König Dame Bube - Vladimir Nabokov - E-Book

König Dame Bube E-Book

Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Franz, ein junger Mann aus der Provinz, reist in die Hauptstadt und wird Verkäufer in einem Warenhaus seines Onkels Dreyer. Bald bahnt sich ein Verhältnis mit dessen Frau Martha an. Um von einer gemeinsamen Zukunft träumen zu können, entwickeln Franz und Martha einen Plan, Dreyer auf möglichst perfekte Weise zu ermorden. Die ironische Durchleuchtung der Charaktere zeigt Vladimir Nabokov bereits als einen frühen Meister delikater Psychologie.

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Vladimir Nabokov

König Dame Bube

Roman

Deutsch von Hanswilhelm Haefs

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Franz, ein junger Mann aus der Provinz, reist in die Hauptstadt und wird Verkäufer in einem Warenhaus seines Onkels Dreyer. Bald bahnt sich ein Verhältnis mit dessen Frau Martha an. Um von einer gemeinsamen Zukunft träumen zu können, entwickeln Franz und Martha einen Plan, Dreyer auf möglichst perfekte Weise zu ermorden.

Die ironische Durchleuchtung der Charaktere zeigt Vladimir Nabokov bereits als einen frühen Meister delikater Psychologie.

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er an verschiedenen Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 2. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Kapitel 1

Der riesige schwarze Uhrzeiger steht noch still, wird aber gleich seine Einmal-pro-Minute-Geste vollziehen; und dieser federnde Ruck wird eine ganze Welt in Bewegung setzen. Das Zifferblatt wird sich langsam abwenden, voller Verzweiflung, Verachtung und Langeweile, so wie einer nach dem anderen die Eisenpfeiler vorbeiwandern und das Gewölbe der Bahnstation als gleichmütige Gebälkträger fortschleppen werden; der Bahnsteig wird sich vorbeibewegen und Zigarettenstummel, verbrauchte Fahrkarten, Sonnenflecke und Spucke mit auf eine unbekannte Reise nehmen; ein Gepäckkarren wird mit bewegungslosen Rädern vorbeigleiten; ihm wird ein Zeitungsstand folgen, behängt mit verführerischen Illustriertentiteln – Photographien von nackten perlgrauen Schönen; und Menschen, Menschen, Menschen auf dem sich bewegenden Bahnsteig, die ihrerseits ihre Füße bewegen und doch still stehen, vorwärts streben und doch zurückweichen wie in einem quälenden Traum voller unglaublicher Anstrengung, Übelkeit, baumwollene Schwäche in den Schenkeln, werden rückwärts branden, fast rücklings fallen.

Es waren mehr Frauen da als Männer, wie immer bei Abschieden. Franz’ Schwester, die Blässe der frühen Stunde auf ihren schmalen Wangen und mit einem unangenehmen Geruch aus dem leeren Magen, bekleidet mit einem karierten Umhang, wie ihn ein Mädchen aus der Stadt gewiss nie trüge; und seine Mutter, klein, rundlich, ganz in Braun wie ein kompakter kleiner Mönch. Sieh die Taschentücher, wie sie zu flattern beginnen.

Und nicht nur es glitt hinweg, dieser beiden vertrautes Lächeln; nicht nur brach der Bahnhof auf und räumte seinen Zeitungsstand weg; seinen Gepäckkarren und einen Verkäufer von belegten Brötchen und Obst, der so leckere, pralle, klumpige, glänzend rote Erdbeeren hatte, die wahrhaft danach schrien, dass man hineinbeiße, und alle ihre Samenkerne verkündeten ihre Ähnlichkeit mit den Geschmacksknospen unserer Zunge – doch ach und schon dahin; nicht nur fiel alles dies zurück; das ganze alte Städtchen in seinem rosigen Herbstmorgennebel bewegte sich ebenfalls: der große steinerne Herzog auf dem Marktplatz, der dunkle Dom, die Ladenschilder – ein Zylinderhut, ein Fisch, das Kupferbecken eines Friseurs. Nichts konnte jetzt die Welt mehr halten. In großem Stil ziehen Häuser vorüber, die Vorhänge flattern in den offenen Fenstern seines Elternhauses, dessen Dielen krachen ein wenig, die Mauern knirschen, Mutter und Schwester trinken ihren Morgenkaffee im schnellen Luftzug, die Möbel erbeben von den sich beschleunigenden Stößen, und immer noch schneller, noch geheimnisvoller fahren die Häuser, der Dom, der Marktplatz, die Seitenstraßen dahin. Und obwohl jenseits des Zugfensters längst schon bestellte Felder ihr Flickenwerk entfalteten, fühlte Franz in den Knochen doch immer noch das Zurückweichen des Städtchens, in dem er seit zwanzig Jahren gelebt hatte. Außer Franz enthielt das Dritte-Klasse-Abteil mit Holzbänken zwei alte Damen in Kordsamt; eine dralle, unausweichlich rotbäckige Frau mit dem unausweichlichen Korb voll Eiern auf dem Schoß; und einen blonden Jüngling in bräunlichen kurzen Hosen, kräftig und eckig, seinem Rucksack sehr ähnlich, der vollgestopft war und aussah, als sei er aus gelbem Stein gehauen; den hatte er energisch abgeschüttelt und auf das Gepäckbrett hinaufgehievt. Den Sitz an der Tür gegenüber von Franz nahm eine Illustrierte mit dem Bild eines atemberaubenden Mädchens ein; und am Fenster im Korridor stand, den Rücken zum Abteil, ein breitschultriger Mann in schwarzem Mantel.

Der Zug fuhr nun schnell. Franz griff plötzlich krampfhaft in seine Seite, vom Gedanken durchbohrt, dass er sein Portemonnaie verloren habe, das so vieles enthielt: die feste kleine Fahrkarte, und die Visitenkarte eines Fremden mit einer wertvollen Adresse, und einen unberührten Monat menschlichen Lebens in Reichsmark. Doch das Portemonnaie war da, fest und warm. Die alten Damen begannen sich zu rühren und zu rascheln, indem sie belegte Brote auspackten. Der Mann im Korridor drehte sich um und betrat, nach einem leichten Schwanken und einem halben Schritt zurück und indem er das Schwanken des Ganges überwand, das Abteil.

Der größte Teil der Nase war entschwunden oder niemals entstanden. Dem Überbleibsel des Nasenrückens haftete die fahle, pergamentartige Haut mit Übelkeit erregender Straffheit an; die Nasenlöcher hatten allen Sinn für Anstand verloren und starrten den zurückzuckenden Betrachter wie zwei jähe Löcher an, schwarz und unsymmetrisch; Wangen und Stirn wiesen eine Skala geographischer Schattierungen auf – gelblich, rötlich und sehr glänzend. Hatte er diese Maske ererbt? Und wenn nicht, welche Krankheit, welche Explosion, welche Säure hatte ihn entstellt? Er hatte praktisch keine Lippen; das Fehlen der Wimpern verlieh seinen blauen Augen einen aufgeschreckten Eindruck. Und doch war der Mann modisch angezogen, gut gepflegt und gut gebaut. Er trug unter seinem schweren Mantel einen Zweireiher. Sein Haar war so glatt wie eine Perücke. Er zog die Knie seiner Hose ohne Hast hoch, während er sich setzte, seine grau behandschuhten Hände öffneten die Illustrierte, die er auf dem Sitz gelassen hatte.

Der Schauder, der Franz zwischen den Schulterblättern durchlaufen hatte, verjüngte sich jetzt in seinem Mund zu einem eigenartigen Gefühl. Seine Zunge fühlte sich widerlich lebendig an; sein Gaumen ekelhaft feucht. Seine Erinnerung öffnete ihr Wachsfigurenkabinett, und er wusste, er wusste, dass ihn dahinten, irgendwo an dessen fernem Ende, eine Schreckenskammer erwartete. Er erinnerte sich an einen Hund, der sich auf die Schwelle eines Fleischerladens erbrochen hatte. Er erinnerte sich an ein Kind, ein Kleinkind auf wackligen Beinchen, das sich mit den Schwierigkeiten seines Alters vorgebeugt und mühevoll ein schmutziges Ding aufgehoben und zwischen die Lippen geschoben hatte, welches einem Schnuller ähnelte. Er erinnerte sich an einen alten Mann mit Husten in einer Straßenbahn, der dem Schaffner einen Klumpen Schleim in die Hand gepustet hatte. Das waren Bilder, die Franz gewöhnlich unterdrückte, die aber stetig im Hintergrund seines Lebens herumschwärmten und mit hysterischen Krämpfen jeden neuen Eindruck begrüßten, der ihnen ähnlich war. Nach einem Schock dieser Art pflegte er sich in jener immer noch jüngsten Zeit bäuchlings auf sein Bett zu werfen und zu versuchen, den Übelkeitsanfall abzuwehren. Seine Schulerinnerungen schienen sich ständig vor möglichen, unmöglichen Berührungen mit der schmuddeligen, pickligen, glitschigen Haut des einen oder anderen Schulkameraden zu drücken, der ihn bedrängte, an einem Spiel teilzunehmen, oder ihm eifrig ein spuckesprühendes Geheimnis mitteilen wollte.

