Kontur eines Lebens - Jaap Robben - E-Book

Kontur eines Lebens E-Book

Jaap Robben

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Beschreibung

Die junge Floristin Frieda wächst in den Sechzigerjahren in einem streng katholischen Umfeld auf. Als sie an einem späten Winternachmittag einen zugefrorenen Fluss betritt, weiß sie nicht, dass sich gleich alles für sie verändern wird. Auf dem Eis trifft sie den verheirateten Otto. Sie erleben eine Liebe, die stürmisch beginnt und schicksalhaft endet: Frieda wird schwanger – ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Und so darf sie ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch als sie mit über achtzig Jahren in ein Pflegeheim zieht, beginnt sie, sich ihnen zu stellen und sie zu teilen. ›Kontur eines Lebens‹ ist der Roman einer großen Liebe und ihres Scheiterns, die Geschichte einer unglaublich starken Frau, die sich gegen alle Widrigkeiten behauptet. »Kein Wort an der falschen Stelle, kein Satz, der nicht glänzt, und kein Absatz, der einen nicht bis in die tiefste Faser berührt.« HET PAROOL

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Die junge Floristin Frieda wächst in den Sechzigerjahren in einem streng katholischen Umfeld auf. Als sie an einem späten Winternachmittag einen zugefrorenen Fluss betritt, weiß sie nicht, dass sich gleich alles für sie verändern wird. Auf dem Eis trifft sie den verheirateten Otto. Sie erleben eine Liebe, die stürmisch beginnt und schicksalhaft endet: Frieda wird schwanger – ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Und so darf sie ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch die Trauer um das verlorene Kind bleibt, trotz der späteren Heirat, trotz des Sohns, den sie noch bekommt. Im Alter von einundachtzig Jahren ist Frieda plötzlich wieder allein. Der stille Kummer kehrt mit Wucht zurück. Erst da wagt sie, sich ihrer Geschichte zu stellen – und sie zu teilen.

»In ›Kontur eines Lebens‹ erzählt Robben die Geschichte vieler Frauen aus einer Zeit, die noch nicht sehr weit hinter uns liegt. Ein besonderer Roman, der Mitgefühl vermittelt.«

DAGBLAD VAN HET NOORDEN

© Stephan Vanfleteren

Jaap Robben, geboren 1984, ist ein niederländischer Dichter, Schriftsteller, Dramatiker und Übersetzer. Seit 2004 publiziert er Lyrik, Romane, Jugendbücher und Essays. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet, die Romane verfilmt und in mittlerweile fünfzehn Sprachen übersetzt. ›Birk‹ (2015) wurde mit dem niederländischen Buchhandelspreis ausgezeichnet. Mit seinem Roman ›Summer Brother‹ stand er auf der Longlist des International Booker Prize. Jaap Robben lebt in Deutschland.

Birgit Erdmann übersetzt vornehmlich aus dem Niederländischen, u.a. Anton de Kom, Chris de Stoop, Toon Tellegen und Lisa Weeda.

Jaap Robben

KONTUR

EINES LEBENS

Roman

Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann

The publisher gratefully acknowledges the support of the Dutch Foundation for Literature.

Die niederländische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel ›Schemerleven‹ bei Uitgeverij De Geus, Amsterdam.

Copyright © 2022 by Jaap Robben

Original title ›Schemerleven‹

First published in 2022 by Uitgeverij De Geus, Amsterdam.

eBook 2023

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Birgit Erdmann

Lektorat: Christina Brunnenkamp

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © akg-images, Berlin

Satz: Angelika Kudella, Köln

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook 978-3-8321-6077-7

www.dumont-buchverlag.de

1

Ich kann an nichts anderes denken. Immerzu sehe ich die blassen Füße von Louis vor mir. Wie sie unter der Rettungsdecke hervorragen. So schutzlos. Seine Pantoffeln, verloren in dem ganzen Durcheinander, der Panik. Seine Füße, so verletzlich, während er in den Krankenwagen geschoben wird.

Die Matratze ist mir viel zu weich. Von der Plastikhülle wird mein Rücken klamm. Auf der Seite liegend kann ich nicht einschlafen. Ich glaube sowieso nicht, dass ich hier jemals schlafen werde.

Ich spähe in die Dunkelheit. Tobias hat vergessen, meinen Radiowecker anzuschließen. Immerhin hat er mir den neuen Fernseher programmiert. Das rote Lämpchen kann ich selbst ohne Brille sehen. An der Tür zum angrenzenden Badezimmer hängt ein grauer Fleck. Meine Tunika für morgen. Die habe ich auch bei der Trauerfeier getragen.

Ich quäle mich hoch. Warme Anismilch.

Irgendwo muss der Schalter der Nachttischlampe sein, aber ich kann ihn nicht finden. Ich taste vorsichtig über den Nachtschrank, damit ich nichts umwerfe. Ich fühle das Sudokuheft, meine Hörgeräte, stoße mit dem Ehering gegen das Wasserglas. Da ist meine Brille. Ich öffne die Bügel und setze sie auf. Der Schalter meiner Nachttischlampe ist näher als gedacht. Meine vertrauten Sachen in diesem fremden Zimmer erschrecken sich vor dem plötzlichen Licht. Die Nägel an der Wand sind noch leer.

Louis mochte es nicht, wenn ich mir nachts Anismilch machte. Weil ich dann allein die Treppe hinunter in die Küche gehen musste. Aber ihn wollte ich nicht darum bitten, denn dann hätte er extra für mich aufstehen müssen.

Ich lasse die Beine über den Bettrand gleiten. »Hier gibt es keine Treppe, die ich hinunterfallen könnte«, murmele ich zu mir selbst. Ich kann noch nicht wieder mit Louis sprechen.

Durch die offene Falttür schlurfe ich ins kleine Wohnzimmer mit der Kochnische. Habe ich heute Nachmittag, als ich mit Nadine die Schränke eingeräumt habe, die Aniswürfel gesehen? Wegen ihres Babybauchs will Tobias nicht, dass sie schwer hebt.

Wahrscheinlich liegen die Würfel noch zu Hause in der Küchenschublade. Unsere halb ausgeräumte Wohnung, in der es jetzt so still ist. Aus Versehen habe ich Nadine heute wieder Sabine genannt. So heißt Tobias’ Ex-Freundin. Ich glaube, Nadine hat es nicht gehört. Nadine, Nadine, Nadine. Louis und ich hatten gedacht, dass Tobias keine Kinder wollte. Als er noch mit Sabine zusammen war, war er entschieden dagegen. Jetzt ist er achtundvierzig, und wir hatten gar nicht mehr damit gerechnet. Da kam er mit Nadine an, die ein ganzes Stück jünger ist.

Louis war gerührt und überglücklich, als sie es uns sagten. Und ich natürlich auch. Ja, ich freute mich für sie. Louis umarmte sie und drückte beiden einen Kuss auf die Stirn. »Das nenn ich mal ein Geschenk.«

Ich stelle meinen Becher in die Mikrowelle, drücke auf den Knopf und warte. Dieses Gerät habe ich von der vorherigen Bewohnerin übernommen, genau wie die Vorhänge und den kleinen Kühlschrank. Alles fast wie neu. Sie muss hier noch vor wenigen Tagen gewohnt haben.

