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Benjamin Blizz

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Beschreibung

Über unseren Köpfen zieht eine tödliche Gefahr herauf
Ein spannender Thriller für Fans von Frank Schätzing und Dan Brown

Immer mehr Menschen leiden plötzlich unter schwerwiegenden neurologischen Symptomen, doch die Gesundheitsbehörden tappen bezüglich der Ursachen im Dunkeln. Zu den Betroffenen gehört auch die neunjährige Tochter des Biochemikers Dr. Adrian Neumann, die nach einem Krampfanfall in Lebensgefahr schwebt. Die Ärzte sind ratlos – alle konventionellen Untersuchungsmethoden versagen. Bis eine Alternativmedizinerin eine beunruhigende Theorie aufstellt, was dafür verantwortlich sein könnte.
Durch Nachforschungen bringt Neumann etwas ans Licht, das seine schlimmsten Befürchtungen übersteigt. Alles, woran er bisher geglaubt hat, entpuppt sich als Illusion und schnell stellt sich die Frage: Wem kann er jetzt noch vertrauen?

Erste Leserstimmen
„spannend, mitreißend und alles in Frage stellend“
Kontrolle ist ein Thriller, der mich nicht mehr losgelassen hat. Selbst jetzt denke ich noch oft daran ...“
„flüssiger und fesselnder Schreibstil, packende Charaktere und eine Geschichte, die vor Spannung strotzt“
„der Roman hat mich von der ersten Sekunde an gefesselt, ich konnte kaum aufhören zu lesen“
„unerwartet spannend und fesselnd“

Über den Autor/die Autorin

Benjamin Blizz ist das Pseudonym eines deutschen Schriftstellers. Neben seinem Studium der Volkswirtschaftslehre, Geschichte und Kunstgeschichte in Osnabrück machte er sich als wissenschaftlicher Lektor selbstständig, nachdem er bereits für diverse Verlage gearbeitet hatte. 2013 wurde sein Debütroman Blutfrieden veröffentlicht, auf den 2015 der Wirtschaftsthriller Kalte Zukunft folgte. Neben dem Schreiben wirkt der Autor an historischen wie kunsthistorischen Forschungsprojekten mit, hält Vorträge und liebt es, bei einem guten Buch vor dem Kamin zu entspannen.

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Seitenzahl: 515

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Über dieses E-Book

Weltweit erkranken immer mehr Menschen lebensbedrohlich unter ungewöhnlichen Umständen. Zu den Betroffenen gehört auch die Tochter des Biochemikers Dr. Adrian Neumann. Die Ärzte sind ratlos – alle konventionellen Untersuchungsmethoden versagen und die Zeit rennt. Bis eine Alternativmedizinerin eine beunruhigende Theorie aufstellt … Für Neumann steht fest: Irgendjemand führt diese Krankheitsfälle gezielt herbei. Um herauszufinden, woran seine Tochter leidet, stellt er Nachforschungen an und macht schon bald eine schockierende Entdeckung. Alles, woran er bis dahin geglaubt hat, erweist sich als Illusion – selbst das Vertrauen in die eigene Regierung.

Impressum

Erstausgabe April 2019

Copyright © 2022 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-704-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96443-222-3 Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-371-9

Covergestaltung: rauschgold Coverdesign dp DIGITAL PUBLISHERS Lektorat: Daniela Pusch

E-Book-Version 26.10.2022, 14:08:15.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Kontrolle
Benjamin Blizz
ISBN: 978-3-96817-371-9

Über unseren Köpfen zieht eine tödliche Gefahr herauf Ein spannender Thriller für Fans von Frank Schätzing und Dan Brown

Das Hörbuch wird gesprochen von Sebastian Fuchs.
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Prolog

12. November 1994 

80 km nordöstlich von Berlin

Es war eine dunkle, wolkenverhangene Nacht, und das russische Militärflugzeug des Typs Iljuschin IL-76, NATO-Codename Candid, das sich im tiefen Anflug auf einen ehemaligen sowjetischen Luftwaffenstützpunkt befand, war kaum mehr als ein kleiner, verschwommener Fleck am Himmel über den dichten Tannen- und Kiefernwäldern der Uckermark.

»Sinken auf 2.000 Fuß, Rechtskurve auf Steuerkurs 090«, instruierte Oberstleutnant Jegor Sorokin seinen Befehlshaber, den Piloten Major Michail Orlow.

»Verstanden. Sinken auf 2.000 Fuß, Steuerkurs 090.« Orlow nahm die entsprechenden Kurs- und Höhenkorrekturen vor und nutzte den Moment, um einen kurzen Blick aus dem seitlichen Fenster zu werfen. Die dichten Nadelwälder, die sie seit etwa fünfzehn Minuten überflogen, erinnerten ihn an seine Heimat, die Taiga, und an das Haus seiner Eltern, das seit Jahrzehnten den rauen Bedingungen in den borealen Wäldern rund um Novosibirsk trotzte. Er war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen – wer war das nicht in der ehemaligen Sowjetunion –, hatte es aber nie bedauert. Es hatte ihn zu dem gemacht, der er heute war: Ein Major der russischen Luftstreitkräfte – einer der wenigen, der nicht im Zuge der Umgestaltung der Streitkräfte entlassen worden war.

Mütterchen Russland hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert. Seit Gorbatschows Forderung nach Glasnost und Perestroika weitreichende Reformen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach sich gezogen hatte, war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war. Und das war ein Umstand, den Orlow sehr wohl bedauerte. Mit den neuen Zuständen konnte er sich nicht recht anfreunden, und vor allem damit nicht, dass der Kalte Krieg nun zu Ende sein sollte. Was kam als Nächstes? Die Amerikaner als Verbündete? Orlow schüttelte missbilligend den Kopf, während sich ein schiefes Lächeln in seine Züge stahl.

Sorokin musterte seinen Vorgesetzten verstohlen von der Seite. Orlow lächelte sonst nie, doch auch jetzt wirkte der Ausdruck auf seinem Gesicht mehr melancholisch als glücklich. Es war der Ausdruck alter Männer, die vergangener Zeiten gedachten. Nur war Orlow kein alter Mann, nicht einmal vierzig. Aber oft waren es nicht die Gene, die einen altern ließen, sondern die Dinge, die man erlebt hatte. Etwas, das Jegor Sorokin, wohlbehütet in den Randbezirken von Moskau aufgewachsen und Elite-Absolvent der Allgemeinen Militärakademie, nicht verstanden hätte. Er war gerade erst vierundzwanzig geworden und hatte eine steile Kariere hinter sich. Eine Karriere, die allerdings nicht viel Wert war; ansonsten hätte er sich nie freiwillig für diesen Einsatz gemeldet. Fakt war, dass der Sold der russischen Soldaten, ob beim Heer, der Marine oder Luftwaffe, kaum zum Überleben ausreichte. Viele litten Hunger und verscherbelten nebenbei Militäreigentum, um über die Runden zu kommen. Orlow und Sorokin erledigten andere Dinge, gefährlichere Dinge, von denen die Regierung oft nichts wusste. Aber jeder war sich nun einmal selbst der Nächste.

Sorokin lehnte sich vor, um die Checkliste vor der Landung durchzugehen. Er nickte zufrieden und verstaute das speckige Ringbuch wieder in der Seitentasche. »Landekurssender auf 109,10Mhz.«

»Positiv«, bestätigte Orlow. »Wir befinden uns auf einem guten Gleitpfad. Fahrwerk raus!«

»Fahrwerk ist draußen«, sagte Sorokin und warf einen prüfenden Blick auf den Höhenmesser, als würde er den Anzeigen nicht vertrauen. »Dass die Luftwaffe hier tatsächlich ein Instrumentallandesystem installiert hat …«

»JK-789«, wie der Codename des Stützpunkts lautete, »war früher einer der größten Umschlageplätze in der DDR«, erklärte Orlow. »Ich war schon ein paar Mal hier.«

»Dann sollte die Landung ja kein Problem werden.«

Beide Männer lachten, doch man hörte die Nervosität aus ihren Stimmen heraus. Sie machten sich keine Sorgen um die technischen Aspekte der Landung, dafür waren sie viel zu routiniert, sondern vielmehr um die Fracht, oder, genauer gesagt, wie die Fracht auf die Landung reagieren würde. Schon beim Start hatten sie Blut und Wasser geschwitzt, denn obwohl sie den genauen Inhalt der Frachtcontainer nicht kannten, wussten sie doch, dass er höchst instabil war. Was sie transportierten, erfuhren Orlow und Sorokin nie, sie bekamen nur Anweisungen, wie die Fracht zu sichern war. Aber auf den Containern im Frachtraum klebten gleich mehrere beunruhigende Gefahrstoffkennzeichnungen. Was immer dort mit ihnen flog, sollte besser nicht beschädigt werden.

Orlow drosselte den Schub und fuhr die Landeklappen aus. Die Landescheinwerfer schaltete er erst im letzten Moment ein, damit sie so wenig Aufmerksamkeit wie nötig erregten. Die umliegenden Dörfer waren zwar aus DDR-Zeiten an den ständigen Flugverkehr gewöhnt, doch seit der Wiedervereinigung gab es ein Nachtflugverbot. Orlow hatte deshalb vorgeschlagen, den Flug auf den nächsten Tag zu verschieben, doch seine Auftraggeber waren in diesem Punkt unnachgiebig geblieben, obwohl sie ebenso darauf bestanden hatten, dass der Transport mit der größtmöglichen Diskretion vonstattenging. Die Entlohnung war jedoch äußerst großzügig.

»Fünfzig, vierzig, dreißig, zwanzig, zehn …«, zählte Sorokin die verbleibenden Meter bis zum Bodenkontakt herunter. Zwei Sekunden später setzte die Iljuschin IL-76 sanft auf der Landebahn aus alten Betonplatten auf und wurde schnell langsamer. Orlow atmete erleichtert auf. Sie hatten es geschafft!