Der Mann blätterte durch die Illustrierte, und die Kombination seines Gesichtes mit dem verlockenden Titelbild war unerträglich grotesk. Die rotwangige Eierfrau saß neben dem Monstrum, und ihre schläfrige Schulter berührte ihn. Der Rucksack des Jünglings rieb sich an seinem glänzenden hotelzettelbeklebten schwarzen Koffer. Am schlimmsten aber war, dass die alten Damen, ohne ihren abscheulichen Nachbarn zu beachten, ihre Butterbrote schmatzten und an faserigen Apfelsinenschnitzen lutschten, die Schalen in Papierfetzen wickelten und geziert unter die Bank feuerten. Als aber der Mann seine Illustrierte hinlegte und, ohne die Handschuhe auszuziehen, selber ein Käsebrötchen zu essen begann und herausfordernd um sich blickte, hielt Franz es nicht länger aus. Er stand schnell auf, erhob sein bleiches Antlitz wie ein Märtyrer, rüttelte seinen einfachen Koffer los und hob ihn herab, sammelte Regenmantel und Hut ein und floh, während er seinen Koffer ungeschickt gegen den Türpfosten schlug, hinaus auf den Gang.

Es war aber dieser spezielle Waggon dem D-Zug erst auf einer der letzten Stationen angehängt worden, und die Luft in ihm war noch frisch. Sofort empfand er ein Gefühl der Erleichterung. Doch die Benommenheit war noch nicht gewichen. Eine Wand aus Buchen flimmerte am Fenster in einer fleckigen Folge von Licht und Schatten vorüber. Er begann, unschlüssig den Korridor entlangzugehen, griff nach Türknäufen und anderen Gegenständen und blickte in die Abteile. Nur in einem war noch ein freier Platz; er zögerte und ging dann weiter und schüttelte das Bild der beiden Kinder mit käsigen Gesichtern und staubschwarzen Händen ab, die ihre Schultern in Erwartung eines Nackenhiebes ihrer Mutter hochzogen, während sie leise immer wieder vom Sitz glitten, um zwischen den fettigen Papierfetzen auf dem unsäglichen Boden vor den Füßen der Passagiere zu spielen. Franz erreichte das Ende des Wagens und blieb dann stehen, von einem außerordentlichen Gedanken durchzuckt. Dieser Gedanke war so süß, so kühn und aufregend, dass er seine Brille abnehmen und sie putzen musste. «Nein, kann ich nicht, kommt nicht infrage», flüsterte Franz und war sich doch bereits im Klaren, dass er der Versuchung nicht widerstehen konnte. Dann prüfte er den Knoten seiner Krawatte mit Daumen und Zeigefinger, überquerte das Geklirr der beweglichen Verbindungsplatten und betrat mit einem auserlesenen sackenden Gefühl in der Magengrube den nächsten Wagen.

Es war ein Schnellzugwagen zweiter Klasse, und für Franz war die zweite Klasse etwas strahlend Anziehendes, sogar leicht sündig, und schmeckte nach schlüpfriger Ausschweifung wie ein Schluck dicken weißen Likörs oder wie jene riesige, einem gelblichen Schädel ähnelnde Grapefruit, die er sich einst auf dem Weg zur Schule gekauft hatte. Von der ersten Klasse konnte man nicht einmal träumen – die war Diplomaten, Generälen und nahezu unirdischen Schauspielerinnen vorbehalten! Die zweite aber … die zweite … Wenn er doch nur den Mut aufbrächte. Es hieß, dass sein verstorbener Vater (ein Winkeladvokat) einst bei Gelegenheit – vor langer Zeit, vor dem Kriege – zweiter Klasse gereist sei. Doch Franz konnte sich nicht entschließen. Er blieb am Anfang des Ganges bei der Anschlagtafel mit dem Inventar des Waggons stehen, und jetzt flimmerte nicht mehr ein zaungleicher Wald vorüber, sondern weite Wiesen glitten majestätisch vorbei, und in der Ferne floss parallel zu den Schienen eine Autostraße dahin, über die ein Liliputauto wie der Blitz dahinschoss.

Der Schaffner, der gerade seine Runde machte, befreite ihn aus seiner Schwierigkeit. Franz kaufte eine Zuschlagkarte, die seine Fahrkarte in den nächsthöheren Rang erhob. Ein kurzer Tunnel betäubte ihn mit seiner widerhallenden Düsternis. Dann ward wieder Licht, aber der Schaffner war verschwunden.

Das Abteil, in das Franz mit einer schweigenden unbeachteten Verbeugung eintrat, war von nur zwei Personen besetzt – einer schönen Dame mit strahlenden Augen und einem mittelalten Mann mit getrimmtem lohfarbenem Schnurrbart. Franz hängte seinen Regenmantel auf und setzte sich sorgsam nieder. Der Sitz war so weich; so behaglich trat in Schläfenhöhe etwas Halbrundes hervor, das den einen Sitz vom nächsten schied; die Photos an den Wänden waren so romantisch – eine Schafherde, ein Kreuz auf einem Felsen, ein Wasserfall. Er streckte langsam seine langen Beine aus, nahm langsam eine gefaltete Zeitung aus der Tasche. Aber er war unfähig zu lesen. Betäubt vom Luxus hielt er die ausgebreitete Zeitung vor sich und betrachtete hinter ihr hervor seine Mitreisenden. Oh, sie waren bezaubernd. Die Dame trug ein schwarzes Kostüm und einen winzigen schwarzen Hut mit einer kleinen diamantenen Schwalbe. Ihr Antlitz war ernst, ihr Auge kalt, ein feiner dunkler Flaum, das Zeichen der Leidenschaft, schimmerte über ihrer Oberlippe, und ein Sonnenstrahl ließ das sahnige Gewebe ihres Halses mit den beiden delikaten, wie mit einem Fingernagel gezogenen parallelen Querlinien an der Kehle, eine über der anderen, hervortreten: wiederum ein Anzeichen aller Arten von Wundern, nach Ansicht eines seiner Schulkameraden, eines frühreifen Fachmannes. Der Mann musste, nach dem weichen Kragen und dem Tweedanzug zu schließen, ein Ausländer sein. Hier aber irrte Franz.

«Ich habe Durst», sagte der Mann mit Berliner Akzent. «Schade, dass wir kein Obst haben. Diese Erdbeeren waren wirklich klasse.»

«Da bist du selber schuld», antwortete die Dame mit unzufriedener Stimme und fügte ein wenig später hinzu: «Ich komme da immer noch nicht drüber hinweg – wie kann man bloß etwas so Törichtes tun.»

Dreyer warf einen kurzen Blick himmelwärts, antwortete aber nicht.

«Da bist du selber schuld», wiederholte sie und zupfte mechanisch an ihrem Faltenrock, denn mechanisch hatte sie auch bemerkt, dass der linkische junge Mann mit der Brille, der in der Ecke an der Tür erschienen war, von der schieren Seide ihrer Strümpfe fasziniert zu sein schien.

«Egal», sagte sie, «es lohnt sich nicht, darüber zu reden.»

Dreyer wusste, dass sein Schweigen Martha unsagbar irritierte. Seine Augen funkelten lausbübisch, und die sanften Linien um seine Lippen wellten sich, weil er einen Pfefferminzbonbon im Mund umherrollte. Der Zwischenfall, der seine Frau irritiert hatte, war wirklich reichlich töricht. Sie hatten den August und den halben September in Tirol verbracht und jetzt, auf der Heimreise, aus geschäftlichen Gründen für einige Tage in jenem altmodischen Städtchen haltgemacht, und dort hatte er seine Cousine Lina besucht, mit der er in seiner Jugend vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum Tanzen gegangen war. Seine Frau hatte es kategorisch abgelehnt, ihn zu begleiten. Lina, jetzt ein molliges Geschöpf mit falschen Zähnen, aber genauso schwatzhaft und liebenswürdig wie immer, hatte festgestellt, dass die Jahre zwar ihre Spuren an ihm hinterlassen hätten, dass es aber schlimmer hätte kommen können; sie hatte ihm ausgezeichneten Kaffee serviert, ihm von ihren Kindern erzählt, bedauert, dass sie nicht zuhause waren, sich nach Martha erkundigt (die sie nicht kannte) und nach seinem Geschäft (über das sie gut unterrichtet war); und dann hatte sie nach einer frommen Pause gefragt, ob er ihr wohl einen Rat geben könne …

Es war warm in dem Zimmer, in dem um den alten Kronleuchter mit seinen grauen kleinen Glasbehängen wie schmutzigen Eiszapfen Fliegen Parallelogramme beschrieben und sich immer wieder auf die gleichen Gehänge setzten (was ihn aus irgendeinem Grund erheiterte) und wo die alten Sessel ihre Plüscharme in komischer Herzlichkeit ausstreckten. Ein alter Mops döste auf einem bestickten Kissen. In Beantwortung eines erwartungsvoll fragenden Seufzers seiner Cousine hatte er plötzlich gesagt und war mit einem Lachen lebendig geworden: «Na schön, also sag ihm, dass er mich in Berlin besuchen soll. Ich werde ihm eine Stelle geben.» Und das konnte seine Frau ihm nicht verzeihen. Sie nannte es «das Geschäft mit armen Verwandten überschwemmen»; doch genau betrachtet, wie kann ein einzelner armer Verwandter irgendetwas überschwemmen? Da er wusste, dass Lina seine Frau einladen und dass Martha unter gar keinen Umständen hingehen würde, hatte er gelogen und seiner Cousine erzählt, dass sie noch am gleichen Abend abreisten. Stattdessen hatten Martha und er einen Jahrmarkt besucht und die herrlichen Weingärten eines Geschäftsfreundes. Eine Woche später, als sie sich bereits in ihrem Abteil niedergelassen hatten, hatte er auf dem Bahnsteig vom Fenster aus Lina erblickt. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht irgendwo in der Stadt begegnet waren. Martha wollte unter allen Umständen vermeiden, von ihr gesehen zu werden, und obwohl der Gedanke an den Kauf eines Korbs voll Obst für die Reise ihn sehr verlockte, steckte er doch den Kopf nicht aus dem Fenster, rief er doch nicht mit einem leisen «Psst» den jungen Verkäufer in der weißen Jacke herbei.

