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Gibt es so etwas wie einen freien Willen, oder handeln wir immer nur aus uns vertrauten Mustern und Konditionierungen heraus? Vermögen wir so auf unseren Geist einzuwirken, dass wir unser Leiden mindern, unser Glück fördern und unsere Selbstheilungskräfte aktivieren können? Lebenspraktisch und alltagsbezogen widmet sich Thich Nhat Hanh diesen und anderen Fragen, die gegenwärtig auch im Mittelpunkt von Neurowissenschaft und Psychologie stehen, und zeigt, dass tiefgreifende Veränderung und Heilung möglich sind.
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Seitenzahl: 256
Bereits auf den ersten Seiten des Buches entwirft Thich Nhat Hanh ein Bild, das dieses wundervoll trostreiche und inspirierende Buch sehr gut zusammenfasst. Sie kämpfen mit einem Computerproblem. Ihr älterer Bruder kommt in dem Moment, in dem sie schon aufgeben wollen, und sagt: »Rück zur Seite, ich übernehme das jetzt.« Sie fühlen sich beruhigt, noch bevor das Problem gelöst ist.
Dieser große Bruder ist der Buddha in uns, unser klarstes Verstehen. Und mit seiner freundlichen, geduldigen, unerschütterlichen, überzeugenden, zeitgemäßen und oft sehr humorvollen Stimme scheint mir Thich Nhat Hanh ein vermittelnder großer Bruder zu sein. Auf jeder Seite dieses Buches spricht er direkt zu uns, sagt: »Schauen Sie! Genau da in Ihnen ist all die Weisheit, die zu Mitgefühl führt.«
Dies ist kein sehr umfangreiches Buch, doch es steckt alles darin, ausgedrückt in einer poetischen Sprache, in traditionellen buddhistischen Bildern, in Worten, die der westlich religiösen Tradition entstammen. Dass es darin um alles geht und dies in einer universalistischen Sprache präsentiert wird, stimmt mit der Botschaft dieses Buches überein: Es gibt nichts, was getrennt wäre von allem, was ist. Es gibt nur das wechselseitige Verbunden- und Durchdrungensein, Intersein. Unmöglich ist es, dieses Buch zu lesen, ohne sich inspiriert zu fühlen, die eigenen Anstrengungen im Interesse anderer Menschen, im Interesse aller Wesen, im Interesse unseres Planeten zu verdoppeln, wohl wissend, dass dieses Bemühen auch zu unserem eigenen Glück führen wird.
Sylvia Boorstein
Im Lotos-Sutra wird der Buddha als dasjenige auf zwei Beinen gehende Geschöpf beschrieben, dem der meiste Respekt und die größte Zuneigung entgegengebracht wird. Er erfuhr diese tiefe Wertschätzung, weil er wusste, wie man das Gehen genießen kann. Zu gehen ist eine wichtige Form buddhistischer Meditation. Sie kann eine tiefgründige spirituelle Praxis sein. Wenn der Buddha ging, so tat er das ohne jede Anstrengung. Er genoss einfach das Gehen. Er musste sich nicht bemühen, denn in Achtsamkeit zu gehen bedeutet, mit allen Wundern des Lebens in uns und außerhalb von uns in Berührung zu sein. Dies ist die beste Art der Praxis, wenn sie als Nicht-Praxis erscheint. Man strengt sich nicht an, kämpft nicht, sondern genießt einfach das Gehen, aber das ist sehr tiefgründig. »Meine Praxis«, sagte der Buddha, »ist die Praxis der Nicht-Praxis, das Erlangen des Nicht-Erlangens.« 1
Vielen von uns erscheint die Vorstellung einer Praxis ohne Anstrengung, die Idee eines entspannten Vergnügens der Achtsamkeit, als sehr schwierig. Der Grund dafür ist, dass wir nicht wirklich mit unseren Füßen gehen. Natürlich gehen wir, körperlich gesehen, mit unseren Füßen, da aber unser Geist stets anderswo ist, gehen wir nicht mit unserem ganzen Körper, unserem gesamten Bewusstsein. Wir betrachten unseren Geist und unseren Körper als zwei verschiedene Dinge. Während unser Körper in die eine Richtung geht, zieht uns unser Bewusstsein in die andere.
Für den Buddha sind Geist und Körper zwei Aspekte derselben Sache. Gehen ist so einfach wie einen Fuß vor den anderen setzen. Doch das finden wir oft schwierig oder langweilig. Wir fahren lieber ein paar Meter, um »Zeit zu sparen«, statt zu gehen. Wenn wir aber die Verbundenheit von Körper und Geist verstehen und erfahren, kann das Gehen wie ein Buddha zu einem ausgesprochen angenehmen Vergnügen für uns werden.
