KOR - Max Pechmann - E-Book

KOR E-Book

Max Pechmann

4,7

Beschreibung

KOR - eine verlassene Forschungsstation mitten in der Antarktis. Die Besatzung verschwand vor einem Jahr spurlos. Der rätselhafte Vorfall konnte bisher nicht geklärt werden. Während eines schweren Polarsturms empfängt das Forschungsschiff Aurora einen mysteriösen Funkspruch. Sein Ursprung: KOR. Kurz darauf erhält der CIA-Agent John Arnold den Auftrag, ein Team aus Soldaten und Wissenschaftlern zusammenzustellen, um die geheimnisvolle Station aufzusuchen. Zu den Teammitgliedern zählen auch der bekannte Grenzwissenschaftler Jake Kruger und dessen Mitarbeiterin Yui Okada. Doch der Auftrag erweist sich als alles andere als ein gemütlicher Ausflug. Auf KOR gehen unheimliche Dinge vor. Und schon bald gibt es einen ersten Todesfall ...

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KOR

Max Pechmann

Copyright © 2013 Sieben Verlag, 64354 Reinheim

Umschlaggestaltung: © Andrea Gunschera

ISBN-Taschenbuch: 9783864432613

ISBN-eBook-PDF: 9783864432620

ISBN-eBook-epub: 9783864432637

www.sieben-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Epilog

Autor

Kill Order

Das Tagebuch der Patricia White

Prolog

Der Bug der FS Aurora durchpflügte die rauen Wellen. Ein Unwetter braute sich zusammen. Das dunkle, schäumende Meer spiegelte die Turbulenzen des finsteren Himmels wider. Martin Dickson glaubte nicht, dass sie noch rechtzeitig einen Hafen anlaufen könnten. Wie immer hatten die Wissenschaftler zu lange für ihre Untersuchungen gebraucht. Obwohl das Tiefdruckgebiet bereits seit Stunden auf dem Wetterradar zu sehen war, hatten die Forscher ihre Arbeiten beenden wollen. Wahrscheinlich vertrauten sie auf das beheizte Außendeck. Doch bei dem Sturm, der sichbemerkbar machte, nutzte ihnen das am wenigsten. Die Mehrzweckgreifer am Bug schwankten gefährlich. Dickson hoffte, dass sie sich nicht aus ihrer Verankerung lösen würden, wenn der Sturm volle Ausmaße annahm. Unkontrollierbare Stahlteile konnten sie nicht gebrauchen.

Die Dunkelheit, die das Schiff umgab, transformierte sich zunehmend in eine undurchdringliche Schwärze. Die Wellen nahmen an Gewalt zu und brachten die Aurora in Bedrängnis. Um die Kommandozentrale heulte es, als ob eine Armee verdammter Seelen vorbeizöge.

Dickson nahm das Funkgerät in die Hand. „Zeit, nach Hause zu kommen, Leute.“

„Sind schon so gut wie fertig“, lautete die Antwort einer der Wissenschaftler. Es ging um irgendeine neue Fischart, die sie hier im Südpolarmeer entdeckt hatten.

„Ich meine sofort.“

Eine kräftige Windböe schlug gegen die Fenster. Polarstürme konnten gelegentlich ungeahnte Ausmaße annehmen. Dickson verfluchte innerlich die wissenschaftliche Meute. Ihr Institut zahlte zwar nicht schlecht, doch was nutzte ihm das Geld, wenn sie mit Mann und Maus untergingen?

In diesem Moment meldete sich der Funkoffizier. „Sir, habe soeben einen Funkspruch erhalten.“ Nielsen konnte im Grunde genommen durch nichts aus der Ruhe gebracht werden, doch in diesem Augenblick übertrug sich seine Nervosität durch die Sprechanlage auf die gesamte Kommandozentrale.

„SOS?“

„Nein, Sir. Das Signal stammt aus der Antarktis.“

Dickson schnaufte. „Nielsen, was ist mit Ihnen los? Können Sie etwas präziser sein?“

Er vernahm, wie Nielsen Atem holte. „Das Signal wird von der Forschungsstation KOR gesendet, Sir.“

Martin Dickson zuckte zusammen. Auf einmal konnte er nachvollziehen, was Nielsen in Aufregung versetzte. „Sind Sie sicher?“

„Es besteht kein Zweifel, Sir.“

Der Kapitän der FS Aurora dachte nicht mehr an den Sturm und die Gefahren, die von ihm ausgingen. Er starrte ins Leere, während die übrigen Crewmitglieder, die in der Kommandozentrale anwesend waren, ihn mit weit aufgerissenen Augen beobachteten.

KOR. Die Ereignisse, die mit dieser Station zusammenhingen, waren schlicht und ergreifend rätselhaft. Bis heute kursierten unzählige Spekulationen darüber, was an diesem abgelegensten Punkt der Erde geschehen war.

Nur mit Mühe brachte es Dickson fertig, weiterzusprechen. „Nielsen, Sie wissen, dass sich niemand in dieser Station aufhält?“

„Sir, die Forschungsstation steht seit einem Jahr leer.“

Dickson nickte, als könnte Nielsen seine Reaktion mitbekommen. „Da haben Sie verdammt noch mal recht.“ Doch war dies noch nicht alles. Die Besatzung der Station galt als spurlos verschwunden.

„Sir, das Signal kommt von dort. Ich habe es mehrmals überprüft.“

Dickson zögerte einen Augenblick. „Lassen Sie es hören.“

„Aye, Sir.“

Zunächst erkannte Dickson nichts als ein statisches Rauschen. Dann vernahm er sonderbare Geräusche oder Laute, die durch dieses Rauschen hindurchdrangen. Sie klangen wie Wortfetzen, deren einzelne Silben ernicht verstand.

„Was um alles in der Welt ist das?“

„Sir, ich habe zurückgefunkt. Keine Antwort, Sir. Nur dieses Rauschen.“

Dickson nahm wieder den Sturm wahr, der ihnen entgegenbrauste. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Er war froh, dass zwischen ihm und der Station eine Entfernung von mehreren Tausend Meilen lag.

1

Die Landung erwies sich als schwierig. Chad Kruger schaute sorgenvoll aus dem Fenster des Helikopters, während dichte Schneewehen die Sicht verschlechterten. Der Pilot hatte mit kräftigen Windböen zu kämpfen, die dem Hubschrauber schwer zu schaffen machten. Hinzu kam das dämmrige Licht der beginnenden Polarnacht. Immer wieder musste er an Höhe gewinnen, um nicht unvorhergesehen auf dem felsigen Boden aufzuschlagen. Die kastenförmigen Gebäude der Forschungsstation erkannteChad nur schemenhaft. Die Lichter schimmerten wie festgefrorene Glühwürmchen durch den aufgewirbelten Schnee.

Neben ihm saß seine Assistentin Yui Okada. Ihr bleiches Gesicht verriet, dass sie den Schwankungen des Helikopters nichts Positives abgewinnen konnte.

Der graue Himmel, der hin und wieder zu erkennen war, machte alles andere als Hoffnung auf besseres Wetter. Vor fünfzehn Stunden hatten sich ChadKruger und Yui Okada noch in Seoul aufgehalten, wo beide an einem wissenschaftlichen Kongress teilgenommen hatten. Ein Anruf seines Freundes John Arnold hatte dem schnell ein Ende bereitet. Kurz darauf hatten sie zwei Soldaten abgeholt und in einem Jeep nach Kyongi-do gebracht, wo auf einem Flugplatz des koreanischen Militärs ein Sikorsky startbereit auf sie gewartet hatte. Mit dem Helikopter waren sie nach Incheon geflogen, um danach über Umwege einen Flugzeugträger zu erreichen, der vor der antarktischen Packeisgrenze kreuzte. Dort hatte sie ein BO 105 mitgenommen, in dem sie nun über der Ingrid-Christensen-Küste schwirrten.