Bequem gekleidet, in vollkommener Gesundheit, mit einem farbigen Nebel undeutlicher angenehmer Gedanken im Kopf und einem Pfefferminzbonbon im Munde, saß Dreyer mit übereinandergeschlagenen Armen da, und die sanften Falten des Tuches in der Beuge seines Armes entsprachen den sanften Falten auf seinen Wangen und dem Umriss seines gestutzten Schnurrbarts und den Runzeln, die ihm von den Augen aus schläfenwärts ausfächerten. Mit einem eigenartig milden, erheiterten Schimmer im Blick betrachtete er unter den Brauen hervor die grüne Landschaft, die am Fenster vorüberglitt, Marthas schönes Profil, das vom Sonnenlicht eingerahmt war, und den billigen Koffer des bebrillten jungen Mannes, der in der Ecke an der Tür Zeitung las. Müßig erwog er jenen Reisenden und tastete ihn von allen Seiten ab. Er bemerkte das sogenannte Eidechsenmuster der grün-roten Krawatte des jungen Burschen, die höchstens 95 Pfennig gekostet hatte, den steifen Kragen und auch die Manschetten und die Brust seines Hemdes – eines Hemdes, das übrigens nur als Abstraktum existierte, da, nach einem verräterischen Glänzen zu urteilen, alle seine sichtbaren Teile Stücke gestärkter Armierung von recht geringer Qualität waren, wie ein sparsamer Provinzler sie gleichwohl sehr schätzt, der sie an ein selbstgenähtes unsichtbares Unterhemd aus ungebleichtem Stoff heftet. Was nun den Anzug des jungen Mannes anging, so rief der in Dreyer eine feine Melancholie hervor, weil er nicht zum ersten Mal über das pathetisch kurze Leben jedes neuen Schnitts nachdachte: Diese Art blauer Jacke mit drei Knöpfen, schmalem Revers und Nadelstreifen war schon seit mindestens fünf Jahren aus den meisten Berliner Geschäften verschwunden.

Zwei alarmierte Augen entstanden plötzlich in den Brillengläsern, und Dreyer wandte sich ab. Martha sagte:

«Das ist alles so töricht. Hättest du bloß auf mich gehört.»

Ihr Gatte seufzte und sagte nichts. Sie wollte weitermachen – es gab noch so viele kernige Rügen, die sie erteilen konnte, aber dann fühlte sie, dass der junge Mann zuhörte, stützte statt weiterer Worte ihren Ellbogen jäh auf die Fensterseite des Klapptisches und schob dabei die Haut ihrer Wange mit den Knöcheln hoch. Sie saß so, bis das Flimmern der Bäume im Fenster lästig wurde; streckte langsam ihren reifen Körper, gelangweilt und ermattet, und lehnte sich dann zurück und schloss die Augen. Die Sonne durchdrang ihre Lider mit kräftigem Scharlachrot, durch das leuchtende Streifen einander folgten (das gespenstische Negativ des vorüberziehenden Waldes), eine Nachbildung des fröhlichen Gesichtes ihres Mannes mischte sich, als ob es langsam auf sie zu rotiere, in diese gestreifte Röte, und sie fuhr zusammen und öffnete die Augen. Ihr Mann aber saß ziemlich weit entfernt und las ein Buch mit einem Einband aus violettem Saffianleder. Er las aufmerksam und mit Vergnügen. Nichts existierte außerhalb der sonnenbeschienenen Buchseite. Er blätterte weiter, sah sich um, und die Außenwelt stürzte sich mit einem großem Sprung gierig auf ihn wie ein verspielter Hund, der genau auf diesen Augenblick gewartet hat. Doch Dreyer drängte Tom zärtlich zurück und versenkte sich wieder in seine Lyrikanthologie.

Für Martha war jenes fröhliche Strahlen nur die stickige Luft in einem schaukelnden Eisenbahnwagen. Es wird vorausgesetzt, dass sie in einem Wagen stickig ist: Das ist so üblich und daher gut. Das Leben sollte nach Plan vorgehen, streng und strikt und ohne launische Drehungen und Zuckungen. Ein elegantes Buch auf einem Tisch im Salon, das ist in Ordnung. Im Eisenbahnwagen kann man gegen die Langeweile irgendwelche billigen Illustrierten überfliegen. Aber etwas dermaßen einzusaugen und zu genießen … Gedichte auch noch … in kostbarem Einband … Wer sich selber Geschäftsmann nennt, kann, soll, darf so etwas nicht tun. Aber vielleicht tut er es absichtlich, um mich zu ärgern. Noch so eine angeberische Marotte von ihm. Na schön, mein Freund, gib nur weiter an. Wie schön das wäre, ihm das Buch aus der Hand zu reißen und im Koffer einzuschließen.

In diesem Augenblick schien die Sonne ihr das Gesicht zu entblößen, strömte über ihre sanften Wangen und brachte eine künstliche Wärme in ihre Augen mit den weiten beweglichen Pupillen zwischen der taubengrauen Iris und den anbetungswürdigen dunklen Lidern, die leicht wie Veilchen gekräuselt waren, und den üppigen Wimpern, Augen, die selten blinzelten, als ob sie ständig befürchteten, ein elementares Ziel aus dem Blick zu verlieren. Sie trug fast gar kein Make-up – nur in den winzigen Querfältchen ihrer vollen Lippen schienen Spuren orangeroter Farbe zu trocknen.

Franz, der sich bisher hinter seiner Zeitung in einem Zustand glückseliger Nichtexistenz versteckt und in den zufälligen Bewegungen und zufälligen Worten seiner Mitreisenden außerhalb seiner selbst gelebt hatte, begann nun, sich bemerkbar zu machen, und blickte die Dame offen und fast arrogant an.

Und doch hatten nur einen Augenblick früher seine Gedanken, die ständig zu morbiden Assoziationen neigten, zwei Ereignisse der jüngsten Vergangenheit zu einem jener harmonischen Bildnisse verschmolzen, die im Traum so wichtig sind, aber bedeutungslos, wenn man sich ihrer erinnert. Der Übergang aus dem Dritte-Klasse-Abteil, wo schweigend ein nasenloses Monstrum herrschte, in diesen sonnigen Plüschraum erschien ihm wie der Gang aus einer grässlichen Hölle durch das Fegefeuer der Korridore und klappernden Harmonikas in eine kleine Heimstatt der Glückseligkeit. Der alte Schaffner, der ihm vor kurzem die Fahrkarte gelocht hatte und prompt verschwunden war, war vielleicht so demütig und so allmächtig wie der heilige Petrus gewesen. Fromme Heiligenbilder, die ihn während seiner Kindheit geängstigt hatten, wurden wieder lebendig. Er verwandelte das Klicken des Schaffners in jenes eines Schlüssels, der die Pforten des Paradieses aufschließt. So wandert ein Schauspieler mit grell geschminktem Gesicht in einem Mirakelspiel über eine lange dreigeteilte Bühne aus den Klauen des Teufels in den Schutz der Engel. Und um diese alten zwanghaften Phantasien zu vertreiben, begann Franz eifrig nach menschlichen, alltäglichen Zeichen zu suchen, die den Bann brächen.

Martha half ihm. Während sie seitwärts aus dem Fenster schaute, gähnte sie: Er erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Wölbung ihrer angespannten Zunge im rötlichen Halbschatten ihres Mundes und das Blitzen ihrer Zähne, ehe ihre Hand zum Mund emporschoss, um ihrer Seele das Entweichen zu verwehren; woraufhin sie blinzelte und eine kitzelnde Träne mit dem Schlag ihrer Wimpern zerstreute. Franz gehörte nicht zu jenen, die dem Beispiel eines Gähnens widerstehen können, zumal nicht einem, das irgendwie an die saftig schlüpfrigen Herbsterdbeeren erinnerte, für die seine Vaterstadt berühmt war. In dem Augenblick, da er der Macht, die seinen Gaumen aufzwängen wollte, nicht mehr widerstehen konnte und krampfhaft den Mund aufriss, geschah es, dass Martha ihn ansah, und unter Zähnefletschen und Weinen wurde ihm bewusst, dass Martha bewusst wurde, dass er sie angeschaut hatte. Die morbide Glückseligkeit, die er kurz zuvor empfunden hatte, als er ihr sich auflösendes Gesicht betrachtete, wandelte sich in scharfe Verlegenheit. Unter ihrem strahlenden und gleichgültigen Blick runzelte er die Brauen, und als sie sich abwandte, berechnete er im Geiste, als ob seine Finger sich über die Zahlenrillen eines geheimen Rechenbrettes bewegten, wie viele Tage seines Lebens er dafür gäbe, diese Frau zu besitzen.