Der Tower instruierte sie über Funk, auf Rollbahn 2 zu schwenken und direkt bis zum Hangar vorzufahren, wo die Fracht entladen werden würde. Orlow folgte den Anweisungen und steuerte die Maschine auf die Rollbahn, vorbei an zwei Militärjeeps, neben denen rauchende Soldaten standen, die neugierige Blicke ins Cockpit warfen. Die Kalaschnikows hatten sie geschultert, aber griffbereit. Wahrscheinlich standen sie dort nur, weil es sonst nichts zu tun gab – bis auf wenige verbleibende Wachmannschaften war der Stützpunkt verlassen –, aber es war auch möglich, dass der Kommandant sie zur Sicherheit dort postiert hatte. Orlow und Sorokin waren solche Begrüßungskommandos gewöhnt; wohin sie auch kamen, man begegnete ihnen mit Misstrauen. Die meisten russischen Militärs waren zwar käuflich und sahen, wenn die Summe stimmte, bereitwillig weg, doch dumm waren sie nicht. Beim ersten Anzeichen von Gefahr würde der Kommandant seinen Männern befehlen, das Feuer zu eröffnen, daran bestand für Orlow kein Zweifel. Er versuchte den Gedanken abzuschütteln und brachte das Flugzeug vor den geöffneten Hangar-Toren zum Stehen.

Draußen, in der kalten, windigen Herbstluft warteten mehrere Männer in schwarzen Wollmänteln. Sie rauchten und hatten die Hände tief in die Taschen gesteckt. Es war einer ebenjener November, die so unerbittlich wie ein sibirischer Winter sein konnten, und erst als Orlow die Turbinen herunterfuhr, kamen die Männer langsam näher. Einer von ihnen, ein großer, wettergegerbter, grauhaariger Mittfünfziger, der einen dunkelbraunen Aktenkoffer bei sich trug, trat vor und bedeutete Orlow, die Tür zu öffnen.

Sorokin wollte schon den Hebel betätigen, als ihn Orlow zurückhielt. Irgendetwas an dem Verhalten der Männer kam ihm merkwürdig vor und seine Intuition riet ihm, Vorsicht walten zu lassen.

»Wir müssen sichergehen, dass sie wirklich unsere Kontaktleute sind.«

Sorokin nickte und verschwand wieder im Cockpit, wo er auf einem schmierigen Blatt Papier in großen Druckbuchstaben das Wort »Parole?« notierte und es an die Fensterscheibe hielt. Der Grauhaarige, der Orlow ein wenig an Zar Peter den Großen erinnerte, lächelte. Dann streckte er den freien Arm aus und deutete auf die linke Tragfläche.

»Sie sind es«, sagte Sorokin, öffnete die Tür und ließ die kleine Leiter herunter. Kalte, schneidende Luft wehte herein und ließ Orlow frösteln. Es roch nach Kerosin und feuchter, morastiger Erde. Sie befanden sich mitten in einem tiefen, von Seen und Tümpeln durchzogenen Waldabschnitt. Bevor Orlow das Flugzeug verließ, betätigte er noch den Schalter, der die Luke zum Frachtraum absenkte und schlüpfte in seine Fliegerjacke.

»Major Orlow«, begrüßte ihn der Grauhaarige, ohne dass sein Gesicht eine Gemütsregung verraten hätte. »Sie sind spät dran. Sind Sie unterwegs in Schwierigkeiten geraten?«

Orlow widerstand dem Impuls, auf seine Uhr zu schauen, und fuhr sich stattdessen durch den kurzen, dunkelblonden Bart.

»Nein, alles verlief komplikationslos.« Wenn sie zu spät dran waren, dann höchstens zwei, drei Minuten. Die Anspielung des Mannes entbehrte jeglicher Grundlage, es sei denn, er hegte irgendeinen Groll gegen Orlow, von dem dieser nichts wusste.

»Die Fracht ist unversehrt?«, fragte ein anderer Mann aus der Gruppe, der die Augen nach allen Seiten offenzuhalten schien. Unter dem Stoff seines Mantels zeichneten sich deutlich die Konturen einer Waffe ab – der Größe nach zu urteilen entweder eine Maschinenpistole oder ein großkalibriger Revolver.

»Das müssen Sie beurteilen«, gab Orlow zurück. »Vom Cockpit aus haben wir keinen Zugang zum Frachtraum. Aber wären wir noch am Leben, wenn nicht?«

Der Kommentar entlockte dem Ebenbild Peter des Großen ein kurzes Lachen. »Wahrscheinlich nicht. Dimitri, Pavel, seht nach!« Dann wandte er sich wieder Orlow zu. »Major, kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Oberstleutnant?« Er nickte Sorokin fragend zu. »Wir haben Wodka da; nicht der Beste, aber frisch aus der Heimat.«

»Danke«, sagten Orlow und Sorokin gleichzeitig. Nur raus aus der Kälte.

Während der Fremde sie zu einem kleinen Nebenhaus führte, hinter dessen Fenster schwachgelbes Licht flackerte, ließ Orlow seinen Blick schweifen. Viel hatte sich nicht verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war; nur dass jetzt alles in einem fahlen, unheilvollen Halbdunkeln lag. Der Stützpunkt erstreckte sich über mehrere Quadratkilometer, und zu seinen Hochzeiten waren hier mehr als ein- bis zweitausend Soldaten stationiert gewesen. Jetzt zeugten davon nur noch die leerstehenden Kasernen, Hangars und Aufenthaltsräume. Alles wirkte heruntergekommen und dreckig, wahrscheinlich weil sich niemand mehr die Mühe machte, die Anlage instand zuhalten. Ein Sinnbild des neuen Russlands!

Bevor sie das Wachhäuschen betraten, drehte sich Orlow noch einmal um. Die Männer in den schwarzen Wollmänteln waren gerade dabei, mithilfe einiger Lagerarbeiter in grauen Overalls und einem Schwerlastgabelstapler die Frachtcontainer zu entladen – große, weißgestreifte Ungetüme, auf denen die leuchtenden, gelb-schwarzen Hinweisschilder besonders unheimlich aussahen. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in Orlows Brust breit, und er sah sich hilfesuchend nach Sorokin um. Zum ersten Mal in seiner Karriere als »Transporteur« regten sich Zweifel in ihm, ob er das Richtige getan hatte, und es war auch das erste Mal, dass er sich ernsthaft fragte, was er da transportiert hatte. Denn was immer es auch war, es flößte ihm Angst ein.

Die Männer waren nun von Nebel und den Ausdünstungen der abkühlenden Triebwerke eingehüllt. Niemand sagte ein Wort, nur das leise, hydraulische Summen des Gabelstaplers wehte klagend zu Orlow herüber, der sich nur mühsam von dem Anblick losreißen konnte. Dann wandte er entschieden den Blick ab, zog die Jacke enger und folgte Sorokin in das Wachhäuschen.

Drinnen war es warm und stickig. Ein Radiator gurgelte leise in der Ecke vor sich hin, und neben einem Tisch mit zwei Stühlen gab es noch ein altes Radio und ein paar Kleiderhaken, an denen Ponchos und alte, ausgeblichene Armeejacken hingen.

»Die Getränke und etwas zur Stärkung finden Sie im Nebenraum, meine Herren. Bitte, bedienen Sie sich!«, sagte der Grauhaarige und deutete mit einem freundlichen Nicken auf eine weitere Tür. »Ach, warten Sie. Das hier ist für Ihre gute Arbeit. Sehen Sie es als kleinen Bonus.« Er reichte Sorokin und Orlow jeweils einen Umschlag mit 50000 Rubel, umgerechnet 2.000 DM. »Wir wissen Ihre … Diskretion zu schätzen.«

Sorokin und Orlow nahmen die Umschläge entgegen und quittierten den Empfang mit einem kurzen Nicken. In ihrem Geschäft war es ratsam, sich Überraschungen, so positiv sie auch sein mochten, nicht anmerken zu lassen.

Mit dem Geld in den Händen gingen sie hinüber in den Nebenraum, wo auf der rechten Seite ein kleines Büfett mit belegten Brötchen, heißer Suppe, Tee aus einem Samowar und zwei Flaschen Wodka aufgebaut war. Beide nahmen sich ein Brötchen und einen Becher Tee und machten es sich in den Korbstühlen gemütlich.

»Hast du eine Idee, was ich Mascha zum Geburtstag schenken könnte?«, fragte Sorokin, während er an seinem Tee nippte.

»Bei deinem Gehalt: ein hübsches Kleid aus Sackleinen?«

Sorokin warf ihm einen belustigten Blick zu. »Nein, dieser nette kleine Bonus hier wird mich zum Ehemann des Jahres machen.«

»Du kannst dich wirklich glücklich schätzen, eine Frau wie Mascha zu haben«, meinte Orlow mit einem Anflug von Bedauern. Er selbst hatte nie das Glück gehabt, die Frau fürs Leben zu finden.

»Aber lass sie keinen Verdacht schöpfen. Sie würde es nicht verstehen.«

»Ja, so ein rechtschaffenes, ehrliches Ding, meine Mascha.« Noch während er das sagte, krümmte sich Sorokin zusammen. Krämpfe, von seinem Unterleib ausgehend, wanden sich seinen Brustkorb hinauf, und auch das Atmen fiel ihm plötzlich schwer.

»Ich glaube, … ich brauche frische Luft«, stöhnte er. »Mir ist nich. gut. So schwindelig!« Sein Kopf war hochrot angelaufen und Schweiß rann ihm von der Stirn.