Den Esstisch habe ich von zu Hause mitgebracht, ebenso zwei von den vier Stühlen, unser Büfett und Louis’ elektrischen Sessel. Eine kleine Zusammenfassung unseres Lebens. Wenig heimelig stehen die Sachen nebeneinander. Nur drei meiner Pflanzen durfte ich mitnehmen, denn die Fensterbank ist nicht lang genug. Keine leichte Entscheidung. Um den alten Gliederkaktus tut es mir am meisten leid, aber er ist zu schwer, und es gibt ohnehin keinen Platz für den riesigen Blumentopf. Er oder der Fernseher. Tja. Tobias hat versprochen, ein neues Zuhause für den Gliederkaktus zu finden.

Das Ping habe ich zwar nicht gehört, aber hinter der Scheibe der Mikrowelle ist das Licht aus. Mit dem Becher heißer Milch will ich mich in Louis’ Sessel kuscheln, stattdessen schlurfe ich zu meinem Bett. Den ganzen Abend schon habe ich Angst, ein Pfleger könnte jeden Moment hereinkommen, um mir zu sagen, dass ich etwas Unerlaubtes tue. Oder dass mich jetzt jemand in meinem Nachthemd sieht und fragt, warum ich mitten in der Nacht nicht im Bett liege. Sie würden bestimmt höflich anklopfen, nur kann ich das gerade nicht hören. Mir ist nie wirklich aufgefallen, wie taub ich nachts fürs Flüstern und Schleichen bin, weil ich dann meine Hörgeräte nicht in den Ohren habe. Jetzt beunruhigt mich das.

Durch die Gardine kann ich im Innenhof den Garten sehen. Über den Dächern verwandelt sich das Schwarz der Nacht bereits in ein Dunkelblau. Dass Louis zurückkommt, glaube ich nicht. An so etwas habe ich nie geglaubt. Louis ist nirgends mehr. Trotzdem macht mich der Gedanke traurig, dass er mich hier nicht finden wird, sollte er doch zurückkommen. Ich kenne meine neue Adresse ja selbst nicht.

Ich öffne den Vorhang ein wenig weiter, setze mich auf die Bettkante und puste in die Milch. Immer noch zu heiß. Ich stelle den Becher auf den Nachtschrank und steige wieder ins Bett.

Draußen am Fenster bewegt sich etwas. Ein Nachtfalter. Hören kann ich ihn nicht, sehe aber, wie er oben an der Fensterscheibe kreiselt. Wahrscheinlich lockt ihn das Licht meiner Nachttischlampe an.

»Du musst in die andere Richtung fliegen«, flüstere ich. »Das ist eine Lampe und nicht der Mond.« Jetzt flattert er wieder. »Was bist du denn für einer?« Ich nippe an meiner Milch ohne Anis. Wahrscheinlich ist es einer dieser haarigen Nachtfalter, die unter grauen Flügeln einen bunten Unterrock verbergen. Ich nehme ein paar Schlucke und schalte das Licht aus. Die schwarze Silhouette krabbelt über die Fensterscheibe. »Gute Nacht, Motte.« Ich setze die Brille ab. »Ich versuch’s noch mal.«

Morgen darf ich nicht vergessen, Tobias zu bitten, mein Kopfkissen mitzubringen. Ich seufze. Und die Aniswürfel. Ich seufze noch einmal, schließe die Augen. Da sind die Füße wieder. Kurz bevor jemand vom Notarztteam ihn mit der Rettungsdecke zudeckt.

»Ach, Louis.«

Die letzten Jahre hat mich Louis ohne Pflegedienst »durchgebracht«. So nannte er das, wenn man ihn darauf hinwies, dass er Hilfe beantragen könne. An unserem Tisch saß einmal so eine sachliche Frau mit einer Mappe voller Formulare. Wir hatten sie auf Tobias’ väterliches Drängen hin zu uns gebeten. Weil ich pflegebedürftig sei, stünden wir recht weit oben auf der Liste für betreutes Wohnen, erklärte sie uns. Andere Fälle hätten allerdings Vorrang, weil Louis noch »so fit ist«. Das flüsterte die Frau, wodurch es wie ein geheimes Problem klang, das sie nicht für uns lösen konnte.

Selbstverständlich könne man jemanden vorbeischicken, um mir morgens beim Aufstehen, Waschen und Anziehen zu helfen. Dreimal die Woche, und das würde Louis keinen Cent kosten. »Wollen wir das so machen?«

Ich wurde nicht gefragt. Louis verschränkte die Arme vor der Brust, und seine Antwort lautete nein. Mit einer Entschiedenheit, die ich von ihm nicht kannte. »Duschen bedeutet für uns gemeinsame Zeit, die lasse ich mir nicht nehmen.« Unter dem Tisch suchte ich seine Hand und drückte sie. Den Rest des Gesprächs blieben wir Händchen haltend sitzen. »Ich werde sie waschen bis zum Schluss.«

Wer hätte gedacht, dass ich Louis überleben würde? Niemand. Nicht einmal er selbst.

***

Jemand ist in meinem Zimmer. Bewegungen, Farben. »Tobias?« Man reicht mir meine Brille und die Hörgeräte.

»Guten Morgen, die Dame.« Ein junger Kerl. Zwei lebhafte Augen und ein Bart, streng getrimmt wie ein deutscher Vorgarten.

»Guten Morgen.«

»Kommen Sie? Wir werden Sie jetzt schön duschen.« Er bietet mir seinen Arm an. Zuerst denke ich, er hätte ein langärmliges T-Shirt an, doch nein: Er ist bis zu den Handgelenken tätowiert. Meine Füße berühren den kalten Fußboden. Mein Nachthemd ist hochgerutscht. Ich ziehe es schnell herunter.

»Wie heißen Sie denn überhaupt?«, frage ich.

»Oh, entschuldigen Sie.« Er schüttelt mir die Hand. »Ich bin Jamie.«

In dem kleinen Badezimmer springt das Licht automatisch an, die Lüftung beginnt zu rauschen. Ich weiß um meinen Morgenatem, deshalb antworte ich einsilbig hinter vorgehaltener Hand. Der Spiegel zeigt mein wirres, zu Berge stehendes Haar. Schranktüren werden geöffnet und zugeknallt. Jamie bringt ein Handtuch, Duschgel und zwei Waschlappen. Er bewegt sich hier so selbstverständlich, dass ich mir wie ein Gast vorkomme.

»Konnten Sie ein wenig schlafen?«

»Ging so.«

»Die erste Nacht ist die schlimmste.«

»Ja?«

»So geht es allen neuen Bewohnern.«

»Ich bezweifle, dass ich hier je gut schlafen werde.«

»Doch, bestimmt«, sagt Jamie und deutet auf die Dusche. »Wollen wir?«

Ich ziehe mein Nachthemd hoch und spüre Jamies Hände auf dem Stoff. »Das ist nicht nötig. Lassen Sie mich das machen. Ich kann das noch selbst.« Trotzdem muss er mir helfen, es mir über den Kopf zu ziehen.