Sie können einen Schritt machen und die Erde dabei in einer Weise berühren, dass Sie sich selbst im gegenwärtigen Moment verankern und im Hier und Jetzt ankommen. Sie brauchen sich dazu nicht anzustrengen. Ihr Fuß berührt achtsam die Erde und Sie erreichen sicher das Hier und Jetzt. Und plötzlich sind Sie frei – frei von allen Vorhaben, allen Sorgen, allen Erwartungen. Sie sind vollständig präsent, völlig lebendig, und Sie berühren die Erde.
Wenn Sie alleine für sich langsame Gehmeditation praktizieren wollen, können Sie Folgendes versuchen: Sie atmen ein und machen einen Schritt, während sich Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Fußsohle richtet. Wenn Sie noch nicht vollständig, zu hundert Prozent, im Hier und Jetzt angekommen sind, machen Sie noch nicht den nächsten Schritt. Sie können sich diesen Luxus leisten. Sind Sie dann sicher, dass Sie hundertprozentig im Hier und Jetzt angekommen sind und die Wirklichkeit tief berühren, so lächeln Sie und machen den nächsten Schritt. Gehen Sie in dieser Weise, drücken Sie Ihre Stabilität, Festigkeit, Ihre Freiheit und Freude in den Boden ein. Ihr Fuß ist wie ein Siegel, das Siegel eines Herrschers. Drücken Sie das Siegel auf ein Stück Papier, hinterlässt es einen Eindruck. Was sehen wir, wenn wir unseren Fußabdruck betrachten? Wir sehen den Abdruck der Freiheit, den Abdruck der Festigkeit, den Abdruck des Glücks, den Abdruck des Lebens. Ich bin sicher, dass Sie einen solchen Schritt machen können, denn es gibt einen Buddha in Ihnen. Er wird Buddhanatur genannt und bezeichnet die Fähigkeit, wahrzunehmen, was geschieht. Was geschieht, ist: Ich bin lebendig, ich mache einen Schritt. Eine Person, ein menschliches Wesen, Homo sapiens, sollte dazu in der Lage sein. Da ist ein Buddha in jedem und jeder von uns, und wir sollten diesem Buddha ermöglichen zu gehen.
Selbst in den schwierigsten Situationen können Sie wie ein Buddha gehen. Im März letzten Jahres reisten wir durch Korea, und einmal waren wir dort von Hunderten von Menschen umgeben. Jeder hatte eine Kamera, und der Kreis um uns wurde immer enger. Es gab keinen Platz zu gehen, und Hunderte von Kameras zielten auf uns. Es war eine sehr schwierige Situation, um Gehmeditation zu üben. Ich sagte: »Lieber Buddha, ich gebe auf, geh du für mich.« Und sofort kam der Buddha und ging, in vollkommenem Frieden. Und die Menge machte Platz für den gehenden Buddha; es war kein Aufwand erforderlich gewesen, das zu bewerkstelligen.
Wenn Sie in Schwierigkeiten sind, gehen Sie zur Seite und lassen Sie den Buddha Ihren Platz einnehmen. Der Buddha ist in Ihnen. Das funktioniert in allen Situationen. Ich habe es ausprobiert. Es ist wie bei einem Computerproblem. Sie können keine Lösung finden. Doch dann kommt Ihr großer Bruder vorbei, der sich mit Computern gut auskennt, und sagt: »Rück ein Stück zur Seite, ich übernehme das jetzt.« Und kaum sitzt er da, ist alles in Ordnung. So ist das. Wenn Sie es schwierig finden, ziehen Sie sich zurück und lassen Sie den Buddha Ihren Platz einnehmen. Es ist sehr einfach. Und für mich funktioniert es immer. Sie müssen Vertrauen in Ihren inneren Buddha haben und zulassen, dass er geht, und Sie müssen auch den Menschen, die Ihnen kostbar sind, ermöglichen zu gehen.
Wenn Sie gehen, für wen gehen Sie dann? Sie können gehen, um irgendwo anzukommen, und Sie können gehen als eine Art meditativer Opfergabe. Es ist sehr schön, für die eigenen Eltern oder Großeltern zu gehen, die vielleicht die Praxis des achtsamen Gehens niemals kennengelernt haben. Ihre Vorfahren mögen in ihrem gesamten Leben keine Chance zu friedvollen, glücklichen Schritten gehabt haben und sich nie vollständig im gegenwärtigen Moment haben verankern können. Das ist sehr bedauerlich, aber wir müssen diese Situation ja nicht wiederholen.
