Krähenmutter - Catherine Shepherd - E-Book
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Krähenmutter E-Book

Catherine Shepherd

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Beschreibung

Das Böse lauert immer hinter einer freundlichen Maske. Catherine Shepherds Thriller lässt Sie garantiert nicht mehr schlafen! Der sechs Monate alte Sohn eines einflussreichen Unternehmers wird aus einem Supermarkt entführt. Spezialermittlerin Laura Kern steht vor einem Rätsel, denn es gibt keine Lösegeldforderung. Kurz darauf verschwinden weitere Babys, ohne jede Spur. Als dann auch noch ein altbekannter Serientäter, der Berliner Pärchenmörder, wieder zuschlägt, spitzt sich die Lage zu. Laura Kern gerät in einen gefährlichen Strudel von Ereignissen, die einen Albtraum aus ihrer Vergangenheit erneut zum Leben erwecken. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, und niemand vermag zu sagen, ob Laura die vermissten Kinder rechtzeitig finden wird.

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Seitenzahl: 330

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978-3-492-97542-1 Oktober 2016 © Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016 Covergestaltung: Zero Werbeagentur unter Verwendung eines Entwurfs der Autorin Covermotiv: Deviantart Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Das, was wir das »Böse« nennen,

ist nur die andere Seite des Guten.

Johann Wolfgang von Goethe

PROLOG

»Guten Tag, mein Name ist Baby. Mama hat mich behalten.«

Er stand auf den Zehenspitzen und reckte sich, so hoch er konnte. Der Spiegel hing weit oben und er schaffte es nur mit Mühe, seine Lippen über die untere Kante zu heben. Das Kinn blieb halb abgeschnitten. Immerhin konnte er den Großteil seines Gesichts im Spiegel erkennen und seine Mimik einstudieren. Eigentlich durfte er nicht in Mamas Schlafzimmer, aber es war der einzige Raum im ganzen Haus, in dem es einen Spiegel gab. Er hatte sich heimlich hineingeschlichen. Mama war mit den anderen beschäftigt, und so hatte er die nächste halbe Stunde für sich. Er konzentrierte sich wieder auf sein Gesicht im Spiegel. Wann er die Idee zum ersten Mal gehabt hatte, wusste er nicht mehr, aber irgendwann war er sicher gewesen. Er wollte Schauspieler werden. Dafür übte er jetzt schon seit Wochen. Im Fernsehen hatte er bei einer Preisverleihung gesehen, wie man sich als Star präsentierte. Stars standen immer im Mittelpunkt und wurden von allen bewundert. So jemand wollte er auch sein. Er reckte sich und setzte ein strahlendes Lächeln auf, während er den ersten Satz wiederholte: »Guten Tag, mein Name ist Baby. Mama hat mich behalten.«

Mama kümmerte sich immer nur um die anderen Kinder. Vor allem die ganz Kleinen liebte sie über alles. Er war froh, dass sie ihn nicht, wie all die anderen, weggegeben hatte. Trotzdem fand er es unfair, dass sie ihm am wenigsten Aufmerksamkeit widmete. Außerdem musste er täglich helfen. Allein würde Mama die ganze Arbeit nie schaffen. Die Babys waren am anstrengendsten. Ständig schrie eines von ihnen und nie kehrte Ruhe ein. Sogar jetzt, wo er sich in das Schlafzimmer unter dem Dachboden geschlichen hatte, hörte er ihre Schreie. Er sehnte sich nach Stille. In seinem Leben gab es wenige solcher Momente. Nur manchmal, tief in der Nacht, wenn die Babys endlich schliefen, war es ruhig. Dann kreisten viele Gedanken in seinem Kopf. In seiner Fantasie wurde er zu einem anderen Jungen mit einem richtigen Namen. Mama hatte ihn immer nur Baby genannt. So wie alle anderen Kinder auch. Er stellte sich vor, wie es wäre, Maximilian zu heißen. Oder Jonas. Im Supermarkt hatte er diese Namen gehört. Mütter hatten sie herausgeschrien. Mal aus Verzweiflung, weil ihr Junge verschwunden war, ein anderes Mal, um den Griff ihres Kindes in eines der zahlreichen Schokoladenregale zu verhindern. Er war fasziniert gewesen vom Klang eines eigenen Namens. Wer einen Namen trug, war etwas Besonderes. Jemand, an den man sich erinnern konnte. Nicht so wie er. Er war blass und schmächtig. Die meisten Menschen sahen durch ihn hindurch, als wäre er Luft. Noch nie hatte er an der Kasse ein Geschenk bekommen. Andere Kinder bekamen manchmal ein kleines Spielzeug von den Kassiererinnen oder etwas Süßes. Er nicht. Selbst wenn er sich direkt an das Band stellte, schenkte ihm niemand Beachtung.

