KREBS - Martin Bleif - E-Book

KREBS E-Book

Martin Bleif

4,4
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

KREBS ist ein biologisches Räderwerk, das wir wie ein Puzzle aus unendlich vielen Teilen noch nicht richtig erfassen und begreifen. Aber wir wissen viel, und Martin Bleif erläutert sachlich und verständlich die wichtigsten Fragen. Wird der KREBS wieder und wieder gewinnen? Nein, antwortet der Autor, auch wenn die Überwindung dieser Krankheit noch in weiter Ferne ist. Am wichtigsten ist, dass wir uns dem Leben??– gerade auch dem biologischen und seinen scheinbaren Zufällen – stellen. Erst dadurch wird deutlich, was Zufall, Risiko oder Schicksal im Kontext einer Krebserkrankung bedeuten. Die enge Verflechtung von sachlicher Darstellung und persönlichem Schicksal belegt eindrucksvoll und erstmals aus der Feder eines betroffenen Experten: KREBS kann jeden jederzeit treffen, aber niemand sollte sich dem KREBS unterwerfen und sein Leben für sinnlos oder vergeblich halten. Martin Bleif beantwortet Fragen, die sich seine Frau und Tausende von Krebskranken gestellt haben und täglich neu stellen, wie z.?B.: - Was ist KREBS und warum entsteht er? - Hat die Biographie eines Menschen mit der Erkrankung zu tun? - Warum trifft der KREBS mich? Habe ich etwas falsch gemacht? - Was macht eine Zelle zur Krebszelle? - Wie setzt sich der Körper zur Wehr? - Was können wir tun, um uns vor KREBS zu schützen? - Gibt es verborgene Risiken, die man kennen muss? - Welche Behandlungsmethoden hat man? - Gibt es dauerhafte Heilung? - Wie und wo zeigt sich ein Rückfall?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 889

Bewertungen
4,4 (34 Bewertungen)
20
7
7
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MARTIN BLEIF

KREBS

Die unsterbliche Krankheit

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Der Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, bedankt sich bei Dr. Martin Bleif für die Überlassung der Abbildungen und die freundliche Abdruckgenehmigung.

Abbildung Seite 78: thinkstock/iStockphoto.

Sollten wider Erwarten Rechteinhaber nicht ermittelt worden sein, bittet der Verlag um Kontaktaufnahme, um die entsprechenden Rechte abzugelten.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2013/2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfoß & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von © Martin Bleif

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98057-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10461-5

PDF-Book: ISBN 978-3-608-20107-9

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Ausgabe der Printausgabe

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

FÜR IMOGEN

… vor allen Anderen

FÜR ALLE VOM KREBS BETROFFENEN

… in der Hoffnung, dass Phantome der Nachtim Licht etwas von ihrem Schrecken verlieren

Dieses Buch wollte ich nie schreiben …

… jedenfalls so nicht. Ein Buch über Krebs – ja gewiss. Seit Jahren hatte ich Gedanken und Ideen gesammelt, langsam reifte das Konzept. Und dann kam von einem Augenblick zum nächsten alles ganz anders …

• • •

Donnerstag, 10. April 2008

Es begann mit einem Telefongespräch von einer knappen Minute. Am anderen Ende der Leitung war der Direktor der Pathologie. Er zögerte einen Augenblick zu lange, bevor er zu sprechen begann. Schlagartig war mir klar, dass unsere Welt gerade zerstört wurde: »Ja, ich muss Ihnen leider sagen, es ist bösartig. Ein entdifferenziertes, schnell wachsendes Mammakarzinom. Die genauere Differenzierung kann ich Ihnen erst morgen nach Abschluss der immunhistologischen Untersuchungen mitteilen.«

Schweigen. Der vorsichtige, durch die österreichische Färbung weich gedämpfte Ton seiner Stimme bemäntelte die Botschaft nicht. Imogen, meine Frau, hatte Brustkrebs!