Es ist für Sie möglich, mit den Füßen Ihrer Mutter zu gehen. Arme Mutter, sie hatte nicht viele Gelegenheiten, auf diese Weise zu gehen. Sie können sagen: »Mutter, magst du mit mir gehen?« Und dann gehen Sie mit ihr, und Ihr Herz wird voller Liebe sein. Sie befreien sich und Sie befreien Ihre Mutter zur selben Zeit, denn sie ist in Ihnen, in jeder Zelle Ihres Körpers. Auch Ihr Vater ist in jeder Zelle Ihres Körpers präsent. Sie können sagen: »Vater, möchtest du mich begleiten?« Dann gehen Sie plötzlich mit den Füßen Ihres Vaters. Es ist eine Freude. Es ist sehr lohnend. Und ich versichere Ihnen, dass es nicht schwierig ist. Sie müssen nicht kämpfen und sich abmühen, um es zu tun. Werden Sie einfach aufmerksam, und es wird funktionieren.
Nachdem Sie fähig geworden sind, für die Menschen zu gehen, die Ihnen kostbar und teuer sind, können Sie auch für die Menschen gehen, die Ihnen das Leben schwer gemacht haben. Sie können für die gehen, die Sie angegriffen haben, die Ihr Zuhause zerstört haben, Ihr Land und Ihr Volk. Diese Menschen waren nicht glücklich. Sie hatten nicht genügend Liebe für sich und andere Menschen. Sie haben Ihnen das Leben schwer gemacht und das Ihrer Familie und Ihres Volkes. Und es wird eine Zeit geben, da Sie imstande sein werden, auch für diese Menschen zu gehen. Gehen Sie in dieser Weise, so werden Sie ein Buddha, Sie werden ein Bodhisattva, erfüllt von Liebe, Verstehen und Mitgefühl.
Bevor wir für unsere Vorfahren gehen können, bevor wir für die gehen können, die uns verletzt haben, müssen wir lernen, für uns selbst zu gehen. Um das zu tun, müssen wir unseren Geist verstehen und die Verbindung zwischen unseren Füßen und unserem Kopf. Der vietnamesische Zen-Meister Thuong Chieu sagte: »Wenn wir verstehen, wie unser Geist funktioniert, dann wird unsere Praxis einfach.« Mit anderen Worten: Können wir mit unserem Bewusstsein achtsam gehen, dann werden unsere Füße ganz natürlich folgen.
Der Buddha lehrte, dass das Bewusstsein sich immer fortsetzt, es eine Kontinuität hat wie ein Strom von Wasser. Es gibt vier Arten oder Formen des Bewusstseins: Geistbewusstsein, Sinnesbewusstsein, Speicherbewusstsein und manas-Bewusstsein. Manchmal werden diese vier Bewusstseinsarten auch als acht Formen des Bewusstseins bezeichnet, da das Sinnesbewusstsein in fünf unterteilt wird (Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck—, Tastbewusstsein). Gehen wir achtsam, so wirken alle vier Bewusstseinsarten.
Geistbewusstsein ist die erste Form des Bewusstseins. Es verbraucht fast all unsere Energie. Das Geistbewusstsein ist unser »arbeitendes« Bewusstsein, das Urteile fällt und Pläne schmiedet, es ist der Teil unseres Bewusstseins, der sich sorgt und der analysiert. Sprechen wir von Geistbewusstsein, so sprechen wir auch über Körperbewusstsein, denn Geistbewusstsein ist ohne Gehirn nicht möglich. Körper und Geist sind einfach zwei Aspekte derselben Sache. Ohne Bewusstsein ist der Körper kein wirklicher, lebendiger Körper. Und Bewusstsein kann sich ohne Körper nicht manifestieren.
Es ist uns durch Übung möglich, die falsche Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Gehirn fallen zu lassen. Wir sollten nicht sagen, das Bewusstsein sei aus dem Gehirn entstanden, denn das Gegenteil ist wahr: Das Gehirn ist aus dem Bewusstsein entstanden. Das Gehirn macht nur zwei Prozent des Körpergewichts aus, aber es verbraucht zwanzig Prozent der Körperenergie. Das Geistbewusstsein zu nutzen ist also sehr aufwändig und teuer. Denken, sich sorgen, analysieren kosten eine Menge Energie.
Wir können ökonomischer mit der Energie umgehen, wenn wir unser Geistbewusstsein in der Gewohnheit der Achtsamkeit trainieren. Achtsamkeit hält uns im gegenwärtigen Moment, ermöglicht unserem Geistbewusstsein, sich zu entspannen und die Energie des Sorgens um die Vergangenheit oder des Planens von Zukünftigem loszulassen.