»Baby!« Das war Mamas Stimme. Sie war laut und schrill.

»Baby, wo bist du? Komm her und hilf mir!«

Der Schreck machte ihn für einen Augenblick bewegungsunfähig. Mama durfte ihn hier oben nicht entdecken. Immer noch auf Zehenspitzen stand er da und wagte kaum zu atmen.

Langsam kehrte die Kontrolle über seinen Körper zurück. Ungelenk stakste er die alten Holzdielen entlang, bemüht, sie nicht zum Knarren zu bringen. Er wusste genau, wo er hintreten durfte. Als er die Tür erreicht hatte, zog er sie lautlos hinter sich zu und schlich nah an der Wand bis zur Treppe, die die drei Etagen des Hauses miteinander verband.

»Baby, verdammt noch mal, wo steckst du?«

Abermals zuckte er zusammen. Die Stimme war direkt unter ihm und hallte das Treppenhaus empor. Er reckte den Hals über das Holzgeländer und sah hinab. Mama starrte ihn wütend an.

»Was zum Teufel treibst du dort oben? Habe ich nicht gesagt, du sollst Kartoffeln schälen?«

»Ich war nur kurz in meinem Zimmer.« Babys Stimme klang dünn wie die eines kleinen Mädchens. Schnell hastete er die Treppen hinunter, bis er für einen flüchtigen Moment direkt neben Mama stand. Bevor ihre Hand nach seinem T-Shirt greifen konnte, schlängelte er sich an ihr vorbei. Zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte er das Erdgeschoss und rannte in die Küche.

I

Laura war wieder gefangen. Dicke Taue schlangen sich um ihre Knöchel und zogen sie unbarmherzig in die Tiefe. Ihre Lungen brannten und sie musste ihre gesamte Kraft aufbringen, um die Luft weiterhin anzuhalten. Sobald sie den Mund öffnete, würde das eiskalte Wasser in ihre Atemwege eindringen und sie ersticken. Laura strampelte panisch mit den Beinen. Tief unter ihr waren die verrosteten Eisengitter noch zu erahnen, die in den Grund des Sees gerammt waren. Sie hatte es die ganze Strecke bis hierher geschafft. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Wasseroberfläche. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.

Mit ihrem schmalen Mädchenkörper hatte sie sich durch den engen Kanal aus dem Gefängnis hinausgewunden. Es war ein fast übermenschlicher Akt an Willenskraft gewesen, doch schließlich hatte sie ihre schmächtige Gestalt so sehr zusammengequetscht, dass sie in das Rohr hineinpasste und sich auch noch vorwärtsbewegen konnte. Das Rohr hatte sie verborgen hinter einer Klappe in der oberen Ecke ihres Gefängnisses entdeckt. Am Anfang war es trocken gewesen, doch nach einem Knick, der in die Tiefe führte, füllte es sich mehr und mehr mit Wasser. Irgendwann musste sie die Luft anhalten und untertauchen. Das Rohr wollte einfach kein Ende nehmen. Doch Laura wusste, dass dies ihre einzige Chance auf Freiheit war, und kämpfte tapfer, bis sie eine Öffnung erreichte, die mit einem Eisengitter gesichert war. Durch einen schmalen Spalt hatte sie sich in den kalten See gezwängt.