Der Pilot nahm einen erneuten Anlauf. Diesmal gelang es ihm, auf dem Landeplatz aufzusetzen.

Als Chad die Tür des Hubschraubers öffnete, schlug ihm ein eisiger Wind entgegen. Yui kletterte nach ihm heraus. Als eine unerwartet kräftige Böe über den felsigen Boden fegte, hielt sie sich erschrocken an der Helikoptertür fest.

Ein Mann in knallrotem Anorak und einer grauen Wollmütze auf dem Kopf näherte sich ihnen. Er winkte Kruger lässig zu. „Willkommen in unserer antarktischen Oase! Schön, Sie bei uns zu haben, Kruger!“ Das Brausen des Sturmes verschluckte beinahe seine Worte.

„Ich hoffe, die Reise war nicht umsonst, Arnold“, erwiderte Chad und schüttelte dem Mann die Hand. Obwohl sich beide seit Langem kannten, war es zwischen ihnen stets dabei geblieben, sich zu Siezen und sich mit ihren Nachnamen anzusprechen. Dies lag vor allem an Arnold, der eine gewisse Abneigung gegen allzu persönliche Beziehungen hegte. Wahrscheinlich der obligatorische Komplex eines alt werdenden CIA-Agenten.

Arnolds Gesicht nahm einen sonderbaren Ausdruck an. „Ich denke, die Sache ist seltsamer als wir glauben.“

Chad wandte sich zur Seite. „Seltsame Dinge sind unser Geschäft. Meine Assistentin kennen Sie ja bereits.“

Arnold verbeugte sich. „Willkommen in unserer bescheidenen Station, Miss Okada.“

Yui reichte ihm die Hand. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“

Arnold grinste. „Das ist wirklich eine Schande.“

Yui schlug ihm gegen die Schulter. „Bringen Sie uns lieber in eines Ihrer Häuser, bevor wir hier noch festfrieren.“

Während Arnold seine beiden Gäste zu einem der Gebäude führte, sagte er: „Die Funksignale wurden am achtzehnten Juni sowohl von einem Forschungsschiff als auch von mehreren Stationen empfangen. Sie können sich den Aufruhr denken.“

Endlich betraten sie den Container. Das Brausen des Sturmes verkam zu einem leisen Heulen. Ein Geruch nach Schweiß und nasser Kleidung erfüllte den Raum.

Arnold blieb stehen. „Ein Reporter hat versucht, mit einem Hubschrauber dorthin zu gelangen. Er geriet in ein Unwetter und stürzte ab.“

„Schön, dass Sie uns das erst jetzt sagen“, bemerkte Yui. „Ansonsten hätte ich mich wahrscheinlich nicht in diese rostige Mühle gesetzt.“

„Und die Funksignale?“, hakte Chad nach.

Arnold setzte sich wieder in Bewegung. Sie folgten einem schmalen Gang, der von Neonleuchten erhellt wurde. „Eine eigenartige Sache. Jacobson arbeitet noch daran.“

„Er arbeitet noch daran?“

Arnold stoppte erneut. „Ich hätte Ihnen von Anfang an reinen Wein einschenken sollen, Kruger. Immerhin hab ich Sie von diesem Kongress weggeholt.“

„Diese Veranstaltung ist sowieso nicht sonderlich wichtig gewesen“, erklärte er. Die Thematik hatte sich einmal mehr um Sinn und Zweck der Grenzwissenschaften gedreht. Hin und wieder brauchten Wissenschaftler, die sich mit außergewöhnlichen Phänomenen und Artefakten beschäftigten, gewisse Streicheleinheiten und nutzten solche Kongresse zur Selbstbeweihräucherung. Chad, ein Vertreter dieser Zunft, konnte dieses Gehabe seiner Kollegen nachvollziehen. Als Grenzwissenschaftler stand man täglich dem Spott und Hohn der restlichen Expertenwelt gegenüber. Viele ihrer Gegner und Skeptiker übersahen, dass die Vertreter dieser außergewöhnlichen Disziplin, die sich eigentlich aus mehreren Bereichen der Wissenschaft zusammensetzte, Pioniere waren, die sich in die dunklen Bereiche des Unbekannten vorwagten und nicht selten mit erstaunlichen Erkenntnissen zurückkehrten. Doch ein Kongress wie dieser brachte nicht sonderlich viel, außer alte Kontakte aufzufrischen.

Arnold kratzte sich an der Stirn. „Ich denke, es ist mehr als wir ahnen. Wir werden insgesamt sieben Leute sein. Ich befürchte, eine Person davon kennen Sie bereits.“

Arnold hätte Chad genauso gut in den Bauch boxen können. Er ahnte, um wen es sich handelte. „Mein Gott, Arnold, gab es etwa keine Alternativen?“

Arnold schüttelte den Kopf. „Ihr Vater war dort, Kruger. Wie hätte ich sie da hindern sollen, an der Expedition teilzunehmen?“

„Verdammt, Sie wissen doch, dass ich mit Allan Whitehead auf Kriegsfuß stehe. Er gab mir die Schuld dafür, dass er von der Uni geflogen ist. Seine Tochter hasst mich deswegen wie die Pest. Yui ergeht es da nicht anders.“

„Julia Whitehead übernimmt einen großen Teil der Kosten. Fragen Sie mich nicht, woher sie das Geld hat, aber ohne ihren Beitrag hätten wir nicht auf die Schnelle ein Paar Profis zusammentrommeln können. Die kleine Spezialeinheit wird übrigens von uns bezahlt.“

Yui horchte auf. „Soldaten?“

Arnold gab ihnen mit seiner rechten Hand ein Zeichen, weiterzugehen. „Wir sollten uns beeilen. Die anderen warten bereits im Vortragsraum.“

„Wieso Militär?“ Yuis Frage blieb unbeantwortet im Raum stehen.

*

Julia Whitehead hatte sich manchmal nicht unter Kontrolle. Soweit sie sich erinnern konnte, plagten sie ihre Stimmungsschwankungen seit ihrer Kindheit. Ihr immer wieder aufkommender Jähzorn führte letztendlich dazu, dass sie nicht sonderlich viele Freunde hatte. In ruhigeren Momenten konnte sie die Abneigung, die ihr entgegengebracht wurde, nachvollziehen. Wer wollte schon etwas mit jemandem zu tun haben, der unerwartet in Wut geriet und dabei Wörter von sich gab, die jedes Taktgefühl vermissen ließen? Befand sie sich in einem ihrer, wie sie es bezeichnete, wüsten Zustände, brachten sie solche Gedanken noch mehr in Rage.

Nur bei ihrem Vater hatte sie sich ausgeglichen gefühlt. Doch der galt seit einem Jahr als vermisst. Seitdem hatten ihre jähzornigen Ausbrüche an Intensität zugenommen. Was auch immer damals in der Forschungsstation am Pol der Unzulänglichkeit passiert war, Julia hatte es sich in den Kopf gesetzt, dafür zu sorgen, das Geheimnis zu lüften. Sie wollte ihren Vater wieder finden. Dafürscheute sie weder Kosten noch Mühen. Aus diesem Grund saß sie nun in dem Vortragsraum der Travis-Station und wartete darauf, dass endlich dieser CIA-Typ Arnold zusammen mit Chad Kruger und dessen Assistentin Okada erscheinen würde.

Der Raum erinnerte an ein kleines Kino. Vielleicht passte der Begriff gammliges Lichtspieltheater besser. Die hässlichbraunen Klappsitze rochen muffig und der Stoff wies an Arm- und Rückenlehnen unübersehbare Gebrauchspuren auf. Es gab insgesamt zehn Sitzreihen. Julia saß in der zweiten Reihe direkt am Rand. Diese Position verschaffte ihr eine gewisse innere Ruhe und Sicherheit. Die drei anderen Personen hockten gemeinsam direkt vor dem Podium und unterhielten sich angeregt miteinander. Dass sie von den beiden Männern und der Frau nicht beachtet wurde, kümmerte sie nicht großartig. Es gehörte gewissermaßen zu Julias Alltag, dass man sie wie eine Außenseiterin behandelte.

