhaltsverzeichnis
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Widmung
1995 Rotterdam
2005 Rotterdam
2015 Rotterdam
2025 Berlin
Impressum
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An wem liegt es, wenn die Unterdrückung bleibt?
An uns.
An wem liegt es, wenn sie zerbrochen wird?
Ebenfalls an uns.
Bertolt Brecht
»Lozim nîya na dîna bira.
Bê Dêrsimî se kerî?
Welatê sarî çiqas rind bo -
Heq bo cenet Dêrsim o«
Ozan Serdar
Für M & E & B
Diese Geschichte beginnt in Rotterdam. Die Sonne geht über dem Kanal auf. Diese Geschichte beginnt an einem schönen Tag. Die Sonne wandert am Ufer des Flusses Nieuwe Maas entlang. Zwischen Land und Meer. Ein Frachtschiff macht im Hafen halt. Der Fluss teilt die Stadt in zwei gleich große Stücke. Zurück zu Meer und Land.
Fischerboote. Containerschiffe. Tanker. Autos.
Zoom auf eine Person. Im Hafen läuft ein Mann umher. Ein Mann ist auf Mission. Er rennt nicht. Warum auch? Heute ist ein gewöhnlicher Tag. Er hat keine Eile. Jeder Tag wie dieser. Die Geschichte beginnt jetzt. In einem Augenblick voller Geduld. Zoom auf den Himmel. Geduld ist Präzision. Präzision ist Disziplin. Im Laufe dieser Geschichte wird Disziplin zu einer Waffe.
Diese Geschichte beginnt mit einem Scharfschützen. Zoom auf ihn. Es ist dieser Mann. Er hat den Hafen verlassen. Braune Hose. Braunes Hemd. Er steigt in einen VW ein. Grau.
Ist das eine wahre Geschichte? Gewiss ist das eine wahre Geschichte. Aber wie beginnen sie? Mit einem Ereignis. Egal ob am Tag oder in der Nacht, das ins Leben schneidet.
Ein Scharfschütze ist eine stille Person. Das ist seine lebenslange Krankheit. Diese Krankheit wird zu seiner Aufgabe. Die Aufgabe ist der Ausdruck seines Handelns. Das Handeln ist seine Tat. In dieser Geschichte sind seine Taten die Taten eines Rächers.
Was zeichnet einen Rächer aus? Gleiches mit Gleichem heimzuzahlen. Rache ist nicht Gerechtigkeit.
Ein Scharfschütze ist eine stille Person. Er trägt keinen Bart. Er ist allein unterwegs. Ruhig und gefasst. Das Auto fährt über eine asphaltierte Straße. Im Kofferraum ist eine Waffe. Ein Scharfschütze ist ein Mann mit Sturmgewehr.
Containerterminals. Lagerhäuser. Industriegebäude. Fabriken.
Ein Scharfschütze ist ein Scharfschütze ist eine stille Person. Seine Sturmgewehr ist ein Echo, das durch die Geschichte hallt. Diese Szene ist wie eine Seite aus einem Buch, dessen Worte sich in den Pausen zwischen den Schüssen entfalten. Während der Scharfschütze seine Geschichte in stiller Konzentration weiterspinnt. Und während er darauf wartet, dass sein Ziel auftaucht, wird sein eigenes Schicksal zu einem Teil dieser Geschichte, die das Leben selbst ist.
Ort:MELODY Hochzeitssaal, Delfshaven
Personen: Familie Korkmaz, Hochzeitsgäste
16:23:46 Uhr:
Vor der Tür: ein Betonplatz. Das nächste Bild: Sträucher. Danach: Bäume. Die Sonne ist noch nicht untergegangen. Wir spüren die Sonnenstrahlen auf der Haut. Es wärmt, aber sobald die Sonne untergegangen ist, würde man draußen leicht frieren. Die Tür des Hochzeitssaales wird geöffnet. Wir betreten einen Vorraum. Hohe Wände. Hohe Decken. Es gibt zwei Türen: einmal die Tür, durch die wir gerade hindurch sind, und eine Tür direkt gegenüber, die in den Hochzeitssaal führt. Über der Tür zum Hochzeitssaal hängt eine weiße Uhr mit schwarzen Zeigern:
Es ist exakt 16:24 Uhr.
Heute ist Samstag.
Wir befinden uns in einem kahlen, großzügigen Flur. Der Fußboden besteht aus weißen Marmorkacheln. Die Wände sind in einem mintgrünen Ton gestrichen.
Wir hören: Kinderstimmen, die laut durcheinander sprechen.
Wir hören: Ein Speisewagen fährt über die Marmorkacheln.
Wir hören: Ein Flummi dotzt gegen eine Wand.
Schwenk nach rechts. Zwei Türen. Frauentoiletten. Männertoiletten. Geht man von dort noch einmal links um die Ecke, stehen zwei Spielautomaten der Marke RANDOM RUNNER vor den Fenstern. Die Fenster ragen beinahe vom Boden bis zur Decke, aber sind durch die beiden RANDOM RUNNER Spielautomaten fast gänzlich bedeckt.
Nächstes Bild: Close‑up RANDOM RUNNER.
Danach: Super Close‑up. Die Früchte drehen sich.
Und dann: Ein Mann schnalzt mit der Zunge.