Beunruhigt musterte Orlow seinen Kollegen. »Bleib lieber sitzen, wenn dir schwindelig ist. Ich werde nachsehen, ob wir noch Schmerztabletten dahaben.«

»Nein, ich muss hier raus!«, brüllte Sorokin. Aus seinen Augen und Ohren lief nun Blut, und er stürzte mit letzter Kraft zur Tür, die vor seiner Nase zugeschlagen und arretiert wurde. Der russische Kampfpilot wurde zurückgeworfen und fiel auf den Boden, wo er zuckend und Blut spuckend liegen blieb.

Jegor ist vergiftet worden, kam Orlow die schreckliche Erkenntnis, doch bevor der Schock darüber einsetzen konnte, wurde auch er von einer Welle des Schmerzes durchgeschüttelt – heiße, sengende Schmerzen, die wie Lava durch seine Blutgefäße rauschten. Es fühlte sich an, als stünde jede Zelle seines Körpers in Flammen, und er fing instinktiv an zu schreien. Er würde sterben, wie Jegor, der sich mittlerweile nicht mehr rührte. In einem letzten Anflug von Verzweiflung steckte sich Orlow den Finger in den Hals und erbrach sich, doch als er all das hellrote Blut sah, wusste er, dass es zu spät war. Diese verdammten Bastarde! Seine Verzweiflung schlug in Wut um, und mit blutgetrübten Augen schaffte er es, mit allerletzter Kraft auf die Tür zu zustürmen und sich dagegen zu werfen. Ihm war bewusst, dass auf der anderen Seite weder Rettung noch Erlösung auf ihn warteten, aber er wollte, dass sie sahen, was sie ihnen angetan hatten.

Das alte, dünne Holz splitterte und Orlows todgeweihter Körper brach neben dem Radiator zusammen. Vor ihm standen der Grauhaarige und zwei seiner Männer. Weder Mitgefühl noch Erstaunen war in ihren Augen zu lesen, nur kaltes, nüchternes Interesse.

»Es ist nichts Persönliches, mein Freund«, sagte der Grauhaarige und beugte sich zu Orlow herunter. In der Hand hielt er eine 9mm Makarow. Bevor Orlow seinen letzten Atemzug tun konnte, hielt er sie ihm an die Schläfe und drückte zweimal ab.

I

Kapitel 1

Gegenwart, 4. April

Deutschland, Heidelberg

Die Praxis von Dr. Elizabeth Carmichael befand sich in der Heidelberger Altstadt, einem Ort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben waren. Ricarda Neumann parkte ihren dunkelbraunen SUV auf einem schattigen Platz hinter der alten Gründerzeitvilla, klemmte sich den Ordner mit Maries Befunden unter den Arm und half ihrer Tochter aus dem Fond des Wagens.

Es war ein sonniger, windumwehter Donnerstag und der Geruch von Krokussen und frisch gemähtem Rasen hing in der Luft. Ein Tag, der zum Verweilen im Park oder im Garten eingeladen hätte, doch für Ricarda und ihre Familie gehörten solche Tage der Vergangenheit an. Seit Marie sie auf eine Odyssee des Schicksals, eine Reise über die höchsten Berge und durch die tiefsten Täler menschlichen Daseins, mitgenommen hatte, existierte die Welt um sie herum nur noch als bloßes Gefüge, dessen Zahnräder zwar ineinandergriffen, jedoch nie die Wirkung erzielten, die früher einmal den Reiz des Lebens ausgemacht hatte. Die Welt war um ihre Einzigartigkeit beraubt, ihren Zauber, der allen Dingen innewohnte. Jetzt drehte sie sich einzig und allein um den nächsten Arztbesuch, den nächsten verzweifelten Versuch, Marie das lang verlorene Lächeln wiederzuschenken und eine scheiternde Ehe vor dem Aus zu bewahren.

Im Hausflur, einem langen, gefliesten Gang, der zu einer verschnörkelten Holztreppe mit breiten, an den Rändern rund zulaufenden Stufen führte, schlug ihnen ein Hauch arabischer Kräuter und Gewürze entgegen.

Marie begann zu quengeln, doch Ricarda schob sie weiter vorwärts, bis sie die Praxisräume im ersten Stockwerk erreicht hatten. Eine junge Sprechstundenhilfe öffnete ihnen die Tür und brachte sie ins Wartezimmer, wo sich Ricarda aufmerksam und ein wenig irritiert umsah. Bis auf die drei Korbstühle, die sich harmonisch in den lichtdurchfluteten Raum mit einem Bücherregal, einer großen Zierpalme und einer antiken Büste einfügten, erinnerte nichts an ein gewöhnliches Wartezimmer, und es war auch das erste Mal, dass Ricarda keinen überflüssigen Fragebogen ausfüllen oder sich wegen ihres Privatpatienten-Status’ ausweisen musste. Dr. Carmichael schien die Dinge anders anzugehen.

Ricarda erlaubte sich, einen Moment die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Die vielen schlaflosen Nächte, in denen Marie weinend im Bett lag, nicht ansprechbar, als würde sie mit aller Gewalt in der Traumwelt festgehalten werden, forderten ihren Tribut. Seit einigen Tagen fiel es ihr schwer, konzentriert und wach zu bleiben. Sie dachte an Maries erste Lebensjahre. Wie schön es damals gewesen war, wie harmonisch und ruhig. Es kam ihr so lange her vor … eine Ewigkeit.

»Frau Neumann, Dr. Carmichael empfängt Sie und Ihre Tochter jetzt.«

Ricarda fuhr erschrocken hoch, bemühte sich um ein freundliches Lächeln und bedeutete der Arzthelferin, ihr einen Moment zu geben. Marie hatte sich wieder einmal in die hinterste Ecke des Raums zurückgezogen, wo sie, die Beine mit den Armen fest umschlungen, vor und zurück wippte.

»Komm Schatz, Frau Doktor wartet.«

Marie reagierte nicht. Ihr Blick war auf etwas geheftet, das sich anderen entzog, etwas, das nur in ihr selbst zu existieren schien. Ricarda hätte ihr Leben gegeben. wenn sie dadurch in ihre Tochter hätte hineinschauen können. Aber das, was sie sehen könnte, ängstigte sie umso mehr. Vorsichtig nahm sie eines der dünnen Ärmchen in ihre Hände und half ihrer Tochter beim Aufstehen.

Das Behandlungszimmer war genauso, wie Ricarda es sich nach ihrem ersten Eindruck der Praxis vorgestellt hatte: ein großer, heller Raum mit einem auf die Straße hinausgehenden Erker, in dem eine Gitarre und andere Musikinstrumente standen. Stuck an den Wänden, Eichenparkett und ein langer, geschwungener Mahagonischreibtisch. Alles zeugte von Stilempfinden und Erlesenheit, ohne dabei aufgesetzt oder übertrieben zur Schau stellend zu wirken. Es war derselbe Stil, den Dr. Elizabeth Carmichael auch privat lebte, und die Ärztin selbst fügte sich so harmonisch in das Zimmer, dass sie damit verschmolzen zu sein schien.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagte Dr. Carmichael zur Begrüßung und deutete auf einen Stuhl. An Marie gewandt fügte sie hinzu: »Möchtest du es dir da vorne in dem Sitz-Sack bequem machen?«

Marie nickte schüchtern, was Ricarda mit Zuversicht erfüllte. Nicht vielen Menschen gelang es, zu Marie durchzudringen, und wenn einer davon eine Ärztin war, konnte das nur ein gutes Zeichen sein.

Dr. Carmichael beugte sich langsam vor und korrigierte den Sitz ihrer halbmondförmigen Gleitsichtbrille. Sie war eine attraktive, schlanke Frau Mitte fünfzig mit graumelierten Haaren, hohen Wangenknochen und einer Haut wie dunkler Wüstensand. Sie stammte aus dem Libanon, war in Großbritannien aufgewachsen und hatte an der Oxford University Medizin studiert, bevor sie in den 90er Jahren nach Deutschland gekommen war, um dort eine eigene Praxis zu eröffnen. Zumindest stand das in der Broschüre, die Ricarda im Wartezimmer gelesen hatte und die Dr. Carmichael darüber hinaus als angesehene Expertin auf dem Gebiet der Genetik auswies. Doch das war nicht der Grund, weshalb Ricarda sie aufgesucht hatte. Dr. Carmichael widmete sich noch einem anderen, weniger angesehenen Zweig, der sogenannten Alternativmedizin und betrieb grenzwissenschaftliche Forschungen: Autovaccin-Therapie, Kinesiologie und Homöosinatrie waren nur drei der verwirrenden Begriffe, an die sich Ricarda erinnern konnte. Doch in Internet-Foren hatte sie gelesen, dass vielen Menschen dadurch geholfen worden war, und wenn es um die Gesundheit ihrer Tochter ging, wollte sie nichts unversucht lassen.

»Sie sind wegen Ihrer Tochter hier, richtig?«, fragte Dr. Carmichael, nachdem sie Ricarda einige Sekunden gemustert hatte.

Ricarda nickte. »Ja, wegen Marie. Es ist so, dass …«

»Bevor Sie weitersprechen«, unterbrach sie Dr. Carmichael mit ruhiger, einfühlsamer Stimme, »würde ich gerne, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, ein kleines Spiel mit Ihrer Tochter spielen.«

Ricarda nickte zögerlich, doch tief in ihrem Inneren regte sich Widerwillen gegen dieses unorthodoxe Vorgehen. Vielleicht war das Ganze doch keine so gute Idee gewesen.

»Ich kann Ihre Bedenken verstehen«, sagte die Ärztin, als hätte sie Ricardas Gedanken vorausgeahnt, »aber seien Sie unbesorgt. Was ich mit Ihrer Tochter vorhabe, ist ein harmloses diagnostisches Verfahren, das seit über zweitausend Jahren Anwendung findet.«

»Ich fürchte nur, dass sie es nicht verstehen wird«, meinte Ricarda.