Ich antwortete mit einem kurzen »Danke«, sagte noch den Satz: »Das muss ich erst mal verdauen«, legte auf und ließ mich in den Stuhl fallen, um die Übelkeit, die in mir aufstieg, zu unterdrücken. Zwei Minuten. Meinen Kollegen gab ich Bescheid, dass sie heute nicht mehr mit mir rechnen sollten, und fuhr nach Hause, auf einer Strecke, die ich seit Jahren in- und auswendig kannte. Diesmal fuhr ich wie durch einen langen dunklen Tunnel. Es war April, ein kalter, grauer Tag, ein letztes Aufbäumen des Winters. Es nieselte, Außen- und Innenwelt schienen übergangslos ineinanderzufließen und ununterscheidbar zu werden.

Ich schloss die Haustür auf und rannte die Treppe hinauf ins Kinderzimmer. Meine Frau hatte gerade unsere Tochter, die kaum sechs Monate alt war, in den Schlaf geschaukelt. Ich sagte nichts, als ich vor dem Bett stand, und nahm Imogen in die Arme.

Sechs Wochen zuvor, vier Monate nach der Geburt unserer Tochter, hatte Imogen einen Knoten in ihrer rechten Brust gespürt – nichts Ungewöhnliches, wenn eine Mutter stillt. Die Ultraschallkontrolle beim Frauenarzt hatte trügerische Entwarnung signalisiert. Von einer Milchgangszyste war die Rede.

Jede Menge Zahlen schwirrten durch meinen Kopf. Die Statistik war ganz auf unserer Seite. Brustkrebs tritt zwar häufig auf, aber selten vor dem 50. Lebensjahr. Imogen war jung, nicht einmal 36 Jahre alt. Keiner der bekannten Risikofaktoren traf auf sie zu: Ihre beiden Großmütter waren knapp 90 Jahre alt und erfreuten sich bester Gesundheit. Bei keiner der zahlreichen Frauen in ihrer unmittelbaren Verwandtschaft war Brustkrebs oder eine andere Art von Krebserkrankung aufgetreten.

Also war ich zunächst nicht sonderlich beunruhigt, als am Tag zuvor bei einer erneuten Ultraschalluntersuchung »zur Sicherheit« eine Gewebeprobe entnommen worden war. Dennoch hatte ich nachts so gut wie nicht geschlafen, im Rückblick eine Diskrepanz, die mich heute noch irritiert. Denn irgendetwas musste zwischen dem bewussten Denken und den tieferen Schichten meines Gehirns bereits in Bewegung geraten sein und mich trotzdem beunruhigt haben.

In den drei darauffolgenden Tagen pendelten meine Stimmungen zwischen Hoffnung und Bangen hin und her. Jeder Krebsverdacht zieht schier unendliche Folgeuntersuchungen nach sich. Bei diesem sogenannten Staging geht es darum, den feingeweblichen Typ der Erkrankung und das Ausmaß ihrer Verbreitung im Körper so exakt wie möglich zu bestimmen. Jedes neue Ergebnis tariert die Waage zwischen Tod oder Leben neu aus. So muss sich Russisches Roulette anfühlen. Wie eine Lotterie des Todes. Wie viele tausend Male hatte ich diese Prozedur aus der Sicht und Distanz des Arztes miterlebt! Erst jetzt wurde mir klar, um welches Martyrium es sich hier handelt, wenn Menschen sich immer wieder neuen Untersuchungen unterziehen und immer neue Befunde, neue Ergebnisse, die über ihr Leben entscheiden, geduldig abwarten müssen.

Nach drei Tagen, die nicht zu enden schienen, kannten wir endlich die Fakten. Und wieder hofften und bangten wir zugleich. Imogens Brustkrebsvariante war äußerst aggressiv, aber noch hatte sich der Tumor glücklicherweise, soweit man dies auf den Röntgenbildern sehen konnte, nicht außerhalb der Brust ausgebreitet. Wir atmeten durch. Imogen hatte eine echte Chance, geheilt und wieder gesund zu werden.

Es folgten Tage des Grübelns. Und mit dem Grübeln kamen die Fragen. Meine Frau war keine Onkologin, sie war Unfallchirurgin, und sie war klug, neugierig und außerordentlich hartnäckig. Nach einem sechsjährigen Studium und knapp zwei Jahren Forschung hatte ich 13 Jahre zuvor begonnen, mich als Radioonkologe zu spezialisieren. Seither kümmerte ich mich tagein, tagaus um Patienten, die sich wegen der unterschiedlichsten Krebserkrankungen an unserer Tübinger Klinik vorstellten, die von uns Hilfe erwarteten und erhofften. Erst kürzlich war ich zum leitenden Oberarzt und stellvertretenden ärztlichen Direktor der Klinik für Radioonkologie ernannt worden. Viele tausend Stunden hatte ich also damit verbracht, mit Krebspatienten zu reden und Krebspatienten zu behandeln. Phasenweise zog ich mich immer wieder ins Labor zurück, um Stück für Stück mehr über »Krebs« herauszubekommen.