Laura schwamm nach oben. Trotz der aufgepeitschten Wasseroberfläche konnte sie bereits den blauen Himmel sehen. Ihre Beine strampelten, die Arme ruderten. Der Druck in Lauras Oberkörper schwoll zu einem unerträglichen Schmerz an. Endlich konnte sie die Füße aus den Schlingpflanzen befreien und schoss pfeilschnell nach oben. Ihr Mund öffnete sich kurz vor der Wasseroberfläche. Ein Gemisch aus Luft und Flüssigkeit presste sich in ihre gierigen Lungen. Sie hustete und rang nach Atem.

Laura schreckte hoch und riss die Augen auf. Verwirrt starrte sie in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Der Lichtschein verjagte die Schatten ihres Albtraums. Laura war jetzt fast dreißig Jahre alt und noch immer verfolgten sie die Dämonen aus ihrer Kindheit. Mit elf Jahren war sie entführt und mehrere Tage in einem Pumpwerk gefangen gehalten worden, bevor ihr die Flucht gelang. Der Täter hatte sowohl die Gelenkigkeit als auch die Willenskraft seiner zierlichen Geisel unterschätzt. Soweit bekannt war, hatte er vor ihr schon mehrere Mädchen entführt, die jedoch nicht so viel Glück hatten wie Laura. Keine von ihnen war lebend wieder aufgetaucht. Mit zitternden Händen griff Laura unter das Kopfkissen. Das kühle Metall ihrer Dienstwaffe ließ sie erleichtert aufatmen. Mit der Waffe in der Nähe fühlte sie sich sicher. Sie zog die Hand zurück und ließ sich ins Kissen sinken. Dann tastete sie nach ihrem Schlüsselbein und ihre Finger verharrten auf den schwieligen Narben, die nach all den Jahren zu einem Netz aus unebenen Linien verwachsen waren. Bei ihrer Flucht hatte sich Laura in den Eisengittern, die die Rohranlage des Pumpwerks vor Verschmutzung schützen sollten, verfangen. Die verrosteten Metallstangen zerfetzten ihre Haut und das darunterliegende Gewebe. Laura spürte die Wunden erst, als sie das sichere Ufer erreicht hatte. Mit mehreren Operationen hatten die Ärzte versucht, ihre Haut zu retten. Doch eine Infektion machte den ersten Erfolg der Behandlung zunichte. Ein Teil der Haut musste durch ein Transplantat ersetzt werden, das von ihrem Oberschenkel entnommen wurde. Die OP-Narben waren der Grund, warum Laura nur lange Hosen und hochgeschlossene Blusen oder T-Shirts trug.

Auch wenn Laura selbst es nicht wahrnahm – sie war eine Schönheit. Ausdrucksstarke braune Augen in einem feinen Gesicht, gerahmt von blonden Locken und eine sportliche Figur. Nicht wenige Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Doch Laura bemerkte von all dem nichts. Ihre Selbstwahrnehmung wurde von ihren körperlichen und seelischen Narben überschattet. Sie erlaubte sich lediglich ein bisschen Stolz auf ihren Intellekt und ihren Ehrgeiz. Immerhin hatte sie vor ein paar Jahren die Aufnahme ins Landeskriminalamt Berlin geschafft. Lauras Dezernat war für Entführungen, erpresserischen Menschenraub und Tötungsdelikte zuständig. Ihre traumatische Kindheitserfahrung machte Laura zu einer äußerst erfolgreichen Ermittlerin. Sie war außergewöhnlich einfühlsam und hatte sich durch ihre eigene Entführung eine Intuition erworben, die sie auch bei kritischen Fällen nicht im Stich ließ.