Dr. Carmichael bedachte sie mit einem Blick, in dem sowohl Weisheit als auch Wärme lagen und legte ihr beruhigend eine Hand auf den Unterarm. »Das ist kein Spiel, das Verständnis voraussetzt.«

Sie führte Marie zu einer Behandlungsliege, bedeutete ihr, sich mit dem Rücken darauf legen, deckte sie mit einer azurblauen Samtdecke zu und bat sie, einen ihrer Arme zu heben, sodass er senkrecht in der Luft stand.

»Wenn ich dich etwas frage, drückst du gegen meine Hand. Ja, genau so …«

Dr. Carmichael schloss die Augen. »Wie heißt du?«

»Marie.«

Der Arm blieb standhaft.

»Wie alt bist du?«

»Neun.«

Noch immer veränderte sich nichts. »Das ist ein ›Ja‹ und das ist ein ›Nein‹«, murmelte Dr. Carmichael vor sich hin, während sie Marie etwas ins Ohr flüsterte.

Ricarda beobachtete die beiden von ihrem Stuhl aus und rutschte unruhig darauf hin und her. Der Raum war nun von einer hellen, fast schon greifbaren spirituellen Aura erfüllt. Dr. Carmichael hatte ein Räucherstäbchen angezündet, und der Duft von Weihrauch und Myrrhe verteilte sich in kleinen Wölkchen im Raum, die mal auf- und ab schwebten, im Licht funkelten und sich schließlich langsam auflösten.

»Sprich mir jetzt bitte genau nach, Marie. Mein Körper ist frei von schädlichen Einflüssen, mein Körper ist gesund …«

Der Arm des kleinen Mädchens zitterte und klappte zur Seite, als wäre ihm sämtliche Kraft genommen worden. Ricarda atmete hörbar auf. Sie wusste nicht, ob sie erstaunt oder empört sein sollte. Wie ausschlaggebend konnte ein solches diagnostisches Verfahren schon sein? Und welchen Einfluss würde es auf Marie haben?

»Der Schmerz und die Beschwerden, die mir innewohnen, sind Ausdruck meiner Seele.«

Erneut zitterte der Arm und sackte ab. Dr. Carmichael legte die Stirn in Falten, als hätte sie nicht mit dieser Reaktion gerechnet, fuhr aber unbeirrt fort: »Es gab ein Ereignis, das den Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, ausgelöst hat.«

Dr. Carmichael nickte zufrieden, als der Arm an Ort und Stelle blieb und begann erneut zu flüstern. Sie raunte etwas über in der Zeit vor- und zurückgehen und von Reaktionen der Organe, doch Ricarda konnte den genauen Wortlaut nicht verstehen. In ihr erhärtete sich immer mehr der Verdacht, den Bogen mit diesem zugegebenermaßen verzweifelten Versuch überspannt zu haben. Was, wenn diese Heilerin – von Medizin wollte sie in diesem Fall nicht mehr sprechen – mehr Schaden anrichtete, als sie Gutes vollbrachte? Andererseits spürte Ricarda, auch wenn sie es sich nicht erklären konnte, die Kraft und die energetische Aura, die von der Libanesin ausgingen. Die Schulmedizin hatte ihrer Tochter nicht geholfen, warum also sollte sie etwas verurteilen, dessen Nutzen oder Schaden sich noch nicht herausgestellt hatte und das ihr nur Angst einflößte, weil es fremd war? Ricarda beschloss, sich nicht von ihren Vorurteilen leiten zu lassen und den Ausgang dieser Sitzung abzuwarten, bevor sie sich ein Urteil bildete.

Die Ärztin war in der Zwischenzeit dazu übergegangen, kleine, mit verschiedenen Stoffen gefüllte Glasfläschchen – darunter Pulver, Metallstücke, Flüssigkeiten und Nahrungsmittel – an Maries Körper entlangzuführen und sich die körperlichen Reaktionen zu notieren. Ihr Gesichtsausdruck verfinsterte sich dabei zusehends. Schließlich legte sie ihren Notizblock beiseite, half Marie sich aufzurichten und ging mit ihr zur Tür, wo sie ein paar Worte mit ihrer Sprechstundenhilfe wechselte und sie bat, im Nebenzimmer mit dem kleinen Mädchen zu warten. Dann kehrte sie zu ihrem Platz hinter dem Schreibtisch zurück und ging ihre Aufzeichnungen durch, bevor sie sich Ricarda zuwandte.

»Ich denke, es ist besser, wenn wir dieses Gespräch unter vier Augen führen. Ihre Tochter ist sehr schwach, und ich habe eine große seelische Belastung bei ihr gespürt. Es bekommt ihr nicht gut, immer wieder mit ihrer Krankheit konfrontiert zu werden. Sie wirkt nicht, als würde sie es verstehen, doch in ihr weilt ein reger Verstand und sie ist sich ihrer Umwelt sehr wohl bewusst.«

»Was waren das für Tests, die Sie durchgeführt haben?«, fragte Ricarda, die mit ihrer Neugier nicht mehr länger hinterm Berg halten konnte.

»Muskeltests«, antwortete Dr. Carmichael knapp. »In der Kinesiologie arbeiten wir nach dem Biofeedback-Prinzip. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Meridiane und Organe unseres Körpers stehen jeweils mit bestimmten Muskelgruppen in Verbindung, und über die Reaktionen dieser Muskelgruppen auf äußere Reize wie zum Beispiel die Stoffe in den Glasfläschchen erhalten wir Aufschluss über den körperlichen Zustand des Patienten. Die Muskelspannung, oder genauer gesagt die muskulären Reaktionen, werden vom autonomen Nervensystem gesteuert, weshalb der Körper, bildlich ausgedrückt, auf die ihm gestellten Fragen antwortet. Es ist ein binäres System. Das bedeutet, dass dem Körper nur Fragen mit entgegengesetzten bzw. divergenten Antwortmöglichkeiten gestellt werden: Ja oder Nein; wahr oder falsch; schwach oder stark …«

»Und was genau haben Sie herausgefunden?«

»Zu diesem Zeitpunkt ist noch keine eindeutige Aussage möglich. Die Ergebnisse müssen zunächst mit den anamnestischen Erhebungen in Verbindung gesetzt werden, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten. Deswegen würde ich Sie nun bitten, mir Maries Krankengeschichte so detailliert wie möglich zu schildern. Und bitte, lassen Sie sich Zeit. In der ganzheitlichen Medizin und insbesondere in der Kinesiologie beziehungsweise der Psychokinesiologie, stehen die auslösenden Faktoren und deren ‚Bereinigung’, und nicht die Behandlung der Symptome im Vordergrund. Es ist deshalb unerlässlich, dass Sie sowohl auf körperliche Symptome als auch auf Gefühle und Veränderungen eingehen, die nicht unbedingt objektiv erfassbar sind.«

Für Ricarda waren Dr. Carmichaels Worte wie ein Startschuss und es sprudelte nur so aus ihr heraus. Andere Ärzte verloren nach wenigen Minuten das Interesse, doch nicht so die Libanesin – je tiefer Ricarda ins Detail ging, desto konzentrierter wurde ihr Blick und desto tiefer auch die Furchen auf ihrer Stirn. Ricarda ließ nichts aus, erzählte ihr, wie alles im letzten Spätsommer begonnen und sich im Herbst immer mehr zugespitzt hatte. Noch im August war Marie ein fröhliches Kind gewesen. Die Schule hatte gerade begonnen und sie verbrachte die Nachmittage im Freien an der frischen Luft. Dann, eines Abends, als sie vom Spielen hereinkam, klagte sie über Kopfschmerzen. Binnen Minuten war sie kaum noch in der Lage, auf den Beinen zu stehen, und schrie immerzu, dass ihre Augen platzen würden. Ricarda und ihr Mann fuhren mit ihr sofort in die Notaufnahme, doch schon am nächsten Tag wurde Marie wieder entlassen, nachdem eine Gehirnbeteiligung, ein akutes Glaukom und andere internistisch-neurologische Notfälle ausgeschlossen worden waren. Es hieß, sie habe Migräne, aber Ricarda spürte schon damals, dass das nicht alles sein konnte. Spätestens als Marie wenige Tage darauf ihren ersten Hörsturz erlitt und überzeugt war, im Haus würde ein altes Radio knistern und seltsame Töne ausspucken, wurde den Neumanns die Tragweite von Maries Beschwerden bewusst. Sie wollte nicht mehr zur Schule gehen, nicht mehr essen und trinken … die meiste Zeit des Tages saß sie in ihrem Zimmer und starrte mit abwesendem Blick aus dem Fenster. Und die Anfälle wiederholten sich, immer und immer wieder, bis ihrer aller Nerven blank lagen.