Jetzt aber war ich Imogens Mann und wich in den ersten Wochen nach dieser vernichtenden Diagnose fast 24 Stunden am Tag nicht mehr von ihrer Seite. Kurzum, ich war verwirrt, schockiert und dabei doch der ideale Adressat für ihre Fragen: Warum hat es mich erwischt?, fragte sich Imogen. Habe ich etwas falsch gemacht? Gibt es verborgene Risiken, die ich kennen muss? Was bedeutet meine Erkrankung für meine kleine Schwester oder meine Tochter?

Diese Fragen wirkten so, als ob sich immer neue Türen vor ihr und mir öffneten. Ihre Neugier führte immer tiefer und immer weiter: Was zur Hölle ist Krebs eigentlich? Was geht dabei im Körper vor? Warum und auf welche Weise entsteht Krebs? Wie funktioniert er? Ist Krebs eine Laune des Zufalls, ist er schicksalhaft, liegt er in den Genen, oder können Menschen durch ihr Verhalten Einfluss nehmen?

Daneben tauchten ganz praktische Fragen auf: Wie sähe ein optimaler Schutz vor Krebs aus? Gibt es Dinge, die sinnvoll sind und jenseits dessen liegen, was gern mit dem dummen Begriff »Schulmedizin« bezeichnet wird? Was kann ich selbst tun? Und es stellten sich auch Fragen ein, die aus der Angst geboren werden: Warum können Tumoren zurückkommen? Wie stellen sie das an? Wie und wo zeigt sich ein Rückfall? Gibt es dann noch Hoffnung?

Sie fragte, ich antwortete. Sie bohrte nach, ich ergänzte. Sie suchte nach Widersprüchen, ich erklärte alles, soweit ich es konnte. Oft trieb mich Imogen an den Rand meines Wissens und an die Grenzen medizinischen Wissens überhaupt. Noch nie zuvor hatte mich eine Patientin so herausgefordert. Sie war klug, sie war Medizinerin, sie hatte Gelegenheit, Tag und Nacht zu fragen – und sie tat es. Denn für sie waren es Fragen über Leben und Tod. Zwischen uns entstand ein Dialog über Krebs, der sich bis in die letzten Tage der zwei Jahre währenden Geschichte ihrer Krankheit fortsetzte. Ihre Fragen wandelten sich, wechselnde Situationen rückten neue Themen in den Vordergrund. Unsere Gespräche warfen allgemeine und grundsätzliche, sachliche und emotionale, vor allem aber existentielle Fragen auf, die für alle Menschen mit Krebs von Bedeutung sind. Für mich dauert das Gespräch mit Imogen noch bis heute an. Es wirkt weiter – und Sie halten diese Gespräche als Buch in Händen, ein Buch, das ich schon immer entworfen und seit Jahren im Kopf geformt hatte, aber so, wie ich es jetzt schreiben musste, überhaupt nie schreiben wollte. Es ist mein und Imogens Buch für Sie und die vielen anderen Krebspatienten und ihre Familien und Freunde.

• • •

Krebs ist schrecklich. Eine Krebserkrankung wird als ein existentiell bedrohliches, außerordentliches und unwahrscheinliches Ereignis wahrgenommen. Für Gesunde gehört Krebs nicht zum Alltag, nicht zur Wirklichkeit. Glücklicherweise leben wir nicht im Gefühl ständiger Bedrohung. Erkrankt jedoch ein Mensch in unserer unmittelbaren Umgebung, verwandelt sich unser gewohnter Alltag von einer Sekunde zur anderen in einen Ausnahmezustand. Die Gesunden erwecken dagegen oft den Eindruck, als lebten sie in einem Zustand gefühlter Unsterblichkeit. Endlichkeit wird im Alltag nicht bewusst gelebt. Es scheint selbstverständlich, dass das Leben sich an Regeln hält und einer natürlichen Chronologie zu folgen hat. Krankheit, Siechtum und Tod liegen für Menschen in der Mitte des Lebens in weiter Ferne als letztes, kaum sichtbares Glied am Ende einer langen Kette von Jahren. Den Gedanken, Krebs könnte diesen natürlichen Lauf der Dinge stören und den Tod mitten ins Leben holen, blenden wir – üblicherweise – aus.