»So«, sagt er.

Ich drehe ihm meinen nackten Rücken zu.

»So.« Meine Nachtwindel nimmt er mir mit einem geübten Handgriff ab. Automatisch presse ich meine Schenkel zusammen, weil ich mich dort plötzlich berührt fühle. »So.« Das sagt er bei allem, was er tut. Ich könnte nackter nicht sein. Nur die Kette mit dem roten Alarmknopf baumelt noch vor meinen Brüsten.

»So.« Um das Wasser auf die richtige Temperatur zu bringen, richtet Jamie den Duschkopf erst mal gegen die Wand. Kalter Nebel weht mir entgegen, Gänsehaut läuft mir über den Rücken. Ich darf mich auf einen weißen Hocker setzen. Ich halte mich noch krummer, als ich bin, und würde mich am liebsten zusammenrollen. Ich wachse und schrumpfe mit jedem Atemzug. Unten, wie in weiter Ferne, sehe ich meine Füße, lila vor lauter Adern. Mit diesem jungen Mann so nah bei mir erscheinen sie mir noch dunkler als sonst. Meine Knie mit den langen Narben an den Seiten. Mein Bauch, den er Falte um Falte wird waschen müssen, die Haut wie weiches Krepppapier. Die Muttermale, die man nur abtupfen darf. Und die Brüste. Ach, meine Brüste. Ich kann nichts dagegen tun, ich verstecke sie hinter meinen Armen.

»Hier.« Jamie hält mir einen Waschlappen hin. »Damit können Sie sich vorne selbst waschen.«

Behutsam besprenkelt er erst meine Füße. »Nicht zu heiß?«

»Gerade richtig.« Dass ich meinen Urin nicht mehr einhalten kann, bemerkt er zum Glück nicht, weil er mir mit seinem Waschlappen den Rücken wäscht. Das macht er unerwartet gut. Nicht ganz so wie Louis, aber doch grob genug. Ich brumme, was Jamie nicht hört. Zum Glück. »Du bist ein guter Junge«, sage ich. Das hört er, glaube ich, auch nicht.

Wenn Louis mich manchmal zu sanft abschrubbte, sagte ich zu ihm, er solle sich vorstellen, er müsse hartnäckige Vogelscheiße von einer Fensterscheibe kratzen.

»So. Kurz die Arme heben.« Er seift meine Achseln ein und braust sie ab. »Können Sie sich hinstellen?« Ich muss mich an einem heruntergeklappten Griff festhalten. Der Waschlappen gleitet zwischen meine Pobacken. »Sind Sie vorne auch schon so weit?«

»Äh …« Bei Louis durfte ich immer den Boiler leer duschen, Jamie aber dreht den Hahn schon wieder zu. Seine schnellen Bewegungen entfachen einen kalten Wind. »Oh, warten Sie … ich habe völlig vergessen, Kleider für Sie rauszulegen.« Schnell schüttelt er ein großes Handtuch auf, drapiert es um mich und geht ins Schlafzimmer.

»Ich möchte heute die Tunika tragen«, rufe ich ihm hinterher. Schranktüren werden geöffnet und geschlossen, eine Schublade aufgezogen.

»Welche?«

»Sie hängt auf einem Bügel an der Badezimmertür.«

Kurz ist es still, wodurch ich nicht weiß, was er treibt. »Möchten Sie darunter die weiße Bluse anziehen? Oder ist die für eine andere Gelegenheit?«

»Nein, die Bluse gehört dazu, gerade heute. Und auf dem Stuhl liegt eine Strumpfhose.«

Jamie erscheint im Türrahmen. »Die hier?«

»Ja.« Die anderen Kleidungsstücke hängen schlapp über seinem Arm. Ganz oben ein Schlüpfer und mein BH. Ich trockne mich ab, zumindest dort, wo ich hinkomme. Jamie legt die Kleider ordentlich auf den Klodeckel.

»Haben Sie heute etwas Besonderes vor?«

»Wie meinen Sie das?«

»Na ja, weil Sie sich so hübsch machen.«

»Mein Sohn holt mich heute Mittag ab.«

»Wie nett.«

»Na ja.«

»Etwa nicht?«

»Doch, doch, aber …« Es gelingt mir nicht, meine Füße abzutrocknen. Jamie kniet sich vor mich und sieht fragend zu mir auf, gespannt, was ich wohl sagen werde. »Wir verstreuen heute meinen Mann.«

2

Wir hatten Rummikub gespielt, und ich schob die Steine zusammen. Louis setzte Wasser für die Tasse Tee auf, die wir zum Schlafengehen immer mit nach oben nahmen. An diesem Abend sagte er wie aus dem Nichts: »Vielleicht ziehe ich bald öfter mal los.«

»Bald?«

Er stand mit seinem Rücken zu mir.

»Wann genau meinst du?«

»Na ja, du verstehst schon. Bald …«

»Du meinst, wenn ich … wenn ich nicht mehr da bin?«

Entschuldigend zuckte er die Schultern. Er konnte schließlich auch nicht ändern, dass die Zukunft eine Tatsache war.

»Aber … ich bin doch noch da.«

»Ich wollte damit nur sagen, dass du keine Angst haben musst. Dass ich verkümmere oder so.« Ich glaube, das sagte er, um mich zu beruhigen. Vielleicht fühlte er sich unbehaglich, weil ich ihn dabei ertappt hatte, wie er gebrauchte Wohnmobile gegoogelt hatte.

»Wenn du das so gern möchtest, warum fährst du dann nicht jetzt einfach los? Ohne mich.«

»Und wer kümmert sich dann um dich?«

»Das schaffe ich schon allein. Oder ich rufe Tobias an.«

Und dann lag Louis mit einem Mal auf dem Gartenpfad. Eines Morgens, einfach so. Wahrscheinlich wollte er die Brottüte im Vogelhäuschen ausleeren.

Seine Beine zuckten. Das Gras war noch feucht. Es dauerte ewig, bis ich mit meinem elenden Rollator bei ihm war. Ich stürzte neben ihm auf die Knie und versuchte, ihn zum Leben zu streicheln, schütteln, schreien. »Huh … huh … huh …« war das Einzige, was er herausbrachte. Bei jedem Ausruf sperrte er die Augen auf, aber er nahm nichts mehr wahr.