»Dieser Tinnitus, den Ihre Tochter beschreibt, wie äußert er sich?«, forschte Dr. Carmichael nach. »Hört sie ihn ununterbrochen oder gibt es Intervalle?«

»Das ist ja das Eigenartige«, sagte Ricarda. »Sie sagt, die Geräusche würden urplötzlich aufhören und später wieder anfangen.«

»Die Geräusche? Hört sie mehrere Töne?«

»So wie ich es verstanden habe, hört sie niemals das Gleiche – immer irgendwelche Variationen oder skurrilen Melodien. Wie bei einem alten Radio, wo die Frequenz des Senders nicht richtig eingestellt ist. Wir haben ein solches Röhrengerät im Keller; deswegen war sie davon überzeugt, dass wir vergessen hätten, es auszuschalten. Wir waren mit ihr beim Facharzt, doch der konnte keine Ursache für den Tinnitus feststellen und hat uns zu einem Kinder- und Jugendpsychiater überwiesen, der den Verdacht einer seltenen Form der präadoleszenten Schizophrenie äußerte. Vor allem wegen ihrer Schlafprobleme. Ich habe mich damals gefühlt, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen.« Nur mit Mühe konnte Ricarda die aufsteigenden Tränen unterdrücken. »Meine Tochter war ein gesundes, normales Kind, und es gab nie irgendwelche Anzeichen, dass ihre Entwicklung gestört sein könnte.«

»Machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken«, sagte Dr. Carmichael beruhigend und reichte Ricarda ein Taschentuch. »Ich habe bei Ihrer Tochter keinerlei Anzeichen für eine Psychose wahrnehmen können oder irgendetwas anderes, das auf eine Form der gestörten Wahrnehmung schließen ließe. Ärzte neigen leider dazu, die Ursachen für das, was sie nicht verstehen, in der menschlichen Psyche zu suchen. Ihre Tochter befindet sich zweifelsohne in einer schwierigen und emotional belastenden Situation, doch ich bin mir sicher, dass ihre Beschwerden nicht daher rühren. Was hat es mit den Schlafproblemen auf sich, die Sie eben erwähnt haben?«

Mit dem Taschentuch trocknete sich Ricarda die tränenden Augen und knüllte es dann in einer entschlossenen Geste zusammen. »Die Schlafprobleme haben im Oktober begonnen. Ich hörte etwas im Flur rumpeln und bin zusammen mit meinem Mann nachsehen gegangen. Marie ist uns dann auf halbem Weg entgegengekommen; sie war völlig aufgelöst und die Panik stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie hat am ganzen Leib gezittert und ihre Augen waren weit aufgerissen. Dann hat sie versucht zu sprechen, doch es sind immer nur Wortfragmente oder unzusammenhängende Sätze herausgekommen.«

»Ist damals eine Epilepsie ausgeschlossen worden?«, fragte Dr. Carmichael, deren Gesicht im Laufe der letzten zwanzig Minuten um Jahre gealtert zu sein schien. Daran konnte Ricarda erkennen, dass echtes Mitgefühl und Sorge aus ihr sprachen.

»Ja, EEG und Schlaf-EEG waren ohne Befund. Der Neurologe meinte, dass es sich bei diesen Episoden wohl um einen Pavor Nocturnus handeln würde.«

Die Libanesin runzelte skeptisch die Stirn. Sie teilte die Auffassung ihres Kollegen offensichtlich nicht. »Leidet sie denn unter Amnesie nach diesen nächtlichen Zwischenfällen? Schläft sie einfach wieder ein, als ob nichts gewesen wäre?«

»Nein«, antwortete Ricarda. »Sie kann sich sogar bis ins kleinste Detail daran erinnern. Auch hat sie versucht, uns von ihrem Erlebnis zu erzählen, es aber nicht gekonnt hat.«

»Ein klassischer Pavor Nocturnus sieht immer so aus, dass die Kinder schreien, sich durch nichts beruhigen lassen und dann wieder einschlafen, ohne sich am nächsten Tag an das Geschehene erinnern zu können.« Dr. Carmichael griff nach einem dicken Wälzer in ihrem Regal und schlug zur Bestätigung den Begriff nach.

»Das habe ich auch gelesen«, meinte Ricarda. »Aber was Marie erlebt, ist etwas völlig anderes. Sie sagt, dass sie in der Sekunde des Hochschreckens immer ein Bild vor Augen hat, ein Geräusch oder eine Stimme hört. Einmal hat sie uns erzählt, dass sie manchmal nachts aufwacht und einfach daliegt, ohne sich bewegen zu können, als würde irgendjemand oder etwas sie daran hindern.«

»Und wenn sie das nur träumt«, warf Dr. Carmichael ein, doch Ricarda schüttelte energisch den Kopf.

»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und mich fast zu Tode erschrocken. Sie schlägt die Augen auf und starrt an die Decke. Es ist … besorgniserregend. Als würde irgendetwas die Kontrolle über sie übernehmen …«

Kaum hatte Ricarda ihre unterbewusste Befürchtung ausgesprochen, spürte sie auch schon, wie sich die warme, angenehme Atmosphäre des Raums merklich abkühlte und einer drückenden Beklommenheit Platz machte, die unausgesprochen zwischen ihnen schwebte. Wie Ricarda im Laufe des Gesprächs herausgehört zu haben meinte, war Dr. Carmichael dem Paranormalen nicht ganz abgeneigt, doch jetzt schüttelte die Ärztin vehement den Kopf.

»An so etwas dürfen Sie gar nicht erst denken, Frau Neumann. Ich weiß, dass uns ausweglose Umstände manchmal dazu verleiten, das Übersinnliche zu akzeptieren und als Erklärung heranzuziehen, aber das ist niemals eine Lösung. Der menschliche Körper ist eines der geheimnisvollsten Dinge auf diesem Planeten, und so erschreckend und unverständlich einem manche Entdeckungen auch vorkommen mögen, so folgt doch alles kausalen Prinzipien – Ursache und Wirkung bedingen einander. Ich will ganz offen mit Ihnen sein, weil ich denke, dass Sie nicht ohne Grund zu mir gekommen sind. Sie haben eine ernüchternde Odyssee hinter sich und erhoffen sich, dass ich sie beende. Das ist nur verständlich, aber ich kann keine Wunder versprechen oder gar vollbringen. In dem Körper ihrer Tochter ist einiges aus dem Lot geraten; ich spüre, wie sie dagegen ankämpft, aber sie ist auch sehr schwach.«

Jetzt konnte Ricarda die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie hatte gebangt, gehofft, gezweifelt, aber niemals den Mut verloren. Nun drohte ihre Welt aus den Fugen zu geraten; das Konstrukt aus Hoffnung und Kampfeswille, an das sie sich in den letzten Monaten geklammert hatte, geriet ins Wanken. Aber was konnte sie auch anderes erwarten? Ihre Hoffnungen bauten auf einem brüchigen Fundament.

Dr. Carmichael, der ihre Verzweiflung nicht entgangen war, eilte ihr zu Hilfe und nahm sie tröstend in den Arm.

»Kindchen, ich will damit doch nicht sagen, dass alles vergeblich ist. Nein, ich werde versuchen, Ihrer Tochter zu helfen, nur dürfen Sie keine Wunder erwarten.«

Ricarda schniefte überwältigt und ganz verlegen zugleich. So viel menschliche Wärme und Nähe hatte ihr noch kein Fremder entgegengebracht, und schon gar kein Arzt!

»Aber was könnte ihr denn nur fehlen?«, fragte sie verzweifelt, woraufhin Dr. Carmichael für einen kurzen Moment den Mund aufmachte, ihn aber sofort wieder schloss, als wäre der richtige Zeitpunkt für das, was sie hatte sagen wollen, noch nicht gekommen. Sie lehnte sich gegen ihren Schreibtisch, faltete die Hände vor dem Bauch und schloss tief durchatmend die Augen.

»Während der Testung habe ich etwas … gespürt: Ein fernes Echo, das möglicherweise mit Maries Beschwerden in Zusammenhang stehen könnte.«

»Ein fernes Echo?«, wiederholte Ricarda fragend. Sie strich sich eine Strähne ihres dunkelblonden Haars aus dem Gesicht und sah die Ärztin erwartungsvoll an.

»Ich weiß, das hört sich sehr spiritistisch an«, sagte diese, »aber ich weiß nicht, wie ich es anders beschreiben sollte. Die Kinesiologie ist keine exakte Wissenschaft. Ich werde weitere Tests durchführen müssen, bevor ich Genaueres sagen kann. Aber ich habe eine konkrete Vermutung, was Ihre Tochter krank machen könnte.«

Dr. Carmichael fuhr fort, über die Erfolge und Wirkungsweisen der Kinesiologie zu referieren, doch Ricarda hörte längst nicht mehr zu. Ihr hallten immerfort die letzten Worte der Libanesin durch den Kopf: Was Ihre Tochter krank machen könnte … Hatte sie das wörtlich gemeint? Gab es etwas, das Marie vergiftete? Oder war das die spiritistische Art der Ärztin gewesen, von einem Krankheitserreger oder einer Funktionsstörung zu sprechen? Ricarda konnte darüber nur Vermutungen anstellen, doch die Art und Weise, wie Dr. Carmichael ihren Verdacht geäußert hatte, war alles andere als beruhigend gewesen.

»Wenn Sie einverstanden sind, nehme ich Ihrer Tochter jetzt etwas Blut ab«, sagte Dr. Carmichael, während sie auf Ricarda zuging und die junge Frau damit aus ihren Gedanken riss. »Wir können dann Anfang nächster Woche einen Termin ausmachen, um alles Weitere zu besprechen. Ich verspreche Ihnen: Wir finden eine Lösung.«

»Ja, natürlich«, kam es Ricarda ganz automatisch über die Lippen. In Gedanken war sie jedoch immer noch bei Marie und den Konsequenzen dieses außergewöhnlichen Nachmittags. Sie spürte, dass Dr. Carmichael während der Sitzung auf etwas gestoßen war. Ihr Verhalten hatte das widergespiegelt. Und es musste etwas sein, das sie selbst noch nicht richtig einschätzen konnte, denn ansonsten hätte sie nicht so ausweichend auf die Frage geantwortet, was Marie fehlen könnte. Ricarda versuchte darin kein böses Omen zu sehen, aber als sie sich von der Ärztin verabschiedete, konnte sie die Verstörtheit in ihren Augen sehen und förmlich spüren, wie die Gedanken hinter ihrer Stirn rotierten. Sie versuchte, ihre Gefühle hinter einer Maske aus Zuversicht und Aufmunterung zu verstecken, aber ganz verbergen konnte sie sie nicht – da waren unterschwellige Veränderungen in der Mimik, die nur jemandem auffielen, der durch monatelanges Beobachten dafür sensibilisiert war. Ricarda konnte den nächsten Termin kaum erwarten. Dann würde das Bangen um ihre Tochter vielleicht endlich ein Ende haben.