Die Tür öffnete sich.

Als Julia Chad Kruger und seine Assistentin erblickte, spürte sie einmal mehr Wut in sich aufsteigen. Sie konnte nicht vergessen, dass Kruger zu denjenigen gehörte, die der akademischen Karriere ihres Vaters ein jähes Ende gesetzt hatten. Krugers eingefallene Wangen sowie seine dürre Statur erinnerten an einen Asketen. Sein kurzes, dunkelbraunes Haar stand am Scheitel wirr von seinem Kopf ab, sodass es den Eindruck erweckte, er hätte vergessen, sich zu kämmen. Auffällig waren zudem seine stechenden Augen, die alles andere als einen reinen Theoretiker verrieten.

Yui Okada war einen Kopf kleiner als Kruger. Julia hatte stets große Schwierigkeiten, sie sich als Wissenschaftlerin vorzustellen. Mit ihrem Aussehen glich sie vielmehr einem Fotomodell. Julia konnte nicht anders, als Yui als schön zu bezeichnen, auch wenn sie in ihr eher eine dämliche Zicke sah. Ihre schlanke, wohlgeformte Figur, ihre langen schwarzen Haare sowie ihre weichen Gesichtszüge lenkten schon jetzt die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Hinzu kamen ihre durchaus als grazil zu bezeichnenden Bewegungen, die nichts Ruppiges an sich hatten, wie man es gemeinhin von Wissenschaftlerinnen gewohnt war. Jedes Mal, wenn sie Kruger und Okada zusammen sah, fragte sie sich, ob beide nicht nur das Büro, sondern auch das Bett miteinander teilten.

„Entschuldigen Sie die kleine Verspätung“, begann John Arnold, der zusammen mit Chad Kruger und Yui Okada auf dem Podium stand. Mit seinem roten Anorak und seiner grauen Mütze wirkte er wie ein Mitarbeiter des städtischen Winterdienstes. Offiziell gehörte er der CIA an. Tatsächlich aber leitete er dort eine Teilorganisation, die den Namen LOGE trug. Es handelte sich um eine Gruppierung von Wissenschaftlern und ausgemusterten Mitarbeitern der CIA, die sich in der Hauptsache mit außergewöhnlichen Phänomenen und Artefakten beschäftigte. Sie war 1952 gegründet worden, kurz, nachdem es zu einem Zwischenfall über dem Weißen Haus gekommen war. Seltsame, runde Lichter hatten das Gebäude umkreist, bevor sie spurlos verschwunden waren. Das außergewöhnliche Phänomen wurde nie gelöst. Die Regierung betrachtete dieses Ereignis als Grund, eine Spezialorganisation ins Leben zu rufen, deren Tätigkeit sich auf Grenzfälle bezog. Eine ähnliche Organisation hätte kürzlich auch in der EU gebildet werden sollen, stieß bei den meisten Abgeordneten allerdings auf Ablehnung.

Arnold rieb seine geröteten Hände, während er fortfuhr: „Der Sturm hat die Landung unseres BO erschwert. Doch da wir nun alle versammelt sind, können wir unser Meeting endlich beginnen. Ich darf Ihnen zunächst unsere beiden Neuankömmlinge vorstellen. Chad Kruger ist Experte für wissenschaftliche Grenzgebiete. Sie kennen vielleicht ein paar seiner Veröffentlichungen. Zurzeit ist Mr. Kruger Gastprofessor an der Universität von Dundee. Die reizende Dame neben ihm ist seine Assistentin Yui Okada. Sie beschäftigt sich vor allem mit Artefakten unbekannter Kulturen.“

Die beiden Männer und die Frau applaudierten höflich. Julia klatschte gelangweilt in dieHände.

John Arnold bemerkteihren gereizten Blick, ließ sich allerdings nicht verunsichern. „Miss Okada, Kruger, nun möchte ich Ihnen die anderen Teilnehmer unserer kleinen Gruppe vorstellen. Ich nehme an, Miss Julia Whitehead kennen Sie bereits. Wie ihr Vater beschäftigt sie sich mit der Erforschung der Antarktis.“

Krugers Blick verdüsterte sich. Yui Okada zeigte einen Hauch von Unsicherheit. Sie verbeugte sich leicht.

Julia beschloss, die Begrüßung nicht zu erwidern.

John Arnold deutete mit einer Handbewegung auf die drei übrigen Personen. „Bei dieser Dame und den beiden Herren handelt es sich um die Medizinerin Maggie Hodge, den Biologen Simon Radcliffe sowie Jeffrey Norton, von dem ich ehrlich gesagt nicht mehr weiß, was er hier überhaupt zu suchen hat.“

Obligatorisches Gelächter erfüllte den Raum.

„Ich habe seinerzeit die Station mitkonstruiert“, erwiderte Norton, nachdem die letzte Lachsalve verstummt war. Seit sie ihn kannte, machte er auf sie den Eindruck eines Mannes, der in seinem bisherigen Leben noch nie vor irgendwelchen Problemen gestanden hatte. Ein echter Glückspilz sozusagen, dem einfach alles gelang, was er anpackte. Er war es auch, der Yui Okada unverhohlen anstarrte. „Wenn Sie so wollen, ich kenne KOR wie meine eigene Westentasche.“

Kruger und Yui traten vom Podium und schüttelten ihren neuen Kollegen die Hände. Danach setzten sie sich und warteten gespannt, was John Arnold weiter berichten würde. Julia hatten sie anscheinend schon wieder vergessen, jedenfalls behandelten sie sie wie Luft.

John Arnold trat an einen der beiden Flachbildfernseher. Auf dem Bildschirm erschien eine grobkörnige Aufnahme von KOR. Die Bilder stammten von einem Kleinflugzeug und waren etwas verwackelt. Sie zeigten die dunkelgraue Station, deren äußere Form an einen Zeppelin erinnerte, der mitten im Eis notgelandet war.

*

Yui beugte sich nach vorn, um die Aufnahmen besser in Augenschein zu nehmen. Die verwackelten Bilder gaben der Station ein düsteres Aussehen. Das Gebäude passte nicht in die einsame Weite der Landschaft. Es wirkte wie ein ominöser Fremdkörper, der sich aus dem kilometerdicken Eis befreit hatte.

Im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit Chad hatte sie viele Häuser, Plätze und Kultstätten besucht, die auf sie einen geheimnisvollen Eindruck gemacht hatten. In den meisten Fällen hatte sie feststellen müssen, dass diese rätselhafte Aura durch alte Überlieferungen oder moderne, sogenannte urbane Legenden geprägt wurde. Wenn man voreingenommen auf ein Ziel zuging, schaffte man es selten, sich von seiner vorgefassten Meinung zu lösen. In der Regel wurde dadurch einem bestimmten Ort von außen ein Stempel aufgedrückt, der ihn im gewissen Sinne brandmarkte. Nicht selten erwiesen sich sakrale Orte als natürlich geformte Felsformationen oder Landschaften, die im Auge des Betrachters etwas zutiefst Menschenähnliches aufwiesen.

Die Aura, dieKOR umgab, war alles andere als von außen geprägt. Die Forschungsstation mit ihren verwitterten Schriftzügen und den schwarzen Fenstern, in denen sich das Sonnenlicht nicht reflektierte, wirkte anders. Fremdartig und auf eine unbestimmte Art bedrohlich. Gleich einem tiefgefrorenen Albtraum ragte sie aus dem Boden. Zu KOR gab es keine Legenden, sondern nur Fakten. Und diese besagten, dass die Besatzung seit einem Jahr vermisst wurde. Die Einsamkeit des Ortes verstärkte diese Eindrücke um ein Vielfaches.

