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Dem Unaussprechlichen eine Sprache geben. »Ich weiß nicht, warum die Seele nicht loslassen kann, warum Splitter im Kopf bleiben und immer, wenn man eine Badewanne sieht oder gestutzte Hecken wie im Garten der Eltern, flutet Vergangenheit in den Kopf, und wieder wird man zum Kind, das sich nicht wehren kann, nicht weiß, was es tun soll, keinen Ausweg sieht.« In einer literarischen, drängenden, atemlosen Sprache erzählt Sophie Bernbach von zersplitterten Kinderseelen, von zwei Frauen, die nichts mehr wollen, als ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, die doch nicht vergehen will, die sie immer wieder einholt, eine Vergangenheit, die zu einem Mord führt und ein Mord, der zur Befreiung führt. »Kopfsplitter« reflektiert eindringlich die Folgen einer manipulierten Kindheit und eines daraus fremdbestimmten Lebens. Und dennoch bleibt immer die Hoffnung, dass man die Vergangenheit hinter sich lassen, frei werden kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Kopfsplitter
Roman
© 2018 Sophie Bernbach
Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7469-2816-6
Hardcover:
978-3-7469-2817-3
e-Book:
978-3-7469-2818-0
Umschlagmotiv: “Rot” von Frank Köhler
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Am Himmel formieren sich Flugzeuge zur Landung. Am Boden steht der Graureiher im braunen Feld, unbewegt, schaut zurück in eine Vergangenheit, die lange vorbei ist und dennoch nicht vergehen will.
Ich sitze am Schreibtisch, halte eine Tasse Tee in der Hand, schaue nach draußen, sehe den Himmel und die Felder, die Flugzeuge und den Graureiher. Vor mir liegt ein Blatt Papier, daneben ein schwarzer Füller mit lavendelfarbener Tinte.
Niemand schreibt heute mehr mit einem Füller, ich auch nicht, das Papier bleibt weiß. Mein Kopf ist leer, nur nachts füllt er sich mit Geschichten, manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, wenn ich den dunklen Himmel sehe, vor dem ein weiß-gelber Mond leuchtet, verhüllt von dünnen Wolken, als hätte ihn Caspar David Friedrich gemalt, seltsam nah und doch unerreichbar. Vor dieser Kulisse denke ich mir Geschichten aus, Worte aus Nebel, sie geistern durch den Kopf und verschwinden wieder, bevor ich sie festhalten kann.
Jeder schreibt heute, das geht leicht mit einem Laptop, aber nicht mit einem Füller, nicht mit lavendelfarbener Tinte. Ich schreibe auch nicht, beobachte die Flugzeuge und den Graureiher, trinke Tee, Arabische Nacht heißt er, ein Name wie eine Geschichte, aber das Papier bleibt weiß.
Dann nehme ich doch den Füller in die Hand, schraube die schwarze Kappe ab, schaue die elegante Feder an, sie läuft spitz zu, natürlich, und wenn man genau hinsieht, kann man die lavendelfarbene Tinte ahnen. Den Füller halte ich in der Hand, senke ihn, bis die Feder dicht über dem Papier ist. Aber ich schreibe nicht, nicht mit dem Füller. Ich möchte schreiben, aber Worte gelangen nur in den Laptop, ich arbeite an dem, was man mir aufträgt, kleine Texte, die irgendjemand haben will. Nur nachts tauchen Geschichten im Kopf auf und Gedanken, als ob es das Tagebuch nicht gegeben hätte, das Tagebuch des Kindes, ein Geschenk zum Geburtstag, ein Heft mit hässlichem grünem Einband.
Das Kind hält den Füller in der Hand, den blauen Schulfüller mit blauer Tinte, schreibt in runden Buchstaben, was es nicht sagen darf, was niemand wissen will. Mädchen haben keine Geheimnisse, haben nichts zu sagen.