An einem der Spielautomaten sitzt Ali Ekber auf einem schwarzen Barhocker mit Metallgestell. Er wirft einen Gulden nach dem nächsten in den Spielautomatenschlitz. Warum wirft er einen Gulden hinein? Ali Ekber ist spielsüchtig. Das bedeutet: Er ist unfähig, finanzielle oder emotionale Konsequenzen des Spieles zu akzeptieren. Ali Ekber ist spielsüchtig, aber die Spielautomaten hat er in Holland für sich entdeckt. In seiner Kindheit spielte er gern Karten. Das dauerte stundenlang. Das war als Kind beinahe seine Lieblingsbeschäftigung. Jetzt ist er ein erwachsener Mann, und die Spielautomaten haben das Kartenspiel ersetzt. Hastig drückt er die Tasten und wippt dabei mit seinem rechten Bein auf und ab. Ist er nervös? Eigentlich nicht. Das Wippen mit dem Bein ist eine Angewohnheit, die seinen Charakter beschreibt.
Ali Ekber hat dichte Haare. Ali Ekber hat pechschwarze Haare. Leichte Segelohren. Jedoch ein ausdrucksstarkes Gesicht, das er beim Spielen anspannt. Warum spannt er sein Gesicht an? Vermutlich, weil er wie ein konzentrierter Spielautomatenspieler vertieft in sein Spiel ist.
Zoom auf sein Gesicht. Volle Lippen. Große Nase. Er kneift die Augen zusammen, weil er eigentlich eine Brille braucht. Doch Ali Ekber ist ein Mensch, der eitel ist. Und ein eitler Mensch ist überzeugt davon, dass seine Ausstrahlung darunter leiden könnte, wenn er eine Brille trägt.
Wer Ali Ekber zum ersten Mal trifft, sagt:
Jemand: Seine Augen strahlen.
Oder: Er ist ein hübscher Mann.
Auch: Wenn er läuft, dreht sich die Welt nach ihm um.
Manche Menschen würden das sicherlich Charisma nennen. Er hat auch wahrlich Charisma. Er ist groß: 1 Meter 90. Nicht kräftig, aber kräftig genug, um ein Mann zu sein. Was ist ein Mann in dieser Geschichte? Das ist eine Frage, die im Laufe dieser Geschichte jedes Mal aufs Neue gestellt wird.
Jemand sagt: Ein Mann in dieser Geschichte ist jemand, der nach der Tragödie, ein Mann werden zu müssen, sich der Tragödie stellen musste, Brot zu verdienen. Viele sagen auch: Ein Mann ist jemand, der seine Kinder ernährt.
Würde man Ali Ekber fragen, was er am meisten auf dieser Welt liebt, würde Ali Ekber, ohne mit der Wimper zu zucken, antworten:
Meine beiden Söhne.
Das ist nicht gelogen. Ali Ekber sagte also die Wahrheit. Aber durch seine Taten, und Taten sind alles auf dieser Welt, nicht nur in dieser Geschichte, gelangt man zu einer anderen Schlussfolgerung: Ali Ekber liebt die Spielautomaten beinahe mehr als seine Kinder. Und das ist auch eine Wahrheit.
Er trägt einen eng anliegenden, grauen Anzug. Ein weißes Hemd. Darüber eine graue Anzugweste. Seine Anzugjacke, die ebenfalls grau ist, hat er auf dem Barhocker neben sich abgelegt, so dass die Anzugjacke nicht knittert. Die Geräusche des Spielautomaten mischen sich mit der Musik aus dem Hochzeitssaal, die manchmal lauter, manchmal wieder leiser wird.
Wir hören: BOOM BOOM – mit dem Drücken der Tasten. BOOM BOOM.
Durch die geschlossenen Saaltüren dringt die Stimme seines Bruders Ali Haydar dumpf aus den Boxen. Er hört: wie sich die Stimme seines Bruders zeitgleich mit der vertrauten kurdischen Musik mischt, die auf jeder kurdischen Hochzeit zu hören ist:
Der Bruder: Test. Eins. Zwei. Test.
Die Musik: Die Sorgen meines Herzen sind endlos.
Der Spielautomat: Boom. Boom. Strike.
Der Bruder: Test. Mein Name ist Ali Haydar. Test.
Die Musik: Du bist weit von mir entfernt.
Der Spielautomat: Click. Click. Boom.
Der Bruder: Ich bin Kurde. Ich bin unsterblich.
Die Musik: Wir akzeptieren dieses Leben nicht.
Ali Ekber: Du scheiß Idiot!
Das sagt Ali Ekber zum Spielautomaten und klatscht mit einer Hand gegen das Bedienfeld und sieht dann auf seine Uhr, die er am Handgelenk trägt.
Es ist: 16 Uhr 44.
Er stellt fest, dass er bereits seit seiner Ankunft im Hochzeitssaal, das ist nun über eine Stunde her, an dem Spielautomaten sitzt und einen Gulden nach dem nächsten verliert.
Ali Ekber: Wenn ich jetzt gewinne, nur einmal, dann höre ich auf. Letztes Spiel. Letztes Spiel.
Das sagt er zu sich selbst. Und das ist ein Satz, den jeder Spieler wieder erkennt. Ali Ekber wirft einen weiteren Gulden in den Schlitz. Stern. 200. 777. Er ist Linkshänder. Wassermelone. 80. Weintraube.