Kapitel 2

Ein Jahr zuvor …

Iran, Teheran

In dem Apartment war es dunkel und stickig. Kein Lufthauch drang durch die dicken, zugezogenen Vorhänge. Nur durch einen schmalen Spalt unterhalb der Gardinenstange fiel fahles Mondlicht herein.

Jemand atmete – ein unterdrücktes, stoßweises Inhalieren. Der Geruch von Angst lag in der Luft. Dann waren leise, raschelnde Geräusche zu hören: Vorsichtige Schritte, die sich dem Schreibtisch am anderen Ende des Raums näherten. Zeit, zuzuschlagen …

Nein, noch nicht … Plötzlich herrschte absolute Stille. Atem und Schritte waren verklungen, das Apartment nunmehr ein Vakuum, in dem einzig das unheilvolle Gefühl schwebte, dass gleich etwas Schlimmes geschehen würde.

Witterte der Eindringling etwa die Gefahr? In der Dunkelheit war das schwer zu sagen. Abwarten … Nach etwa zwanzig Sekunden setzte sich der Schemen wieder in Bewegung und schlich um das Sofa herum an der offenen Küche vorbei auf die Arbeitsecke zu. Bevor seine Hand jedoch nach dem Lichtschalter der Schreibtischlampe greifen konnte, wurde er nach hinten gerissen, und ein heißer, sengender Schmerz jagte durch seinen Körper, gefolgt von dem erschreckenden Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Irgendetwas gurgelte in seiner Kehle, und in einem Anflug von Verzweiflung realisierte der Eindringling, dass das sein eigenes Blut war. Panisch versuchte er, um sich zu schlagen, um Hilfe zu rufen, doch die vorgehaltene Hand seines Mörders dämpfte den erstickten Schrei. Sein Herz, das mittlerweile raste, um den Blutverlust zu kompensieren, stolperte und setzte schließlich aus. Doch noch war es nicht zu Ende. Noch immer wurde sein Gehirn mit Sauerstoff versorgt, sodass er auch die letzten, qualvollen Sekunden bei vollem Bewusstsein miterleben musste. Erst, als er auch das letzte bisschen Licht im Raum nicht mehr wahrnehmen konnte, weil Schwärze sich über ihn senkte, ließen auch die Schmerzen nach. Bevor der Hirntod eintrat, schoss ihm noch ein letzter, verzweifelter Gedanke durch die überreizten Synapsen: Sie wird es herausfinden! Aber das lag nun nicht mehr in seiner Hand …

***

Cora zog das Kampfmesser langsam aus dem Hals ihres Opfers und wischte die blutige Klinge an einem Tuch ab. Ihre Hände fühlten sich warm und feucht an von dem frischen Blut, das darüber gelaufen war. Die angstgeweiteten Augen des Mannes, in denen sich das Mondlicht brach, starrten sie noch immer anklagend an. Warum hatte er auch versuchen müssen, sie zu hintergehen? Sie hatte von Anfang an gespürt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dass er etwas vor ihr verheimlichte. Sie bedauerte, ihn nicht überwältigt zu haben, um ihn verhören zu können, aber das war ein Luxus, den sie sich angesichts des schmalen Zeitfensters nicht erlauben konnte. Sie musste noch heute Nacht zuschlagen, wenn sie ihren Auftrag erfolgreich abschließen wollte.

Sie zerrte den Leichnam des ehemaligen Informanten hinter das Sofa und deckte die Blutspuren vor dem Sekretär notdürftig mit der Schreibtischstuhlunterlage ab. Irgendwann würden die Behörden die Leiche entdecken, doch bis dahin wäre sie längst außer Landes. Außerdem störte sie der Anblick, und bis zum Aufbruch blieben ihr noch einige Stunden.

Sie ging in das kleine Bad – ein Kabuff, in dem sich mehr abgeblätterte Farbe auf dem Boden verteilte, als an der Wand klebte –, um sich das Gesicht und die Hände zu waschen. Nervös ging sie vor dem Waschbecken auf und ab. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis warmes Wasser aus dem Hahn strömte. Und dabei war sie für die Zeit ihres Aufenthalts sogar in einer der überwachten Appartementanlagen untergebracht worden, die vornehmlich von europäischen und amerikanischen Geschäftskunden gebucht wurden.

Als das Wasser endlich eine angenehme Temperatur erreicht hatte, tauchte sie die Hände in den schwachen Strahl und sah zu, wie das Blut abgespült wurde. Es wirkte surreal, wie es sich mit dem Wasser vermengte und sich in kleinen, vom Neonlicht verfärbten Rinnsalen um den Abfluss wand. Eben noch war es durch den Körper eines jungen Mannes gerauscht, hatte ihn am Leben gehalten! Nicht daran denken … Entschlossen drehte Cora den Wasserhahn zu und strich sich eine Strähne ihres rabenschwarzen Haars aus der Stirn. Dabei berührten ihre Fingerspitzen eine der Narben, die unter dem Haaransatz verborgen waren, und sie zuckte innerlich zusammen. Es gab Momente, da konnte sie die Flut von Bildern und Gedanken einfach nicht zurückhalten. Sie waren zu mächtig, drängten immerzu an die Oberfläche. Das war der Preis, den sie bezahlen musste, der Fluch ihrer Vergangenheit.

Im Schlafzimmer zog sie sich ein frisches Top und einen schwarzen Rollkragenpullover über, bevor sie sich eine Dose Cola-Light aus dem Kühlschrank holte, die Gardinen beiseiteschob und auf den Balkon trat.

Es war eine milde Frühlingsnacht und der Wind wehte von Nordwest, brachte frische, salzige Luft vom Kaspischen Meer mit sich. In der Ferne erhob sich das Elburs-Gebirge über den Ausläufern des Stadtteils Shahrak-e Gharb und warf seinen blassen Schatten auf die Hochhäuser, Parks und Straßenschluchten Teherans. Cora lehnte sich über die Balustrade. Zu spüren, wie die klare, warme Nachtluft über ihr Gesicht strich, beruhigte sie. Faruk war zwar nur ein unbedeutender Informant gewesen, aber die Tatsache, dass es ihm gelungen war, sie erfolgreich zu täuschen, beunruhigte sie. Der Erfolg ihrer Mission hing maßgeblich davon ab, dass ihre Tarnidentität aufrechterhalten blieb, und sie konnte nicht wissen, wie viel Faruk vor seinem Tod noch über sie und ihren Auftrag herausgefunden hatte. Viel wichtiger noch erschien ihr jedoch die Frage, für wen er gearbeitet hatte. Unter anderen Umständen wären die Möglichkeiten schier unbegrenzt gewesen – CIA, FBI, NSA, FSB, SIS oder sogar das MSS, das chinesische Ministerium für Staatssicherheit –, doch dieser Fall lag anders. Faruk war ihr von einer vertrauenswürdigen Quelle zugeteilt worden. Dass er gegen ihre Interessen gehandelt haben könnte, war praktisch ausgeschlossen. Und doch lag seine Leiche jetzt unter ihrem Schreibtisch …

Cora trank den letzten Schluck Cola, zerquetschte die Dose mit einer Hand und warf sie über das Geländer. Müll war wirklich das Letzte, worüber man sich im Iran Gedanken machte. Sie kehrte dem nächtlichen Teheran den Rücken und ging zurück ins Appartement, um die letzten Vorbereitungen für den Einsatz zu treffen. Wenn der Morgen graute, würde sie in einem Flugzeug auf dem Weg nach Hause sitzen.

***

Es hieß, der iranische Straßenverkehr sei der gefährlichste der Welt; nach Mitternacht, wenn sich die Straßen und Kreuzungen allmählich lichteten, war davon allerdings nicht mehr viel zu spüren. Cora hatte Teheran in ihrem gemieteten Samand LX verlassen, und in den Randbezirken floss der Verkehr träge und geordnet vor sich hin. Tagsüber herrschte Hektik. Ob auf den Feldern, dem Basar oder im Büro, jeder hatte es eilig, an seinen Bestimmungsort zu gelangen. Aber abends, wenn das Tagwerk verrichtet war und die Zikaden ihre grellen Gesänge anstimmten, kehrten die Iraner ihre gelassene, das Leben bejahende Mentalität heraus. In einem Land, wo weite Teile der Bevölkerung ihr Dasein im Elend fristeten, glich das schon einer Kunstform. Doch je weniger die Menschen hier besaßen, desto glücklicher schienen sie zu sein, natürlich vorausgesetzt, ihnen blieb genug zum Überleben. Aber es war eben dieses Fehlen alles Materiellen, das es ihnen erlaubte, sich auf die naturgegebenen Freuden des Lebens zu konzentrieren. Eine Einstellung, die in den Ländern der westlichen Zivilisation zusehends verloren ging. Welchen Wert besaßen Geld und Wohlstand, wenn man verlernt hatte, den Sonnenuntergang oder das Rauschen des Meeres zu genießen? Wenn Wind und Regen nur noch als schlechtes Wetter wahrgenommen wurden und nicht als das, was sie wirklich waren: Voraussetzung dafür, dass die Saat auf den Äckern gedeihen und heranwachsen konnte. Es waren kaum zwei Monate gewesen, die Cora in dieser ihr fremden Welt gelebt hatte, der Einfluss auf ihr Denken, Fühlen, ja auf ihr Handeln war nicht mehr zu leugnen. Eine Erfahrung, an der sie nicht nur intellektuell, sondern auch emotional reifte.

Sie wechselte auf die Überholspur und zog an einigen alten Pickups vorbei, auf deren Ladeflächen sich Saatgut und landwirtschaftliches Gerät stapelten. Die Bauern waren auf dem Weg zu den fruchtbaren Ackerflächen am Fuße des Elbur-Gebirges, wo sie noch vor Sonnenaufgang mit dem Bestellen der Felder beginnen würden. Denn tagsüber kletterten die Temperaturen auch im Frühjahr weit über die Dreißiggradmarke.