Die zweite Bewusstseinsebene ist das Sinnesbewusstsein, das Bewusstsein, das von unseren fünf Sinnen herrührt: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Berühren. Wenn wir gehen, nutzen wir auch diese Art des Bewusstseins. Wir sehen, was vor uns ist, schmecken und riechen die Erde, wir hören Geräusche, und unsere Füße berühren den Boden. Manchmal werden die Sinne »Tore« oder »Türen« genannt, denn alle Objekte der Wahrnehmung gelangen durch den Sinneskontakt mit ihnen ins Bewusstsein. Das Sinnesbewusstsein beinhaltet stets drei Elemente: erstens das Sinnesorgan (Augen, Ohren Nase, Zunge, Körper); zweitens das Sinnesobjekt (das Objekt, das wir riechen, der das Geräusch, das wir hören) und drittens unsere Erfahrung des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens oder Berührens.
Die dritte Bewusstseinsschicht, das Speicherbewusstsein, ist die tiefste. Es gibt viele Namen für diese Form des Bewusstseins. Im Mahayana-Buddhismus wird es Speicherbewusstsein genannt, in Sanskrit alaya. Die Theravada-Tradition verwendet den Pali-Begriff bhavanga, um dieses Bewusstsein zu beschreiben. Bhavanga bedeutet fortwährendes Fließen, wie ein Fluss. Das Speicherbewusstsein wird manchmal auch Wurzelbewusstsein genannt (in Sanskrit mulavijñana) oder sarvabijaka, was »die Gesamtheit aller Samen« bedeutet. Im Vietnamesischen nennen wir das Speicherbewusstsein tang. Tang bedeutet »zu halten und zu bewahren«.
Diese verschiedenen Namen verweisen auf die drei Aspekte des Speicherbewusstseins. Der erste Aspekt bezeichnet den Ort, einen »Speicher«, in dem alle Samen und Informationen aufbewahrt werden. Ein Senfsamen ist sehr klein; doch wenn er die Gelegenheit hat, zu keimen, wird die äußere Hülle brechen und das, was im Inneren noch ganz klein ist, wird ganz groß werden – eine mächtige Senfpflanze. In den Evangelien wird davon gesprochen, dass ein Senfkorn zu einem großen Baum werden kann, der vielen Vögeln Zuflucht bietet.2 Der Senfsamen ist Symbol für die Inhalte des Speicherbewusstseins. Alles, was wir sehen oder berühren, hat einen Samen, der tief im Speicherbewusstsein liegt.
Der zweite Aspekt wird gut durch den vietnamesischen Begriff tang ausgedrückt. Das Speicherbewusstsein nimmt nicht nur alle Informationen auf, es hält und bewahrt sie. Auf den dritten Aspekt, den der Bearbeitung und Transformation, weist der Pali-Begriff bhavanga hin.
Das Speicherbewusstsein ist wie ein Museum. Ein Museum kann man nur als ein solches bezeichnen, wenn es Dinge enthält. Wenn nichts darin ist, kann man es ein Gebäude nennen, aber kein Museum. Der Konservator ist verantwortlich für das Museum. Seine Aufgabe ist es, die verschiedenen Objekte zu erhalten und auch dafür zu sorgen, dass sie nicht gestohlen werden. Aber es müssen auf jeden Fall Objekte da sein, die aufbewahrt werden können. Das Speicherbewusstsein bezieht sich auf das Aufbewahren und auf das, was bewahrt wird – und das sind alle Informationen aus der Vergangenheit, von unseren Vorfahren, und alle Informationen, die wir von anderen Bewusstseinen empfangen. Der buddhistischen Tradition zufolge werden die Informationen als bija, Samen, aufbewahrt.
Angenommen, Sie haben heute Morgen ein Lied zum allerersten Mal gehört. Ihr Ohr und diese Musik trafen aufeinander und riefen die Manifestation eines geistigen Gebildes hervor, genannt Berührung, die das Speicherbewusstsein zum Vibrieren brachte. Diese Information, ein neuer Samen, fällt in das Speicherkontinuum. Das Speicherbewusstsein hat die Fähigkeit, den Samen zu empfangen und ihn zu lagern. Es bewahrt alle Informationen, die es empfängt. Doch seine Funktion erschöpft sich darin nicht, seine Aufgabe ist es auch, diese Informationen zu verarbeiten.
Die Verarbeitung ist auf dieser Ebene nicht allzu aufwändig. Das Speicherbewusstsein verbraucht dabei nicht so viel Energie wie das Geistbewusstsein zum Beispiel. Es kann diese Informationen ohne großen Aufwand von Ihrer Seite verarbeiten. Wenn Sie also Energie sparen wollen, dann denken Sie nicht so viel, planen Sie nicht so viel und sorgen Sie sich nicht so viel. Lassen Sie Ihr Speicherbewusstsein die meiste Arbeit tun.