Ali Ekber ist 31 Jahre alt. Seine Lieblingsfarbe ist Rot, obwohl sein Lieblingsgetränk Milch ist. Er interessiert sich für nichts und alles. Also ist alles und nichts wichtig. Ali Ekber ist nicht geschieden und hat zwei Kinder. Sein jüngeres Kind Robîn, das ist 6 Jahre alt, das rennt um seinen Vater herum, das setzt sich auf den zweiten Barhocker vor dem zweiten Spielautomaten, auf seine Anzugjacke, neben seinen Vater, um seinem Vater nah zu sein, drückt selbst einige Tasten des Spielautomaten, an dem er sitzt, um wie sein Vater zu sein. Was bedeutet das? Ein Sohn blickt zu seinem Vater auf. Es bedeutet: Familie bedeutet alles.
Robîn steht dann wieder auf und rennt im Flur umher. Er breitet seine Arme aus. Spannweite 1 Meter 10. Robîn spielt: Robîn ist ein Flugzeug, vielleicht eine Boeing 777, die er aus dem Fernsehen kennt. Er fliegt umher, bis er vor seinem Vater landet, also stehen bleibt und seinen Vater am Ärmel zieht. Erst langsam, dann immer schneller. Die Schnelligkeit bedeutet hier: Ungeduld. Und die Ungeduld eines Kindes ist eine andere Ungeduld als die Ungeduld eines Erwachsenen.
Robîn: Langweilig.
Ali Ekber tätschelt seinem Kind den Kopf, ohne dabei den Blick vom Spiel zu heben. Das Spiel fixiert ihn. Ali Ekber fixiert: Wassermelone. Zitrone. Weintraube.
Ali Ekber: Geh spielen.
Robîn: Ridvan will mit dir spielen.
Ridvan ist Robîns älterer Bruder.
Ali Ekber: Gleich.
Robîn hat die Haare zur Seite gegelt bekommen. Auch er trägt wie sein Vater einen grauen Anzug. Ein weißes Hemd mit einer grauen Anzugweste mit passender Kinder-Krawatte und einer passenden Anzugjacke darüber. Robîn blickt wieder hoch zu seinem Vater, der blickt immer noch nicht hinunter zu Robîn. Das langweilt Robîn noch mehr, und er springt dann von einer Marmorkachel in die nächste Marmorkachel auf dem Fußboden. Dann knotet er seine Schuhe auf und zu und deutet auf seine Schuhe, obwohl niemand hinsieht, und sagt zu seinem Vater:
Robîn: Das drückt.
Ali Ekber bedrücken bunte Zahlen, bunte Früchte, nichts anderes. Wassermelone. Zitrone. Weintraube. Er drückt die Tasten des Spielautomaten hastig weiter, weil er nicht gewinnt und frustriert ist, geht alles weiter, denkt: Heute ist ein Pechtag.
Ali Ekber: Dein Bruder soll dir helfen.
Robîn: Warum hilfst du mir nicht?
Ali Ekber: Ich habe zu tun.
Robîn bindet sich seinen Schuh langsam wieder zu, so wie er es von seiner Mutter und nicht von seinem Vater gelernt hat. Robîns Augen wandern durch den Flur. Auftritt Ridvan. Zoom auf ihn.
Robîns Bruder Ridvan ist auf der anderen Seite des Flures. Gegenüber den Toiletten. Gegenüber den Spielautomaten. Ridvan trägt das identische Outfit wie sein Bruder, obwohl sie keine Zwillinge sind. Ridvan ist 7 Jahre alt und eine Kopie seines Vaters Ali Ekber. Ridvan steht neben seinem Onkel Ali Hüseyin, dem ältesten Bruder von Ali Ekber. Ali Hüseyin ist einer der Hauptprotagonisten dieser Geschichte. Zoom auf ihn.
Wer Ali Hüseyin zum ersten Mal trifft, sagt:
Jemand: Er isst die ganze Zeit.
Oder: Er ist nett, aber tollpatschig.
Auch: Man kann ihm nicht trauen, er hat merkwürdige Ideen.
Zeitsprung. Rückblende.
Dêrsim, Kurdistan
Eine weite Landschaft. Die Sonne wandert über Hügel. Über Berge. Zoom auf einen Gipfel. Die Sonne blendet. Zoom auf ein Lehmhaus. Eine Ziegenherde läuft durch das Bild. Zoom auf einen Birnbaum, der vor dem Lehmhaus steht. Zoom out. Ein Bild von sechs Geschwistern.
Voiceover: Dies ist die Geschichte von sechs Geschwistern: fünf Brüdern und einer Schwester, die ihr Dorf, auf Kurdisch: MEZRA, das in Dêrsim liegt, verlassen mussten.
Zeitsprung. Rückblende vorbei.
16:58:23 Uhr:
Ridvan hat eine Malerei seines Onkels Ali Hüseyin im Arm.
Ali Hüseyin: Halt das Bild richtig.
Ridvan: Temam, ja. Ich mach doch, Ap Hüseyin.
Ridvan nennt ihn bloß: Ap Hüseyin, also Onkel Hüseyin, da sein Vater und sein Onkel und sein anderer Onkel alle drei Ali als ersten Vornamen tragen, und damit Ali Hüseyin weiß, dass er gemeint ist und nicht Ali Ekber oder Ali Haydar.
Ridvan: Wohin kommt dieses Bild, Ap Hüseyin?