Laura fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Ihre Hände zitterten noch immer. Sie griff nach der Wasserflasche, die sie jede Nacht neben dem Kopfende ihres Bettes bereitstellte, und ließ die kühle Flüssigkeit in ihre Kehle laufen. Der Albtraum hatte ihre Schleimhäute ausgetrocknet. Sie schloss die Augen und atmete so lange tief durch, bis sie das Gefühl hatte, im Hier und Jetzt angekommen zu sein. Dann warf sie einen Blick auf den Wecker, dessen rot leuchtende Anzeige ein unförmiges Muster auf ihre Schlafzimmerdecke zeichnete. Es war kurz nach drei, also noch mitten in der Nacht. Laura ahnte, was nun kam. Sobald sie die Augen erneut schloss, würden die schrecklichen Bilder zurückkommen. Seufzend griff sie nach ihrem Diensthandy, ein Smartphone mit riesigem Display, und öffnete den Kalender. Die dicken roten Balken für den kommenden Tag verhießen nichts Gutes. Sie entdeckte einen neuen Termin, der für acht Uhr morgens angesetzt war. »Einsatzbesprechung« stand in fetten Buchstaben in der obersten Zeile. Verdammt, dachte Laura und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Wenn sie den Albtraum loswerden wollte, musste sie die nächsten sechzig Minuten wach bleiben. Das bedeutete allerdings, dass sie am Morgen wie ein Schluck Wasser in der Kurve hängen würde. Laura war eine echte Eule. Nichts konnte ihr den Tag mehr vermiesen als frühes Aufstehen oder zu wenig Schlaf. Andererseits brachte eine von Albträumen durchzogene Nacht auch keine Erholung. Sie zögerte kurz und traf eine Entscheidung. Sie wollte die Bilder abschütteln. Laura zog die Dienstwaffe unter dem Kopfkissen hervor, schlüpfte aus ihrem Schlafanzug und lief nackt zum Kleiderschrank. Aus der mittleren Schublade kramte sie ihre Joggingklamotten hervor und zog sie rasch an. Dann tappte sie im Halbdunkel über den schmalen Flur und stieg in ihre Joggingschuhe. Laufen war Lauras Allheilmittel. Sie war mit ihren eins fünfundsiebzig und dem schlanken Körperbau die geborene Läuferin. Sobald sie in Bewegung kam, schaltete ihr Gehirn in einen Erholungsmodus um, der alle negativen Gedanken wegfegte. Laura nannte es den Laufrausch. Durch die Konzentration auf die eigenen Schritte und eine gleichmäßige Atmung gelangte sie tatsächlich in eine Art Trance, die sich fast wie Meditation anfühlte. Leichtfüßig stieg Laura die knarrenden Holzstufen hinunter. Sie wohnte in einem typischen Berliner Altbau. Ihr Penthouse besaß eine großzügige Dachterrasse mit fantastischem Ausblick. Dies entschädigte für das teilweise heruntergekommene Gebäude, das sich im Besitz eines Immobilienfonds befand. Die getätigte Investition musste sich langfristig rechnen. Modernisierungsarbeiten waren kostspielig und wurden so lange wie möglich hinausgezögert.

Laura hatte sich trotzdem auf den ersten Blick in das Gebäude und die Wohnung verliebt. Ihr machte es nichts aus, dass es keinen Fahrstuhl gab. Sie wollte sowieso fit bleiben und lief die vielen Stufen gerne zu Fuß.

Unten angekommen warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie schob die schwere Holztür auf, die schon seit der Errichtung des Gebäudes in den Fünfzigerjahren den Eingang des Hauses verschloss. Neben der Tür prangte eine ganze Armada von Klingelschildern. Das Gebäude beherbergte über zwanzig Parteien, deren Bewohner sich untereinander kaum kannten. Laura genoss diese Anonymität und die damit verbundenen Freiheiten. Sie konnte unbehelligt ein- und ausgehen, ohne dass sie von neugierigen Blicken verfolgt wurde.