Ich versuchte aufzustehen, um den Notarzt zu rufen, schaffte es aber nicht allein. Die Nachbarin kletterte schon über den Zaun. Jemand rief, Hilfe sei unterwegs. Die Nachbarin riss Louis’ Hemd auf, die Knöpfe sprangen ab wie Popcorn. Rhythmisch drückte sie auf den Brustkorb, bis das Notarztteam durch den Garten gerannt kam. Jemand half mir auf und setzte mich auf den Sitz des Rollators. Hände tasteten Louis ab. »Kein Puls!« Das Notarztteam rollte ihn auf ein Laken und hob ihn auf die Trage. Zwei Bügeleisen auf seine Brust, sein Körper spannte sich an, krümmte sich, erschlaffte. Die Hände öffneten sich. Er hatte losgelassen. »Kein Puls.« Das Notarztteam versuchte es noch einmal. Danach schoben sie die Rettungstrage durch die Küche in den Flur, die Teekanne zerschellte auf dem Küchenboden in Spritzer und Scherben. Ich ging hinter ihnen her, hielt mich an den Türrahmen fest, an Wänden, einem Stuhl, den Jacken an der Garderobe. Hinter mir fiel alles um. »Louis!«, rief ich. »Louis!« Der Rettungswagen hatte die gesamte Nachbarschaft an die Fenster gelockt. Alles leuchtete pulsierend blau auf. Eine Goldfolie wurde über Louis ausgebreitet. »Wo bringen Sie ihn hin?« Während die Trage in den Rettungswagen geschoben wurde, sah ich, wie aus dem Kokon der Wärmedecke seine grauweißlichen Fußsohlen ragten, wehrlos. Zur Seite gefallen. Ich konnte nur rufen: »Louis! Louis!« Irgendwer musste diese Füße doch warmhalten. »Wo bringen Sie ihn hin?« Die Hecktüren wurden zugeschmissen. Niemand antwortete. »Sagen Sie mir, wohin Sie ihn bringen!« Ein zweiter Krankenwagen stand etwas weiter weg quer auf der Straße. Zwei Sanitäter kletterten zu Louis nach hinten. »Sie dürfen ihn mir nicht wegnehmen!« Plötzlich stand eine Polizistin vor mir, das Gesicht dicht an meinem. Ihre Lippen bewegten sich. Meine Hörgeräte verzerrten alles zu Pfeifen und Quietschen. Später stellte sich heraus, dass sie durch meinen Angstschweiß nicht richtig funktioniert hatten. »Sagen Sie mir bitte, wohin Sie ihn bringen«, flehte ich. Ein Nachbar von gegenüber, den ich kaum kannte, kam auf mich zu und wollte mich in den Arm nehmen, beruhigen. Ich riss mich los, doch ohne seine Unterstützung konnte ich mich nicht aufrecht halten. Der Rettungswagen fuhr schon an. »Louiiiis!«, brüllte ich aus meinem tiefsten Inneren heraus und so laut, als wollte ich in eine andere Zeit hineinschreien.

Ich hoffe, er hat mich noch gehört.

Jemand hatte meinen Mantel geholt und half mir hinein. Ich war ja noch im Morgenrock. Man setzte mich in ein Auto, streifte mir Schuhe über die bloßen Füße. Ich wurde angeschnallt. Jemand schloss unsere Haustür ab und zeigte mir, in welchem Fach meiner Umhängetasche man den Schlüssel verstaute. Jemand warf die Tür zu, rannte um die Motorhaube herum und startete das Auto. Es war unsere Nachbarin Esmé. Sie tätschelte mir tröstend das Knie. Wir fuhren die Straße hinunter, während alle anderen wieder zu ihrem eigenen Leben zurückkehrten. Auf meine Frage, wohin sie Louis brächten, schrie sie: »Ins Sint-Ca-ni-si-us! Sint-Canisius-Krankenhaus!«

Ich sah Louis wieder. Er lag mit einem Laken bedeckt auf einem Metallbett. Obwohl es laut der Wanduhr mitten am Vormittag war, kam es mir unwirklich vor, dass zu diesem Moment eine Uhrzeit gehörte, zu diesem Tag ein Datum. Louis lag da mit seinem Schlafgesicht: So sah er immer aus, wenn er seine Brille nicht aufhatte.

Von den bräunlichen Schlieren auf seiner Stirn wanderte mein Blick zu einer Schürfwunde in seinen Haaren, die noch glänzte, aber natürlich nicht mehr blutete. Er fühlte sich kalt an, vertraut und doch fremd. »Ach, Louis, mein Louis.« Ich küsste ihn, seine Lippen gaben nach, schlaff. Die Bartstoppeln an seinem Kinn kratzten. Dies war sein Körper, ja, aber schon jetzt ähnelte er in keiner Weise mehr dem Körper, neben dem ich noch vor ein paar Stunden aufgewacht war. Das war nicht mehr die Hand, die unter der Decke meinen Schenkel gesucht und gestreichelt hatte, was seit jeher mit einem sanften Klaps endete. Bevor er aufstand, um Kaffee zu kochen, hatte er meine Schulter geküsst und gesagt: »Gut.« Das war in den letzten Jahren immer sein erstes Wort. Dann: »Los geht’s.« Er hatte sich aufgesetzt und war aus dem Bett gestiegen.

Ich nahm seine Hand. Aber wie ich sie auch festhielt, seine Finger verhakten sich nicht mehr mit meinen.

3

Und jetzt füllt seine Asche ein kleines, in metallischem Blau schimmerndes Eimerchen. Der Großteil stammt von seinem Sarg. Mit Tobias und Nadine stehe ich auf einem akkurat gemähten Rasen. In der Hand halte ich zwei Maiglöckchen, eingewickelt in Küchenpapier. Die werde ich gleich auf die Asche legen. Das Streumädchen fragt, ob wir eine bestimmte Form wünschen. Wahrscheinlich fühlt sich dieses Mädchen längst als Frau. Je älter ich werde, desto jünger kommen mir meine Mitmenschen vor. Jung auf eine Art und Weise, die ihnen selbst gar nicht bewusst ist.

»Form?«

»Ein Herz vielleicht? Den ersten Buchstaben seines Namens? Oder ein Kreuz?«

»Kein Kreuz«, sage ich. Ringsum liegen mehrere weißgraue Häuflein. Vor allem Kreise. Ein einzelner Buchstabe, aber die meisten Formen sind schon verweht.

»Sondern?«

»Hm.«

»Ist doch egal, Mama, oder?«, mischt Tobias sich ein, seine Hand auf meiner Schulter. Immer wenn er mich heute berührt, streichelt er mich auch kurz. »Mama?«

»Ja, das ist egal, Junge.«

»Können Sie nicht einfach …« Tobias zuckt die Schultern, weil er selbst nicht genau weiß, was »einfach« heißen soll. Die junge Frau mit dem Eimerchen nickt eifrig, sie weiß zum Glück genau, was »einfach« bedeutet. Ich bedeute ihr: Bitte fangen Sie an.

Kurz sieht es so aus, als ob gleich etwas passieren wird, wahrscheinlich wegen der weißen Handschuhe und der einstudierten Bewegungen. Langsam drückt sie einen Hebel am Henkel des Eimers, gleich wird sie etwas hervorzaubern. Eine Taube vielleicht. Etwas Lebendiges und Großes, das unmöglich in die kleine Urne passt. Und wir werden applaudieren und in das Eimerchen schauen wollen, um herauszufinden, wie sie das bloß gemacht hat. Aber das passiert nicht. Alles, was Louis je gewesen ist, alles, was ich je lieb hatte, ist nun ein staubiges Häufchen Asche, das mit jeder Kreisbewegung größer wird. Dann ist das Eimerchen leer. Ich warte noch auf einen Rest, doch da kommt nichts mehr. Alles, was Louis sein Leben lang gewaschen, geputzt, mit Zahnseide gereinigt, gekämmt und versorgt hat, alles, was er gewesen ist, liegt hier vor mir zwischen den Grashalmen. Zerpudert und zerpulvert. Zum Verwehen bereit. Unwiederbringlich tot.