Ali Hüseyin dreht sich zu seinem Neffen um, nimmt ihm das Bild aus der Hand und sieht es eindringlich an. So, als ob er es selbst nicht gemalt hätte und zum ersten Mal sieht. Wir betrachten einen Mann in der Blüte seines Lebens, der seinen Traum betrachtet: Es ist unverkennbar, dass Ali Hüseyin, ein Kurde aus Mezra, Künstler sein möchte.
Zeitsprung. Rückblende.
Ali Hüseyin verkündet als 16‑Jähriger vor allen Nachbarn in Mezra:
Ali Hüseyin: Ich werde Maler!
Die Nachbarn: Hüseyin ist ein guter Mann. Armer Hüseyin! Sein Sohn Ali Hüseyin ist missraten. Gott gibt jedem seine Aufgabe auf dieser Welt.
Ali Hüseyin: Ich werde Künstler!
Die Nachbarn: Missraten und verrückt.
Ali Hüseyin: Ich bin nicht verrückt!
Die Nachbarn: Das sagen alle Verrückten.
Zeitsprung. Rückblende vorbei.
Ali Hüseyin (murmelt): Wirklich. Das habe ich wirklich hervorragend gemalt. Ich würde mir selber einen Orden dafür geben. Ridvan, sieh dir das an. Wer das nicht sieht, ist ein Bauer.
Und er dreht das Bild wieder in Ridvans Richtung, und Ridvan begutachtet eindringlich die Ölmalerei, die im Stile der alten Meister gemalt ist und dabei Ali Hüseyin selbst porträtiert.
Ridvan (stolz): Sieht aus wie du.
Ali Hüseyin (stolzer): So muss es sein.
Ali Hüseyin streichelt Ridvan dabei über den Kopf, der duckt sich schnell weg.
Ridvan: Meine Haare.
Er hat dieselbe Gelfrisur wie sein Bruder, obwohl sie wirklich keine Zwillinge sind. Aber ihre Eltern, Ali Ekber und seine Frau Ayse, dachten sich nichts dabei und kauften ihren Kindern auch immer identische Kleidung, dass die anderen Leute manchmal glaubten, die beiden Kinder seien Zwillinge, obwohl einer (Ridvan) älter als der andere (Robîn) ist.
Ridvan: Warum bist du auf allen Bildern drauf, Ap Hüseyin?
Ali Hüseyin: Weil ich ein Künstler bin.
Ridvan lacht, weil er diese Antwort witzig findet.
Ridvan: Kannst du mich auch malen?
Ali Hüseyin: Nein.
Ridvan: Gemein!!!
Ali Hüseyin: Ein Maler malt sich selbst.
Ridvan: Warum?
Ali Hüseyin fügt hinzu: Das ist halt so.
Ridvan: Woher weißt du das?
Ali Hüseyin: Von Piç Hasso, der hat das gesagt.
Ridvan fängt laut an zu lachen.
Ridvan: Piç Hassooooooo, äfft Ridvan nach und hält sich die Hand vor den Mund.
Jemand hat Ali Hüseyin einmal erklärt, dass Picasso ein großer Maler seiner Zeit war, aber Ali Hüseyin interessierte sich nicht für Picasso, sondern nur für seine eigenen Bilder, so dass er sich nie seinen Namen merken konnte und Picasso eben Piç Hasso nannte. Piç ist türkisch und bedeutet Bastard. Und Hasso war ein Nachbarssohn in Mezra, den Ali Hüseyin in seiner Kindheit nie mochte.
Ali Hüseyin (streng): Ein berühmter Künstler.
Und er wirft seinem Neffen einen Todesblick zu. Ridvan rennt zu Robîn hinüber.
Ridvan: Robînnnnn, Ap Hüseyin sein Freund heißt Piç Hassoooo!
Das brüllt Ridvan zu seinem Bruder, der immer noch neben seinem Vater steht. Zoom auf Robîn. Robîn giggelt laut. Dann lauter. Auch weil ihm langweilig ist, und er breitet seine Arme aus und fliegt seine Piç-Hasso-Airline um seinen Vater herum.
Robîn: Piç Hassooooo.
Ali Ekber schlägt seinem Sohn auf den Hinterkopf, ohne den Spielautomaten aus den Augen zu lassen.
Robîn: Aua.
Ali Ekber: Hab Respekt vor deinem Ap!
Ridvan (zu Ali Hüseyin): Ist das ein Freund von dir?
Das fragt Ridvan, nachdem er abrupt aufgehört hat zu lachen und sich direkt beruhigt, weil sein Vater bereits mit seinem Bruder geschimpft hat und er es vermeiden will, dass der Vater auch mit ihm schimpft. Er läuft wieder zu seinem Ap zurück.
Ali Hüseyin: Sozusagen.
Ridvan: Woher kennst du ihn?
Ali Hüseyin: Magst du meine Bilder?
Ridvan lächelt. Nickt. Zeigt einen Daumen hoch.
Ridvan kannte diese Art von Malerei schon. Nicht aus Mezra, sondern aus Holland. Denn seitdem die Familie in Holland ist, haben beide Geschwister, Ridvan und Robîn, eine riesige Ölmalerei ihres Onkels bei sich im Kinderzimmer hinter der Tür hängen.
Zeitsprung. Rückblende.
Ein paar Monate zuvor. Ali Hüseyin steht im Kinderzimmer von Ridvan und Robîn. Er hämmert zwei Nägel gegen die Wand. Der Kleiderschrank wackelt. Ridvan und Robîn stehen hinter ihm. Er hängt eine riesige Ölmalerei, die er in einen Glasrahmen aus blauer Farbe gequetscht hat, an der Wand auf. Was ist auf dem Bild zu sehen? Es ist dunkel. Sturm. Menschen auf einem Boot. Starke Wellen.