John Arnold stellte sich neben den Fernseher und ließ seinen Blick über die Zuhörer schweifen. Früher hatte sie sich Agenten stets schlank und adrett vorgestellt. Arnold erwies sich als das genaue Gegenteil davon, weswegen sie ihre Meinung über diesen Berufszweig revidieren musste. Sie kannte ihn erst seit wenigen Jahren, im Gegensatz zu Chad, der seit längerer Zeit mit ihm zusammenarbeitete. Ihr gegenüber verhielt er sich stets korrekt, auch wenn sie von Chad gehört hatte, dass er ein Schürzenjäger und überzeugter Sexist sei.

Nachdem sich Arnold der Aufmerksamkeit seines Publikums gewiss war, begann er: „Die Fakten, die ich nun erwähnen werde, sind Ihnen mit Sicherheit bekannt. Betrachten Sie meine Worte als eine Art Resümee der bisherigen Ereignisse. Danach wird Ihnen Julia Whitehead möglicherweise nähere Informationen geben können. Die Station KOR wurde im September vergangenen Jahres am Pol der Unzulänglichkeit fertiggestellt. Die Kosten betrugen etwa vierzig Millionen Euro, wie Ihnen Mr. Norton sicherlich bestätigen wird.“

„Um genau zu sein, einundvierzig Millionen Euro“, warf der Konstrukteur ein. Er schaute in die Runde, als erwartete er, dass seine Aussage ein paar Lacher hervorrufen würde. Sein Blick blieb wiederauf Yui haften.

Sie fühlte sich alles andere als geehrt. Yui war es zwar gewohnt, hin und wieder angegafft zu werden, doch Norton machte dies auf eine plumpe, fast schon widerliche Art. Sie versuchte, diesen Eindruck zu verdrängen und konzentrierte sich wieder auf Arnolds Vortrag.

„Also einundvierzig Millionen. Im November desselben Jahres wurde die Station bezogen. Der Leiter der Forschergruppe hieß Allan Whitehead. Das gesamte Team umfasste zwanzig Mitglieder. Es gibt keine Anhaltspunkte darüber, welchen Forschungen Mr. Whitehead nachgehen wollte. Sein Vorhaben erregte allein dadurch Aufsehen, dass sowohl Station als auch Forschungsprojekt durch keine wissenschaftliche Einrichtung, sondern privat finanziert wurden. Das nächste Ereignis fand im vergangenen Dezember statt. Ein Pilot, der mit seinem Flugzeug Post und Verpflegung bringen sollte, fand die Station verlassen vor. Er teilte dies seinen Vorgesetzten mit, doch die meinten lediglich, dass wahrscheinlich alle irgendwo außerhalb Messungen durchführen würden. Als sich auch nach Tagen niemand über Funk meldete, wurde die Station erneut aufgesucht. Das Ärzteteam der japanischen Station Dome Fuji bestätigte die Aussagen des Piloten. In KOR hielt sich niemand auf. Seitdem fehlt von Allan Whitehead und seinen Leuten jede Spur.“

Die Außenaufnahmen wurden durch einen harten Schnitt von Bildern aus dem Inneren der Station abgelöst.

„Diese Aufnahmen stammen von dem Rettungsteam“, erklärte Arnold. „Sie sehen, was die Sache so sonderbar macht.“

Yui spürte, wie sich auf ihrem Rücken Gänsehaut bildete. In dem Speisesaal stand noch das Geschirr, als hätten die Gäste gerade ihren Platz verlassen. Auf dem Herd in der Küche stand ein großer Kochtopf, halbvoll mit verschimmelten Essensresten. Den seltsamsten Anblick boten die Zimmer der einzelnen Teammitglieder. Die Betten waren nicht gemacht, sämtliche Kleidung hing noch in den Schränken, und auch sonst schienen die Mitglieder von Whiteheads Team nichts von ihrem Privatbesitz mitgenommen zu haben.Falls sie die Station überhaupt jemals verlassen hatten.

Die Bilder hätten genauso gut aus einem dieser Horrorfilme stammen können, die nur mit einer gewöhnlichen Digitalkamera gedreht wurden. Ein Filmfreak hätte wahrscheinlich ständig auf das Buh! gewartet, mit dem irgendeine Fratze unerwartet in Nahaufnahme vor die Kamera schnellte. Natürlich geschah nichts dergleichen. Doch gerade diese Nüchternheit verlieh dem Ganzen eine gespenstische Atmosphäre.

Yui betrachtete Chadvon der Seite. Seine Stirn lag in Falten. Mit äußerster Konzentration starrte er auf den Fernseher, als könnte er etwas entdecken, was andere bisher übersehen hatten. Ähnlich wie seinemverstorbenemVater kam ihm ein feinsinniges Gespür für Zusammenhänge zugute. Sein Vater hatte als Parapsychologe in einer kleinen Abteilung der Universität von Montreal gearbeitet. An der Universität waren seine Untersuchungen nicht ernst genommen worden, was ihn zunehmend verbitterte. Dennoch hatte er Chadermutigt, sich ebenfalls mit Parapsychologie auseinanderzusetzen. „Nicht Wirtschaft oder Jura wie all die anderen. Da draußen gibt es noch so viel zu entdecken“, soll er Chadgesagt haben. Neben seinem Studium hatte sich Chadauch anderen paranormalen Gebieten zugewandt und war in Kontakt mit Wissenschaftlern getreten, die seine Interessen teilten. Obwohl er mittlerweile unter Grenzwissenschaftlern als Koryphäe gehandelt wurde, betrachtete er die Akteure innerhalb des wissenschaftlichen Sektors mit kritischen Augen. Yui erklärte sich seine denkwürdigen Äußerungen über Universitäten, Professoren und deren Mitarbeiter dahingehend, dass seine Perspektive mit dem traurigen Schicksal seines Vaters zusammenhing, der sich eines Tages aus lauter Gram mit einer Überdosis Schlaftabletten umgebracht hatte. Yui nahm gelegentlich eine unterschwellige Schwermut an Chadwahr. Ob dies mit dem Tod seines Vaters oder mit anderen Dingen, von denen sie nichts wusste, zu tun hatte, blieb für sie ein Rätsel. Chadsprach nicht gern darüber.

Die Aufnahmen zeigten nun eines der Labors. Die Geräte standen geordnet an Ort und Stelle, als hätte sie bisher nie jemand benutzt. Yui fragte sich, ob die wissenschaftliche Einrichtung überhaupt jemals verwendet worden war. Ein weiterer Schnitt. Die Kamera schwenkte durch die Garage. Beide Schneeraupen sowie die Schneemobile standen an ihren Plätzen. Nichts gab einen Aufschluss darüber, wohin die Mannschaft von KOR verschwunden war.

John Arnold räusperte sich. „Wie Sie unschwer erkennen können, scheint sich die Mannschaft buchstäblich in Luft aufgelöst zu haben. Umso erstaunlicher und eigenartiger erscheint daher der Funkspruch, der von hier stammt. Wer hat ihn abgesendet? Welche Informationen beinhaltet er? Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder ist die Erklärung recht simpel oder schier unbegreiflich. Wir haben bisher keine Anhaltspunkte. Aber wir haben drei Tage, um das Rätsel von KOR zu lösen. Solange wird unser Aufenthalt in der Station dauern.“ Mit einem Blick auf Chadfügte er hinzu: „Das Rätsel, mit dem wir es zu tun haben, erklärt zudem die Anwesenheit von Mr. Kruger, falls sich einer von Ihnen mit paranormalen Themen nicht anfreunden kann. Auch wenn die Skepsis gegenüber den Grenzwissenschaften groß ist, so hat der Forscherdrang ihrer Vertreter bisher immer noch dazu geführt, unglaublichen Geheimnissen auf die Schliche zu kommen. Und glauben Sie mir, ChadKruger ist einer der Besten.“

„Das klingt ja so, als müssten Sie sich für ihn entschuldigen!“

Erschreckt drehte Yui sich um.