Die Tür glitt auf, und ein aufgeregter Kellner, der Herold irgendeines schrecklichen Unglücks, steckte seinen Kopf herein, bellte seine Botschaft heraus und stürzte zum nächsten Abteil, um auch dort seine Neuigkeiten auszurufen.

Im Grund hatte Martha etwas gegen diese betrügerisch frivolen Mahlzeiten, bei denen einem die Eisenbahngesellschaft Wahnsinnspreise für miese Speisen abnimmt, und dieses fast physische Gefühl nutzloser Geldausgabe, das sich mit dem Empfinden mischte, von einem gemütlichen Kraftprotz übers Ohr gehauen werden zu sollen, wurde so stark, dass sie sich ohne ihren Bärenhunger sicherlich nicht auf den langen, schütternden Weg zum Speisewagen gemacht hätte. Undeutlich beneidete sie den bebrillten jungen Mann, der in die Tasche seines neben ihm hängenden Regenmantels griff und ein Butterbrot hervorzog. Sie stand auf und nahm ihre Handtasche unter den Arm. Dreyer fand das violette Leseband in seinem Buch, legte es ein, und nachdem er einige Sekunden gewartet hatte, als ob er den Übergang aus der einen Welt in die andere nicht unmittelbar über sich bringe, versetzte er seinen Knien einen leichten Schlag und stand auf. Er füllte sofort das ganze Abteil aus, da er einer jener Männer war, die trotz mittlerer Größe und bescheidener Korpulenz doch den Eindruck außerordentlicher Massigkeit erwecken. Franz zog seine Beine ein. Martha und ihr Gatte schlurften an ihm vorbei und gingen hinaus.

Mit seinem grauen Butterbrot blieb er in dem nun geräumigen Abteil allein. Er mampfte und schaute aus dem Fenster. Ein grüner Abhang erhob sich da diagonal, bis er das ganze Fenster ausfüllte. Dann dröhnte oben eine Brücke vorüber, die einen eisernen Akkord auslöste, und gleich danach verschwand der grüne Abhang, und offenes Land entrollte sich – Felder, Weidenbäume, eine goldene Birke, ein sich schlängelnder Bach, Kohlbeete. Franz beendete sein Butterbrot, ruckelte sich behaglich zurecht und schloss die Augen.

Berlin! Schon in dem Namen der noch unbekannten Hauptstadt, im Gerumpel und Geratter der ersten Silbe und im leichten Klingen der zweiten war etwas, das ihn erregte wie die romantischen Namen guter Weine und schlechter Frauen. Schon schien der Schnellzug die berühmte Prachtstraße entlangzubrausen, die für ihn mit riesigen uralten Linden gesäumt war, unter denen für ihn eine farbenfrohe Menge brodelte. Der Schnellzug brauste an jenen Linden vorüber, die so üppig aus dem widerhallenden Namen der Prachtstraße hochgewachsen waren, und («derlin, derlin» ging die Glocke des Kellners, die verspätete Speisegäste rief) schoss unter einen gewaltigen Bogen, den perlmutterne Plättchen schmückten. Weiter entfernt drehte sich in zauberischem Dunst eine andere Ansichtspostkarte auf ihrem Ständer und zeigte einen durchsichtigen Turm vor schwarzem Hintergrund. Er verschwand, und in einem strahlend erleuchteten Kaufhaus wandelte zwischen vergoldeten Kleiderpuppen, klaren Spiegeln und gläsernen Verkaufstresen Franz in Cut, gestreiften Hosen und weißen Gamaschen und lenkte mit schwungvoller Handbewegung Kunden zu jenen Abteilungen, deren sie bedurften. Es war dies nicht länger ein bewusstes Gedankenspiel und war doch noch nicht Traum; und in dem Augenblick, da Schlaf ihn übermannen wollte, gewann Franz die Kontrolle über sich zurück und lenkte seine Gedanken nach der Maßgabe seiner Wünsche. Noch für diesen Abend versprach er sich selber eine einsame Belohnung. Er entblößte die Schultern der Frau, die eben noch am Fenster gesessen hatte, und veranstaltete einen schnellen Gedankentest (reagierte der blinde Eros? der plumpe Eros tat es und entfaltete sich im Dunkel); dann tauschte er, während er die herrlichen Schultern beibehielt, den Kopf aus und ersetzte ihn durch das Gesicht jenes siebzehnjährigen Dienstmädchens, das, bewaffnet mit einem silbernen Suppenlöffel fast so groß wie sie selbst, verschwunden war, bevor er noch Zeit gehabt hatte, ihr seine Liebe zu erklären; doch auch diesen Kopf löschte er aus und montierte an seine Stelle das Gesicht einer jener kühnäugigen, feuchtlippigen Berliner Schönheiten, denen man vor allem in der Likör- und Zigarettenwerbung begegnet. Da erst belebte sich das Traumbild: Das barbusige Mädchen hob ein Weinglas an ihre Karminlippen und schwang sanft ihr Bein in aprikosenfarbener Seide, während ihr ein rotes Pantöffelchen langsam vom Fuße glitt. Das Pantöffelchen fiel herab, und Franz, der sich nach ihm bückte, versank sanft in dunklen Schlaf. Er schlief mit offenem Munde, sodass sein blasses Gesicht drei Öffnungen vorwies, zwei schimmernde (seine Brillengläser) und eine schwarze (sein Mund). Dreyer bemerkte diese Symmetrie, als er eine Stunde später mit Martha aus dem Speisewagen zurückkam. Schweigend stiegen sie über ein lebloses Bein. Martha legte ihre Handtasche auf das Klapptischchen am Fenster, und sofort wurde der Nickelverschluss der Tasche mit seinem Katzenauge lebendig, als darin grünlicher Widerschein zu tanzen begann. Dreyer zog eine Zigarre heraus, zündete sie aber nicht an.

Das Essen, und insbesondere das Wiener Schnitzel, hatte sich als passabel herausgestellt, und Martha bedauerte nicht mehr, dass sie mitgegangen war. Ihre Gesichtsfarbe war wärmer geworden, ihre herrlichen Augen waren feucht, ihre frisch geschminkten Lippen glitzerten. Sie lächelte, wobei sie nur so eben ihre Schneidezähne entblößte, und dieses zufriedene, köstliche Lächeln verweilte für einige Augenblicke auf ihrem Antlitz. Dreyer bewunderte sie faul mit leicht zusammengekniffenen Augen und genoss ihr Lächeln, wie man ein unerwartetes Geschenk genießt, doch nichts auf Erden hätte ihn bewogen, diese Freude zu zeigen. Als das Lächeln verschwand, wandte er sich ab, wie der befriedigte Gaffer sich forttrollt, wenn der Fahrradfahrer sich wieder aufgerafft und der Straßenverkäufer die verstreuten Früchte wieder auf seinen Karren gelegt hat.

Franz kreuzte seine Beine wie einer, der sehr lahm und langsam ist, aber wachte nicht auf. Scharf begann der Zug zu bremsen. Eine Ziegelmauer glitt vorüber, ein riesiger Schlot, Güterwagen auf einem Nebengleis. Dann wurde es dunkel im Abteil: Sie waren in eine weite Bahnhofshalle eingefahren.

«Ich gehe raus, meine Liebe», sagte Dreyer, der gerne in frischer Luft rauchte.

Allein gelassen lehnte Martha sich in ihre Ecke zurück, und da sie nichts Besseres zu tun hatte, betrachtete sie die bebrillte Gestalt in der Ecke und erwog gleichgültig, ob dies vielleicht der Zielbahnhof des jungen Mannes sei und er ihn verpasse. Dreyer schlenderte über den Bahnsteig und trommelte mit fünf Fingern an die Fensterscheibe, als er vorüberkam, aber seine Frau lächelte nicht wieder. Mit einem Rauchwölkchen ging er weiter. Er schlenderte mit federndem Schritt müßig umher, die Hände auf dem Rücken verschränkt, die Zigarre vorgestreckt. Es wäre schön, überlegte er, eines Tages auf diese Weise unter den verglasten Gewölben eines fernen Bahnhofs auf dem Weg nach Andalusien, Bagdad oder Nischnij Nowgorod umherzuschlendern. Schließlich konnte man doch jederzeit aufbrechen; die Erde war riesig und rund, und er besaß genügend Bargeld, um sie ein halbes Dutzend Mal vollständig zu umrunden. Martha jedoch würde sich weigern mitzukommen, da sie einen gepflegten Vorortrasen dem üppigsten Dschungel vorzog. Sie würde nur sarkastisch schnaufen, wenn er vorschlüge, sich ein Jahr freizunehmen. «Eigentlich», dachte er, «sollte ich mir eine Zeitung kaufen. Ich nehme an, dass der Aktienmarkt ebenfalls ein interessantes und trickreiches Gebiet ist. Und ich will doch wissen, ob unsere beiden Flieger – oder war das nur eine wundervolle Zeitungsente – es geschafft haben, in entgegengesetzter Richtung die Leistung des jungen Amerikaners von vor vier Monaten zu wiederholen.[1] Amerika, Mexiko, Palm Beach. Willy Wald war da und wollte, dass wir ihn begleiteten. Alsdann, wo ist denn hier der Zeitungsstand? Diese alte Nähmaschine da mit ihrem arthritischen Pedal und eingewickelt in braunes Packpapier ist jetzt so deutlich, und doch werde ich sie in einer oder zwei Stunden für immer vergessen; ich werde vergessen, dass ich sie betrachtet habe; alles werde ich vergessen …» Und genau in diesem Augenblick schrillte eine Pfeife, und der Gepäckwagen setzte sich in Bewegung. Hallo, das ist mein Zug!