Das Speicherbewusstsein wirkt in Abwesenheit des Geistbewusstseins. Es kann eine Menge Dinge tun. Es kann vieles planen, viele Entscheidungen treffen, ohne dass Sie etwas davon wissen. Wenn wir in ein Geschäft gehen und nach einem Hut oder einem Hemd suchen, haben wir den Eindruck, während wir die Waren betrachten, wir hätten einen freien Willen, und, vorausgesetzt, wir verfügen über die finanziellen Mittel, wir könnten frei wählen, was wir wollen. Fragt uns die Verkäuferin, was uns gefällt, können wir auf ein Objekt unseres Verlangens deuten. Und wir haben das Gefühl, dass wir in diesem Moment ein freier Mensch sind, der sein Geistbewusstsein benutzt, um Dinge auszuwählen, die ihm gefallen. Doch das ist eine Illusion. Alles wurde bereits in unserem Speicherbewusstsein entschieden. In diesem Moment sind wir gefangen; wir sind keine freien Menschen. Unser Schönheitssinn, unser Mögen und Nichtmögen haben bereits sehr sicher und sehr diskret auf der Ebene des Speicherbewusstseins entschieden.
Es ist eine Illusion, dass wir frei seien. Der Grad an Freiheit unseres Geistbewusstseins ist sehr klein. Das Speicherbewusstsein diktiert viele Dinge, die wir tun, denn fortwährend empfängt, umfasst, enthält und verarbeitet das Speicherbewusstsein und es trifft viele Entscheidungen ohne jede Beteiligung des Geistbewusstseins. Doch wenn wir wissen wie, können wir unser Speicherbewusstsein beeinflussen; wir können beeinflussen, wie unser Speicherbewusstsein die Informationen speichert und verarbeitet, sodass es bessere Entscheidungen treffen kann. Wir können es beeinflussen.
Genau wie das Geist- und das Sinnesbewusstsein, so nimmt das Speicherbewusstsein auf. Wenn Sie mit einer Gruppe Menschen zusammen sind, so nehmen Sie deren Arten und Weisen auf, deren Speicherbewusstsein. Unser Bewusstsein wird von anderen Bewusstseinen gefüttert. Die Art, wie wir Entscheidungen treffen, unsere Vorlieben und Abneigungen, hängen von der kollektiven Sicht der Dinge ab. Sie finden vielleicht einen Gegenstand gar nicht so besonders schön, aber wenn viele Menschen ihn als schön erachten, dann werden Sie vermutlich allmählich auch zu dieser Einschätzung gelangen, denn das individuelle Bewusstsein entsteht aus dem kollektiven Bewusstsein.
Der Wert des Dollar oder Euro entsteht aus dem kollektiven Denken der Menschen und nicht nur aus den objektiven ökonomischen Gegebenheiten. Die Ängste der Menschen, ihre Wünsche und Erwartungen lassen den Kurs der Währung rauf- und runtergehen. Wir werden von der kollektiven Weise, Dinge zu sehen und über sie zu denken, beeinflusst. Darum ist es so wichtig, dass wir uns die Menschen, mit denen wir uns umgeben, aussuchen. Es ist sehr entscheidend, Menschen um sich zu haben, die liebende Güte,Verstehen und Mitgefühl verkörpern, denn wir werden Tag und Nacht vom kollektiven Bewusstsein geprägt.
Das Speicherbewusstsein bietet uns Erleuchtung und Transformation. Diese Möglichkeit ist in seiner dritten Bedeutung enthalten, seiner stets fließenden Natur. Das Speicherbewusstsein ist wie ein Garten, in dessen Boden wir die Samen von Blumen, Früchten und Gemüse einpflanzen, und dann wachsen daraus Blumen, Früchte und Gemüse. Das Geistbewusstsein ist nur ein Gärtner. Ein Gärtner kann dem Boden helfen, sich um ihn kümmern, aber er muss an den Boden glauben, daran glauben, dass er uns Früchte, Blumen und Gemüse schenken wird. Als Praktizierende können wir uns nicht nur auf unser Geistbewusstsein stützen, wir müssen in gleicher Weise auf unser Speicherbewusstsein vertrauen. Entscheidungen werden dort getroffen.