Es sitzt an dem Schreibtisch, der an der Wand steht, schaut auf die Tapete, die braun ist über dem Schreibtisch, schaut auf das Tagebuch, auf die erste Seite, Buchstaben in runder Kinderschrift reihen sich zu Worten, Worte werden zu Sätzen, sprechen von dem, was nicht ist, was nicht sein kann. Das Kind darf nicht darüber sprechen, es ist nicht geschehen, es darf nicht geschehen sein, niemand darf davon wissen, niemand will es hören. „Niemand wird dir glauben, wenn du darüber sprichst“, hat der Vater gesagt. „Wenn du es doch tust, kommst du in ein Heim. Dort wirst du allein sein, das willst du doch nicht.“
Das Kind hält den blauen Schulfüller in der Hand. Es spricht nicht, redet mit niemandem, geht zur Schule, lernt lesen und schreiben. Es spricht nicht, schreibt nur mit dem Füller blaue Buchstaben in runder Kinderschrift.
„Du weißt, was geschieht, wenn du darüber sprichst“, hat der Vater gesagt und mit der Hand über den Hals des Kindes gestrichen. Auf dem Hals lagen die Hände, die Hände des Vaters, als das Kind in der Badewanne lag. Damals konnte es noch nicht lesen und schreiben.
Das Wasser war zu heiß, der Vater hatte das Kind in die Badewanne gestoßen, seine Hände lagen auf dem Hals des Mädchens, drückten es nach unten, drückten den Kopf unter Wasser. Den Vater sah es über sich und gelbe Kacheln, bis die Welt keine Farben mehr hatte und verschwand.
Ich weiß nicht, wie das Kind auf die Idee gekommen ist, dass ein Tagebuch der richtige Ort für seine Buchstaben sein könnte, dass es hilft, wenn man Worte zu Papier bringt, die durch den Kopf geistern und nicht verschwinden wollen. Niemand schreibt Tagebuch, die Eltern nicht und nicht die Großeltern, auch die Lehrerin hat nie davon gesprochen. Das Heft muss als Auslöser gereicht haben mit seinem Schloss und dem kleinen silbernen Schlüssel. „Alles, was du auf diese Seiten schreibst, ist geheim“, sagte der Urgroßvater, als er das Geschenk überreichte.
Das Kind schlägt das Heft auf, das es bekommen hat, um über die Sommerferien zu schreiben oder über ein Buch, das ihm besonders gefällt. Das Kind hat aber anderes im Sinn, nimmt den Schulfüller in die Hand, schreibt blaue Buchstaben in runder Kinderschrift. An die Worte, die es in das Heft mit dem hässlichen grünen Einband schreibt, erinnere ich mich nicht, nicht genau. Es sind andere Worte, an die ich mich erinnere, heute noch, Kasperle fährt im Kasperleauto, das erste Diktat in runder Kinderschrift, seltsam kompliziert, lange geübt. Man lernt, wie man den Stift hält und Linien folgt, wie man Buchstaben aneinanderreiht, wie aus ihnen Worte werden und Sätze, die nie zuvor jemand gesprochen hat, und dann werden die Badewanne, das heiße Wasser, die Hände des Vaters Buchstaben, Worte finden ihren Weg auf weißes Papier, Sätze, die es nicht geben darf. Sie machen keinen Sinn, das alles hat es nicht gegeben, das Kind hat eine böse Fantasie.
Es geht zur Schule, lernt lesen und schreiben, übt Kasperle fährt im Kasperleauto, macht keinen Fehler, schreibt ordentlich, was ihm diktiert wird, und dann schreibt es blaue Buchstaben in ein Heft mit hässlichem grünem Einband, nie gesprochene, verbotene Worte.
Das Kind schraubt die Kappe auf den Schulfüller, klappt das Tagebuch zu, verschließt es mit dem kleinen Schlüssel, trägt ihn an einer silbernen Kette am Hals.
Am nächsten Tag setzt sich das Kind wieder an den Schreibtisch, nimmt die silberne Kette ab, die es um den Hals trägt, öffnet das Tagebuch mit dem kleinen Schlüssel, schaut auf die beiden Seiten, die es mit blauen Buchstaben beschrieben hat, schaut auf die Wand. Das Kind nimmt den Schulfüller in die Hand, schraubt die Kappe ab, schreibt Buchstaben, Worte, neue Sätze in das Tagebuch.