Coras Ziel lag ebenfalls im Elburs. Ihr Weg führte sie an den grünen Hängen und Feldern vorbei ins Hochgebirge, wo die Vegetation nur spärlich gedieh und kalte Winde durch die Schluchten und um die zerklüfteten Berghänge pfiffen.

Nach einer Weile kam sie immer mühsamer voran. Links und rechts des Weges türmte sich Geröll, und mit jedem Höhenmeter, den sie zurücklegte, löste sich der Straßenbelag mehr und mehr auf, bis nur von Schlaglöchern aufgewühlter Schotter übrigblieb. Der Samand jaulte auf, als sie an einem Steilhang in den ersten Gang schalten musste, und die Schürze schrammte polternd über den Boden. Noch ein, zwei Zentimeter und der Wagen würde endgültig aufsetzen.

»Verdammt!« In Amerika und Europa konnte man sich vor SUVs und Geländewagen auf den Straßen kaum retten … hier, wo sie wirklich gebraucht wurden, waren sie Mangelware.

Cora stoppte, zog die Handbremse und versuchte im Außenspiegel zu erkennen, wie viel Platz sie noch hatte. Ihr stockte der Atem, als sie anstatt der Straße die vom Mondlicht beschienenen Ausläufer des Tals sah. Das rechte Vorderrad des Samands ragte gefährlich über den Abgrund und dahinter ging es fünfhundert Meter steil in die Tiefe. Die Straße, oder das, was davon noch übrig war, führte dicht an der Schlucht um ein Gesteinsmassiv herum. Verlor eines der Räder den Halt, würde der Wagen in die Tiefe gerissen werden. Und sie mit ihm! Fieberhaft ging Cora ihre Möglichkeiten durch: Sie konnte entweder den Versuch wagen, das Massiv zu umrunden oder zu Fuß weitergehen. Ihren Berechnungen zufolge war die Anlage der Regierung noch drei bis vier Kilometer entfernt, was in einem Gebirge wie diesem einen halben Tagesmarsch bedeuten konnte. Zeit, die ihr nicht blieb. Alles war genau durchkalkuliert. Dazu kam, dass sie den Wagen nicht zurücklassen konnte, wenn sie von hier verschwinden wollte.

Entschlossen drückte sie das Gaspedal durch. Die Handbremse löste sie erst im letzten Augenblick, damit der Wagen nicht zurückrollte. Trotzdem schien der Samand nicht vorwärts zu kommen, und wie zur Bestätigung knirschte es ohrenbetäubend im Getriebe. Cora brach der Schweiß aus. Wenn die Zacken des Getriebes abbrachen, konnte sie das Fahrzeug gleich eigenhändig in die Schlucht schieben. Sie nahm Druck von der Kupplung und versuchte es erneut. Diesmal machte der Samand einen Satz vorwärts. Auf dem lockeren Schotter drehten die Reifen durch und die Limousine brach zur Seite aus. Das rechte Hinterrad rutschte über den Abgrund.

Für Cora schien die Zeit stehenzubleiben. Die Sekunde, in der der Wagen in der Schwebe hing, dehnte sich zur Ewigkeit. Erst der Ruck, als der Rahmen auf dem Boden aufschlug, holte sie wieder in die Realität zurück. Panisch trat sie in einem Wechselspiel aus Gas und Bremse in die Pedale und tat damit das einzig Richtige. Langsam arbeitete sich die iranische Limousine wie ein gestrandeter Wal auf die Straße zurück und schließlich, als Cora meinte, die Pedale keine Sekunde länger unter Kontrolle halten zu können, rutschte das Hinterrad wieder über die Kante.

Die Erleichterung stand der jungen Agentin ins Gesicht geschrieben, und mit einem Ruck riss sie sich das Kopftuch herunter. Ausländischen Frauen war es zwar nicht explizit verboten, sich ohne Kopftuch in der Öffentlichkeit zu zeigen, doch die iranischen Behörden und auch die Bevölkerung schätzten die Geste. Für Cora war mit dem Tragen des Tuchs noch ein anderer Vorteil verbunden: Anonymität – mit ihrem dunklen Teint und den tiefbraunen, von langen, schwarzen Wimpern eingerahmten Augen wirkte sie wie eine Einheimische. Ein Fremder müsste sie schon eingehend mustern, bevor ihm der Unterschied auffiele. Jetzt war sie jedoch nicht mehr auf die Tarnung angewiesen. Bei dem, was sie vorhatte, war ihre Herkunft ohne Belang. Wenn sie entdeckt wurde, würde sie am Strick baumeln, bevor die ersten Strahlen der Sonne den Horizont dunkelviolett färbten. Auf Spionage stand im Iran die Todesstrafe.

Langsam, im Schritttempo, folgte Cora dem Gebirgspfad, und nach zehn Minuten erreichte sie ohne weitere Zwischenfälle den Aussichtspunkt, von dem aus sie ihre Mission beginnen würde. Sie parkte den Samand in einer breiten Felsnische, legte ihren Kampfanzug mit den taktischen Ausrüstungsgegenständen an und trat an die Spitze des Aussichtspunkts, den sie in einer alten Karte der Region ausgemacht hatte. In dem GPS gestützten Kartenmaterial ihrer Organisation war er nicht verzeichnet gewesen, weswegen Faruk auch nichts davon gewusst haben konnte. Anderenfalls hätte sie auf eine andere Stelle ausweichen müssen. Die Gefahr wäre zu groß gewesen, dass seine Hintermänner ihr auflauerten. Allein, dass er der Organisation gegenüber nicht loyal gewesen war, stellte ein immenses Risiko für die Mission dar.

Cora nahm ihr taktisches Fernglas aus dem Rucksack, schaltete die Nachtsichtfunktion ein und suchte die Umgebung systematisch nach potenziellen Gefahrenquellen ab. Es würde nicht leicht werden, die Anlage zu infiltrieren. Mehrere Wachmannschaften mit Hunden patrouillierten in dem schwer einsehbaren Gebiet außerhalb der Umfriedung, und auch die Forschungsanlage selbst wurde streng bewacht. Neben Containern, in denen die Soldaten untergebracht waren, Treibstofftanks und Parabolantennen konnte Cora Wachtürme, Luftabwehrgeschütze und einen Fuhrpark mit schweren militärischen Einsatzfahrzeugen ausmachen. Die iranische Regierung fuhr offensichtlich schweres Geschütz auf, um das Gelände vor fremdem Zugriff zu sichern. Einer der Gründe, warum die Organisation darauf aufmerksam geworden war. Satellitenbildaufnahmen hatten gezeigt, dass die Anlage seit 2010 ständig erweitert worden war. Welche Ausmaße das Projekt mittlerweile angenommen hatte, war jedoch schwer abzuschätzen, da sich ein Großteil des Geschehens unter Tage abspielte. Das äußere Areal machte nur einen kleinen Teil des gewaltigen Komplexes aus, der sich unterhalb der Oberfläche erstreckte, und aufgrund der hohen Vorkommen von mineralischen Erzen im Fels war er gegen jedwede Form von Satellitenaufklärung abgeschirmt.

Cora verstaute das Fernglas wieder in ihrem Rucksack, glitt über die Kante des Aussichtspunkts und machte sich im Schutz der Dunkelheit an den Abstieg. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit arbeitete sie sich von Vorsprung zu Vorsprung, hangelte an Kanten entlang und ließ sich schließlich über zwei Meter in die Tiefe fallen, wo sie sich auf dem Boden nahezu lautlos abrollte. Hinter einem kargen Strauch suchte sie Deckung, um sich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie sich weiter vorarbeitete. Hier war sie ganz in ihrem Element. Aufgewachsen in den Bergen von Utah, hatte sie Fähigkeiten wie Klettern und Schleichen in freiem Gelände über die Jahre perfektioniert. Wenn ihr Großvater sie auf die Jagd mitnahm, übten sie sich oft tagelang im Schweigen und lautlosen Fortbewegen. Fähigkeiten, die ihr jetzt das Leben retten konnten, doch daran dachte sie nicht, während sie sich durch Engstellen zwängte, über aus dem Boden aufragende Felsen hinwegsetzte und unter umgestürzten Schieferblöcken hinwegtauchte. Sie war hochkonzentriert. Jeder Fehler konnte die sofortige Entdeckung nach sich ziehen. Der Zaun war nun kaum noch einen Steinwurf entfernt, und sie nutzte die spärliche Vegetation, um sich unbemerkt zu nähern. Nichts deutete darauf hin, dass der Maschendraht unter Strom stand, doch sie ging kein Risiko ein. Mit einem Strommessgerät, das in ihre schwarzen Handschuhe integriert war, prüfte sie die einzelnen Drähte. Nichts!

Der Augenblick war günstig. Die Wachen hielten sich in der Nähe ihres Postens auf und machten keine Anstalten, das Gelände abzusuchen. Sie wirkten entspannt, rauchten, lachten. Cora war das nur recht.

Sie machte sich daran, eine Lücke in den Zaun zu schneiden, die groß genug war, damit sie hindurchschlüpfen konnte. Doch bevor sie ihre Arbeit beenden konnte, vernahm sie laute Stimmen und Schritte, die in ihre Richtung kamen. Taschenlampen wurden geschwenkt, und das zähnefletschende Knurren von Hunden war zu hören.

Verdammte Mistköter! Was die Soldaten an Dummheit und Langweile mitbrachten, glichen die Hunde mit ihrem Spürsinn und Instinkt wieder aus. Vorsichtig zog sich Cora zurück. Wenn die Hunde tatsächlich ihre Witterung aufgenommen hatten und nicht irgendeinem Hasen hinterherjagten, musste sie einen Weg finden, sie abzuschütteln. Am besten, indem sie falsche Fährten legte, die ins Nichts führten. Wasser hätte sich dafür angeboten, doch hier oben war der Boden so trocken, dass er stellenweise aufplatzte. Sie brauchte eine andere Lösung … und das schnell.