Die vorgetäuschte Gelassenheit oder Indifferenz wie auch die Unwissenheit über Krebs ist allerdings mehr als erstaunlich: Krebs ist die zweithäufigste Todesursache in den Industrienationen. Die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken und zu sterben, ist vielfach höher als das Risiko, Opfer eines Unfalls, eines Verbrechens oder gar eines Terroranschlags zu werden. Fast jeder dritte Mitteleuropäer erkrankt im Lauf seines Lebens an Krebs – in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2012 mehr als 500000 Menschen –, und mehr als vier von zehn krebskranken Menschen sterben.

Klingt das zynisch für Sie? Aber wie zynisch muss es dann für Sie klingen, wenn man die Schlagzeilen und Titelseiten zählt, in denen von Terror und Terroranschlägen die Rede ist, obgleich im letzten Jahrzehnt beispielsweise weit mehr als 1000 Mal so viele Amerikaner an Krebs starben? Ist diese verschwiegene Katastrophe nicht die unheimlichste? Hat sie keine Öffentlichkeit verdient? Begnügen oder beruhigen wir uns mit der fatalistischen Ansicht, Krebs sei ein Ereignis, das uns schicksalhaft heimsucht und von uns nicht zu beeinflussen ist? Wir werden noch sehen, wie wenig dieser Fatalismus weiterführt, denn er führt am Leben vorbei.

Imogen zeigte mir, wie sehr Menschen, die an Krebs erkrankt sind, nach Information hungern. Sie möchten Bescheid wissen. Und schon dieses Wissen vermag heilsam zu sein. Wissen über Krebs schwächt die Tabus ab und vermindert die Unsicherheit, mit Krebskranken und ihren Angehörigen angemessen umzugehen. Wissen kann und soll zu vernünftigem Präventionsverhalten führen – ja, wir können uns gegen Krebs schützen, auch wenn wir vor ihm nie ganz sicher sein werden! Und schließlich lindert Wissen auch die diffusen, kriechenden Ängste in uns.

Kinder fürchten sich im Dunkeln, aber auch Erwachsene können sich der suggestiven Kraft der Finsternis nicht völlig entziehen. Ein Spaziergang durch ein Waldstück an einem sonnendurchfluteten Sommernachmittag lässt auf der Gefühlsklaviatur eine ganz andere Tonart anklingen als derselbe Gang zur Geisterstunde.

Obwohl auch andere Erkrankungen tödlich verlaufen, ist kaum eine andere Krankheit so sehr mit Vorurteilen und Metaphern überfrachtet wie der Krebs.1 Krebs, so schreibt Susan Sontag, ist »die Krankheit, die nicht anklopft, bevor sie eintritt. Sie [hat] die [archetypische] Rolle einer als erbarmungslose, geheime Invasion erfahrenen Krankheit übernommen – eine Rolle, die so lange behalten wird, bis ihre Ätiologie eines Tages klar wird.«

Der scheinbar dunkle Ursprung und die Gefährlichkeit der Krankheit bilden genau jene Mischung, aus der anschließend Tabus entstehen. Ein unverstellter Blick ist fast immer leichter auszuhalten als ein alles umwabernder Nebel aus Unsicherheit und Unwissenheit, der selbst noch im Tageslicht bedrohlich wirkt.

Die Diagnose Krebs wird von Betroffenen oder Angehörigen leider immer noch viel zu oft mit einem Todesurteil gleichgesetzt. Dabei sind heute die meisten Krebserkrankungen heilbar.

Erst meine Frau führte mir vor Augen, in welchem Maß Krebs eine Suche nach Antworten auf bohrende und existentielle Fragen über die Natur und die Folgen dieser Erkrankung auslöst. Wissen über den Krebs ist, davon bin ich fest überzeugt, hilfreich und erleichtert fast immer den Umgang mit der Krankheit und mit den Ärzten.