Dreyer eilte in schnellem Trab zum Zeitungsstand, suchte in der Handfläche eine Münze aus, griff sich die Zeitung, die er haben wollte, ließ sie fallen, schnappte sie wieder und stürzte zurück. Nicht gerade elegant hüpfte er auf ein vorübergleitendes Trittbrett, konnte aber die Tür nicht sofort öffnen. Kichernd und keuchend durchschritt er einen Wagen, einen anderen, einen dritten. Im vorletzten Gang trat ein großer Kerl in schwarzem Mantel, der ein Fenster zuzog, beiseite, um ihn vorüberzulassen. Im Vorbeigehen sah Dreyer ihn an und erblickte das grinsende Gesicht eines erwachsenen Mannes mit dem Näschen eines Affenbabys. «Merkwürdig», dachte Dreyer, «ich sollte mir so eine Puppe besorgen, um irgendwas Ulkiges auszustellen.» Im nächsten Waggon fand er sein Abteil, stieg über das leblose Bein hinweg, das inzwischen ein vertrautes Stück Inventar war, und setzte sich ruhig nieder. Anscheinend schlief Martha. Er entfaltete seine Zeitung und bemerkte dann, dass ihre Blicke auf ihn gerichtet waren.

«Verrückter Narr», sagte sie ruhig und schloss ihre Augen wieder. Dreyer nickte freundlich und versenkte sich in seine Zeitung.

Das erste Kapitel einer Reise ist immer voller Einzelheiten und langsam. Die mittleren Stunden vergehen schläfrig, die letzten schnell. Franz wachte auf und machte mit den Lippen Kaubewegungen. Seine Reisegefährten schliefen. Die Helligkeit im Fenster hatte abgenommen, aber dafür war der Widerschein von Marthas kleiner heller Schwalbe in ihm aufgetaucht. Franz blickte auf sein Handgelenk, auf das von seinem Metallgeflecht kräftig beschützte Zifferblatt. Doch war eine Menge Zeit aus dieser Gefängniszelle entflohen. In seinem Mund war ein höchst widerwärtiger Geschmack. Er putzte mit einem speziellen Stoffviereck sorgfältig seine Brillengläser und trat dann hinaus in den Gang auf der Suche nach der Toilette. Als er dort stand und sich an einem eisernen Handgriff festhielt, empfand er es als fremdartig und schrecklich, mit einem kalten Loch verbunden zu sein, in dem sein Strahl glitzerte und hüpfte, und die dunkle dahinschießende nackte Erde so nahe, so schicksalhaft.

Eine Stunde später erwachten auch die Dreyers. Ein Kellner brachte ihnen in bauchigen Tassen Milchkaffee, und Martha kritisierte jeden Schluck, den sie nahm. Dämmerung dunkelte in den verblassenden Feldern, die schneller und schneller zu fliehen schienen. Der Regen begann sanft gegen das Fenster zu prasseln: Ein Rinnsal schlängelte sich am Glas hinab, hielt zögernd inne und nahm dann seinen raschen Zickzackkurs abwärts wieder auf. Vor den Fenstern des Korridors glomm ein schmaler orangefarbener Sonnenuntergang unter einer schwarzen Gewitterwolke. Die Lampen im Abteil gingen an. Martha sah lange in einen kleinen Spiegel, entblößte dabei ihre Zähne und zog die Oberlippe hoch.

Noch erfüllt von der angenehmen Wärme des Schlummers, blickte Dreyer auf das dunkelblaue Fenster, auf die Regentropfen, und dachte daran, dass morgen Sonntag sei und dass er am Morgen Tennis spielen gehen werde (was er kürzlich mit dem verzweifelten Eifer mittleren Alters angefangen hatte), und dass es eine Schande wäre, wenn das Wetter seine Pläne durchkreuzte. Er fragte sich, ob er Fortschritte gemacht habe, spannte dabei unwillkürlich seine rechte Schulter und erinnerte sich an den wunderbar gepflegten, sonnenüberfluteten Platz in seinem Tiroler Lieblingsferienort und an den fabulösen Spieler, der zu einem Lokalturnier in weißem Flanellmantel mit einem dicken englischen Clubschal um den Hals und drei Schlägern unterm Arm erschienen war, der mit professionellen Bewegungen ohne Eile erst jenen Mantel abgelegt hatte und dann den langen gestreiften Schal und den weißen Sweater unterm Mantel, und der darauf mit einem Blitz seines bis zum Ellenbogen entblößten Armes dem armen Paul von Lepel widerhallend das gefühllose und schreckliche Geschenk des ersten Übungsballes dargeboten hatte.

«Herbst, Regen», sagte Martha und knallte ihre Handtasche zu.

«Ach, es nieselt nur», korrigierte Dreyer sie sanft.

Der Zug schoss nun, als befinde er sich bereits im Magnetfeld der Hauptstadt, mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin. Die Fensterscheiben waren vollständig dunkel geworden – man konnte nicht einmal mehr den Himmel ausmachen. Der feurige Streifen eines Schnellzuges blitzte in die entgegengesetzte Richtung vorüber und wurde mit einem Knall für immer abgeschnitten. Es war also doch nur eine Zeitungsente gewesen – dieser Flug nach Amerika. Franz, der ins Abteil zurückgekommen war, griff sich plötzlich krampfhaft an die Seite. Eine weitere Stunde verging, und in der trüben Düsternis tauchten ferne Haufen heller, diamantener Feuersbrünste auf.

Dann erhob Dreyer sich. Auch Franz, mit der Kälte der Erregung in all seinen Knochen, erhob sich. Das Ritual der Ankunft hatte begonnen. Dreyer zerrte sein Gepäck herab (es machte ihm Spaß, es den Trägern durchs Fenster zu reichen). Franz stand auf seinen Zehen und zerrte ebenfalls an seinem Koffer. Ihre Rücken stießen federnd zusammen, und Dreyer lachte. Franz begann, sich seinen Regenmantel anzuziehen, konnte das Armloch auf Anhieb nicht finden, setzte sich seinen flaschengrünen Hut auf und trat mit seinem widerstrebenden Koffer hinaus in den Gang. Mehr Lichter fleckten jetzt die Dunkelheit, und plötzlich wurde eine Straße mit einer beleuchteten Straßenbahn scheinbar direkt unter seinen Füßen enthüllt; sie verschwand wieder hinter Häusermauern, die rasch gemischt und neu ausgeteilt wurden.

«Los doch, Beeilung!», flehte Franz.

Ein kleiner Bahnhof flog vorbei, nur ein Bahnsteig, eine halb geöffnete Schmuckschatulle, und wieder wurde alles dunkel, als ob es weit und breit kein Berlin gäbe. Endlich breitete topasfarbenes Licht sich über tausend Gleise und Reihen nasser Eisenbahnwagen aus. Langsam, sicher, sanft sog die riesige eiserne Höhlung des Bahnhofs den Zug ein, der zugleich träge wurde und dann mit einem Ruck überflüssig.

Franz stieg hinab in den rauchigen Dunst. Als er an dem Waggon vorüberkam, worin er gelebt hatte, sah er, wie sein Reisegefährte mit dem lohfarbenen Schnurrbart das Fenster herunterließ und einen Träger rief. Einen Augenblick lang bedauerte er, dass er von jener anbetungswürdigen, kapriziösen, schlehenäugigen Dame nun für immer Abschied genommen hatte. Zusammen mit der eiligen Menge ging er den endlos langen Bahnsteig hinunter, händigte mit ungeduldiger Hand seine Fahrkarte dem Mann an der Sperre aus und setzte seinen Weg fort, vorbei an ungezählten Plakaten, Schaltern, Blumenläden, mit überflüssigem Gepäck beladenen Menschen zu einem Torbogen hin und in die Freiheit.

Kapitel 2

Goldener Dunst, bauschige Steppdecke. Ein anderes Aufwachen, aber vielleicht noch nicht das endgültige. Das passiert nicht selten: Du kommst zu dir und siehst dich, sagen wir mal, in einem eleganten Zweiter-Klasse-Abteil sitzen, zusammen mit einem Paar eleganter Unbekannter; tatsächlich ist das aber ein falsches Erwachen, lediglich die nächste Traumschicht, so als ob du von Schicht zu Schicht aufstiegest, aber niemals die Oberfläche erreichtest, niemals in die Wirklichkeit auftauchtest. Aber dein gebanntes Denken hält jede neue Traumschicht für das Tor zur Wirklichkeit. Du glaubst daran und verlässt mit angehaltenem Atem den Bahnhof, zu dem dich unvordenkliche Phantasien gebracht haben, und überquerst den Bahnhofsplatz. Du kannst fast nichts erkennen, denn die Nacht verschwimmt im Regen, deine Brillengläser sind beschlagen, und du möchtest so schnell wie möglich ein geisterhaftes Hotel auf der anderen Seite des Platzes erreichen, um dir das Gesicht zu waschen, die Manschetten zu wechseln und dann durch strahlende Straßen zu bummeln. Doch dann geschieht etwas – ein absurder Unfall –, und was Wirklichkeit schien, verliert jäh Kling und Klang der Wirklichkeit. Dein Bewusstsein wurde getäuscht: Du schläfst noch tief. Zusammenhangloser Schlummer betäubt deinen Geist. Dann kommt ein neuer Augenblick scheinbaren Bewusstseins: dieser goldene Dunst und dein Zimmer in dem Hotel, dessen Name Montevideo ist. Ein Ladenbesitzer zu Hause, ein heimwehkranker Berliner, hat ihn dir auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Doch wer weiß? Ist dies die Wirklichkeit, die endgültige Wirklichkeit, oder nur ein neuer trügerischer Traum?