Vor der Haustür drehte sie sich noch einmal um. Das diffuse Licht der Straßenlaternen ließ die Schatten der zahlreichen Linden auf dem porösen Putz des Gebäudes tanzen. Um diese Uhrzeit war die Straße menschenleer. Die nächste Kneipe lag mehr als drei Straßenzüge entfernt, sodass sich auch keine betrunkenen Teenager oder andere Nachtschwärmer bis hierher verirrten. Laura steckte sich die Kopfhörer ihres iPods in die Ohren und lief los. Sie nahm die Route, die direkt unter den Laternen entlangführte. Doch der Bürgersteig war uneben und Laura fürchtete umzuknicken. Deshalb bog sie an der nächsten Straßenecke ab und lief in den Park, der unmittelbar an das Wohnviertel grenzte. Der Weg war nicht gepflastert, er bestand lediglich aus festem Sand. Trotzdem kam er Laura ebener vor als der Bürgersteig vor ihrem Haus. Sie zog das Tempo leicht an. Die Strecke kannte sie bis ins kleinste Detail. Sie wusste genau, wie viel Zeit sie bis zum nächsten Meilenstein benötigte. Ihre Schritte, der stoßweise Atem und Lauras Herzschlag vereinigten sich zu einem einzigen dumpfen Klopfen und trugen die schrecklichen Bilder ihres Albtraumes davon.

Ihr letzter Gedanke galt der Einsatzbesprechung, die sie am nächsten Morgen um acht Uhr erwartete. Diese Termine wurden immer dann so kurzfristig angesetzt, wenn es einen ernsten Fall gab. Und wenn Laura hinzugezogen wurde, handelte es sich in jedem Fall um eine Entführung oder Geiselnahme.

Laura drehte die Lautstärke weiter auf. Später war noch genug Zeit zum Grübeln, jetzt wollte sie einfach nur den Kopf frei kriegen und danach noch ein paar Stunden Schlaf genießen. Die Musik vertrieb die Gedanken an den nächsten Morgen und Laura lief weiter in die dunkle Nacht hinein.

II

ACHTZEHN STUNDEN ZUVOR

Das sirenenartige Brüllen schwoll zu einem nervenzerfetzenden Kreischen an und bohrte sich gnadenlos in Sophie Nussbaums Gehirn. Ihre Hände umklammerten das Lenkrad und mit dem Fuß trat sie das Gaspedal durch, als könne sie dadurch die Geräuschkulisse lahmlegen. Sie war schon im Morgengrauen aufgebrochen. Normalerweise schläferten Autofahrten ihr Baby innerhalb weniger Minuten ein, doch heute konnte sich Henri einfach nicht beruhigen. Sie betrachtete das Bündel mit dem hochroten Kopf durch den Rückspiegel. Der Kleine holte Luft und setzte zu einem erneuten Schrei an. Sophie zog unwillkürlich die Schultern hoch, als könnte sie sich dadurch schützen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Henri fehlte es an nichts. Er war gefüttert und gewickelt, selbst Fieber war gemessen worden – ohne Ergebnis. Eigentlich hatte sie heute eine Shoppingtour geplant, aber Henri schien ihr einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und jetzt hatte sie sich auch noch verfahren! Sich neu zu orientieren war quasi unmöglich bei diesem Gezeter. Sie gab Gas und blickte abermals in den Rückspiegel. Ihr Sohn gab einfach nicht auf. Sophie schaute wieder nach vorne. Verdammt, fluchte sie und trat heftig auf die Bremse. Der Wagen vor ihr hielt an einer roten Ampel, die ihr in der Hektik entgangen war. Ihre Handtasche rutschte vom Vordersitz, landete im Fußraum und kippte um. Der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Sophie war den Tränen nahe. Sie schluckte heftig und bemerkte, dass ihr Baby plötzlich still geworden war. Die Ampel zeigte immer noch Rot. Ungläubig drehte sie sich um. Henri schlief im Autositz, friedlich wie ein Engel, als wäre nichts gewesen. Erleichtert atmete sie auf und konzentrierte sich auf den Verkehr.