Am Anfang waren eine Badewanne und die Hände des Vaters, sie werden zu Buchstaben, Worten, Sätzen, die eine Kinderhand in Kinderschrift in ein Tagebuch schreibt. An einzelne Worte erinnere ich mich nicht, weiß aber, dass es um die Badewanne ging und den Vater, frage mich, wie man Buchstaben findet, wie fügen sie sich zu Worten zusammen, wie machen sie Sinn? Man lernt das in der Schule, ein Kasperle fährt im Kasperleauto, man sagt es, dann schreibt man Worte auf Papier, und schon ist man fertig, muss nicht wissen, woher die Sprache kommt, wie Sinn und Bedeutung entstehen.
Wieder schraubt das Kind die Kappe des Füllers zu, verschließt das Tagebuch, legt die Kette mit dem silbernen Schlüssel um den Hals, versteckt das Heft in der Schreibtischschublade.
Am nächsten Tag steht die Mutter vor dem Schreibtisch, hält das Tagebuch in der Hand, das Heft mit dem hässlichen grünen Einband. Es ist geöffnet, obwohl das Kind den Schlüssel an der silbernen Kette am Hals trägt.
Die Mutter hat das Tagebuch geöffnet, das Kind versteht nicht, was geschehen ist, es müsste verschlossen sein, aber das ist es nicht. Die Mutter hat es geöffnet, es muss leicht gewesen sein, denke ich heute, ein Daumendruck genügte, es ist billige Ostware, so heißt damals, was Verwandte aus der DDR mitbringen.
Peter Rühmkorf hat seine Tagebücher Tabu genannt, das weiß das Kind nicht, hat nie darüber nachgedacht, dass ein Tagebuch aus der DDR nicht tabu ist, nicht tabu sein kann. Das Kind war erst einmal dort, hat nichts verstanden, nur, dass es die Klappe halten soll. Es hält seine Klappe, schreibt blaue Buchstaben, die geheim sind, verschlossen in einem Tagebuch mit hässlichem grünem Einband aus der DDR.
Die Mutter hat es gefunden, sie hat es geöffnet, sie liest, was sie nicht lesen darf. Es ist geheim, das Kind versteht nicht, warum die Mutter das tut, warum sie das Tagebuch nicht schließt und in die Schublade legt. Die Mutter ist so wütend, dass sie kaum sprechen kann. „Wie kannst du nur, wie kannst du nur so etwas schreiben, was bist du für ein Kind, womit habe ich das verdient, du zerstörst alles, was wir haben.“
Das Kind versteht nicht, was es falsch gemacht hat. Es hat nichts gesagt, mit niemandem gesprochen, hat nur blaue Buchstaben in ein grünes Heft geschrieben. „Jetzt komm mir nicht so“, schreit die Mutter. „Du bist ein durchtriebenes Luder, ein Miststück, das niemand will, ich will dich auch nicht.“
Sie reißt die beschriebenen Seiten aus dem Tagebuch, stößt das Kind vor sich her, die Treppe nach unten bis in die enge Küche, Siebziger-Jahre-Einbauschränke aus weißem Plastik, Pril-Blumen leuchten von den Kacheln.
Die Mutter legt die beschriebenen Tagebuchseiten in das leere Spülbecken, holt eine Schachtel aus der Besteckschublade, zündet ein Streichholz an, hält die Flamme an das Papier. Die blauen Buchstaben werden braun und mit Wasser gelöscht. Die Asche spült die Mutter in den Abfluss. Die übriggebliebenen weißen Seiten und den grünen Einband wirft sie in den Müll.
Zum nächsten Geburtstag kommen wieder Verwandte aus der DDR, wieder schenkt der Urgroßvater ein Tagebuch mit hässlichem grünem Einband und silbernem Schlüssel. „Freust du dich nicht über das Tagebuch? Letztes Jahr hast du dich gefreut“, sagt die Urgroßmutter aus der DDR. Das Kind weiß nicht, was es antworten soll. Die Mutter zieht die Augenbrauen hoch.
„Doch ich freue mich.“ Das Kind legt das Tagebuch zu den anderen Geschenken.