Tobias und Nadine stützen mich mit ihren Umarmungen, die vom Weinen erschüttert werden. Durch meinen Tränenschleier erkenne ich ihre Gesichter nicht. Ich streichle eine Wange, küsse eine Stirn, meine Lippen landen halb auf einem Auge, ich versuche es ein Stückchen höher. Ich spende den Trost, den ich eigentlich selbst brauche.

Lieber, lieber Louis. Alles war so schnell vorbei. All die Male, die ich besorgt durch die Gardinen blickte, wenn er im Winter hinausmusste, um für die Apotheke Medikamente auszuliefern, all die Male, die er dann wieder nach Hause kam.

Bedächtig lege ich die Maiglöckchen ab, ohne seine Asche zu berühren. Tobias muss mir helfen, die beiden Stiele sollen dicht beieinanderliegen.

»So?«, fragt er.

»Mhm.«

Ich will meine Taschentücher aus der Umhängetasche holen, aber der Reißverschluss klemmt. Nadine wedelt schon mit einem vor meinem Gesicht. Wir schniefen und lächeln uns durch die Tränen zu. Es fühlt sich an, als seien wir zu dritt bis zum Grund unserer Trauer getaucht und stünden jetzt immer noch tropfend auf dem Trockenen. Tobias drückt Nadine an sich, als müsse sie warmgehalten werden. Weil ich nicht in ihre Umarmung passe, reibt mir Tobi mit ausgestrecktem Arm so gut es geht über die Schulter. Ich schmiege meine Wange an seinen Handrücken, an seine Männerhand.

Wir schnäuzen uns, seufzen tief, umarmen uns noch einmal.

Nadine hakt sich bei mir unter. So verlassen wir die Rasenfläche. Hinter uns schiebt Tobias meinen Rollator auf den Weg. Ich grinse über einen Scherz von ihm, den ich nicht verstanden habe. Auf die Trauer folgt Erleichterung, wie bei einem Zimmer nach dem Ausräumen.

Das Streumädchen in ihrem adretten dunkelblauen Hosenanzug steht diskret ein paar Schritte von uns entfernt. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Ihre behandschuhte Hand deutet in die Richtung, aus der wir vorhin gekommen sind.

Durch das Weinen sind meine Atemzüge nun tiefer, mein Brustkorb fühlt sich leer an, geräumiger. Ich putze mir die Nase, trockne meine Wangen und huste ein paarmal.

Nadine bringt mich zu meinem Rollator und hakt sich bei Tobias ein. »Wird es gehen, Frieda?«

»Danke, Liebes. Geht nur voraus.«

Wenn sie drei Schritte machen, falle ich zwei zurück. Die junge Frau vom Bestattungsinstitut bleibt an meiner Seite. Sie hat die Handschuhe ausgezogen, die Urne baumelt wie ein Strandeimer an ihren Fingern. Schweigend begleitet sie mich auf dem Weg zum Friedhofstor. Sie kann auf eine sehr natürliche Weise schlendern. Die Reifen des Rollators hinterlassen Furchen im Kies. Ich komme mir vor wie ein Pferd, das einen Pflug vor sich herschiebt. Wir gehen an einem neuen Seitenpfad vorbei. So heftig, wie ich schnaufe, muss ich der Wind sein, der die Blätter an den Bäumen rascheln lässt.

Kurz anhalten.

Zu Atem kommen.

Manche Trauerkränze sind so schlampig gebunden, dass ich mich frage, warum die Leute sich damit zufriedengeben. Früher im Blumenladen war ich oft einen ganzen Morgen mit einem schönen Kranz beschäftigt.

Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die Schrift auf den ersten Grabsteinen zu entziffern.

»Soll ich Ihnen einen Rollstuhl holen?«

»Nein, nein.« Ich schiebe den Rollator weiter. Sie geht hinter mir her. Ich höre, wie sie mit ihren schicken Schuhen die Spuren verwischt, die ich im Kies hinterlasse. Bei einem hohen Nadelbaum muss ich erneut eine Pause einlegen. Ich setze mich auf den Sitz meines Rollators und bedeute ihr, dass sie ruhig weitergehen könne. Aber sie schüttelt den Kopf. Der Riesenbaum gehört zu einem Grabstein, den es nicht mehr gibt. Die Wurzeln haben die Deckplatte zerstückelt und angehoben.

»Der liegt hier schon … eine ganze Weile«, keuche ich, um irgendetwas zu sagen.

Weil dem Mädchen die Stille wohl auch zu lange dauert, bückt sie sich und biegt die verdorrten Zweige zur Seite.

»Ja, seit 1956.«

»Wie lang bleibt … so ein Grab?«

»Das hängt von den Angehörigen und ihren finanziellen Möglichkeiten ab. Die meisten entscheiden sich heutzutage für eine Einäscherung. Um den Hinterbliebenen keine Arbeit zu machen.«

»Gibt es hier noch mehr alte Gräber?«

»Wie alt meinen Sie denn?«

»Von 1963 zum Beispiel.«

»Die sind hauptsächlich dort drüben.« Sie wedelt mit der Hand in Richtung einer Buchenallee. »Aber es werden immer weniger. Anstelle der eingefriedeten Gräber wurden im Laufe der Jahre neue angelegt. Suchen Sie jemanden Bestimmten?«

Ich schüttele kaum merklich, aber entschieden den Kopf.

»Einen Mann oder eine Frau?«

Tobias und Nadine haben das Ende des Wegs erreicht. Er dreht sich um und bemerkt, dass wir zurückgeblieben sind. Sie umarmen sich. Vor allem umarmt er Nadine, immerhin ist sie einen Kopf kleiner.

»Ich kann es herausfinden.« Aus der Innentasche ihres Hosenanzugs holt sie ihr Handy. Mein Herzschlag dröhnt in meinen Fingerkuppen. Vor meinen Augen schwirren weiße Fliegen. Sie wischt über das Display, tippt etwas ein und schüttelt den Kopf. »Ich könnte noch … Hier stehen die …« Mit Daumen und Zeigefinger vergrößert sie etwas. »Es gibt nur noch wenige von Anfang 1963. Und in einem Familiengrab wurde im Sommer 1963 auch jemand beigesetzt.« Sie deutet über ihre linke Schulter. »Ich kann Sie gern hinbringen, wenn Sie möchten.«

»Nicht nötig.«

Bevor das Streumädchen noch etwas sagen kann, schiebe ich meinen Rollator wieder über den Kies.

»Ich komme schon«, rufe ich Tobias zu.