Julia Whitehead hatte sich von ihrem Platz erhoben und funkelte mürrisch in ihre Richtung. „Sie wissen genau, dass ich Mr. Kruger und dieses Mädchen, das er als seine Assistentin bezeichnet, nicht leiden kann. Sie hätten ohne Umschweife einen anderen Experten aus Ihren Reihen nehmen können.“

Yui versuchte, das eben Gesagte schnell wieder zu vergessen. Schon öfter hatte Julia Whitehead sie öffentlich gedemütigt, indem sie sie als Flittchen, Hure oder noch Schlimmeres bezeichnet hatte. Jede ihrer Attacken führte bei Yui zu einer Art Krampf, der sie daran hinderte, etwas auf die Diffamierungen zu erwidern. Sie wusste nicht, weshalb sie jeder verbale Angriff dieser Frau geistig außer Gefecht setzte. Ihr fielen nie die richtigen Worte ein, die sie hätte entgegnen können. Das Schlimme war, dass Julia Yuis Schweigen jedes Mal als Sieg betrachtete, was sie noch mehr schmerzte.

Chaderhob sich ebenfalls. „Anstatt dämliche Sprüche zu klopfen, wäre es schön, wenn Sie uns Näheres über Ihren Vater und dessen Forschung erzählen könnten.“

„Von wegen dämliche Sprüche“, zischte Julia. „Sie sind es, der dämliche Sprüche über meinen Vater verbreitete. Deswegenmusste er die Universität verlassen. Diese abscheulichen Gerüchte, die Sie ihm anhängten, führten dazu, dass alles durch die Medien kursierte. Keine renommierte Universität wollte mehr etwas mit ihm zu tun haben.“

„Was Sie hier auftischen, ist nicht mehr zu ändern“, erwiderte Chad. Er zeigte sich kühl, doch Yui konnte seine innere Anspannung regelrecht spüren. „Ich möchte Sie noch darauf hinweisen, dass Miss Okada kein Mädchen ist, wie Sie sie aus niederen Gründen bezeichnen, sondern eine ausgebildete Wissenschaftlerin. Und jetzt könnten wir vielleicht wieder zurück zum eigentlichen Thema kommen.“

John Arnold nickte verunsichert. „Es wäre in der Tat von Vorteil, wenn wir beim eigentlichen Zweck unserer Mission bleiben könnten. Also bitte, Miss Whitehead, es würde mich freuen, wenn Sie uns wichtige Informationen über Ihren Vater mitteilen würden.“

Julia Whitehead trat sichtlich gereizt auf das Podium zu. Sie hatte kurzes, blondes Haar und ein kantiges Gesicht, das ihrem Aussehen eine gewisse Härte verlieh. Sie trug einen weiten, dunkelbraunen Wollpullover sowie eine beigefarbene Cordhose. Als sie auf dem Podium stand, wich Yui ihren Blicken aus.

„Mr. Norton und ich kennen uns bereits. Mit Miss Hodge und Mr. Radcliffe hatte ich noch nicht das Vergnügen. Daher möchte ich mich kurz vorstellen. Meinen Namen kennen Sie ja schon. Was Sie vielleicht noch nicht wissen, ist, dass ich diese Suche finanziere. Dummerweise überließ ich es Mr. Arnold, die Zusammenstellung der Mannschaft zu übernehmen, da ich überzeugt war, als Leiter einer Organisation würde er auf Kompetenz und Teamgeist achten. Wie dem auch sei, nun sind wir hier. Eine andere Möglichkeit, innerhalb kürzester Zeit ein Team zusammenzustellen, existierte nicht. Es erwies sich als schwierig, innerhalb weniger Stunden die Gelder zusammenzubekommen, aber letztendlich hat es doch geklappt. Die Schwierigkeiten lagen vor allem darin, dass keine Forschungseinrichtung sich an der Suche beteiligen wollte, was auf den eben erwähnten Streit zwischen mir und Mr. Kruger zurückzuführen ist.“

„Bitte, Miss Whitehead“, flüsterte Arnold hinter ihr.

Julia winkte ab. „Ich mach es ja kurz. Nur keine Panik. Wie mein Vater bin auch ich an der Erforschung der Antarktis interessiert. Allerdings teile ich sein Schicksal dahingehend, dass mich keine Uni anstellen möchte. Die Sache mit meinem Vater hat anscheinend hohe Wellen geschlagen, nicht wahr, Mr. Kruger? Jedenfalls finanziere ich meine Forschungen ausschließlich mit Geldern privater Leute. Egal ob es Scheichs sind, Konzernchefs oder berühmte Schauspieler, die sich auf irgendeine Art und Weise engagieren wollen. Um es auf den Punkt zu bringen, diese Art der Forschung ist anstrengend, da man mehr mit der Suche nach Geldern zu tun hat als mit der Forschung. So habe ich mein bisheriges wissenschaftliches Leben zugebracht. Doch jetzt – Sie werden erleichtert sein, Mr. Arnold – zu meinem Vater. Ich möchte Sie nicht mit seiner Biografie langweilen, sondern gleich zum eigentlichen Zweck seiner Forschung kommen. Sein Spezialgebiet liegt in der Analyse von Eisbohrkernen. Wie Sie wissen, gibt es zwei Bohrungen, die im Rahmen des EPICA-Projekts laufen. Sie finden an zwei verschiedenen Standorten statt. Zum einen bei der Station Dome Concordia in der Ostantarktis und zum anderen bei der Kohnen-Station auf Dronning Maud Land. Ziel ist es, Erkenntnisse über vergangene Klimaveränderungen zu sammeln. Mein Vater wurde nach seinem Rausschmiss aus der Universität von Dundee auch von diesem Projekt ausgeschlossen. Im Grunde genommen aber hatte Allan Whitehead sowieso andere Pläne. Er wollte den entlegensten Punkt der Antarktis untersuchen. Unter anderem plante er, direkt am Pol der Unzulänglichkeit eine Eiskernbohrung durchzuführen. Daher die Errichtung der Station, der er den Namen KOR gab. Ein Wortspiel, wenn Sie so wollen. Der Name klingt wie das englische Wort core. Der Kern als Sinnbild der Mitte. Den Namen entlehnte mein Vater aus seinem Lieblingsroman She von Henry Rider Haggard. Es symbolisiert also zugleich etwas Geheimnisvolles und Unergründliches. Die Arbeit von uns Wissenschaftlern sollte in der Hauptsache darin bestehen, Geheimnissen auf den Grund zu gehen. Mein Vater hoffte, dieser Tätigkeit am Pol der Unzulänglichkeit ungestört nachgehen zu können.“ Julia legte eine Pause ein, als wollte sie erst nochmals ihre Gedanken sammeln, bevor sie weiter sprach.

Simon Radcliffe verstand diese Pause anscheinend als eine subtile Aufforderung, Fragen zu stellen. Yui fand ihn noch ziemlich jung. Sein Abschluss konnte nicht weit zurückliegen. Er hob seine rechte Hand. „Stehen dort nicht die Reste einer ehemaligen russischen Station?“

Julia Whitehead fuhr ihn an: „Unterbrechen Sie mich nicht! Mein Vortrag ist noch keineswegs zu Ende!“

Yui hätte ihm diese Reaktion vorhersagen können. Sie wusste bereits, wie Julia Whitehead auf solche Zwischenfragen reagierte. Bei einem Symposium über neolithische Artefakte in den Polarregionen hatte sie ganz ähnlich reagiert.

Simon senkte langsam seinen Arm, wobei sein Kopf glühte wie eine rote Ampel. Maggie Hodge stieß ihn leicht mit demEllenbogen an und grinste.