„Du kannst es benutzen, um Autokennzeichen aufzuschreiben“, sagt die Mutter.
Am nächsten Tag nimmt das Kind das Heft mit dem hässlichen grünen Einband und einen Kugelschreiber in einer kleinen Tasche mit, geht zur Bundesstraße, füllt die weißen Seiten mit immer noch runder Kinderschrift, die Mine des Kugelschreibers ist blau. Die meisten Autos kommen aus dem Heimatort. Das Kind wartet auf die wenigen aus Hamburg und Berlin. Es hat von den großen Städten gehört, weiß, dass man sie erreicht, wenn man der B4 nur lange genug folgt und anderen Straßen. Das Kind schreibt die Kennzeichen auf, versteckt die aus Hamburg und Berlin zwischen den anderen, zwischen den Kennzeichen aus der Heimatstadt, einem Ort im Zonenrandgebiet, am Ende der Welt.
Jeder schreibt heute, das geht leicht mit dem Laptop, man fügt Buchstaben aneinander, muss nicht nachdenken, das geht von allein. Ich schreibe auch, formuliere Sätze für Auftraggeber, über Texte, die andere geschrieben haben. Ich kenne den Markt, in dem Worte zu Büchern werden, weiß nur nicht, warum ich nicht schreiben kann, nicht wirklich, weiß es doch, weiß, warum Gedanken im Kopf hängen bleiben, nachts, wenn ich zum Mond schaue und mich frage, warum ein Kind auf die Idee gekommen ist, ein Tagebuch zu schreiben, was es sich davon versprochen hat, Worte zu bilden, Sätze, die niemand hören wollte, hören durfte.
Ich kann nicht schreiben, weil dieses Kind so blöd war, ein Tagebuch führen zu wollen. Seinetwegen sitze ich hier jeden Tag, halte eine Tasse Tee in der Hand, Arabische Nacht, schaue auf den schwarzen Füller mit lavendelfarbener Tinte, auf das Blatt Papier, das weiß bleibt, jeden Tag, schaue zum Himmel, an dem sich Flugzeuge zur Landung formieren, schaue über Felder, in deren braunen Furchen Krähen hocken. Ich höre sie nicht, aber ich weiß, dass sie krächzen, dass sie lachen über das dumme Kind, lachen über mich, weil ich am Schreibtisch sitze, jeden Tag, aber das Papier bleibt weiß.
Ich klappe den Laptop auf, schreibe über Bücher, die von anderen stammen, schreibe die nächste Auftragsarbeit, nichts, was wichtig ist, weil in meinem Kopf ein Tagebuch feststeckt, das ich zu Ende schreiben muss, aber nicht zu Ende schreiben kann. Heute habe ich Krimis im Visier, doch, das mit dem Visier schreibe ich, das gehört dazu. Ich schreibe über Bücher von Frauen, die längst in der Männerdomäne angekommen sind, launig und lustig morden wie ihre männlichen Kollegen oder ebenso ernst und grimmig, mit den Mitteln des Unterhaltungsromans die Wirklichkeit spiegeln. Ich will mich nicht damit befassen, längst ist es kein Thema mehr, dass Frauen Krimis schreiben, Agatha Christies Nachfolgerinnen sind Legion. Ich weiß nicht, was dieser Text soll über Krimis von Frauen, ich hätte dem Redakteur absagen sollen. Die Autorinnen schreiben über Gewalt an Kindern, in Bangalore wie in Palermo und in der deutschen Provinz, über Jugendliche, die allein aus ihrer Heimat fliehen, über Kinder, die nicht weit von Zuhause entführt werden, über andere, die Zuhause sind und trotzdem nicht in Sicherheit.
Was nützt es, wenn sie Krimigeschichten darüber schreiben? Was hilft es Kindern, wenn ich auf dem Sofa sitze bei einer Tasse Tee und lese, dass ihre Körper und Seelen zerstört werden? Was nützt es ihnen, dass ich über sie nachdenke und mich frage, warum der Mensch so geworden ist, wie er ist, so gewaltbereit, so zerbrechlich, warum die Evolution keinen anderen Weg mit der Psyche eingeschlagen hat? Was nützt es Kindern, dass ich nachdenke über Männer, die sie fertig machen, ohne mit der Wimper zu zucken, über Frauen, die das zulassen oder selbst Hand anlegen? Warum tun sie das? Warum sitze ich auf meinem Sofa und lese Bücher, die niemandem helfen? Vielleicht helfen sie doch, und ich verstehe es nur nicht.