Wenn Sie etwas in Ihren Computer tippen, speichern Sie diese Informationen anschließend auf Ihrer Festplatte. Sie ist wie das Speicherbewusstsein. Auch wenn die Informationen nicht mehr auf Ihrem Bildschirm erscheinen, sind sie doch da. Sie brauchen nur ein paar Tasten zu drücken, und schon manifestieren sie sich. Bija, die Samen im Speicherbewusstsein, sind wie die gespeicherten Daten in Ihrem Computer. Wenn Sie wollen, können Sie ihnen helfen, auf dem Bildschirm des Geistbewusstseins zu erscheinen. Das Geistbewusstsein ist wie der Bildschirm, das Speicherbewusstsein ist wie die Festplatte, denn es kann eine Menge speichern. Das Speicherbewusstsein vermag die Informationen zu speichern, zu bewahren und zu erhalten, sodass sie nicht gelöscht werden können.
Anders als die Informationen auf der Festplatte sind die Samen organischer Natur und können verändert werden. Der Samen des Hasses zum Beispiel kann geschwächt und seine Energie umgewandelt werden in die Energie des Mitgefühls. Der Samen der Liebe kann gewässert und gekräftigt werden. Die Natur der Information, die vom Speicherbewusstsein bewahrt und verarbeitet wird, ist stets fließend und verändert sich fortwährend. Liebe kann sich in Hass verwandeln und Hass kann in Liebe zurückverwandelt werden.
Das Speicherbewusstsein ist auch ein Opfer. Es ist ein Objekt der Anhaftung; es ist nicht frei. Im Speicherbewusstsein gibt es Elemente der Unwissenheit und Ignoranz – Verblendung, Wut, Angst –, und diese Elemente schaffen eine Energie, die klammert, die besitzen will. Dies ist die vierte Ebene des Bewusstseins, manas genannt, was ich gern mit »Wahrnehmung« übersetze. Das manas-Bewusstsein hat seine Wurzel in dem Glauben an ein eigenständiges Selbst, eine Person. Das Bewusstsein, das Gefühl und der Instinkt, »Ich bin« genannt, ist sehr tief im Speicherbewusstsein verwurzelt. Es ist nicht nur eine Sichtweise, die sich im Geistbewusstsein entwickelt hat. Tief in unserem Speicherbewusstsein ist die Vorstellung vergraben, dass es da ein Selbst gebe, das von Nicht-Selbst-Elementen eigenständig und abgetrennt existiert. Die Funktion von manas besteht darin, am Speicherbewusstsein als einem eigenständigen Selbst zu hängen.
Eine andere Sicht auf manas ist, es als adana-Bewusstsein zu bezeichnen. Adana bedeutet »Aneignung«. Stellen Sie sich vor, ein Rebstock treibt eine Knospe aus und dann wendet sich die Knospe um und umfasst und umschlingt den Stamm. Diese tiefverwurzelte Verblendung — der Glaube, da sei ein Selbst – existiert im Speicherbewusstsein als Resultat von Unwissenheit und Angst. Sie lässt eine Energie entstehen, die sich dem Speicherbewusstsein wieder zuwendet, es umfasst und zum einzigen Objekt seiner Liebe macht.
Manas ist ständig am Werk. Es lässt das Speicherbewusstsein niemals los. Es umfasst und hält es, klammert sich an ihm fest, denn es sieht im Speicherbewusstsein das Objekt seiner Liebe. Darum ist das Speicherbewusstsein nicht frei. Wir folgen der Illusion, das Speicherbewusstsein sei »meins«, sei mein Geliebtes, das ich nicht loslassen könne. Tag und Nacht ist da eine geheime, tiefe Überzeugung am Werk, dass dies »ich« bin, dass es »mein« ist und ich alles daransetzen muss, es zu greifen, zu beschützen, es zu meinem zu machen. Manas ist im Speicherbewusstsein entstanden und verwurzelt. Es ersteht aus dem Speicherbewusstsein, dreht sich um und umfasst das Speicherbewusstsein als sein Objekt. »Du bist mein Geliebtes, du bist ich.« Die Funktion von manas ist, sich das Speicherbewusstsein als seins anzueignen.
Nun können wir schauen, wie die vier Formen des Bewusstseins sich wechselseitig beeinflussen und zusammenwirken. Im Buddhismus wird das Speicherbewusstsein manchmal als der Ozean des Bewusstseins bezeichnet und die anderen Bewusstseinsformen werden als Wellen beschrieben, die aus der Tiefe des Ozeans aufsteigen. Es gibt auch den Wind, und dieser lässt die anderen Formen des Bewusstseins sich manifestieren.
Das Speicherbewusstsein ist die Grundlage, die Wurzel. Ausgehend von dieser Basis manifestiert sich der Geist und wirkt. Manchmal ruht er und kehrt nach Hause zum Speicherbewusstsein zurück. Speicherbewusstsein ist der Garten, das Geistbewusstsein der Gärtner. Manas entspringt ebenfalls dem Speicherbewusstsein, aber dann wendet es sich um und umfasst das Speicherbewusstsein als sein Eigentum, als Objekt seiner Liebe. Und dies Tag und Nacht. Darum wird es auch »der Liebhaber« genannt.