Die Motivation, dieses Buch zu schreiben, entspringt bis zu einem gewissen Grad meinem schlechten Gewissen gegenüber all den Patienten, bei denen ich das Gefühl haben musste, ihre Wissbegier sei zu kurz gekommen. Dieses Buch ist auch ein Versuch, nachzuholen, was ich und viele andere Ärzte, die in der Krebstherapie tätig sind, im Tagesgeschäft versäumen und leider versäumen müssen, denn der Alltag in einer Klinik oder einer Praxis hat etwas Unerbittliches: Er setzt unserer Zeit ständig Grenzen.

Krebs ist kompliziert, aber kein Mysterium, jedenfalls kein prinzipiell undurchschaubares und dunkles. In diesem Buch versuche ich, Krebs in all seinen Aspekten und Facetten zu benennen, zu erklären und verstehbar zu machen. Sie brauchen für dieses Buch kein Medizin- oder Biologiestudium absolviert zu haben. Einige Erinnerungen an den Biologieunterricht der Schule mögen hilfreich sein, sind aber nicht unbedingt notwendig. Ich glaube, dass Sie nach aufmerksamer Lektüre mehr über die Prinzipien von Krebserkrankungen wissen als viele tätige Mediziner, die nicht auf die Krebsforschung und Krebstherapie, die sogenannte Onkologie,2 spezialisiert sind. Sie werden außerdem – so hoffe ich – Ihren Körper viel besser kennen und ihn hoffentlich auch wieder bewundern lernen.

Der Weg zum Verständnis der Krebserkrankung führt über drei ganz zentrale Konzepte der Biologie: das Konzept des Gens, das Konzept der Zelle und das der Evolution, der Geheimnisse alles Lebendigen.

Die Fragen meiner Frau führen durch das Buch. Jedes Kapitel antwortet auf eine Frage, die sie mir im Lauf ihrer Krankheit gestellt hat. Ich bin überzeugt, dass viele tausend andere Krebskranke sich genau diese oder ähnliche Fragen auch gestellt haben und täglich neu stellen. Für sie und ihre Freunde und Angehörigen ist dieses Buch in erster Linie geschrieben.

Vielleicht birgt es aber auch die eine oder andere Überraschung für die »Profis«, die beruflich jeden Tag mit Krebskranken zu tun haben. Ich war – und bin es immer noch – schließlich auch so ein »Profi«. Trotzdem musste und durfte ich durch die Krankheit meiner Frau Erfahrungen machen, die mir der »objektive« Blick von außen, aus der Distanz, nicht ermöglicht hat. Diese Erfahrungen gaben den letzten und entscheidenden Anstoß zu diesem Buch.

Die Gespräche mit meiner Frau folgten nicht irgendeiner Rollenverteilung. Keineswegs war sie immer die Fragende und Lernende und ich der Dozierende. Im Gegenteil, unsere Rollen wechselten ständig. Das war eine Überraschung für mich. Obwohl die Situation uns oft grausam vorkam, bereicherten mich doch gerade diese Erfahrungen, weil ich ständig meine Perspektive als Arzt oder Wissenschaftler verlassen musste. In diesen Augenblicken war ich betroffen. Plötzlich sah ich hinter oder in die Krankheit hinein, ich sah, erkannte und fühlte die dunkle Seite des Mondes. Mein Wissen über den Krebs war damit nicht unwichtig geworden oder ausgelöscht. Aber der Blick auf die dunkle Seite veränderte mich. Das war eine der entscheidenden Lektionen, die mir Imogen beibrachte. Kein Außenstehender, auch kein Arzt mit langjähriger Erfahrung, kann die Totalität und das Ausmaß der Verwüstung nachvollziehen, das Krebs oft genug im Leben von Betroffenen, ihren Familien und Freunden anrichtet.