Den Text maile ich in die Redaktion, den Artikel über Krimis von Frauen, engagierte Bücher und andere Titel, die in fremde Länder, in Urlaubsregionen entführen sollen. Ich frage mich, ob mal jemand nachgedacht hat über den Begriff Wohlfühlkrimi, diese dutzendfachen Morde in idyllischen Landschaften, Gewalt zur Unterhaltung, spannende Geschichten von Autoren, die so abgeklärt das Wort Trauma in den Mund nehmen, als ob sie Halsschmerzen meinen.
Wir haben heute also schlechte Laune, sagt die Stimme in meinem Kopf. Kein Wunder, dass deine Texte nichts taugen. Man sollte das Sujet schon mögen, über das man schreibt.
Ich sollte zu Hause bleiben, mich mit einem Wohlfühlkrimi ablenken und mit einer Tasse Tee, vielleicht Orangenblüten statt Arabische Nacht. Ich klappe den Laptop zu, ziehe eine Jacke an, es ist überraschend kühl an diesem Augusttag. Der Himmel aber ist blau mit weißen Wolken, die Luft trocken wie nur selten am Rhein. An Einfamilienhäusern gehe ich vorbei, die Fassaden sind weiß, die Hecken gestutzt, der Rasen ist gemäht.
Heute ist Donnerstag, heute bleiben die Rasenmäher in den Schuppen, gemäht wird am Freitag, wenn es nicht regnet, sonst muss man ausweichen auf einen anderen Tag. Ein Auto fährt vorbei, ich kenne die Fahrerin nicht, kenne niemanden, wohne hier nur, gehe weiter am Schwarzbach vorbei, an der Wirtschaft, die mit immer neuen Pächtern aufwartet, überquere die Straße, gehe durch das Tor in den Park, vorbei an dem Schloss mit seinen rosafarbenen Fassaden und dem Schlossgraben mit dem dunklen Wasser. Immer wieder wird das Gebäude für viel Geld saniert, aber keiner will es haben. Niemand kann etwas anfangen mit einem Schloss, das aus der Zeit gefallen ist. Die rote Gräfin lebte hier, trennte sich von ihrem Mann, der ihr die Luft zum Atmen nahm, in einem langen Krieg, als Scheidungen noch nicht salonfähig waren, kam Ferdinand Lassalle nahe, ausgerechnet dem Arbeiterführer.
Lisa wird schon auf mich warten. Für den Krimitext habe ich zu viel Zeit gebraucht, ich hätte das Fahrrad nehmen sollen. Sonst bin ich nie zu spät, ich weiß nicht, was heute mit mir los ist, hoffe, dass es Lisa nichts ausmacht, dass sie über den Rhein schaut und ihre Gedanken mit ihm fließen lässt. Er ist hier schon weit und offen, so viel größer als der Fluss in unserer Heimatstadt, der dunkel unter Bäumen mäandert, so habe ich ihn in Erinnerung und sie auch.
Es war seltsam, als wir feststellten, dass wir aus derselben Stadt kommen. Lisa hat wenige Meter entfernt von meiner Schule studiert, ein paar Monate nur, nicht einmal zwei Semester. Fast gleichzeitig ließen wir die Stadt mit dem kleinen dunklen Fluss hinter uns. Sie kam direkt an den Rhein, ich nahm einen Umweg über die Lahn, bin später hier gelandet, als Lisa sich schon ein neues Leben aufgebaut hatte, ein neues Leben mit einem neuen Namen.