Wenn Sie sich in jemanden verlieben, dann verlieben Sie sich nicht wirklich in sie oder ihn. Sie schaffen ein Bild, was sich von der Wirklichkeit durchaus unterscheidet. Nachdem Sie mit dem oder der Geliebten einige Zeit zusammenleben, stellen Sie fest, dass das Bild, das Sie sich gemacht haben, doch recht weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Auch wenn manas aus dem Speicherbewusstsein heraus entstanden ist, so ist seine Sicht auf das Speicherbewusstsein voller Illusionen und falscher Wahrnehmungen. Es kreiert ein Bild des Speichers als Objekt seiner Liebe, und dieses Bild stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein. Wenn wir ein Foto von jemandem machen, so ist das Foto nur ein Abbild, es ist nicht die Person. Der Liebende glaubt, dass er den Speicher liebt, doch tatsächlich liebt er nur das selbstgeschaffene Bild. Das Objekt des Bewusstseins kann entweder ein Ding-an-sich sein oder ein Abbild, das wir subjektiv geschaffen haben.
Wir haben also den Gärtner, den Geist, und wir haben den Liebenden, manas. Doch das Geistbewusstsein kann unterbrochen werden. Wenn wir zum Beispiel traumlos schlafen, dann ist das Geistbewusstsein nicht am Werke. Liegen wir im Koma, dann hat das Geistbewusstsein sein Wirken vollständig eingestellt – es gibt kein Denken, Planen, nichts, und doch wirkt das Speicherbewusstsein weiter. Auch tiefe Gehmeditation kann ähnlich sein. Ihr Körper bewegt sich, und Ihr Speicherbewusstsein arbeitet weiter, doch Sie sind sich dessen nicht bewusst.
Das Geistbewusstsein kann unabhängig vom Sinnesbewusstsein operieren oder in Zusammenarbeit mit ihm. Angenommen, Sie besuchen eine Ausstellung. Vor einem Bild stehend ist Ihr Sehbewusstsein aktiv. Es gibt vielleicht einen allerersten Moment, in dem das Sehbewusstsein das Bild betrachtet ohne Denken, ohne Urteil. Doch wird dieser Moment, das Bild an sich zu sehen, nur sehr, sehr kurz sein, ein kshana lang. Dann kommt das Geistbewusstsein ins Spiel mit allerlei Wertungen und Urteilen. Das ist die Kooperation zwischen Geist- und Sehbewusstsein. Arbeitet unser Geist mit dem Sinnesbewusstsein zusammen, so nennen wir es angegliedertes, assoziiertes Bewusstsein. Wenn Sie in tiefem Nachdenken versunken sind, dann sehen Sie nicht, Sie hören nicht und Sie berühren auch nicht. An diesem tiefen Ort des Nachdenkens wirkt nur das Geistbewusstsein. In der Meditation verwenden wir üblicherweise dieses unabhängige Geistbewusstsein. Wir schließen unsere Augen und Ohren, wir wollen durch nichts gestört werden. Die Konzentration erfolgt nur durch das Geistbewusstsein.
Es gibt auch Zeiten, in denen das Sinnesbewusstsein mit dem Speicherbewusstsein zusammenarbeitet, ohne dass uns dies bewusst wird. Das geschieht sehr oft. Beim Autofahren zum Beispiel sind Sie in der Lage, viele Unfälle zu vermeiden, auch wenn Ihr Geistbewusstsein an ganz andere Dinge denkt. Sie denken vielleicht überhaupt nicht ans Fahren. Und doch werden Sie meistens keinen Unfall verursachen. Wenn Sie gehen, werden Sie kaum stolpern (oder nur gelegentlich). Denn die Eindrücke und Bilder, die das Sehbewusstsein verfügbar macht, werden vom Speicherbewusstsein empfangen, und dort werden die Entscheidungen getroffen, ohne dass sie auf der Ebene des Geistbewusstseins bewusst werden. Wenn Ihnen jemand etwas ganz plötzlich nah vor die Augen hält – er Sie zum Beispiel schlagen will oder etwas auf Sie fällt – dann reagieren Sie ganz schnell. Diese schnelle Reaktion, diese Entscheidung, erfolgt nicht von Ihrem Geistbewusstsein aus. Müssen Sie schnell ausweichen, ist es nicht Ihr Geistbewusstsein, das dies auslöst. Wir denken nicht: »Oh, da ist ein großer Stein, da muss ich jetzt drübersteigen.« Wir tun es einfach. Der Instinkt zur Selbstverteidigung kommt aus dem Speicherbewusstsein.