»Geht es, Mama?«

»Ja, Junge, deine Mutter kann nur nicht mehr so schnell.«

»Wollen wir in der Villa Brakkesteyn noch etwas trinken?«, fragt Tobias, während er den Rollator zusammenklappt und im Kofferraum verstaut. »Oder lieber in der Thornse Molen? Da ist jetzt ein kleines Restaurant. Oder möchtest du woandershin? Wir können auch zurück in die Vergangenheit, wenn du willst.«

»Eine Tasse Kaffee wäre schön. Ihr dürft entscheiden, wo.«

»Keine Runde durch Früher?«

»Ein anderes Mal, ja?« Tobias hat das immer gern mit Louis gemacht, unsere Geburtshäuser anstarren, voller Neugier, ob die heutigen Bewohner irgendetwas umgebaut hatten, dann weiter zu Tobias’ alter Grundschule. Doch das meiste von früher steht schon lang nicht mehr.

»Geht es einigermaßen?«, fragt Nadine. Sie stellt mir immer wieder eine andere Variante derselben Frage.

»Ja.« Ich lächele. »Es geht schon.« Nadine knöpft die Jacke auf, und ich bemerke mit einem Mal die Wölbung ihres Bauchs. Sie reibt am kneifenden Hosenbund entlang. Als sich unsere Blicke treffen, lächele ich flüchtig.

»Willst du vielleicht noch schnell nach Hause?«, funkt Tobias dazwischen.

»Nach Hause?«

»Ende des Monats müssen wir die Schlüssel bei der Baugenossenschaft abliefern, wir haben also noch etwas Zeit. Ich kann dich auch nächste Woche mal abholen, wenn du willst.«

Im Auto fragt er dann: »Können wir?«

Ich nicke.

Doch plötzlich habe ich das Gefühl, dass wir Louis vergessen haben und ihn einfach so hier zurücklassen. Das bittere Bedauern, dass es kein Grab mit seinem Namen gibt. Louis wollte es so. Dass er wirklich nirgends mehr ist.

Nadine blickt mich durch die Kopfstützen an, legt mir die Hand auf das Knie. »Wie fühlt es sich an?«

»Was?« Ich weiß nicht, welches Gefühl ich jetzt schon wieder in Worte fassen soll.

»Einfach das Ausstreuen.«

Weil ich nicht verärgert auf die ganze Fragerei reagieren will, starre ich in die Ferne zur Buchenallee. »Gut, ja, Liebes.« Ich tätschele kurz ihre Hand. »Jetzt erzähl doch mal: Was macht die Arbeit?«

4

Und dann sitze ich wieder in meinem neuen Zimmer am Fenster. In Louis’ Sessel mit der Fernbedienung. Keine Kraft zum Fernsehen, zu müde, um ins Bett zu gehen. Also schaue ich hinaus. Eine Amsel hüpft über den Rasen, pickt nach Würmern für den piependen Nachwuchs in einem verborgenen Nest. Noch ist die Sonne nicht untergegangen, aber es dämmert schon zwischen den Gebäuden.

Zuerst bemerke ich seinen Schatten neben mir auf dem Fußboden. Der Nachtfalter von gestern? Ich schaue auf. Er flattert wieder über die Scheibe, unkontrolliert, im Zickzack, als würde ihn ein betrunkener Pilot steuern.

»Da bist du ja wieder.«

Dieser Nachtfalter ist so groß wie ein kleiner Vogel. »Bist du ein Weinschwärmer?« Es kann sein, dass ich das bei jeder Motte dieser Größe denke, weil ich mir eben diesen Namen gemerkt habe.

Um ihn besser beobachten zu können, muss ich aufstehen. Wie ein Botschafter am Stadttor tickt und tickt er an die Scheibe. Erst jetzt fällt mir auf, dass draußen in der Ecke des Fensters große Spinnweben hängen.

»Gib acht!«, sage ich. Ich strecke den Arm in die Luft, doch der lässt sich nicht mehr hoch genug heben, um den Falter zu warnen.

In einem Zimmer auf der anderen Seite des Innenhofs streckt jemand zögerlich die Hand hoch. »Hallo, hallo«, sage ich und winke. Die Silhouette winkt begeistert zurück.

Der Nachtfalter flattert weiter gegen die Scheibe. »Morgen mache ich die Netze weg«, sage ich. »Ich werde Tobias bitten, einen Stock mitzubringen, damit ich das Fenster öffnen kann.«

Doch dann verfängt sich der Falter in einem der Spinnennetze.

»Oh nein. Nein, nein.« Eine Spinne schießt unruhig über die Fäden. Ich strecke den Arm noch einmal hoch, erreiche das obere Fenster aber wieder nicht. Ich wedele mit der Fernsehzeitung und klopfe gegen die Scheibe, damit sich der Falter vielleicht losmacht, aber es hilft nichts.

Die Lampen! Ich klammere mich ans Büfett, schlurfe vom Esstisch zur Kochnische und mache überall das Licht aus. Das Fenster ist nur noch ein orange-blaues Rechteck. Der Falter kämpft mit dem Spinnennetz. Ich schwinge die Schnur des Sonnenrollos, aber auch das bringt nichts. Nach ein paar Sekunden Regungslosigkeit versucht er wieder loszuflattern. Die Spinne wartet nicht weit entfernt.

Ich greife nach dem Telefonhörer.

»Empfang. Guten Abend, Frau Buitink-Tendeloo. Womit kann ich behilflich sein?«

»An meinem Fenster ist eine Motte.«

»Ja?«

»Könnte vielleicht rasch jemand kommen und sie da wegmachen?«

»In Ihrem Zimmer?«

»Nein, draußen.«

»Draußen?«

»Äh, ja.«

»Sie befindet sich also nicht in Ihrem Zimmer?«

»Nein, aber das arme Tier …« Ich möchte nicht, dass sie mich für verrückt hält. »Sie, äh …«

»Bitten Sie doch morgen früh den Pflegedienst.«

»Es macht mich nervös.«

»Dann schließen Sie den Vorhang. Sie gehen doch wahrscheinlich sowieso gleich ins Bett.«

Ich höre an ihrer Stimme, dass sie auflegen möchte.

»Es ist ein Weinschwärmer. Und die Spinne …«

»Es kommt gerade ein Anruf auf der anderen Leitung, Frau Buitink-Tendeloo. Ich muss auflegen.«

Weil ich es nicht mitansehen kann, wie der Nachtfalter zu entkommen versucht, ziehe ich tatsächlich den Vorhang zu.

Ich gehe ins Bett, schließe die Augen und warte auf den Schlaf.

5

Oft habe ich mich gefragt, ob ich eigentlich existiert habe, bevor ich Otto kennenlernte.