Ali Hüseyin: Sehr schön!
Robîn: Was dürfen wir damit machen?
Ali Hüseyin: Nichts. Ein Bild ist ein Bild. Das hängt einfach.
Robîn: Langweilig!
Zeitsprung. Rückblende vorbei.
Ali Hüseyin trägt einen braunen Anzug und ist beschäftigt.
Ali Hüseyin: Hier werden wir es aufhängen!
Zoom auf die Wand. Mit seinem Zeigefinger zeigt er dabei auf eine leere Stelle an der Wand zwischen zwei weiteren Malereien, die er bereits mit der Hilfe von Ridvan an der Wand angebracht hat.
Ali Hüseyin: Ridvan, mein Lämmchen. Gib mir noch ein paar Nägel und den Hammer.
Und er fuchtelt dabei mit seiner Hand umher. Aus der Werkzeugtasche, die offen auf dem Boden liegt und die Ali Hüseyin zu Hause feinsäuberlich am Tag zuvor eingepackt hat, sucht Ridvan noch ein paar Nägel heraus. Er reicht seinem Onkel erst einen Nagel, dann den Hammer, dann einen weiteren Nagel. Ali Hüseyin hämmert laut gegen die Wand, dass sich selbst Ali Ekber am Spielautomaten kurz umdreht. Währenddessen rennt Robîn auf seinen Onkel und Bruder zu. Genau in diesem Augenblick geht die Saaltür laut auf, und Ali Haydar betritt den Flur. Zoom auf ihn. Er packt Robîn mit schnellen Schritten und wirft ihn dabei in die Luft.
Wer Ali Haydar zum ersten Mal trifft, sagt:
Jemand: Früher war er netter. Er hat sich verändert.
Oder: Nur Diktatoren haben Wutanfälle.
Auch: Wenn er singt, verbeugen sich die Blumen vor ihm.
Ali Haydar ist 28 Jahre alt. Schwarze Haare. Dicht und wellig. Verheiratet mit Gülcan. Sie haben einen Sohn, der Diyar heißt und gerade sechs Jahre alt geworden sind. Ali Haydar hat eine kurze Zündschnur, seitdem er beim Fußballspielen in Istanbul einen Bänderriss erlitt, der angeblich seine glorreiche Karriere als Profi-Fußballspieler beendete. Weil er kein Fußballer wurde, wurde Ali Haydar ein Mann, der Fußballtrainer ist. Und das, obwohl er eine kurze Zündschnur hat. Viermal die Woche rennt er am Spielfeldrand auf und ab. Viermal die Woche rennt und brüllt er so sehr beim Training, dass er einen roten Kopf bekommt, den er nach dem Training kühlen muss. Sein bester Freund Zülfo gründete 1994 Amedspor in Rotterdam. Amedspor ist eine kurdische Fußballmannschaft, die 1990 in Amed gegründet wurde. Ali Haydar ist verantwortlich für die Kinder- und Jugendmannschaft. Auch seine Nichte und seine Neffen spielen dort Fußball.
Zeitsprung. Rückblende.
Ali Haydar ist 14 Jahre alt und verkündet vor allen Nachbarn, dass er Fußballer werden möchte.
Die Nachbarn: Aber du kannst doch singen.
Ali Haydar: Ein Fußballer spielt Fußball!
Die Nachbarn: Sing lieber für uns.
Ali Haydar: Ein Fußballer singt nicht!
Die Nachbarn: Er ist auch verrückt geworden. Es muss wohl ein Fluch sein.
Zeitsprung. Rückblende vorbei.
Ali Haydar will eigentlich nur sein Auto, das im Halteverbot steht, umparken, bleibt aber dann amüsiert vor den Malereien von Ali Hüseyin stehen.
Ali Haydar: How much?
Ali Hüseyin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
Ali Hüseyin (zu Ridvan): Such deinem Ap noch ein paar Nägel raus.
Ali Haydar: How much?
Mit seinem Zeigefinger zeigt Ali Haydar auf Bild Nummer sechs.
Ali Hüseyin: Was?
Ali Haydar: How much, Chef?
Ali Hüseyin: Geh mir nicht auf die Nerven.
Ali Haydar: Once upon a time: How much?
Ridvan reicht seinem Onkel einen weiteren Nagel, und Ali Hüseyin hämmert seelenruhig weiter, als seien sie nicht in einem Hochzeitssaal, sondern bei einer Ausstellung, obwohl Ali Hüseyin noch nie auf einer Ausstellung war, geschweige denn weiß, how much ein Bild kostet.
Ridvan: Sag mal: Ich heiße Ap auf Englisch.
Ali Haydar: Ap haw ar yu.
Ridvan: Sag mal: Wie geht’s.
Ali Haydar: Won Tu Tri.
Ali Hüseyin: Wir haben’s verstanden!
Ali Haydar: I for brother.
Bei dem Wort for zeigte Ali Haydar vier Finger.
Ali Hüseyin: Und ich hab eine Hand, die klatscht dir gleich eine!
Ali Ekber dreht sich zu seinen Brüdern um, als er wieder das Hämmern hört, zuckt dann mit den Schultern.
Ali Ekber (aus der Ecke): Ich bin dein größter Fan!