„Ich kann es wirklich nicht leiden, wenn man sich nicht an die Regeln hält“, fuhr Julia, etwas ruhiger geworden, fort. „Aber Sie haben recht. In unmittelbarer Nähe blickt eine Leninbüste direkt in Richtung der Station meines Vaters. Zusammen mit ihm lebten etwa zwanzig weitere Wissenschaftler in der Station. In der ersten Zeit stand ich mit ihm in regelmäßigemKontakt. Er war bester Laune. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern, dass es dort zu irgendwelchen Problemen gekommen wäre. Danach sprachen wir nur noch gelegentlich über Funk. Ich nehme an, dass ihn seine Arbeit zu sehr in Anspruch nahm.“ Wiederum legte sie eine Pause ein. Diesmal hütete sich Simon davor, auch nur irgendeinen Mucks von sich zu geben. „Dann kam der Tag, an dem wir zum letzten Mal in Funkkontakt traten. Mein Vater wirkte ziemlich außer sich. Natürlich fragte ich, ob etwas nicht stimme. Doch er wollte nicht damit herausrücken, was ihn aufregte. Ich wusste damals nicht, dass es das letzte Mal sein sollte, dass ich mit ihm redete. Danach erreichte ich ihn nicht mehr. Und schließlich erhielt ich die Nachricht, dass mein Vater und seine Kollegen vermisst wurden. Jetzt kennen Sie mindestens den Hintergrund. Sie können sich sicherlich vorstellen, dass dieser plötzliche Funkspruch mein Leben völlig durcheinandergebracht hat. Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, Licht in diese sonderbare Sache zu bringen.“ Mit gesenktem Haupt verließ sie das Podium und ging zurück an ihren Platz.

John Arnold übernahm wieder die Rednerrolle. „Gibt es noch Fragen?“

Maggie Hodge hob ihre Hand. Hätte Yui nur von ihrem Aussehen auf ihren Beruf geschlossen, hätte sie Maggie kaum als Ärztin, sondern eher als Berufssportlerin eingestuft. Soweit sie erkennen konnte, steckte unter dem schwarzen Pullover und der dunkelblauen Jeans ein durchtrainierter Körper. Das blonde Haar hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden.

„Miss Hodge, bitte.“

„Als Mitglied des Teams klingt meine Frage sicherlich unverschämt oder naiv. Immerhin werden wir alle ja von Ihnen bezahlt, Miss Whitehead. Dennoch würde mich interessieren, woher die Gelder genau stammen, mit denen Sie das gesamte Vorhaben finanzieren? Und wieso gelang es Ihnen, die Finanzierung auf so schnelle Weise zu sichern?“

In der Tat benötigte man normalerweise Monate, um an irgendwelche Gelder zu gelangen. Bürokratische Hürden galten in der Regel als Nebensache. Beziehungen spielten eine viel wichtigere Rolle. Und selbst dann brauchte es Zeit, bis die finanziellen Mittel flossen. Auch Yui kam die Sache eigenartig vor.

„Es genügt wohl, dass Sie und alle anderen Anwesenden auf der Gehaltsliste stehen“, lautete die prompte Antwort. „Und ja, Ihre Frage ist unverschämt.“

Yui hob ihre Hand. „Ich hätte ebenfalls eine Frage. Wieso nimmt an der Aktion eine Spezialeinheit teil? Auf was für eine Gefahr richten Sie sich ein?“

John Arnold hob entschuldigend seine Hände. „Ich nehme an, die Frage bezieht sich auf mich. In der Tat habe ich Sam Richards und seine drei Freundezu uns ins Boot geholt. Sie werden nicht von Miss Whitehead, sondern von meiner Organisation bezahlt. Sagen wir so, in jedem Amerikaner schlummern noch immer Ängste aus dem Kalten Krieg.“

Chad lachte auf. „John, Sie wollen uns doch hoffentlich nicht auftischen, dass irgendein Heini aus Ihren Reihen der Meinung ist, die Russen hätten die Station in ihren Besitz gebracht?“

„Was hätte es überhaupt für einen Zweck?“, warf Maggie Hodge ein. „Die Station verfolgte doch keine militärischen Interessen - oder Miss Whitehead?“

„Ich habe bereits gesagt, welche Forschungen mein Vater betrieb.“

„Dann kann es sich nur um die Furcht vor einer außerirdischen Invasion handeln“, kicherte Norton. „Was sagen Sie dazu, Mr. Kruger?“

„Dass ich nicht an außerirdische Invasoren glaube“, antwortete dieser trocken.

„Und Sie, Miss Okada?“

Wieder schaute er sie an, als würde er sie gedanklich ausziehen. „Vielleicht handelt es sich ja nicht um Aliens, sondern um eine schlichte Fehlfunktion in der von Ihnen konstruierten Station.“

Norton zuckte verblüfft zusammen. Anscheinend hatte er geglaubt, leichtes Spiel mit ihr zu haben, da sie auf Julias Gehässigkeit nicht reagiert hatte. Er lehnte sich wortlos zurück und verschränkte beleidigt die Arme.

Maggie deutete auf ihn und zwinkerte ihr zu.

„Richards ist einer der fähigsten Männer. Er dient allein zu unserem Schutz“, erklärte Arnold. „Wir wissen nicht, was in der Station vorgefallen ist und müssen auf alles gefasst sein.“

„Wie sieht es übrigens mit passender Kleidung aus?“, hakte Maggie nach. „Sie wollen doch sicher nicht, dass wir uns dort draußen den Tod holen.“

„Oder einen Schnupfen“, fügte Simon hinzu.

John Arnold deutete mit einem Nicken auf Julia. „Miss Whitehead hat alles veranlasst. In Ihren Unterkünften werden Sie geeignete Kleidungsstücke in Ihren jeweiligen Größen vorfinden.“

Chad rieb sich das Kinn. „Bleibt nur die Frage, nach welcher Zeitzone wir uns richten sollen.“

Arnold gab ein glucksendes Lachen von sich. „Wirklich witzig, Kruger. Wenn Sie jetzt unsere japanischen Kollegen in der Showa-Station anrufen würden, würden Sie dort alle aus ihren Betten klingeln, auch wenn wir hier auf Travis erst siebzehn Uhr haben. Hier am Südpol laufen die Uhren der einzelnen Stationen nach den Zeitzonen, aus denen ihre Bewohner stammen. Was unter Umständen manche Sachen kompliziert macht. Ich schlage jedenfalls vor, uns an Travis anzupassen. Also Mitteleuropäische Zeit. Wenn es keine weiteren Fragen gibt, sollten Sie sich in Ihre Kabinen zurückziehen und sich ausruhen. Essen gibt es in einer Stunde in Gebäude Fünf.“

*

Chad Kruger lag ausgestreckt auf dem schmalen Bett und schaute nachdenklich an die Decke. Er teilte sein Zimmer mit John Arnold, der soeben vergeblich versuchte, mit seinem Laptop einen Kontakt ins Internet herzustellen.

„Entweder liegt es an diesem verdammten Computer oder an diesem verdammten Sturm“. Sein Freund saß an dem niedrigen Schreibtisch vor dem Fenster und starrte auf den Bildschirm.