Franz, der auf dem Rücken lag, starrte mit kurzsichtigen, schmerzhaft zusammengekniffenen Augen in den bläulichen Nebel einer Zimmerdecke und dann seitwärts in einen strahlenden Schleier, der zweifellos ein Fenster war. Und um sich aus dieser goldfarbenen Undeutlichkeit zu befreien, die so stark an einen Traum erinnerte, griff er zum Nachttisch hinüber und tastete nach seiner Brille.

Aber erst als er sie berührt hatte, oder genauer das Taschentuch, in das sie wie in ein Leichentuch eingewickelt war, erst da erinnerte Franz sich jenes absurden Unfalls in einer tieferen Traumschicht. Als er dieses Zimmer betreten, sich umgesehen und das Fenster geöffnet hatte (nur um einen dunklen Hinterhof und einen dunklen lärmigen Baum zu enthüllen), hatte er sich zuallererst seinen verschmutzten Kragen abgerissen, der ihm den Hals abschnürte, und eilig begonnen, sich das Gesicht zu waschen. Wie ein Trottel hatte er die Brille auf den Rand des Waschtischs neben die Schüssel gelegt. Als er das schwere Ding hochhob, um es in den Eimer auszuleeren, hatte er nicht nur die Brille vom Rand des Waschtischs herabgestoßen, sondern auch, während er in unbeholfenem Rhythmus mit der überschwappenden Schüssel in den Händen zur Seite tänzelte, ein unheilvolles Krachen unter seiner Ferse gehört.

Während er diesen Vorfall im Geiste rekonstruierte, zog Franz Grimassen und stöhnte. All die festlichen Lichter der Friedrichstraße hatte sein Stiefel ausgetreten. Er würde seine Brille zur Reparatur bringen müssen: Nur ein Glas war noch an seinem Platz, und das war gesprungen. Er tastete den Krüppel mehr ab, als dass er ihn untersuchte. Im Geiste hatte er das Haus bereits auf der Suche nach dem richtigen Laden verlassen. Zunächst das, und dann der wichtige, der fast unheimliche Besuch. Und als er sich erinnerte, wie seine Mutter darauf bestanden hatte, dass er diesen Besuch am ersten Morgen nach seiner Ankunft abstatte («genau an diesem Tag kann man einen Kaufmann zu Hause antreffen»), erinnerte Franz sich auch daran, dass Sonntag war.

Er schnalzte mit der Zunge und lag still.

Komplizierte, aber vertraute Armut (die sich eine Zusatzausstattung von kostspieligen Gegenständen nicht leisten kann) ergab jetzt primitive Panik. Ohne seine Brille war er so gut wie blind, und doch musste er sich auf eine gefährliche Reise durch eine fremde Stadt begeben. Er stellte sich die raubgierigen Gespenster vor, die sich gestern Abend nahe dem Bahnhof gedrängt hatten, mit laufenden Motoren und zuschlagenden Türen, als er, zwar noch sicher bebrillt, aber die Sicht von der regnerischen Nacht getrübt, den dunklen Platz überquert hatte. Dann war er nach dem Unfall zu Bett gegangen, ohne den Bummel zu unternehmen, auf den er sich so gefreut hatte, ohne just zur Stunde seines wollüstigen Glitzerns und Schwärmens einen ersten Geschmack von Berlin zu gewinnen. Stattdessen hatte er in dieser ersten Nacht ein elendes Kompensationsgeschäft gemacht und war wieder jener einsamen Praxis erlegen, die aufzugeben er sich vor der Abreise geschworen hatte.

Aber den ganzen Tag in diesem feindseligen Hotelzimmer zwischen verschwommen feindseligen Gegenständen zu verbringen und ohne Beschäftigung zu warten, bis am Montag ein Geschäft mit einem Zeichen (für die Sehenden!) in der Form eines riesigen blauen Kneifers öffnen würde – diese Aussicht war undenkbar. Franz warf die Steppdecke beiseite und tappte barfuß vorsichtig zum Fenster.

Ein hellblauer, köstlicher, wunderbar sonniger Morgen empfing ihn. Den größten Teil des Hofes erfüllte der sandige Samt von etwas, das wie der Schatten eines ausladenden Baumes wirkte, über dem er gerade noch die verwischte orangerote Schattierung ausmachen konnte, die aussah wie reiches Laubwerk. Eine boomende Stadt, also wirklich! Draußen war alles so ruhig wie in der fernen Heiterkeit eines leuchtenden ländlichen Herbstes.

Ah ja, es war das Zimmer, das Lärm machte! Sein Tumult umfasste das hohle Brummen verdrießlicher menschlicher Gedanken, das Klappern eines bewegten Stuhles, unter dem sich eine dringend benötigte Socke lange vor dem Kurzsichtigen verborgen hatte, das Platschen von Wasser, das Klingeln von Kleingeld, das töricht aus einer unzuverlässigen Weste gefallen war, das Scharren eines Koffers, als er in eine ferne Ecke gezerrt wurde, wo keine Gefahr mehr bestand, dass man noch einmal über ihn stolperte; und dann war da ein zusätzliches Hintergrundgeräusch – das eigene Stöhnen und Dröhnen des Zimmers wie die Stimme einer vergrößerten Meermuschel, im Gegensatz zu jener durchsonnten erschreckenden wundersamen Stille, erhalten wie ein kostspieliger Wein in den kühlen Tiefen des Hofes.

Schließlich überwand Franz alle Nebelkleckse und Nebelbänke, ortete seinen Hut, schreckte vor der Umarmung des possenreißenden Spiegels zurück und strebte der Tür zu. Nur sein Gesicht blieb nackt. Nachdem er die Treppen bewältigt hatte, wo ein Engel sang, der das Geländer putzte, wies er dem Portier die Adresse auf der unbezahlbaren Karte vor und erfuhr, welchen Bus er zu nehmen und wo er auf ihn zu warten habe. Er zögerte einen Augenblick, in Versuchung geführt durch die zauberische und majestätische Möglichkeit eines Taxis. Er wies sie nicht nur wegen der Kosten zurück, sondern auch weil sein potenzieller Arbeitgeber ihn für einen Verschwender halten könnte, wenn er so herrschaftlich einträfe.

Als er die Straße betrat, wurde er von strömendem Strahlen verschlungen. Umrisse existierten nicht, Farben hatten keine Substanz. Wie das durchscheinende Kleid einer Frau, das von seinem Bügel gerutscht ist, schimmerte die Stadt und fiel in phantastische Falten, von nichts aufrecht gehalten, ein körperloses Schillern, das schlaff in der himmelblauen Herbstluft schwebte. Jenseits der perlmutternen Verlassenheit des Platzes, über den ab und zu mit neuem hauptstädtischem Hupen ein Auto brauste, ragten schemenhaft große rosafarbene Gebäude empor, und dann stach ihm plötzlich ein Sonnenstrahl, ein Schimmer von Glas, schmerzhaft in die Pupille.

Franz erreichte eine glaubhafte Straßenecke. Nach vielem Gehampel und Geschiele entdeckte er den roten Wischfleck der Bushaltestelle, die sich kräuselte und waberte wie die Pfosten eines Badehauses, wenn man unter ihm durchtaucht. Fast sofort entstand das gelbe Trugbild eines Busses. Er trat auf jemandes Fuß, der sich unmittelbar unter ihm auflöste, wie sich alles andere auflöste, ergriff den Handlauf, und eine Stimme – offenbar die des Schaffners – bellte ihm ins Ohr: «Rauf!» Zum ersten Mal hatte er diese Art von Wendeltreppe erstiegen (in seiner Heimatstadt fuhren nur einige alte Straßenbahnen), und als der Bus anruckte, erhaschte er einen furchterregenden Blick auf den Asphalt, der sich wie eine silbrige Wand erhob, ergriff jemandes Schulter und schoss, von der Kraft einer unerbittlichen Kurve vorangetragen, durch die der ganze Bus sich auf die Seite zu legen schien, die letzten Stufen empor und fand sich auf dem Oberdeck. Er setzte sich hin und blickte mit hilfloser Empörung umher. Er schwamm hoch über der Stadt dahin. Auf der Straße unten glitten Leute wie Quallen dahin, wann immer der Verkehr einfror. Dann fuhr der Bus wieder an, und die Häuser, schattenblau auf der einen Straßenseite, sonnenflirrend auf der anderen, zogen vorüber wie Wolken, die unmerklich mit dem zärtlichen Himmel verschmolzen. So sah Franz zum ersten Mal die Stadt – in unwirklichen Schattierungen, ätherisch, durchtränkt von verschwimmenden Farben, seinem groben Provinztraum in keiner Weise ähnlich.

War er im richtigen Bus? Ja, sagte der Schaffner.