Mit dem Krebs tritt plötzlich der Tod als reale Bedrohung mitten ins Leben. Wird Krebs nicht behandelt, führt er unaufhaltsam zum Tod. Krebs stellt alles, was das Leben ausmacht, unter Vorbehalt. Alles, was bisher zweifelsfrei war, muss nun überprüft werden. Ziele, Wünsche und Pläne werden obsolet oder auf unbestimmte Zeit eingefroren. Die Krankheit führt zur Umwertung wenn nicht aller, so doch vieler Werte. Die Prioritäten geraten völlig durcheinander. Kein Lebensbereich bleibt ausgeklammert, alles, vor allem die sozialen Beziehungen, sind plötzlich einem Selektionsdruck ausgesetzt. Ganz extrem betrifft dies Menschen, die nicht geheilt werden (können) und deren Tod abzusehen ist.

Nicht einmal eine erfolgreiche Behandlung gibt einem Patienten seinen Alltag, die Normalität seines Lebens, unversehrt wieder zurück. Der Weg zur Heilung ist wie ein zögerlicher Gang über brüchiges Eis. Jede Routineuntersuchung stellt aufs Neue die Frage nach Leben und Tod. Das Zutrauen mag mit der Zeit wieder wachsen, aber es dauert oft unendlich lang, bis Betroffene wieder tragfähigen Grund unter den Füßen spüren und erneut Vertrauen zum Leben fassen.

Die »Innensicht« bringt aber auch die größte Überraschung hervor: Was furchtbar klingt und furchtbar ist, kann gleichwohl zur Quelle des Glücks werden. Hierin war Imogen meine Lehrmeisterin. Krebs schärft den Blick für die Dinge, die dem Leben seine wirkliche Bedeutung, seinen Sinn geben. »Krankheit ist die Nachtseite des Lebens. […] Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken.«3 Die meisten von uns kennen das zweite, ungeliebte Land der Krankheit nur vom Hörensagen oder allenfalls von kurzen Stippvisiten.

Und so ist dieses Buch auch ein Bericht über eine unfreiwillige Reise tief in den schier unendlichen Kontinent der unheimlichsten aller Krankheiten: Krebs. Unsere – Imogens und meine – Reise führte in den Tod. Auf dem Weg dorthin erlebten wir aber auch Momente tiefen Glücks und Augenblicke nie gespürter Nähe, wie sie keiner von uns vorher ermessen konnte. Auf dieser Reise erfuhr ich Facetten dieser Erkrankung, die ich vorher, beim Flug über diesen Archipel, aus der Vogelperspektive eines Onkologen, niemals erahnt hätte. Diese Erfahrungen scheinen im Schlusskapitel auf. Das Buch beruht auf ungezählten Gesprächen mit Imogen und ist im Grunde nur mein Versuch, diese Gespräche zu ordnen und in eine lesbare Form zu bringen.

Noch ein Wort zum Schluss: Dieses Buch ist eine Gratwanderung, die mich etwas beklommen macht. Imogen machte mir immer Mut, es zu schreiben. Allzu Privates vor einem großen Publikum auszubreiten befremdet mich. Noch mehr befremdet mich die mediale Gier nach solchen Geschichten aus dem menschlichen Gefühls- und Innenleben. Daher schildere ich die Geschichte von Imogens Krankheit nicht ausführlich, und unsere Liebe soll nur in Fragmenten und Andeutungen aufleuchten. Jedes dieser Fragmente wurde unter einem einzigen Gesichtspunkt ausgewählt: Es sind, davon bin ich überzeugt, typische, ja fast beispielhafte Szenen, die sich zwischen uns abspielten und die sich bei Krebserkrankungen jeden Tag auf der ganzen Welt wiederholen. Was wir erlebten und das, was Imogen wieder und wieder umtrieb, ist, so fühlte ich, in ähnlicher Form vielen Betroffenen und ihren Partnern widerfahren oder wird ihnen noch widerfahren.

Dieses Buch wollte ich so nie schreiben. Ich schreibe es nun doch in der tiefen Hoffnung, dass mehr Verständnis und weniger Vorurteile den Umgang mit Krebs erleichtern. Dass der Blick auf die hellen Seiten des Lebens den Betroffenen Mut macht. Dass Krebs auch den abgebrühten »Profis« zeigt, wie machtvoll diese Krankheit Perspektiven eröffnet oder erzwingt, die ärztliche Kunst und ärztliches Handeln weit übersteigen. Ein guter Arzt sollte wissen, wann er zu reden und wann er zu schweigen hat.