Ich hatte einmal einen Traum, der dies illustriert. In Asien, in alten Zeiten, mussten wir unseren Reis aus rohem Reis zubereiten. Wir mussten die Schalen von den Reiskörnern entfernen, bevor wir den Reis kochen und essen konnten. Im Tempel hatten wir ein Werkzeug, mit dem wir das taten. Dabei ergab sich beim Entfernen der Schalen ein spezieller, rhythmischer Klang. Eines Tages machte ich ein Mittagsschläfchen. Mittags ist es in Asien sehr heiß, und man legt sich dann gern für eine halbe Stunde hin, bevor man wieder mit der Arbeit beginnt. Während ich ruhte, hörte ich das Geräusch des Werkzeugs. Doch tatsächlich stammte es von einem meiner Schüler, der Tusche rieb. Um mit einem Pinsel schreiben zu können, muss man etwas Wasser in ein Behältnis geben und den festen Tuscheblock darin reiben. Das Geräusch drang durch das Hörbewusstsein in mein Speicherbewusstsein und von da aus in mein Geistbewusstsein. In meinem Traum sah ich dann jemanden, der Reis schälte. Doch in Wirklichkeit war es kein Reisschälen, sondern die Herstellung der Tusche, die das Geräusch verursacht hatte. Ein Eindruck entsteht also auf zwei Wegen: auf dem Weg des Geistbewusstseins und dem Weg des Speicherbewusstseins. Und alles, was durch die fünf Formen des Sinnesbewusstseins zu uns dringt, kann vom Speicherbewusstsein gespeichert, analysiert und weiterverarbeitet werden. Eindrücke müssen also nicht immer durch das Geistbewusstsein gehen, sondern können direkt von den fünf Formen des Sinnesbewusstseins ins Speicherbewusstsein gelangen.
Wenn wir nachts in einem kalten Raum schlafen, und das Geistbewusstsein ist nicht am Werk, und wir träumen vielleicht noch nicht einmal, dringt ein Gefühl der Kälte auf der Ebene des Sinnesbewusstseins in unseren Körper ein. Dies verursacht ein Vibrieren auf der Ebene des Speicherbewusstseins, und der Körper zieht sich die Bettdecke fester über.
Ob wir Auto fahren, an einer Maschine arbeiten oder andere Tätigkeiten verrichten – wir lassen unser Sinnesbewusstsein mit dem Speicherbewusstsein zusammenarbeiten, und das ermöglicht uns, viele Dinge ohne Intervention des Geistbewusstseins zu tun. Wenn wir unser Geistbewusstsein in das, was wir tun, einbringen, dann werden wir uns plötzlich der entstehenden geistigen Gebilde bewusst.
Das Wort »Gebilde« oder »Formation« (samskara in Sanskrit) bezeichnet etwas, das sich manifestiert, wenn viele Bedingungen zusammengekommen sind. Betrachten wir eine Blume, können wir viele der Elemente erkennen, die zusammengekommen sind, damit sich die Blume in dieser Form manifestieren konnte. Wir wissen, dass es ohne Regen kein Wasser gibt und sich die Blume ohne Wasser nicht manifestieren könnte. Und wir sehen, dass auch der Sonnenschein da ist. Die Erde, der Kompost, der Gärtner, Zeit, Raum und viele weitere Elemente sind zusammengekommen, um dieser Blume zu helfen, sich zu manifestieren. Die Blume hat keine eigenständige, abgetrennte Existenz. Sie ist ein Gebilde. Die Sonne, der Mond, der Berg und der Fluss – sie alle sind Gebilde. Wenn wir das Wort »Gebilde« benutzen, soll uns das daran erinnern, dass es in den Dingen keinen abgetrennten Existenzkern gibt, sondern nur das Zusammenkommen sehr vieler Elemente, damit sich etwas manifestieren kann.
Als buddhistisch Praktizierende können wir uns darin üben, alles als Gebilde anzusehen. Wir wissen, dass sich Gebilde fortwährend wandeln. Unbeständigkeit ist eines der Kennzeichen der Wirklichkeit, denn alles verändert sich fortwährend.
Gebilde, die im Bewusstsein existieren, heißen geistige Gebilde oder Geistesformationen. Bei einem Kontakt zwischen einem Sinnesorgan (Augen, Ohren, Nase, Mund, Körper) und einem Objekt entsteht Sinnesbewusstsein. In dem Augenblick, in dem Ihre Augen ein Objekt sehen oder in dem Sie den Wind auf Ihrer Haut spüren, in dem Augenblick manifestiert sich das erste geistige Gebilde: Kontakt. Kontakt verursacht eine Vibration auf der Ebene des Speicherbewusstseins.