Ali Hüseyin hämmert weiter und trifft dabei mehrere Male beinahe nicht den Nagel, sondern seinen Daumen, obwohl er seiner eigenen Meinung nach ein 1 A Handwerker ist. Aber weil er sich über seine Brüder aufregt, den unironischen Ali Haydar und den ironischen Ali Ekber, die er beim Hämmern aus den Augenwinkeln beäugt, atmet er schwer.
Ali Haydar: Du kriegst keine Luft wegen deinem fetten Bauch.
Ali Hüseyin hämmert den nächsten Nagel an die Wand.
Ali Hüseyin: Ich bin ein Künstler. Wer kann das von sich behaupten?
Ridvan: Mein Vater hat gesagt, Künstler gehören ins Krankenhaus!
Damit möchte Ridvan ausdrücken, wie sehr er seinen Vater liebt und vergöttert und deshalb nachplappert, was sein Vater sagt.
Ali Ekber (aus der Ecke): Geistesgestörte!
Ali Haydar: Head broken –
Ali Hüseyin: Hör auf mit deinem Englisch!
Ali Haydar: Reden nicht alle Künstler Englisch?
Zoom auf die Bilder: sieben Bilder in der Größe 80 × 120 cm hängen auf Augenhöhe, 80 cm vom Boden abgemessen an der Wand.
Ali Hüseyin (strahlt): Das nennt man Talent!
Ali Haydar (zu Ridvan): Ridvan, klatsch für deinen Ap.
Ridvan lacht und klatscht. Ali Hüseyin verbeugt sich. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass Ali Hüseyin wahrlich mit Talent gesegnet ist. Er malt nicht wie jemand, der nicht malen kann. Nein. Er malt wie jemand, den Gott vor eine Leinwand gesetzt hat. Er malt also wie jemand, der wirklich malen kann. Naturalistisch. Lebendige Farben. Tiefgründig. Technische Brillianz. Exakt. Beinahe wie eine Fotografie. Was Ali Hüseyin malt, sieht aus wie die Wirklichkeit.
17:22:03 Uhr
Auftritt Zeyno. Zeyno ist Ali Hüseyins Frau. Zoom auf sie. 29. Jahre alt. 1 Meter 65. Dunkelbraune Haare. Hellbraune Augen. Sie hat eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Zeynos Haare sind zu einem Dutt frisiert. Sie trägt ein schönes rotes Kleid, und beim Reinkommen sieht Ali Hüseyin sie lange an.
Ali Hüseyin: Das sieht sehr schön aus!
Und meint aber seine eigenen Bilder.
Zeyno: Das stimmt!
Das sagt Zeyno, weil Zeyno ihren Mann kennt und weiß, dass er jeden Tag Bestätigung braucht, damit er nicht verzweifelt. Sie drückt Ali Hüseyins Hand.
Zeyno: Du bist meine Sonne.
Ali Haydar schüttelt den Kopf.
Ali Haydar (zu Zeyno): Hör auf, ihm was einzureden.
Zeyno: Lass meinen Mann in Ruhe.
Ali Haydar (zu Ridvan): Dein Onkel hat in Europa den Verstand verloren.
Ridvan: Wie?
Ali Haydar: Europa-Krankheit. Alle werden hier verrückt!
Zeyno lacht, und Ali Hüseyin sieht Zeyno zornig, aber lieb an. Sie drückt seine Hand und läuft dann in den Hochzeitssaal hinein.
Ali Hüseyin schnauft und dreht sich zu Ridvan um. Dann kniet er sich zu ihm nieder. Er legt seine Hände auf Ridvans Schulter.
Ali Hüseyin (flüstert): Meine Träume sind schöner als die Träume von deinem Vater und deinem Onkel. Mein Herz ist rein.
Ridvan nickt, denn er mag seinen Onkel sehr. Dann steht Ali Hüseyin abrupt auf und läuft zu Ali Ekber rüber. Beim Laufen holt er bereits schwungvoll mit seiner rechten Hand aus, zieht dabei Robîn an seinem Arm zur Seite, der ihm hinterher rennt, weil er denkt, jetzt passiert wenigstens etwas, und sein Vater spielt mit ihm, stattdessen klatscht Ali Hüseyin seinem jüngeren Bruder Ali Ekber auf den Hinterkopf. Dieser hat es nicht kommen sehen, weil er nur zockt und nie aufsieht, und knallt mit dem Kopf gegen den Spielautomaten.
Ali Hüseyin: Du Esel. Schämst du dich nicht?!
Ali Ekber sagt nichts. Er tätschelt seine Stirn. Tastet sie dann mit seinen Fingern ab.
Ali Ekber: Ist da Blut?
Ali Hüseyin begutachtet seine Stirn: Leider nicht.
Ali Ekber nimmt seine Jacke, die immer noch auf dem anderen Zockerstuhl liegt, und zieht sie an. Er richtet sein Hemd, schwenkt dabei den Kopf nach links und rechts, bis die Nackenwirbel knacken. Dann läuft er langsam auf die Malereien von Ali Hüseyin zu.
Ali Ekber: Warum malst du nur dich und nie einen von uns?
Ridvan: DAS HABE ICH AUCH GESAGT!
Ali Hüseyin: Ich bin der Hübscheste von uns allen.
Ridvan: Eyy, ich bin auch hübsch.
Ali Hüseyin: Das stimmt!