Der Himmel war mit dem frischesten Blau bemalt, das ich je gesehen hatte, und die orange Sonne warf überall lange, scharfe Schatten. Eigentlich verliebte ich mich schon an diesem Nachmittag. Dabei war ich allein zur zugefrorenen Waal gegangen und hatte niemanden, an den ich hätte denken können. Der verdreckte Schnee war geschippt und weggefegt, doch in den Ecken im Windschatten zwischen den abgerissenen Häusern der Unterstadt türmten sich noch immer weiße Dünen, die der Wind ständig in neue Formen blies. In den letzten Wochen war es so kalt gewesen, dass selbst die Uhren an den Laternenpfählen vereist waren. Sie zeigten alle unterschiedliche Uhrzeiten an, was mir als gute Entschuldigung diente, um zu spät zum Abendessen zu kommen. Es war schon absurd, dass ich mich mit meinen einundzwanzig Jahren noch an die Essenszeiten meiner Eltern halten musste.

Ich schlitterte über die Grotestraat und dann schräg hinunter zum weißen Fluss. Ringsum tobende Kinder, die alle als Erste bei der nächsten Pfütze sein wollten, um das Eis mit den Absätzen ihrer Schuhe zu zersplittern. Meist handelte es sich um gefrorenes Putzwasser, das ihre Mütter ausgeschüttet hatten.

»Hier ist noch mehr Eis«, rief ich. »Schaut mal!«

»Juhu!«, grölten sie.

»Halt, wartet kurz«, sagte ich geheimnisvoll und hielt sie auf, bis auch der kleinste Knirps bei uns war. Jetzt konnten wir alle zugleich das Eis auf der Pfütze zertrampeln.

Es war Anfang März 1963. Nach knapp zehn Wochen bitterem Frost war für morgen Tauwetter vorhergesagt. Die Kälte hatte sich schon so lang hingezogen, dass niemand mehr die Energie aufbringen konnte, sich noch darüber zu beklagen. Doch da der Wetterbericht jetzt Frühling versprach, waren alle ausgelassen, und jeder wollte ein letztes Mal über die zugefrorene Waal spazieren. Für mich war es das erste Mal.

Ich hatte eine glatte Fläche erwartet, aber der Fluss war eher ein schlampig gepflügter Eisacker. Bei den festgefrorenen Binnenschiffen am Kai hatte sich das Eis hochgeschoben, und ein Stück weiter in Richtung Waalbrücke türmten sich große Eisplatten auf. Wie die Ruine eines Winterpalasts sah es aus.

Beim alten Gaskraftwerk neben der Eisenbahnbrücke fiel das Ufer schräg ab. Dort wimmelte es von Menschen. Jungen von einer Studentenverbindung hatten mit Öllampen eine sichere Route zum gegenüberliegenden Ufer abgesteckt. So konnte man auch nach Sonnenuntergang die Waal überqueren. Das Eis war abgenutzt, voller Risse und Löcher, aber noch immer dick und doch ungewöhnlich glatt. Der Frost drang sofort durch meine Schuhsohlen. Meine Füße in den Nylonstrümpfen schienen zu schrumpfen. Ich rutschte ein paar Schritte vorwärts und lächelte. Niemand bemerkte es. Väter zogen Schlitten mit bis zu vier Kindern, eine Prozession sich umarmender Ehepaare glitt zum anderen Ufer. Jeder war gemeinsam mit anderen auf dem Fluss, sogar die frierenden Nonnen hatten einander untergehakt, um nicht auszurutschen.

Bei den ersten Schollen posierte ein frisch verlobtes Paar neben einem Eiszapfen für ein Foto. Ihr hatte man auf ein hohes Eisplateau geholfen, er stand brav unter ihr und versuchte, männlich zu wirken. Alle Pärchen nutzten die Glätte, um sich ein wenig mehr zu berühren, als ihnen zu Hause zugestanden wurde. In Manteltaschen wurde heimlich Händchen gehalten, vorsichtig wurden die von den Mänteln verdeckten Rundungen befühlt. Auf dem Eis wurde mehr gekichert und gekitzelt, als es am Ufer geschah. Wenn die verliebten Geräusche verstummten, war so ein Pärchen nicht etwa in ein Eisloch gefallen, sondern küsste sich verstohlen im Schutz einer aufragenden Eisplatte oder eines festgefrorenen Schiffs.

Ich kletterte über eine Eiswand und zwängte mich durch schmale Öffnungen. Der Schnee der vergangenen Wochen war hart und körnig wie Zucker. Meine Füße waren nicht nur kalt, sondern auch nass. Dunkle Ringe wucherten auf dem Leder meiner Schuhe. Ich sah das Kopfschütteln und den verkniffenen Mund meiner Mutter schon vor mir. Aber ich mühte mich weiter, denn die Schollen hatten sich aufgetürmt, und zwischen einer flachen Eisschollenlandschaft konnte ich unauffällig verschwinden.

Das Eis rumorte wie Bauschutt, der ausgekippt wird. Ich erstarrte, da ich aber keine Risse entdecken konnte, kletterte ich weiter. Bald schon ließ ich die Stimmen hinter mir, bis auf das gedämpfte Gejohle der Kinder. Schließlich hörte ich nur noch mein eigenes Keuchen, das Knirschen meiner Schritte, unterbrochen von Geräuschen aus dem Eis.

Im Windschatten zwischen den aufragenden Schollen gelang es der Sonne sogar, mich sanft zu wärmen. Anscheinend war ich eine der ersten Besucherinnen hier, denn diese Eisplatte war noch glatt und dunkel. Die Tiefe darunter war schwarz. Der Gedanke an die vielen Meter Wasser unter mir kitzelte in meinem Bauch wie Höhenangst. Obwohl es eigentlich Tiefenangst heißen müsste. Vielleicht aber war der Fluss mittlerweile ja auch bis auf den Grund gefroren. Zögernd glitt ich über eine Art Teich – ich hätte hier ein paar Runden Schlittschuh laufen können. Eine Eiswand versperrte mir die Sicht auf den Kai. Als ich der Waalbrücke den Rücken zukehrte, war vor mir alles nur noch weiß. Mit einem kleinen Rand der untergehenden Sonne. Ich befand mich auf meinem eigenen Nordpol.

Plötzlich hörte ich Schlurfen und Scharren. Zuerst erschien sein Schatten, dann zwängte er sich selbst an der Eiswand entlang. Ich sah mehr Mantel als Mann. Er hatte seinen Schal bis über die Nase gezogen.

»Willkommen«, sagte ich, als bäte ich ihn in mein Haus.

»Oh, Verzeihung«, sagte der Mantel erschrocken. »Ich hatte hier niemanden erwartet.« Rasch zog er den Schal herunter, damit ich sein Gesicht sehen konnte. Eiskristalle hingen in seinen Augenbrauen. Mit den Handschuhen klopfte er sich den Schnee von den Mantelschößen. »Ich bin nur ein bisschen ziellos herumspaziert und habe nicht geahnt, dass es so schwer sein würde, den Weg zurück zum Kai zu finden.«

»Ist nicht weit«, sagte ich.

»Ein Glück.«

Da die Sonne fast untergegangen war, erstreckten sich die Schatten in voller Länge. Weil ich vorher das Weiß so intensiv angestarrt hatte, erschien mir die Dämmerung nun gesprenkelt.

»Es ist wunderschön, finden Sie nicht?«, sagte der Mann.

»Was?«

»Ich stelle mir vor, dass so der Nordpol aussieht.«

»Mhm«, brachte ich heraus.