In der Heimatstadt hielt man sie für tot, sie wurde ermordet, hieß es, auch wenn die Leiche nie gefunden wurde. Was soll man sonst glauben, wenn eine junge Frau verschwindet, weg ist mit einem Mal, keine Papiere hat und kein Geld, und dann gibt auch noch einer zu, dass er Lisa getötet hat, nachdem er wegen eines anderen Verbrechens gefasst worden war. Später widerrief er den Mord an ihr, aber niemand glaubte ihm.
Lisa schaute mich fragend an, als sie mir ihre Geschichte erzählte, die Geschichte ihres Verschwindens. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hielt sie nicht für verrückt, nicht für rücksichtslos, halte sie auch heute nicht dafür, denke nicht, dass sie ihrer Mutter das nicht hätte antun dürfen, ihre Mutter hätte ganz anderes verdient. Das habe ich nicht gesagt, habe lange überhaupt nichts gesagt, habe nur über den Rhein geschaut, der groß und weit Richtung Meer strömt, während der Fluss in unserer Heimatstadt dunkel und klein unter Bäumen mäandert.
Wenn ich etwas gesagt hätte, hätte sie gemerkt, wie gut ich sie verstehe. Das konnte ich nicht, ich kann nicht sprechen über eine Kindheit, die lange vorbei ist und doch nicht vergeht, nicht einmal mit Lisa kann ich darüber sprechen. Ich höre ihr aber zu, wann immer sie reden will über das, was sie nicht vergessen, nicht hinter sich lassen kann. Sonst gibt es niemandem, eine Therapie ist zu teuer für sie, sie müsste sie selbst bezahlen. Eine Krankenversicherung würde Spuren hinterlassen, würde zeigen, dass die Totgeglaubte lebt.
Als ob eine Therapie etwas ändern würde. Nichts macht die Vergangenheit ungeschehen, die Seele bleibt verstört. Das Gehirn ist zu vielem in der Lage, zu vielem aber auch nicht, und eine Kinderseele, die zersplittert ist, die Erinnerungen abkapselt und irgendwo vergräbt, wächst nicht wieder zusammen wie ein gebrochener Arm, meine Seele jedenfalls nicht.
Die letzten Häuser liegen hinter mir, vor mir taucht die flache Niederrhein-Landschaft auf, still und menschenleer, obwohl die Stadt nicht weit entfernt ist. Weiße Wolken ziehen über die Wiese, über vereinzelte Bäume mit grünen Blättern, über den umgestürzten Baumstamm, der übriggeblieben ist nach dem letzten Sturm. Im Deich wurden die Reste eines alten Bootes gefunden. Der Stadt ist es zu teuer, es bergen zu lassen.
Auf den gepflasterten Wegen ist niemand unterwegs, ich sehe auch niemanden am Strand auf der anderen Rheinseite. Nur von Lisas Bank entfernt sich jemand, geht nordwärts mit dem Fluss.
Sie sitzt still, rührt sich nicht, dreht nicht einmal den Kopf in meine Richtung, starrt geradeaus vor sich hin, rührt sich immer noch nicht. Ich hatte gehofft, dass sie nicht verärgert ist, ich bin nur ein paar Minuten zu spät. Ich verstehe nicht, was das soll, warum schaut sie mich nicht an?
Dann sehe ich das Blut. Es rinnt über ihren Hals, in Lisas Kehle ist ein Schnitt. Ich setze mich neben sie auf die Bank, verstehe nicht, was geschehen ist, bis ich das Bild doch erfasse, Lisa mit durchtrennter Kehle neben mir, bis mir der Mann in den Sinn kommt, der sich von ihrer Bank entfernt hat, aber er ist verschwunden.
Ich sitze neben Lisa, weiß nicht, was ich tun soll. Sie ist tot, doch noch ermordet. Dieses Mal gibt es eine Leiche, ich sitze neben ihr auf einer Bank am Rhein, wähle den Notruf, melde mich bei der Polizei.
Der Tatort ist abgesperrt, an dem weiß-roten Flatterband der Polizei stehen Passanten. Jetzt gibt es doch Menschen hier, sie wollen das Verbrechen sehen, die Leiche, die Tote, die niemand von ihnen gekannt hat. Ein Polizist hat meine Personalien aufgenommen. Ich bin ordentlich gemeldet, habe einen gültigen Ausweis.