Die Soldaten kamen näher. Sie hatten die Stelle, an der sich Cora am Zaun zu schaffen gemacht hatte, fast erreicht. Die Hunde zogen sie jedoch von dort weg in die Felswüste. Cora lächelte zufrieden und ließ den wilden Oleander fallen. Erst hatte sie so viele Stellen wie möglich mit ihren bloßen Händen berührt, um die Hunde dorthin zu locken und ihren Körpergeruch dann mit dem Oleander übertüncht. Sie presste sich mit dem Rücken gegen einen Felsblock und hoffte, dass die Soldaten bald aufgeben und wieder abziehen würden. Doch anstatt das Anschlagen der Hunde als Fehlalarm zu interpretieren, begannen sie damit, die Umgebung genauer abzusuchen. Cora spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Langsam wurde die Situation brenzlig. Mit so viel Widerstand hatte sie nicht gerechnet. Zumindest nicht vor dem Betreten der Anlage.

Die Männer unterhielten sich nun aufgeregt. Sie waren zu dritt, und einer von ihnen ging direkt auf das Loch im Zaun zu, das von den Büschen gut verdeckt wurde. Cora musste etwas unternehmen. Wenn die Soldaten Alarm schlugen, konnte sie die Mission abblasen. Monatelange Vorbereitungen wären umsonst gewesen. Wütend biss sie sich auf die Unterlippe. Schlechter hätte es nicht laufen können.

Sie schlich um zwei Felsblöcke herum, drückte sich in eine dunkle Nische und zog ihre schallgedämpfte Pistole. Von ihrer Position aus hatte sie den Wachtrupp und die beiden Hunde bestens im Blick, doch alle nacheinander auszuschalten, ohne das einem die Flucht gelang, war praktisch unmöglich.

Cora blieb keine weitere Zeit zum Überlegen. Der Soldat, der sich vom Trupp entfernt hatte, leuchtete mit seiner Taschenlampe auf das Loch im Zaun. Für einen Moment schien es, als würde er es übersehen, doch dann versteifte er sich und seine Lippen formten sich zu einem lauten Schrei. Cora feuerte. Die Teilmantelgeschosse schlugen im Kopf des Mannes ein, zertrümmerten seinen Schädelknochen und drangen tief ins Gehirn. Für einen kurzen Augenblick hielt er sich noch auf den Beinen, als wäre ihm nur schwindelig, dann kippte er vornüber. Cora nutzte die wertvollen Sekunden, um auf die beiden anderen anzulegen. Den zweiten Soldaten schickte sie mit zwei Kugeln in die Brust ins Jenseits. Keuchend, mit blutigem Schaum vor dem Mund, brach er zusammen.

Die Hunde reagierten umgehend und preschten vor, ließen Cora keine Wahl, als zurückzuweichen und ihr Kampfmesser zu ziehen. Der größere von beiden, ein deutscher Schäferhund, setzte zum Sprung an. Cora duckte sich unter ihm hinweg, schnitt ihm im Flug die Flanke auf, und ein schrilles Jaulen zerriss die Nacht. Der andere Hund schien instinktiv zu spüren, dass ihm Gefahr drohte, jagte jedoch im Kreis um Cora herum.

Was dem dritten Soldaten Zeit verschaffte. Cora sah, wie er anstatt zur Waffe zum Funkgerät griff. In den nächsten ein, zwei Sekunden würde sich ihr Schicksal entscheiden. Aber noch hatte sie eine Chance, einen Versuch, den Fehlschlag zu bereinigen. Den Kampfhund ignorierend, stürzte sie vor, machte einen Hechtsprung, rollte sich vor den Füßen des bärtigen Mannes ab und warf ihn mit ausgebreiteten Armen zu Boden. Sie kamen ins Rangeln, doch kaum hatte Cora die Oberhand gewonnen, fraßen sich die spitzen Fangzähne des Dobermanns in ihren Unterschenkel. Der Schmerz ließ sie für einen kurzen Moment ihren Griff lockern, und der Soldat befreite sich. Aber Cora reagierte blitzschnell. Mit einer Beinschere brachte sie ihn erneut zu Fall, drehte sich über die Hüfte herum und warf den Hund mit einem gezielten Tritt in die Schnauze zurück. Hinter ihr klickte es. Der Wachposten hatte sein Sturmgewehr in Anschlag gebracht und brüllte etwas. Doch Cora dachte nicht daran, sich zu ergeben. Wie eine Turnerin schnellte sie hoch, machte einen Radschlag rückwärts und trieb dem Soldaten ihr Kampfmesser in die Brust, während sie wieder auf die Füße kam. In der Hocke verharrend, wartete sie, dass der Mann hinter ihrem Rücken einknickte.

Stille senkte sich über das Areal. Nicht einmal ein Windhauch ließ die dürren Sträucher erzittern. Cora verharrte noch immer, darauf gefasst, jeden Moment das schrille Heulen von Alarmsirenen losbrechen zu hören. Doch nichts dergleichen geschah. Es blieb still. Erleichtert atmete sie auf und erhob sich. Jetzt würde sich herausstellen, woran die Iraner in dieser geheimen Anlage arbeiteten.

Kapitel 3

Gegenwart, 13. April

Deutschland, Heidelberg

Über Heidelberg hatten sich dichte Wolken zusammengezogen und hüllten die Stadt in ein tristes, graues Gewand. Regen lief an den Fensterscheiben von Dr. Elizabeth Carmichaels’ Praxis herunter, und die Straßenlaternen warfen ihr fahles, schmutzig-weißes Licht herein. Die Ärztin hatte die Innenbeleuchtung gedimmt, und Ricarda Neumann spürte nur noch wenig von der Behaglichkeit, die diesen Räumen das letzte Mal innegewohnt hatte. Die Atmosphäre war gedrückt, um nicht zu sagen hoffnungslos.

Dr. Carmichael hatte ihre halbmondförmige Lesebrille abgesetzt und starrte an Ricarda vorbei in den wolkenverhangenen Himmel.

»Wussten Sie, dass Regen ein Symbol für den Neuanfang ist?«

Ricarda schüttelte den Kopf. Obwohl sie kaum geschlafen hatte und vor Nervosität am liebsten die Wände hochgegangen wäre, versuchte sie, so gelassen wie möglich zu wirken. Dr. Carmichael hatte ihr am Telefon gesagt, dass Maries Tests ausgewertet seien und sie die Ergebnisse nun gerne persönlich mit ihr besprechen würde. Ricarda hatte zugestimmt und war in die Praxis gefahren; Marie hatte sie diesmal zu Hause bei ihrem Mann gelassen.

Wenn er wüsste, was ich jetzt tue! Ricarda versuchte den Gedanken daran zu verdrängen. Sie hatte immer geglaubt, in Adrian einen Seelenverwandten gefunden zu haben, einen Menschen, der ihr manchmal näher war als sie selbst. Er war charmant, bisweilen zuvorkommend, überaus gutaussehend mit seinen vollen, hellbraunen Haaren … der Typ Mann, von dem man meinen würde, ihn auf einer Vernissage oder einer dieser High-Society Veranstaltungen kennenzulernen, wo Kodizes wie »no brown after six« tatsächlich immer noch hochgehalten wurden. Aber Adrian war anders gewesen, ausgeglichener. Ruhige Abende und ausgesuchte Konzerte zog er dem Society-Trubel vor. Ein Mann, mit dem man nicht nur lachen, sondern auch tiefgründige Gespräche führen konnte. Vom ersten Augenblick an, seit dem Tag, an dem sie sich kennengelernt hatten, im Theater, während einer der miserabelsten Aufführungen von Macbeth, die je dargeboten worden war, war Ricarda von ihm fasziniert gewesen. Von der Selbstverständlichkeit, mit der er das Leben anging, als wäre die Frage nach dem Sinn und dem Sein nur ein Ausdruck zweifelhafter Natur. Adrian war Mysterium und offenes Buch zugleich. Zwar liebten sie sich trotz der familiären Schwierigkeiten noch immer – beide bedauerten, was sie einander im Streit an den Kopf warfen –, doch wurden die Differenzen zwischen ihnen mit jedem Tag schwerer beizulegen. Wenn es um Maries Wohl ging, vertraten sie völlig verschiedene Standpunkte. So hatte Adrian aus seiner Antipathie gegenüber Homöopathie und anderen alternativmedizinischen Verfahren auch nie einen Hehl gemacht. Er war in dieser Hinsicht sehr konservativ, was nicht zuletzt auf seine Tätigkeit als Biochemiker zurückzuführen war. Für ihn zählte nur, was wissenschaftlich belegt werden konnte. Seine Sturheit verdankte er seinen britischen Wurzeln. Hineingeboren in ein altes englisches Adelsgeschlecht, war es unvermeidbar gewesen, dass er sich gewisse, nun ja, aristokratische Züge aneignete und gelegentlich auch solche Verhaltensmuster an den Tag legte. Wozu auch gehörte, mit stoischer, teils überheblicher Gelassenheit alles abzustreiten, was nicht in sein Weltbild passte. Aber manche Dinge waren eben größer, größer als die Wissenschaft. Ricarda war bereit, daran zu glauben, die Existenz des Unerklärlichen zu akzeptieren. Wieso sollte es ausgeschlossen sein, dass es Dinge gab, die der Mensch einfach nicht verstehen konnte, die über das hinausgingen, was ein menschliches Gehirn imstande war, zu begreifen? Deswegen musste es doch noch lange nicht übernatürlich sein.

Dr. Carmichael atmete tief ein, als wollte sie den nun folgenden Worten mehr Bedeutung verleihen oder sich dafür wappnen.