»Ich wollte den zugefrorenen Fluss einmal so erleben, als wäre ich der Einzige hier.«

»Und? Ist es Ihnen gelungen?«

Er lachte geheimnisvoll. Er hatte etwas gesehen, das er nicht beschreiben konnte.

»Ich habe es auch gesehen«, sagte ich.

Wir kamen ins Plaudern. Normalerweise vergesse ich solche Gespräche sofort, wie den freundlichen Austausch mit den Kunden im Blumenladen. Doch nach all den Jahren erinnere ich mich noch an jede Einzelheit. Der schmale Streifen Handgelenk über dem Handschuh. Meine Überraschung über seine grauen Schläfen, als er kurz die Mütze abnahm, und seine spitze Nase, die erst hübsch wurde, als ich sein ganzes Gesicht sah. Seine Mundwinkel zeigten ein wenig nach oben, ein unablässiges Versprechen eines Scherzes. Der Mann war einen Kopf größer als ich, doch wir standen so, dass die Köpfe unserer Schatten auf dem Eis dicht beieinander waren. Hätte ich mich etwas vorgebeugt, hätte mein Schatten seinen küssen können.

»Wollen wir?«, fragte er. Ganz selbstverständlich waren er und ich mit einem Mal ein »Wir«.

»Bitte?«

»Es wird gleich dunkel.«

Wir schlitterten eine Weile hintereinanderher und konnten uns dank der Turmspitze der Stevenskerk einigermaßen orientieren. Das Ufer kam wieder in Sicht. Ein Auto wendete gerade, die Scheinwerfer fegten wie Flutlichter über die Eisfläche. Das Licht schien kurz an uns hängen zu bleiben. Wir wendeten beide das Gesicht von den blendenden Lichtkegeln ab und sahen einander an. Ein, zwei Sekunden, ein ertapptes Lächeln, wir glitten weiter.

Sobald wir das flachere Stück erreicht hatten, holte der Mann einen silbernen Flachmann aus seiner Innentasche. »So, die Nordpolexpedition haben wir überlebt.« Erleichtert drehte er den Verschluss auf. Bevor er einen Schluck nahm, hielt er mir die Flasche hin. »Möchten Sie?«

»Ja, gern.«

»Wirklich?«, fragte er und verzog das Gesicht. »Es ist alter Genever.«

»Schmeckt der denn nicht?«

»Richtig lecker finde ich ihn nicht, aber er wärmt.«

Der Flaschenhals war eisig. Ich nahm einen kleinen Schluck. »Hui«, brachte ich heraus und rieb mir übers Brustbein, aber das linderte nichts. »Das ist ja wie ein Schluck Feuer.«

»Stimmt genau.« Der Mann grinste.

Auf dem Eis schwirrte außer uns nur noch ein Rudel übermütiger Jungs. Ein Polizist erschien und forderte sie auf, ans Ufer zu kommen. Je lauter er sie ermahnte, desto weniger kümmerte es sie. Wir mussten beide lachen. Die Kerle wussten ganz genau, dass es dem Polizisten unmöglich war, sie in diesem Winterlabyrinth einzufangen.

Mit kleinen Schritten schlitterten wir zu der Stelle, an der ich das Eis betreten hatte. Nicht Arm in Arm, aber sehr nah beieinander. Er hätte mich bestimmt aufgefangen, wenn ich gefallen wäre. Meine Zehen spürte ich längst nicht mehr, meine Füße waren taub und schwer.

An der Uferböschung war von dem Polizisten nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich waren die Jungs irgendwo anders hochgeklettert. Wir verließen als Letzte die zugefrorene Waal.

»Schaffen Sie das?«, fragte der Mann und streckte den Arm aus.

»Danke schön«, sagte ich und ließ mir von ihm über die glatten Basaltblöcke hinweghelfen, obwohl ich das genauso gut allein geschafft hätte. Am Ufer hielt ich seine Hand länger fest als nötig. Gemeinsam warfen wir noch einen Blick auf den Fluss. Im Abenddunkel erklangen Peitschenhiebe durch das Eis. Das Weiß spendete noch etwas von dem Licht, das es am Tag zusammengespart hatte.

»Schön, oder?«, flüsterte er.

»Wunderschön«, sagte ich. »Wahrscheinlich sind wir die Letzten, die das zu sehen bekommen.«

»Was meinen Sie?«

»Dass der Fluss nicht strömt, sondern ruht.«

Nebel stieg aus dem körnigen Schnee auf, die Route der brennenden Öllampen lag vor uns. Sie erinnerten an die Sterne eines tief liegenden Himmels.

»Morgen wird hier alles knarren und bersten. Dann erwacht der Fluss wieder.«

»Aber noch ist er vereist«, sagte er. »Und wir schauen ihn uns an.«

»Vielleicht ist er gerade deshalb so schön.«

Er lächelte.

Ich auch.

Es wurde zu kalt, um es weiter hinauszuzögern. Wir blickten beide gleichzeitig unsere Münder an, danach in unsere Augen, lächelten wieder, zurückhaltender jetzt, fast ernst.

»Ich heiße Otto«, sagte der Mann.

Ich nickte, weil ich etwas verstanden hatte, das er nicht ausgesprochen hatte.

»Tschüs, Otto.« Ich vergaß, ihm meinen Namen zu nennen.

Wir mussten in entgegengesetzte Richtungen.

»Auf Wiedersehen. Vielleicht.« Otto wedelte mit seiner Handschuhhand. Ich reckte meinen Fäustling in die Luft und lauschte dem Knirschen seiner Schritte so lang, bis es verstummte. Er drehte sich um. Ich winkte mit dem Fäustling, er winkte zurück. Kurz verschwand er in der Dunkelheit entlang der Speicherhäuser, tauchte aber ein Stück weiter im Schein der nächsten Laterne auf. Bis er verschwunden blieb und irgendwo in eine Gasse eingebogen sein musste.

Otto.

In den Tagen danach sah ich ihn überall. Doch jedes Mal waren es andere Männer, die ihm nicht einmal ähnelten. Eine Woche später ging ich am Sonntag noch einmal zur Waal hinunter. Die Eisfläche schien noch intakt, doch als ich näher kam, bemerkte ich, wie die Platten sanft wogten. Knarzend schob sich das Eis übereinander, Eiszapfen schaukelten im Wasser, Schollen schoben sich gegenseitig vorwärts. Mit einem Mal war der Fluss in Eile. Er strömte und versuchte, den Stillstand der vergangenen Monate wettzumachen. Die windgeschützte Stelle auf dem Eis, dort, wo wir uns begegnet waren, gab es schon nicht mehr.

Niemand konnte damals wissen, dass dies das letzte Mal gewesen sein sollte, dass die Waal zufror. Niemand konnte damals überhaupt irgendetwas wissen.

6

»Warum sitzt du denn hier im Dunkeln?« Tobias steht in der Tür, eine Tasche über der Schulter. Nadine ist diesmal nicht dabei. »Draußen ist herrliches Wetter, Mam.«