Chad und John Arnold hatten sich bei einem Kongress über prähistorische Methoden der Astronomie kennengelernt. Die Teilnehmer hatten über vorgeschichtliche Möglichkeiten zur Berechnung der Planetenlaufbahnen und Sternenkonstellationen referiert. Je mehr Geheimnisse Archäologen entschlüsselten, desto erstaunlicher wurden die Fakten. Plötzlich verwandelten sich harmlos erscheinende Steinkreise zu frühen Zentren der Hochwissenschaft oder die Anordnung megalithischer Gräber zu einem Beweis überregionalen Wissenstransfers. Die Fragen, die sich die Wissenschaftler stellten, bezogen sich nicht darauf, wie es den damaligen Menschen möglich war, exaktes astronomisches Wissen anzuhäufen. Die Untersuchungen der entsprechenden Artefakte lösten dieses Rätsel meistens. Vielmehr zerbrachen sich die Experten immer wieder ihre Köpfe darüber, woher diese Methoden stammten. Genau dies stellte einen Punkt dar, an dem die Grenzwissenschaft ins Spiel kam. Natürlich existierten hierbei genügend Spinner. Zum Beispiel Autoren, die sämtliche antiken und prähistorischen Wunderwerke dem Einfluss von Außerirdischen zuschrieben. Doch dann gab es auch noch Leute wie Chad, die versuchten, nach vernünftigen Erklärungen zu suchen. Die keinen Hirngespinsten nachjagten, sondern seriöse Wissenschaft betrieben. Es hing vor allem mit den pseudowissenschaftlichen Publikationen zusammen, die dazu führten, dass Grenzwissenschaftler als lächerliche Idioten hingestellt wurden. Es erwies sich als schwer und teilweise als unmöglich, gegen dieses aufgedrückte Image anzukämpfen. Chad konnte davon ein Lied singen. Dennoch blieb er seiner Forschung treu. Der Motor, der ihn antrieb, bestand aus reiner Neugierde und dem Bestreben, die letzten Geheimnisse dieser Welt zu lösen. Die Geschehnisse auf KOR gehörten zu dieser Art von Geheimnis.

„Es gefällt mir nicht, dass Julia Whitehead dabei ist“, sagte er.

„Sie erzählen mir nichts Neues, Kruger“, antwortete Arnold, der seinen Bildschirm nicht aus den Augen ließ. „Aber ich sagte Ihnen bereits, wie der Hase läuft. Miss Whitehead ist im Grunde genommen die Initiatorin. Sie betet ihren Vater an. Sie würde sich durch das Eis durchbeißen, wenn sie ihn dadurch finden könnte.“

Chad verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. „Falls ihr Vater überhaupt noch lebt.“

„Autsch.“

„Sie glauben doch wohl selbst nicht, dass einer der Mannschaft noch am Leben ist. Es ist ein Jahr her, Arnold.“

„Den Funksignalen zufolge muss sich dort jemand aufhalten.“

„Die Rettungsleute haben damals niemanden gefunden. Wer soll dann dafür verantwortlich sein?“

Arnold gab ein genervtes Schnaufen von sich. „Ich habe keine Ahnung, Kruger. Das ist wohl auch der Grund, weswegen wir dort an die Tür klopfen werden. Die Botschaft oder um was es sich handelt, wird noch immer analysiert. Vielleicht helfen uns die Ergebnisse weiter.“

Für kurze Zeit hing jeder der beiden seinen eigenen Gedanken nach. In der plötzlichen Stille wirkte das Brausen des Sturmes lauter als zuvor.

„Die Art der Finanzierung gibt mir zu denken. Es war gut, dass Miss Hodge diesen Punkt angesprochen hat. Irgendetwas steckt dahinter“, sagte Chad.

John Arnold sah kurz zu ihm herüber. „Kommen Sie mir bloß nicht mit irgendeinem Verschwörungskram.“

„Wieso Verschwörung? Ich nehme an, dass Julia Whitehead ihre Gelder von jemandem bekommt, der sich entweder nicht dorthin traut oder der bestimmte Interessen verfolgt.“

„Mafia?“

„Quatsch. Irgendeine Organisation oder eine Regierung.“

John Arnold drehte sich auf seinem knarrenden Bürostuhl um. „Welche Regierung, Kruger? Nordkorea? China? Was faseln Sie da überhaupt?“

Chad zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hat diese Hexe dadurch das notwendige Geld in den Hintern geschoben bekommen.“

„Wenn Sie das so kritisch sehen, wieso sind Sie dann noch hier, Kruger? Schnappen Sie sich Ihre Assistentin und schwirren Sie wieder zurück nach Seoul.“

Chad konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich bin gekommen, weil Sie mich gerufen haben, Arnold, und nicht Julia Whitehead. Außerdem klingt die Sache mit dem Funkspruch aus einer angeblich verlassenen Forschungsstation, die mitten in der Antarktis liegt, einfach zu verführerisch. Kurz: Ich will wissen, welchen Forschungen Allan tatsächlich nachgegangen ist und was er dort möglicherweise gefunden hat.“

Arnold beugte sich vor. „Was soll er gefunden haben?“

„Wenn ich das wüsste, würde ich nicht hinfliegen.“

John Arnold wandte sich wieder seinem Laptop zu. „Eine durchaus einleuchtende Bemerkung.“

„Seien Sie nicht gleich eingeschnappt. Sagen Sie mir lieber, wer die anderen drei Personen sind, die mit uns kommen.“ Er hatte keine Chance gehabt, die anderen Mitglieder näher kennenzulernen. Nach dem Meeting hatten sie sofort den Vortragsraum verlassen. „Jeffrey Norton scheint mir ein wenig labil zu sein“, fügte er hinzu.

John Arnold bearbeitete die Tastatur des Laptops, während er antwortete: „Ist für Sie jeder sofort labil, wenn er Ihre Assistentin anglotzt?“

„Sicherlich nicht. Doch Norton wirkt auf mich wie jemand, der uns Schwierigkeiten machen könnte.“

Arnold seufzte. „Jeffrey Norton wurde von Julia Whitehead hinzugezogen, da er die Station konstruiert hat. In meinen Augen nicht verkehrt. Sollte es wirklich zu Fehlfunktionen in der Station gekommen sein, so würde er es als Erster herausbekommen. Ich persönlich kenne ihn nicht. Gut, er ist schleimig und etwas derb, aber Miss Okada wird er wohl noch anschauen dürfen. Oder macht Sie das eifersüchtig?“

„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“

„Als ob zwischen Ihnen beiden nichts laufen würde.“

„Unsere Beziehung ist vielleicht anders, aber von Eifersucht kann keine Rede sein.“

„Was Sie auch immer mit andersmeinen. Wieso ist sie eigentlich nicht hier bei Ihnen?“

„Der Flug hierher hat ihr nicht sonderlich gut getan. Sie ruht sich kurz aus. Aber zurück zum eigentlichen Thema. Was ist mit Maggie Hodge und Simon Radcliffe?“

John Arnold drückte auf Enter, doch die Internetverbindung kam noch immer nicht zustande. „Verdammter Mist. Maggie Hodge? Sie arbeitete früher als Notärztin. Sie ist extreme Bedingungen gewöhnt. Leidenschaftliche Bergsteigerin. Unter anderem gehörte sie zu einem internationalen Rettungsteam im Himalaja. Ihre Freundin ist bei einer Bergtour in den österreichischen Alpen ums Leben gekommen. Seitdem erklimmt sie jedes Jahr die Stelle des Unglücksorts. Sie ist absolut zuverlässig. Und falls Sie mal sterben sollten, bringt Sie Maggie garantiert wieder zurück zu den Lebenden. Simon Radcliffe hat erst vor zwei Jahren seinen Abschluss gemacht. Seine Spezialität sind Extremophile. Falls Sie nicht wissen, was das ist, fragen Sie ihn lieber selbst. Als Student hat er zweimal die Antarktis besucht. Er ist zwar jung, aber kennt sich aus.“

„Die Frage, die ich mir stelle, lautet: wieso einen Biologen? Ich hätte mir eine Handvoll Spürnasen aus Ihrer Abteilung verschafft und mit denen die Station auseinandergenommen.“

„Beide wurden mir empfohlen. Maggie ist eine hervorragende Ärztin. Und sollten wir tatsächlich irgendwelche Spuren entdecken, so wäre Simon Radcliffe durchaus in der Lage, sie chemisch oder sonst wie zu analysieren. Zudem dürfte Sie freuen, dass Simon kein Skeptiker ist, sondern immerhin ein Faible für Kryptozoologie aufweist.“

„Das ist besser als nichts“, erwiderte Chad.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen.