Henri war ihr erstes Kind. Schon mit zweiundzwanzig Jahren hatte Sophie den deutschen Unternehmer Matthias Nussbaum kennengelernt. Er lockte sie vor allem mit seinen Erzählungen über das aufregende Berliner Nachtleben nach Deutschland. Sophie war ein Mädchen vom Land. Sie stammte aus einem kleinen, französischen Ort in der Provence, der nicht viel Unterhaltung bot. Matthias Nussbaum war eigentlich auf der Suche nach neuen Schätzen für seinen Weinkeller gewesen, als er Sophie traf, die in diesem Sommer auf dem Weingut ihres Onkels arbeitete. Matthias Nussbaum ließ den Wein links liegen und machte stattdessen Sophie einen Heiratsantrag. Keine drei Monate später war diese schwanger. Die nächtelangen Ausflüge durch das Berliner Klubleben waren auf einen Schlag vorbei. Ihr Baby hielt sie Tag und Nacht auf Trab. Trotzdem bemühte sich Sophie, ihre Figur so schnell wie möglich wiederzuerlangen. Außerdem achtete sie peinlich genau auf ein gepflegtes Äußeres. Bequeme Klamotten, verschmierte Wimperntusche und T-Shirts voller Babybrei waren ihr ein Graus. Wenn sie schon auf das Berliner Nachtleben verzichten musste, gönnte sie sich wenigstens tagsüber umfangreiche Shoppingausflüge, während Henri friedlich in seinem Kinderwagen schlief. Das Einkommen ihres Mannes war mehr als üppig und so kam Sophie mindestens einmal wöchentlich mit prall gefüllten Einkaufstaschen nach Hause.

Die Ampel schaltete auf Grün um und sie gab Gas, um gleich darauf erneut auf die Bremse zu treten. Die großen Schilder eines Supermarktes leuchteten ihr verheißungsvoll entgegen. Kurzerhand bog sie ab und fuhr auf den Parkplatz.

Drinnen angekommen spazierte sie schnurstracks in die Kosmetikabteilung. Es handelte sich um einen großen Berliner Supermarkt, der besser ausgestattet war als so manche Drogerie. Die neueste Kollektion von Lippenstiften erstreckte sich in leuchtenden Farben vor Sophie. Sie warf einen prüfenden Blick auf Henri, der immer noch entspannt in seinem Kinderwagen schlummerte. Erleichtert atmete sie auf und betrachtete die unterschiedlichen Farben, die von hauchzartem Rosa bis hin zu dunklem Braun reichten. Sie wählte ein warmes Orange, positionierte sich vor einem kleinen Spiegel am Ende der Regalwand, trug die cremige Farbe auf und hauchte ihrem Spiegelbild einen verheißungsvollen Kuss zu. In Gedanken war sie bei ihrem Ehemann, der am Abend von einer einwöchigen Geschäftsreise zurückkehren würde. Sie blickte auf die Uhr und stellte zufrieden fest, dass ihr noch genug Zeit blieb, um weitere Farben auszuprobieren. Matthias würde erst am späten Abend eintreffen, was bedeutete, dass Henri dann bereits schlief. Sophie lächelte. Sie würde ihr hauchdünnes neues Kleid tragen und gemeinsam mit Matthias eine wundervolle Nacht verbringen. Abermals warf sie einen prüfenden Blick in Richtung des himmelblauen Kinderwagens. Die Kosmetikabteilung war fast leer. Die meisten Kunden tummelten sich bei den Lebensmitteln. In den hinteren Teil des Supermarktes, in dem Sophie sich befand, verirrte sich nur ab und zu ein Angestellter mit Kartons auf dem Arm und noch viel seltener ein Kunde. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie lediglich eine einzelne Frau, die sich dem Regal mit den Duschgels näherte.