Lisa hatte zum Schluss auch einen, fast jedenfalls, sie hatte ihn beantragt, doch noch, nach so vielen Jahren. Ihre Tarnung war aufgeflogen. So lange ist sie unter dem Radar geblieben, rief aber die Polizei, nachdem bei ihr eingebrochen worden war. Einen Personalausweis konnte sie nicht vorzeigen, ihr Name war falsch, stellte die Polizei fest, und nichts Besseres fiel den Ordnungshütern ein, als Lisas Geschichte der Welt in einer Pressemitteilung zu verkünden. Die Medien griffen sie auf, kein Journalist lässt sich eine solche Sensationsgeschichte entgehen. Ein Verbrechen war endlich aufgeklärt, wenn auch ein Mord, der nicht stattgefunden hatte, damals in unserer Heimatstadt. „Das geheime Leben des ‚Mordopfers‘“ titelte die Zeitung hier in der Stadt, in der sie Zuflucht gesucht hatte.
Die Polizei brachte Lisas Geschichte in die Öffentlichkeit und benachrichtigte die Eltern. Sie wollten mit ihr sprechen, mit dem verlorenen Kind, ihrem bösen Mädchen, das sie getäuscht hat all die Jahre, ihnen Kummer bereitet hat. Sie haben um sie getrauert, während sie es sich gut gehen ließ am Rhein und ihr Leben lebte, ohne an die Eltern zu denken, an all das, was sie durchmachen mussten. Das haben sie nicht gesagt, Lisa hat nicht mit ihnen gesprochen, sie hat sie dennoch verstanden.
„Ich hätte niemals die Polizei rufen dürfen“, sagte sie. „Wie konnte ich nur so blöd sein?“
Ich verstehe, warum sie angerufen hat. Das Gehirn tickt aus, wenn jemand in ein Leben einbricht, in die Seele, in den Körper, in die Wohnung. Das Gehirn ist zu vielem fähig und doch viel zu fragil, unberechenbar, chaotisch, und immer hofft es auf Hilfe, selbst wenn es weiß, dass es Hilfe nicht gibt, schon gar nicht von der Polizei.
Ich verstehe, warum Lisa nach dem Einbruch die Polizei rief. Ich hörte ihr zu, sagte ihr, dass sie nicht mit ihren Eltern sprechen muss, wenn sie nicht will. Sie war in Panik und wollte erneut verschwinden. Ich riet ihr ab, ermutigte sie, einen Personalausweis zu beantragen, ihr Leben in Ordnung zu bringen, als ob das möglich wäre, als ob Ordnung in ein Leben kommt, wenn man die vorgeschriebenen Wege geht. Ich riet ihr, sich bei der Krankenversicherung zu melden, sich zu erkundigen, was man in ihrem Fall tun kann, eine Therapie zu beantragen. „Das wird dir helfen, bestimmt.“ Das habe ich gesagt, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob es so ist.
Mit meinen Therapien bin ich nicht weit gekommen, hoffte aber, dass es für Lisa anders sein könnte, dass es ihr besser gehen würde, dass sie ein Leben, dass sie ihr Leben findet. Jetzt ist sie tot, und ich bin schuld daran, weil ich sie davon abhielt, wieder zu verschwinden, weil ich ihr versicherte, dass ihre Eltern ihr nichts mehr tun können. „Du bist kein Kind mehr“, sagte ich, „auch keine junge Frau, führst längst dein eigenes Leben. Lass sie reden, sie können dir nichts tun, du musst nicht mit ihnen sprechen.“
Jetzt ist sie tot, weil ich mit den Krimis von Frauen nicht zurande kam, weil ich wieder einmal in einem Text festhing und mich verspätete. Sie ist tot, weil die verdammte Polizei den Eltern Bescheid gab, den armen, den ewig trauernden Eltern, weil die Polizei ihnen mitteilte, dass ihr Kind lebt. Die Familie hat etwas mit ihrem Tod zu tun, ich bin mir sicher, jemand will, dass sie die Klappe hält, dieses Mal soll es für immer sein. Wer soll es sonst getan haben, wenn nicht jemand aus der Familie?