Ein kräftiger Mann in weißer Tarnkleidung stand davor und starrte aufgeregt in seine Richtung. Er hatte schwarzes, kurzgeschorenes Haar und das Gesicht eines Preisboxers.

„Können Sie nicht anklopfen, Richards?“

Sam Richards leitete die Spezialeinheit, die sie zu KOR begleiten sollte. Bis vor vier Jahren war er noch Offizier in der US-Army gewesen. Er hatte in Mexiko gegen Drogenkartelle gekämpft. Chadwusste nicht, aus welchem Grund er den Dienst quittiert hatte. Sicher war nur, dass Richards keinerlei Makel in seiner militärischen Karriere aufwies. Für viele Soldaten galt er sogar als Vorbild.

„Tut mir leid, Sir. Es geht um die Funksignale.“

John Arnold wirbelte auf seinem Stuhl herum. „Was ist damit?“

„Jacobson hat sie entschlüsselt.“

2

Bert Jacobson arbeitete als Toningenieur im Bereich Kommunikationstechnik am MIT und hatte stets die neuesten Geräte zur Verfügung. Sein aufgedunsener, unrasierter Kopf füllte den Bildschirm im Funkraum aus. Von Reinlichkeit schien Jacobson nicht allzu viel zu halten. Seine fettigen Haare hingen ihm wie die Fasern eines nassen Putzlappens ins Gesicht.

Yui war froh, ihm nicht die Hand schütteln zu müssen.

Aufgrund des schlechten Wetters kam es bei der Übertragung immer wieder zu kurzen Störungen.

„Hoffentlich hab ich euch nicht aus den Federn geholt.“

Yui überraschte seine schrille Stimme. Sie stand neben Chadund beobachtete die teils stockenden Bewegungen. „Auf jeden Fall hat sich das Aufstehen gelohnt. Ich hab tatsächlich so etwas wie Sinn in das Ganze bringen können. War ein bisschen mühsam…“

„Mr. Jacobson, mich würde es freuen, wenn Sie uns die dechiffrierte Meldung endlich vorspielen würden“, unterbrach ihn Julia. In ihrer Miene spiegelten sich Ungeduld, Angst und Sorge. Ihre Hoffnung, endlich ein unerwartetes Lebenszeichen ihres Vaters zu erhalten, war beinahe zum Greifen. Trotzdem Yui Julia nicht ausstehen konnte, tat sie ihr in diesem Moment irgendwie leid.

Julias Dazwischenfahren verunsicherte Bert kein bisschen. Er strich sich gelassen eine der fettigen Strähnen aus dem Gesicht. „Ich habe ein paar neue Master anlegen und ordentlich filtern müssen, bis endlich etwas Brauchbares zu hören war. Macht euch am Besten ein eigenes Bild davon.“ Er beugte sich vor und hantierte an einem Schalter.

Aus den Lautsprechern des Funkraums drang ein intensives Rauschen. Nach einigen Sekunden durchbrach ein seltsames Flüstern dieses Geräusch. Daraufhin hörte Yui eine nasale, verzerrte Stimme.

„Daehetiw nalla. Elkirt drawets. Kir Lahsram. Senoj harobed.“ Es folgte einer Reihe weiterer Wörter, die genauso unverständlich klangen wie die ersten. Zwischen den Lautfolgen gab es jeweils kurze Pausen. Die einzelnen Silben wurden von dem Sprecher gedehnt. Yui zählte 40 Wörter, bevor das Rauschen zurückkehrte. Danach wiederholte die Stimme die Silben in derselben Reihenfolge.

Julia Whitehead schlug mit der Faust gegen eines der Geräte, die sich um sie herum stapelten. „Was soll das? Ich dachte, es wäre eine Mitteilung!“

Bert Jacobson setzte eine ungerührte Miene auf. „Das befand sich auf dem Mitschnitt, Ma’am.“

Julia verpasste dem Gerät einen weiteren Schlag. „Es ist aber nicht mein Vater, der da spricht!“

Chadräusperte sich. „Es hat auch nie jemand behauptet, dass der Funkspruch von Ihrem Vater stammt.“

„Sie können mich mal, Mr. Kruger! Gehen Sie zu Ihrem Flittchen und halten Sie den Mund!“

Yui bemerkte, wie sich die Augen der Übrigen auf sie richteten. Sie wusste, dass jeder auf eine Reaktion wartete. Doch sie brachte es nicht fertig, ein einziges Wort zu erwidern. Sie spürte, wie ihr Gesicht rot anlief.

„Es wäre schön, wenn Sie Ihre Äußerungen im Zaum halten würden“, kam ihr Arnold zu Hilfe.

Julia gab ein lautes Schluchzen von sich. „Ich dachte, es käme von meinem Vater. Wer sonst hätte von KOR aus senden sollen?“

„Spätestens morgen werden wir darüber Gewissheit haben“, erwiderte Arnold.

Chadwandte sich an Jacobson, der den kurzen Streit mit vor der Brust zusammengefalteten Händen verfolgte. „Sonst noch etwas herausbekommen, Bert?“

„Schön, dass hier jemand noch an mich denkt. Das war nämlich noch nicht alles. Ich hab mir natürlich auch meine Gedanken gemacht, was dieses Zeug soll. Also bin ich auf die einfachste Methode gekommen, um das Ganze zu entschlüsseln.“

„Und die wäre?“, wollte Arnold wissen, als Jacobson eine Art Künstlerpause einlegte.

„Ich spielte das Band rückwärts ab. Und siehe da, die einzelnen Wörter bekamen einen Sinn. Warten Sie einen Moment.“ Er betätigte ein paar Schalter, bevor das Rauschen in den Lautsprechern wiederkehrte. Dieselbe Stimme besaß zwar weiterhin einen nasalen Grundton, doch die Wörter, die sie aussprach, konnten in der Tat verstanden werden.

„Allan Whitehead. Steward Trickle. Rick Marshall. Deborah Jones.“ Insgesamt nannte die unbekannte Stimme zwanzig Namen.

„Die Mitglieder der damaligen Forschungsmannschaft“, bemerkte Julia wie zu sich selbst.

„Wieso rückwärts?“ In Maggies stets gelassenen Gesichtsausdruck schlichen sich Skepsis und Staunen.

„Die Frage kann ich Ihnen nicht beantworten“, antwortete Jacobson.

„Haben Sie aus dem Funkspruch noch mehr herausbekommen können?“ ChadsAugen zeigten wieder jenen konzentrierten Ausdruck, an dem Yui ablesen konnte, dass sein Intellekt auf Hochtouren arbeitete.

„Die Stimme und das Rauschen. Mehr gibt es nicht. Der Hall der Stimme lässt auf einen kleinen Raum schließen. Sonst keine Geräusche. Die Stimme selbst… Ich würde sagen, männlich.“

Yui zuckte zusammen. „Was meinen Sie damit?“

„Ganz einfach, Lady, ich habe einen Stimmenvergleich durchgeführt. Sie entspricht nicht exakt einer durchschnittlichen männlichen Stimmlage. Sie klingt zwar männlich, ist es aber nicht.“

„Wollen Sie damit sagen, dass jemand seine Stimme verstellt hat?“, hakte Chadnach.

„Ich will damit sagen, dass diese Stimme nicht einmal menschlich ist.“

Berts Aussage sorgte einen Moment lang für absolute Stille.

Yui konnte nicht ganz glauben, was sie soeben gehört hatte. „Nicht menschlich?“

Bert nickte. „Ich habe die Stimme x-mal analysiert. Immerhin konnte ich es selbst nicht ganz glauben. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Was diese Stimme erzeugt hat, ist mir ein Rätsel.“

„Ich sag’s doch, Außerirdische.“ Norton blickte sich amüsiert um.