Sophie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Der warme Braunton, den sie nach dem Orange aufgetragen hatte, gefiel ihr gut. Er betonte ihre dunkelbraunen Augen und bildete einen interessanten Kontrast zu ihren langen blonden Haaren. Doch sie fand die Farbe nicht sexy genug. Schließlich hatte sie Matthias seit einer Woche nicht gesehen. Sie brauchte etwas Aufregendes, das ihn nicht weiter als bis in den Flur kommen ließ, bevor er über sie herfiel. Sie griff nach einem kräftigen Rot. Es war gewagt, vielleicht eine Spur zu aufdringlich. Aber Sophie wollte den Farbton unbedingt ausprobieren. Sie zerrte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischte sich den Braunton von den Lippen, bevor sie die neue Farbe auftrug. Perfekt. Sophie sah Matthias’ Blick geradezu vor sich. In Gedanken öffnete sie ihm die Haustür. Ein Luftzug fuhr unter ihr Kleid und gab einen betörenden Blick auf ihre Oberschenkel preis. Sie hauchte Matthias ein verführerisches »Hallo« zu. Sophies Haut prickelte, als sie in Gedanken die starken Hände ihres Mannes auf ihrem Hals spürte. Er zog sie wortlos zu sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Sophie stöhnte leise auf, die Augen immer noch auf den Spiegel geheftet. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und erstarb wenige Sekunden später, als ihr Blick zu der Stelle hinüberwanderte, an der eben noch Henris Kinderwagen gestanden hatte. Sophie blinzelte, spürte, wie eine Schockwelle ihren Körper durchfuhr, und erstarrte. Kälte breitete sich in ihren Adern aus, während ihr Gehirn versuchte, ein Bild des Kinderwagens an genau jene Stelle zu projizieren, an der er eigentlich hätte stehen müssen. Sie hatte Henri keine dreißig Sekunden aus den Augen gelassen. Die leere Stelle, die sie sah, musste ein Trugbild sein. Eine Sinnestäuschung. Der Kinderwagen konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Plötzlich ließ die Starre in ihrem Körper nach und Sophie stolperte am Regal entlang zu der Stelle, wo Henri eben noch gelegen hatte. Ihre Hände bewegten sich durch die Luft, als suchten sie einen unsichtbaren Gegenstand. Sie drehte sich wieder und wieder um ihre eigene Achse, bis sie begriff, dass dort nichts mehr war, und sank kraftlos zu Boden. Ein heiseres Krächzen presste sich durch ihre Kehle: »Henri.« Dann ein verzweifeltes Kreischen: »Henri? Wo bist du? … Hat jemand meinen Kinderwagen gesehen? Bitte helfen Sie mir! Ich kann mein Baby nicht finden.«

III

»Darf ich Ihnen meine Mitarbeiterin vorstellen?« Joachim Beckstein deutete auf Laura, die mit glühenden Wangen im Türrahmen stand. »Laura Kern, eine unserer erfahrensten Ermittlerinnen auf dem Gebiet der Geiselnahmen und Entführungen. Sie hat hervorragende Referenzen…«

In Lauras Kopf rauschte es so stark, dass sie den Worten ihres Vorgesetzten nicht folgen konnte. Völlig außer Puste ließ sie sich auf den ersten freien Stuhl des Raumes fallen, in dem die kurzfristig angesetzte Einsatzbesprechung stattfand. Laura hatte verschlafen.

Ein nächtlicher Stromausfall musste den Wecker lahmgelegt haben. Als sie am Morgen die Augen geöffnet hatte, waren die rote Leuchtanzeige und das Muster, das der Wecker normalerweise an die Schlafzimmerdecke warf, verschwunden. Stattdessen kitzelten Sonnenstrahlen ihre Nasenspitze und versetzten sie nach einem ersten genüsslichen Gähnen in Panik. Ihr Diensthandy zeigte sieben Uhr dreißig an. Wie von einer Hornisse gestochen sprang sie auf und stürmte ins Bad. Die notdürftige Katzenwäsche ließ ihre Haare unberücksichtigt. Der frische Wind, der in den Morgenstunden durch die Straßen Berlins fegte, tat sein Übriges und verwandelte die restlichen Konturen ihrer Frisur in ein wildes Durcheinander.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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