Die saubere Luft pfiff ihm in die Ohren, und die Hupen riefen einander mit himmlischen Stimmen. Er fing einen Geruch von trockenen Blättern ein, und fast streifte ihn ein Ast. Er fragte einen Nachbarn, wo er aussteigen müsse. Es stellte sich heraus, dass es noch ein weiter Weg war. Er begann die Haltestellen zu zählen, um nicht noch einmal fragen zu müssen, und versuchte vergeblich, Seitenstraßen auszumachen. Die Geschwindigkeit, die Luftigkeit, der Duft des Herbstes, die schwindelerregende spiegelhafte Qualität der Welt, alles verschmolz in eine so außerordentliche Empfindung der Körperlosigkeit, dass Franz absichtlich seinen Hals bewegte, um den harten Kopf seines Kragenknopfes zu spüren, der ihm der einzige Beweis seiner Existenz zu sein schien.

Schließlich kam seine Haltestelle. Er kletterte die steilen Stufen hinab und trat vorsichtig auf den Bürgersteig. Aus zurückweichenden Höhen schrie ihm ein gesichtsloser Reisender zu: «Nach rechts! Erste Straße auf Ihrer …» Franz vibrierte empfänglich, erreichte die Ecke und wandte sich nach rechts. Stille, Einsamkeit, ein sonniger Dunst. Er fühlte, dass er sich verlief, dass sein Weg in diesen Dunst verschmolz, und wichtiger noch: Er konnte die Hausnummern nicht erkennen. Er fühlte sich schwach und schweißig. Endlich erspähte er einen nebelhaften Passanten, sprach ihn an und fragte, wo sich Nummer fünf befinde. Der Fußgänger stand sehr nahe bei ihm, und der Schatten des Laubwerkes spielte so sonderbar über sein Gesicht, dass Franz für einen Augenblick in ihm den Mann zu erkennen glaubte, vor dem er gestern geflohen war. Man kann mit nahezu vollständiger Sicherheit annehmen, dass es eine sprenklige Laune von Licht und Schatten war; und doch versetzte es Franz einen solchen Schock, dass er den Blick abwandte. «Gerade gegenüber, wo Sie den weißen Zaun sehen», sagte der Mann unbekümmert und schritt seines Weges.

Franz sah keinen Zaun, fand aber ein Pförtchen, tastete nach dem Klingelknopf und drückte ihn. Die Pforte gab ein eigentümlich surrendes Geräusch von sich. Er wartete ein wenig und drückte erneut. Erneut surrte das Pförtchen. Niemand kam, es zu öffnen. Jenseits lag der grünliche Dunst eines Gartens, in dem ein Haus wie ein undeutlicher Widerschein schwamm. Er versuchte, das Tor selber zu öffnen, fand es aber unnachgiebig. Er biss sich auf die Lippen, klingelte noch einmal und hielt den Finger lange Zeit auf den Knopf. Das gleiche monotone Surren. Plötzlich begriff er den Trick: lehnte sich gegen die Pforte, während er klingelte, und sie öffnete sich so ärgerlich, dass er beinahe hinfiel. Jemand rief ihm zu: «Zu wem wollen Sie?» Er wandte sich der Stimme zu und erkannte eine Frau in hellfarbener Kleidung, die auf dem Kiesweg stand, der zum Haus hinführte.

«Mein Mann ist noch nicht zu Hause», sagte die Stimme nach einer kleinen Pause, als Franz geantwortet hatte.

Er kniff die Augen zusammen und machte blitzende Ohrringe und dunkles glattes Haar aus. Sie war weder eine ängstliche noch eine phantasiereiche Frau, aber in seiner unbeholfenen Bemühung, besser zu sehen, war er so nahe gekommen, dass sie einen lächerlichen Augenblick lang glaubte, dieser unverschämte Eindringling werde gleich ihren Kopf zwischen seine Hände nehmen.

«Es ist sehr wichtig», sagte Franz. «Sie müssen wissen, ich bin ein Verwandter von ihm.» Er blieb vor ihr stehen, zog sein Portemonnaie hervor und begann, darin nach der berühmten Karte zu kramen.

Sie fragte sich, wo sie ihn zuvor gesehen hatte. In der Sonne waren seine Ohren von durchscheinendem Rot, und winzige Schweißtropfen perlten an den Wurzeln seines kurzen dunklen Haares auf seiner unschuldigen Stirn. Eine plötzliche Erinnerung setzte wie ein Zauberer dem vorgeneigten Gesicht eine Brille auf und entfernte sie sofort wieder. Martha lächelte. Zur gleichen Zeit fand Franz die Karte und hob den Kopf.

«Hier», sagte er. «Ich sollte herkommen. An einem Sonntag.»

Sie blickte auf die Karte und lächelte wieder.

«Ihr Onkel ist Tennisspielen gegangen. Er wird zum Mittagessen zurück sein. Aber wir haben uns doch schon kennen gelernt.»

«Wie bitte?», sagte Franz und strengte seine Augen an.

Wenn er sich später an diese Begegnung erinnerte, an dieses Trugbild von Garten, an dieses in der Sonne zerschmelzende Gewand, wunderte er sich, wie lange es gedauert hatte, bis er sie erkannte. Auf drei Schritt Entfernung konnte er die Gesichtszüge eines Menschen wenigstens ebenso deutlich erkennen wie ein normales menschliches Auge durch einen Gazeschleier. Reichlich naiv sagte er sich, er habe sie nie zuvor ohne Hut gesehen und nicht erwartet, dass sie ihr Haar mit Mittelscheitel und Nackenknoten trage (das Einzige, worin Martha der Mode nicht folgte); und doch war so einfach nicht zu erklären, wie es geschehen konnte, dass selbst angesichts jener verschwommenen Wahrnehmung der Phantomform nicht erneut und sofort das gleiche Beben, der gleiche Zauber wirkte, die ihn am Tag zuvor bezaubert hatten. Später erschien es ihm, dass er an jenem Morgen in eine vage unwiederholbare Welt eingetaucht war, die nur für einen kurzen Sonntag existierte, eine Welt, in der alles zart und gewichtlos, strahlend und unbeständig war. In diesem Traum konnte alles geschehen: So stellte sich dann schließlich heraus, dass Franz an jenem Morgen in seinem Hotelbett doch nicht aufgewacht, sondern lediglich in die nächste Schlafschicht übergewechselt war. Im wesenlosen Strahlen seiner Kurzsichtigkeit hatte Martha überhaupt keine Ähnlichkeit mit jener Dame im Zug, die wie ein Bildnis geglüht und wie eine Tigerin gegähnt hatte. Ihre madonnenhafte Schönheit, auf die er einen Blick erhascht hatte, den er dann verlor, erschien nun ganz, als ob dies ihr wahres Wesen sei, das jetzt vor ihm ohne jede Beimischung, ohne Fehl und Rahmen erblühte. Er hätte nicht mit Gewissheit sagen können, ob er diese verschwommene Dame anziehend fand. Kurzsichtigkeit ist keusch. Und außerdem war sie die Frau des Mannes, von dem seine ganze Zukunft abhing, aus dem er herauspressen sollte, was er nur konnte, und diese Tatsache ließ sie ausgerechnet im Augenblick des Bekanntwerdens entfernter und unerreichbarer erscheinen als jene bezaubernde Fremde des Vortages. Als er Martha auf dem Weg zum Haus hin folgte, gestikulierte er, wiederholte immer wieder Entschuldigungen wegen seines Gebrechens, der zerbrochenen Brille, der geschlossenen Läden, und Lobpreisungen der Wunder des Zufalls, so berauschend war sein Begehren, sie sich so schnell wie möglich gewogen zu machen.

Auf dem Rasen nahe der Tür standen ein sehr großer Sonnenschirm und darunter ein kleiner Tisch und einige Korbsessel. Martha setzte sich, und Franz setzte sich grinsend und blinzelnd neben sie. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihn durch den Anblick ihres kleinen, aber kostspieligen Gartens vollständig überwältigt hatte, der unter anderem fünf Beete mit Dahlien, drei Lärchen, zwei Trauerweiden und eine Magnolie enthielt, und machte sich nicht die Mühe festzustellen, ob diese armen wilden Augen auch nur einen Strandsonnenschirm von einem Zierbaum unterscheiden konnten. Sie genoss es, ihn so elegant auf englische Weise zu empfangen, ihn mit unerhörtem Reichtum zu blenden, und freute sich darauf, ihm die Villa zu zeigen, die Miniaturen im Salon und das Satinholz im Schlafzimmer, und diesen ziemlich hübschen Jungen vor respektvoller Bewunderung stöhnen zu hören. Und da ihre Besucher im allgemeinen Menschen aus ihren eigenen Kreisen waren, die zu blenden sie längst müde geworden war, fühlte sie diesem Provinzler mit seinem gestärkten Kragen und den engen Hosen gegenüber eine zärtliche Dankbarkeit dafür, dass er ihr Gelegenheit gab, jenen Stolz zu erneuern, den sie während der ersten Monate ihrer Ehe empfunden hatte.

«Es ist so still hier», sagte Franz. «Ich hatte gedacht, Berlin würde so laut sein.»

«Aber wir leben doch fast auf dem Land», antwortete sie, und da sie sich selbst sieben Jahre jünger fühlte, fügte sie hinzu: «Die nächste Villa da drüben gehört einem Grafen. Ein reizender alter Mann, wir sehen uns oft.»