1. KapitelNur Indizien und Verdächtige – Wer oder was ist Krebs?

Mittwoch, 14. Mai 2008

Die flachen Granitsteine der alten Kapelle strahlen noch die Wärme ab, die sie in der Mittagssonne gespeichert haben. Viele hundert Meter unter mir breitet sich die gleißende Fläche des Luganer Sees aus. Wie ein gewaltiger alter Krake lässt er seine Arme zwischen die steilen Hänge der Tessiner Alpen vortasten. Nichts ist hier oben von der geschäftigen Diesseitigkeit im mondänen Lugano zu spüren.

Ich ließ meine Gedanken baumeln und war ganz versunken in die herzzerreißende Schönheit des Ausblicks, als meine Frau mich in die Wirklichkeit zurückholte: »Ich muss etwas übersehen haben.« Imogen saß mir gegenüber auf einem Mäuerchen, den Rücken gegen eine mächtige Steinsäule gelehnt. »Es muss doch Spuren geben, irgendeinen Grund, warum gerade ich mit 35 Jahren Brustkrebs bekomme. Wann habe ich die entscheidenden Fehler gemacht?«

Ich muss gestehen, dieser Moment erwischte mich kalt, und ich lavierte. »Nein, nein – niemand kann im Einzelfall die Ursache benennen. Es ist vielleicht auch nicht so wichtig. Wichtiger ist der Blick nach vorn.« Und so weiter, und so weiter … Imogen war unzufrieden – mit Recht. »Wisst ihr Onkologen überhaupt genug vom Krebs?«, fuhr sie fort. »Drückt ihr euch deswegen? Und vor allem, woher wollt ihr denn das alles so genau wissen? Bewegt ihr euch, wenn ihr überhaupt mal die Zähne auseinander bekommt, nicht auf ziemlich dünnem Eis?«

Ihre Brustkrebsdiagnose war gerade vier Wochen alt, und Imogen hatte die erste Behandlung einer Chemotherapie hinter sich gebracht. In der Therapiepause vor der zweiten Behandlung fuhren wir mit unserer kleinen Tochter in ein Haus von Freunden am Luganer See. Wir wollten und mussten durchatmen. Diese Weltecke war idyllisch und tat uns gut. Für Augenblicke schien es ein üblicher Sommerurlaub zu sein. Imogen aber war aufgewühlt; in ihr arbeitete es: Was ist überhaupt Krebs? Hat die Biographie eines Menschen etwas mit der Erkrankung zu tun? Wenn ja, wie? Und vor allem: Wissen wir überhaupt genug, um solche Fragen sinnvoll zu beantworten?

Zu viel für eine Antwort in drei Sätzen. Also setzten wir uns abends auf die Terrasse, den Blick auf den See und die Berge, der sternklare Himmel verwandelte die Nacht in eine großartige Kulisse, und ich begann zu erzählen. Diese Geschichte sollte uns während Imogens Krankheit immer begleiten, und noch heute spüre ich, dass es gut ist, diese Geschichte zu erzählen.

• • •

Wer oder was ist Krebs? Die Frage lässt den Onkologen, also den Wissenschaftlern, die sich professionell mit dem Krebs auseinandersetzen, seit vielen Jahrhunderten keine Ruhe. Ist Krebs ein Täter, oder sind es viele? Ist Krebs überhaupt eine Krankheit, oder handelt es sich um viele, ganz verschiedene Krankheitsbilder, denen ein Name, ein Begriff gegeben wurde? Dieses Bündel wichtiger grundlegender Fragen möchte ich hier aufrollen, Ihnen zunächst nur Indizien vorlegen und bestimmt werde ich Sie verwirren.

Warum? Weil sich die Geschichte des Krebses und seiner Erforschung wie ein Krimi liest, und hier wie bei Agatha Christie kann man die Lösung des Rätsels – soweit wir heute von einer Lösung in Bezug auf Krebs sprechen können – erst nach und nach in den weiteren Kapiteln präsentieren. Haben Sie zunächst noch ein wenig Geduld. Sie lernen in diesem Kapitel das ganze Panoptikum der Verdächtigen kennen. Wir werden vielen Spuren folgen; etliche scheinen das Rätsel zu lösen. Sie werden aber feststellen, dass viele Täter infrage kommen und gegen jeden Verdächtigen bezwingende Indizien ins Feld geführt werden können. Sie werden mit all den faszinierenden, aber widersprüchlichen Fakten konfrontiert, die Mediziner seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zusammengetragen haben. Und bald werden Sie zweifeln, ob es sich bei Krebs überhaupt um eine einheitliche Erkrankung handeln kann, die auf ein einziges pathogenetisches Prinzip zurückzuführen ist.