Ali Hüseyin ist 35 Jahre alt. Groß und dick. Buschige Augenbrauen. Buschiger Schnauzer. Er ist verheiratet mit der Liebe seines Lebens, wie er selbst zu sagen pflegt. Zeyno und Ali Hüseyin haben keine Kinder. Sein großer Traum ist unübersehbar, Maler zu werden, aber wie seine Brüder immer anmerkten, verdient er kein Geld mit seinem Traum. Womit verdient er sein Geld? Ali Hüseyin arbeitet wie seine anderen vier Brüder auf der Baustelle. Ali Hüseyin ist Dachdecker. Jedes Mal, wenn er auf einem Dach umherturnt, um seinen Job auszuführen, halten seine Brüder den Atem an, weil er nicht nur dick, sondern auch tollpatschig ist, und das aber auch wirklich nur auf der Baustelle, denn beim Malen hat er die ruhigste Hand der Welt. Daran merkt man, ob jemand Talent hat, erklärt er immer allen, obwohl niemand danach gefragt hat. Niemand zählt mehr mit, wie oft Ali Hüseyin auf dem Dach dem Tod entkommen ist. Ali Hüseyin sagt bloß immer:
Ich habe einen Schutzengel, weil ich einen Traum habe.
Es ist nichts passiert, sagte er dann jedes Mal zu den anderen auf der Baustelle, wenn er sein Gleichgewicht oben auf den Dächern verlor und mit kreisenden Bewegungen der Arme versuchte, die Balance zurückzubekommen. Er lachte dann immer und setzte behutsam einen Schritt vor den anderen. Ali Hüseyin hatte viele Träume.
Ein Traum: Dünn zu sein, ohne aufzuhören zu essen.
Ein Traum: Für immer am Fluss Munzur in Dêrsim zu sitzen.
Ein Traum: Eine Statue in Mezra wird für ihn errichtet.
Ein Traum: Ein Ali-Hüseyin-Museum auf drei Etagen in Mezra.
Ein Traum: In Mezra sterben, ohne dass die Zeit vergeht.
Ein Traum: Er wird neugeboren und liebt Zeyno noch einmal.
Er träumte auch von Kurdistan. Das war sein schönster und sein schmerzvollster Traum. Er erzählte allen, ob sie es hören wollten oder nicht, dass er aus Kurdistan nach Holland kam.
Ali Haydar erzählte den anderen auf der Baustelle immer:
Er kam zu Fuß aus Kuba. Fidel Castro hat ihn geschickt. Das merkt man aber nicht. Er kam schon dick auf die Welt.
Ali Hüseyin kam wirklich dick auf die Welt, aber tatsächlich kam Ali Hüseyin nicht zu Fuß aus Kuba nach Holland, sondern versteckt in einem Lkw. Genauer gesagt in einem Hohlraum über dem Lkw-Reifen.
Wer brachte ihn so versteckt nach Holland? Ein Schmuggler. Warum? Weil türkische Sicherheitskräfte Mezra über Nacht in Brand steckten. Warum? Sie führten einen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, der schon begann, bevor Ali Hüseyin und seine Geschwister geboren waren.
Ein kleines Feuer wurde ein großes Feuer – wurde warm – wurde wärmer – wurde größer als Mezra. Feuer zu legen bedeutet in Kriegssprache: Die Bevölkerung wird mit Absicht vertrieben. Ein Dorf, das brennt, bedeutet in Lebenssprache der Menschen, die in diesen Dörfern wohnen: Ihr Leben steht in Flammen.
LEBEN = FEUER = NICHTS.
Weil Ali Hüseyin eben nicht der Dünnste war, passte er gerade so in den Lkw-Hohlraum. Über den Reifen. Die stanken.
Der Schmuggler: Geht’s, Fettsack?
Ali Hüseyin: Kein Problem.
Der Schmuggler: Eigentlich kostet das doppelt. Du nimmst jemandem den Platz weg.
Ali Hüseyin: Ich kann nichts dafür.
Der Schmuggler: Schon mal probiert, weniger zu essen?
Ali Hüseyin: So kam ich auf die Welt.
Der Schmuggler: Gott beschütze uns.
Er deutete auf Ali Hüseyins Bauch. Ali Hüseyin hielt eine weiße Plastiktasche fest umschlungen gegen seinen Bauch gedrückt. Was war in der Tüte drinnen? Malereien, die Ali Hüseyin gerollt und gefaltet hat. Das Gesicht von einer Frau war zu sehen. Malereien, die Ali Hüseyin gerettet hat.
Der Schmuggler: Was ist das?
Ali Hüseyin: Meine Großmutter.
Der Schmuggler: Die Schönste ist sie jetzt nicht. Was trägt sie da um den Hals?
Ali Hüseyin: So eine Kette. Das tragen alte Leute.
Der Schmuggler: Noch nie gesehen.
Ali Hüseyin: Ja, das kennen nicht viele.
Der Schmuggler: Das kostet extra.
Ali Hüseyin: Was?
Der Schmuggler: Deine Großmutter.
Ali Hüseyin: Warum denn?
Der Schmuggler: Einer nimmt seine Tiere mit. Der andere will sein Haus mitnehmen. Du nimmst deine Großmutter mit. Sehe ich aus wie ein Schiff?
Gummi. Öl. Teer. Im Lkw-Hohlraum lag Ali Hüseyin wie eine Kerze. Sein Körper rüttelte nicht, er passte perfekt in den Hohlraum über den Reifen, als der Lkw über Straßen fuhr. Asphaltiert. Nicht asphaltiert. Landweg. Autobahn.