«Sehr angenehm – diese ruhige einfache Atmosphäre», sagte Franz, der das Thema stetig weiterentwickelte und bereits eine Sackgasse voraussah.

Sie blickte auf seine blasse, rosaknöchlige Hand mit dem hübschen langen Zeigefinger, die flach auf dem Tisch lag. Die dünnen Finger bebten leicht.

«Ich habe oft versucht zu entscheiden», sagte sie, «wen man besser kennt – jemanden, mit dem man während fünf Stunden in einem Raum war, oder jemanden, den man während eines ganzen Monats jeden Tag für zehn Minuten gesehen hat.»

«Bitte?», sagte Franz.

«Ich nehme an», fuhr sie fort, «dass die entscheidende Tatsache nicht die Menge an Zeit, sondern die an Kommunikation ist – der Austausch von Gedanken über das Land und die Lebensbedingungen. Erzählen Sie mir, wie Sie genau mit meinem Mann verwandt sind. Ein Vetter zweiten Grades, oder? Sie werden hier arbeiten, das ist schön, junge Männer wie Sie sollten viel arbeiten müssen. Sein Geschäft ist riesig – ich meine die Firma meines Mannes. Aber ich bin sicher, dass Sie schon von seinem berühmten Kaufhaus gehört haben. Vielleicht ist Kaufhaus ein zu starkes Wort, es führt nur Herrenartikel, davon aber alles, alles – Schlipse, Hüte, Sportgerät. Außerdem hat er noch ein Büro in einem anderen Teil der Stadt und macht vielerlei Finanzgeschäfte.»

«Der Anfang wird schwer sein», sagte Franz und trommelte mit den Fingern. «Ich habe ein bisschen Angst. Aber ich weiß, dass Ihr Mann ein wunderbarer Mann ist, ein sehr gütiger Mann. Meine Mutter verehrt ihn.»

In diesem Augenblick erschien von irgendwoher wie ein Zeichen der Sympathie das Phantom eines Hundes, der sich bei näherer Betrachtung als ein Schäferhund herausstellte. Der Hund senkte den Kopf und legte Franz etwas vor die Füße. Dann zog er sich ein wenig zurück, löste sich vorübergehend auf und wartete.

«Das ist Tom», sagte Martha. «Tom hat bei der Ausstellung einen Preis gewonnen. Nicht wahr, Tom?» (Sie sprach mit Tom nur in Gegenwart von Gästen.)

Franz hob aus Hochachtung vor seiner Gastgeberin den Gegenstand auf, den der Hund ihm anbot. Er stellte sich als ein nasser Holzball heraus, den fühlbare Zahnspuren bedeckten. Sobald er den Ball aufgehoben hatte und an sein Gesicht führte, erschien das Phantom des Hundes mit einem Sprung aus dem sonnigen Dunst, wurde lebendig, warm, aktiv und stieß ihn fast aus seinem Sessel. Er befreite sich schnell von dem Ball. Tom verschwand.

Der Ball fiel genau zwischen die Dahlien, aber das sah Franz natürlich nicht.

«Ein schönes Tier», bemerkte er voller Abscheu, als er seine nasse Hand an der chintzbezogenen Sessellehne abwischte. Martha blickte fort und war ob des Sturmes im Blumenbeet bekümmert, das Tom in hektischer Suche nach seinem Spielzeug zertrampelte. Sie klatschte in die Hände. Franz klatschte höflich mit, da er irrtümlich die Ermahnung für Applaus hielt. Glücklicherweise kam in diesem Augenblick ein Junge auf einem Fahrrad vorbei, und Tom vergaß den Ball auf der Stelle, stürmte geradewegs zum Gartenzaun und schoss wild bellend seine ganze Länge entlang. Dann beruhigte er sich jäh, trottete zurück und legte sich nahe den Türstufen unter Marthas kalten Blicken nieder, ließ die Zunge schlaff heraushängen und bog eine Vorderpfote nach Löwenart ab.

Während Franz lauschte, was ihm Martha in jenem vibrierend schmollenden Ton, an den er sich gewöhnte, über Tirol erzählte, hatte er das Gefühl, dass der Hund nicht allzu weit sei und jeden Augenblick jenen glitschigen Gegenstand wieder anschleppen könne. Wehmütig erinnerte er sich an den bösartigen alten Mops einer bösartigen alten Dame (einen Verwandten und geschworenen Feind des Schoßhundes seiner Mutter), den schmerzhaft zu treten ihm bei verschiedenen Gelegenheiten gelungen war.

«Aber irgendwie, wissen Sie», sagte Martha, «fühlte ich mich eingeschlossen. Ich stellte mir vor, dass diese Berge mitten in der Nacht auf das Hotel niederbrächen, genau auf unser Bett, mich und meinen Mann unter sich begrüben und jeden töteten. Wir dachten daran, nach Italien weiterzufahren, aber irgendwie habe ich die Lust verloren. Er ist ziemlich dumm, unser Tom. Hunde, die mit Bällen spielen, sind immer dumm. Ein fremder Herr erscheint, aber für ihn ist es ein nagelneues Mitglied der Familie. Sie sind doch zum ersten Mal in unserer großen Stadt, oder? Wie gefällt es Ihnen hier?»

Franz wies mit höflichem kleinem Finger auf seine Augen.

«Ich bin fast blind», sagte er. «Bevor ich eine neue Brille habe, kann ich überhaupt nichts würdigen. Ich sehe nur Farben, und das ist schließlich nicht sehr interessant. Aber im allgemeinen gefällt es mir. Und hier ist es so ruhig, unter diesem gelben Baum.»

Aus irgendeinem Grunde kam ihm der Gedanke – ein Anflug flüchtiger Phantasie –, dass in ebendiesem Augenblick seine Mutter mit Frau Kamelspinner, der Frau des Tierausstopfers, aus der Kirche zurückkehrte. Und währenddessen führte er – Wunder über Wunder – eine schwierige, aber köstliche Unterhaltung mit dieser dunstigen Dame in diesem strahlenden Dunst. Es war das alles sehr gefährlich; jedes Wort, das sie sprach, konnte ihn straucheln lassen.

Martha bemerkte sein leichtes Stammeln und die nervöse Art, in der er ab und zu schniefte. «Geblendet und verwirrt, und so jung», überlegte sie in einer Mischung aus Verachtung und Zärtlichkeit, «warmes, gesundes junges Wachs, das man nach Herzenslust manipulieren und modellieren kann. Er hätte sich aber vorher rasieren sollen.» Und dann sagte sie versuchsweise und nur, um zu sehen, wie er reagieren würde:

«Wenn Sie in einem eleganten Laden arbeiten wollen, mein lieber Herr, müssen Sie sich eine selbstbewusstere Haltung zulegen und sich von dem schwarzen Flaum auf Ihren männlichen Wangen befreien.»

Wie sie erwartet hatte, verlor Franz, was er noch an Haltung besaß.

«Ich werde eine neue Rille bekommen, ich meine Grille», protestierte er, oder so ähnlich klang sein verwirrtes Gestammel.

Sie ließ seiner Verwirrung freien Lauf, bis sie sich erschöpft hatte, und sagte sich, das tue ihm sehr gut. Franz fühlte sich tatsächlich für einen Augenblick höchst unbehaglich, aber nicht in der Weise, die sie sich vorstellte. Was ihn aus der Fassung brachte, war nicht die Vorhaltung, sondern die plötzliche Grobheit ihres Tones, eine Art kehliges «Hopp!», als hätte sie, um ein Beispiel zu geben, beim Wort «selbstbewusster» die Schultern gereckt. Seinem Nebelbild von ihr entsprach das nicht.

Der störende Zwischenbemerkung verging rasch: Martha schmolz erneut in den bezaubernden Dunst der Welt ein, die ihn umgab, und nahm ihre elegante Unterhaltung wieder auf.

«Der Herbst ist hier kühler als in Ihren heimischen Obstgärten. Ich liebe saftige Früchte, aber ich liebe auch einen krachend kalten Tag. Etwas in der Textur und der Temperatur meiner Haut erglüht einfach als Antwort auf eine Brise oder einen scharfen Frost. Aber ach, ich muss dafür bezahlen.»

«Bei uns badet man noch», bemerkte Franz. Er machte sich daran, ihr alles über den berühmten, lauteren poetischen Fluss zu erzählen, der seine Heimatstadt unter Bogenbrücken durchfloss und dann weiter zwischen Getreidefeldern und Weinbergen; und wie schön es war, dort splitternackt zu schwimmen und vom kleinen «Groschenfloß» aus hineinzutauchen, das man für wenige Pfennige mieten konnte; aber in diesem Augenblick hupte ein Auto und hielt an der Pforte, und Martha sagte: «Da kommt mein Mann.»

Sie richtete ihre Blicke auf Dreyer, fragte sich, ob sein Anblick den jungen Vetter beeindrucken würde, und vergaß, dass Franz ihn schon vorher gesehen hatte und jetzt kaum erkennen konnte. Dreyer kam in seinem schnellen federnden Gang heran. Er trug einen weiten weißen Übermantel mit einem weißen Schal. Drei Schläger, jeder in einem andersfarbigen Futteral – kastanienbraun, blau und maulbeerfarben –, ragten unter seinem Arm hervor; sein Gesicht mit dem lohfarbenen Schnurrbart glomm wie ein Herbstblatt. Sie war