Als Ali Hüseyin seinen Asylantrag stellte und endlich zur Registrierung dran war, fand er sich in einem holländischen, beigegrünen, mit allerlei Firlefanz dekorierten Behördenbüro wieder. Es war spärlich möbliert. Ein Tisch und ein Stuhl gegenüber vom Tisch, an dem Ali Hüseyin Platz nahm. Eine Stehlampe in der Ecke. Beige. Ein kleines Fenster. Mintgrüner Rahmen.
Weil der Übersetzer an diesem Tag krank war, wurde Ali Hüseyin in ein Büro von einem Holländer gerufen, der anscheinend Türkisch konnte, obwohl Ali Hüseyin nicht sonderlich gut Türkisch sprach, sondern Kurdisch, weil er Kurde ist.
Vor Ali Hüseyin saß Daan van Dijk in einem blassblauen Hemd mit einem Holland-Stecker an seinem weißen Kragen und sprach mit Ali Hüseyin gebrochenes Türkisch, weil Daan van Dijk kein Kurdisch konnte. Immer wenn er sprach, lächelte er.
Daan van Dijk: Merhaba.
Ali Hüseyin: Merhaba.
Daan van Dijk hatte blonde, volle Haare. Er war 26 Jahre alt und leidenschaftlicher Erstaufnahmeregistrar im Erstaufnahmezentrum, der seine Arbeit sehr ernst nahm. Er liebte Ordnung, kam nur öfters durcheinander, da alles Ordnung in seinem Leben hatte außer seiner Handschrift, die so krakelig war, dass er oft nicht mehr lesen konnte, was er nun da aufgeschrieben hatte.
Daan van Dijk konzentrierte sich und war vertieft in seine Mappe, die vor ihm auf seinem sauberen Tisch lag. Auf dem sauberen Tisch waren feinsäuberliche Papierstapel neben anderen feinsäuberlichen Papierstapeln. Hinter Daan van Dijk hing ein riesiges Bild einer Landschaft an der Wand, wahrscheinlich irgendwo in Holland. Das war keine Malerei, sondern ein Foto. Ein Foto von Wasser und einer Windmühle und einem Sonnenuntergang. Darüber hing ein Schal in den Farben rot, weiß, blau. Rechts daneben hing ein weiteres Bild, das war eingerahmt, von einem Mann, den kannte Ali Hüseyin nicht. Unter dem Bild von dem Mann hing ein anderes Bild, und das war ein Tulpenfeld.
Eine kleine Miniatur-Windmühle auf einem Miniatur-Grasfeld mit Miniatur-Tulpen stand auf dem sauberen Tisch, und weil Daan van Dijk bloß schrieb und Ali Hüseyin nicht ansah, lehnte sich Ali Hüseyin etwas nach vorne und drehte das Rad der Windmühle. Erst dann sah Daan van Dijk auf, lächelte Ali Hüseyin zu und griff im selben Augenblick nach der Miniatur-Windmühle und stellte sie auf die anderen Seite des sauberen Tisches. Ali Hüseyin lächelte verlegen, lehnte sich wieder zurück und versuchte, das nervige Ticktack der kleinen Uhr auf dem Schreibtisch zu überhören, das durch den ganzen Raum drang.
Daan van Dijk blätterte seelenruhig weiter in seinen Papieren, und Ali Hüseyin lehnte sich wieder nach vorne, um zu sehen, was Daan van Dijk da eigentlich machte, aber Daan van Dijk kreuzte bloß irgendwelche Kästchen an und legte dann seine Hand auf die Papiere, als er merkte, dass Ali Hüseyin spitzeln wollte. Er blickte auch nicht auf und arbeitete einfach weiter. Einige Minuten waren schon um. Ali Hüseyins Magen knurrte. Dann fragte er aus dem Nichts, aber ohne hochzublicken:
Daan van Dijk: Türk?
Ali Hüseyin schüttelte den Kopf, und Daan van Dijk sah immer noch nicht auf. Er fragte bloß wieder.
Daan van Dijk: Türk?
Ali Hüseyin schüttelte wieder den Kopf.
Daan van Dijk: Türk?
Diesmal sah er auf und deutete mit seinem Zeigefinger auf Ali Hüseyin.
Daan van Dijk: Türk?
Ali Hüseyin: Kürt.
Türk ist türkisch und bedeutet: Türke.
Und Kürt ist ebenfalls türkisch und bedeutet: Kurde.
Daan van Dijk: Kürt?
Ali Hüseyin: Kürt!
Daan van Dijk: Türk?!
Ali Hüseyin: Kürt!!
Daan van Dijk: Kürt??
Ali Hüseyin: KÜRT!!!
Weil wir das Jahr 1994 hatten, und 1994 die ganze Welt, einschließlich Daan van Dijk nicht wusste oder wissen wollte, wer oder was Kurden sind, stand am Ende in Ali Hüseyins Asylantrag:
Herkunft: Kuba.
Weil Kuba auf Türkisch Küba bedeutet und Daan van Dijk anscheinend dachte, Kürt sei Küba.
17:31:45 Uhr:
Zoom auf Ali Haydar. Er nimmt Ridvan und Robîn an der Hand und läuft mit beiden Kindern in den Hochzeitssaal hinein.
Sie verschwinden durch die Saaltür, und ein neues Lied dröhnt durch den kahlen Flur.