Die älteste uns bekannte Beschreibung einer Krebserkrankung verfasste Imhotep, ein angesehener ägyptischer Arzt, um das Jahr 2650 v. Chr.1 Es sollte noch über 2000 Jahre dauern, bis Hippokrates (ca. 460–377 v. Chr.), der berühmteste Arzt der Antike, dieser Krankheit ihren Namen gab. Er beschrieb ein Krankheitsbild, das besonders dadurch auffiel, dass im menschlichen Körper unaufhaltsam Knoten wuchsen oder sich Geschwulste (Tumoren) bildeten. Scheinbar aus dem Nichts, ohne erkennbare Ursache, entstanden Knoten, die sich nicht behandeln ließen und nach und nach das gesamte umliegende Gewebe zerstörten. Durchbrachen sie die Haut, bildeten sich abscheuliche Wunden, die nicht mehr heilten. Menschen mit derartigen Symptomen waren in der Regel zu Siechtum und Tod verdammt.

Dieser Krankheit gab Hippokrates den Namen karkinos, im Griechischen das Wort für Krebs. Vermutlich war Hippokrates der Erste, der solche Geschwüre, die in ganz unterschiedlichen Organen und an den unterschiedlichsten Stellen des Körpers auftraten, mit einem einheitlichen Begriff bezeichnete. Außerdem beschrieb er bereits verschiedene Arten von Krebs: Tumoren in der Brust, im Nasen-Rachen-Raum und im Magen, auf der Haut wie im Gebärmutterhals oder im Enddarm. Diese Tumoren, ihre Herkunft und ihre Ursache, blieben allerdings eher ein Rätsel, das als umso unheimlicher empfunden wurde, je länger es nicht gelüftet werden konnte.

Eine wirksame Behandlung schien es für diese Tumoren nicht zu geben. Chirurgisch konnten hin und wieder oberflächlich gelegene Tumoren mit dem Skalpell entfernt werden, und ganz selten führte dies zu einer Linderung oder sogar zu einer Heilung. Ansonsten aber galt für eine Krebserkrankung – und daran sollte sich in den über 2000 Jahren danach nichts ändern –, was Hippokrates in einem Aphorismus riet: »… es ist besser, die verborgen liegenden Tumoren nicht zu behandeln; denn werden sie behandelt, sterben die Patienten sehr bald, bleiben sie unbehandelt, so leben sie längere Zeit.«

Etwa 500 Jahre nach Hippokrates führte Claudius Galenus, genannt Galen (129–216 n. Chr.), der zweite Übervater der antiken Medizin, den Begriff »Krebs« auf das Erscheinungsbild der Erkrankung zurück: Der Tumor throne wie ein Krebspanzer in der Mitte, und ein Geflecht von Blutgefäßen laufe auf ihn zu, das den Scheren und Beinen eines Krebses zum Verwechseln ähnlich sehe. Auch wenn seine Erklärung des sprechenden Namens spekulativ klingt – die Bezeichnung »Krebs« hat sich gehalten und trägt bis heute entscheidend zur Mystifizierung der Krankheit bei.

Galen dürfte einer der ersten Mediziner gewesen sein, der eine umfassende Theorie aufstellte, wie Krebs entsteht. Die antike Medizin war seit Hippokrates und seinen Schülern von der Vorstellung geprägt, Krankheit entstehe durch die Dysbalance normaler Körperfunktionen. Hippokrates hatte eine Art von Universaltheorie der Krankheit aufgestellt, die ebenso ambitioniert wie erfolgreich war. Er war damit vielleicht der Erste, der sich von magischen Krankheitsvorstellungen verabschiedete und den menschlichen Körper als Teil eines Systems betrachtete, in dem universelle Naturgesetze gelten. Nach Hippokrates’ Humoraltheorie entwickelt sich ein gesunder Körper aus der wohl ausgewogenen Balance der vier Körpersäfte Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Lymphe. Krankheiten entstehen durch eine Störung dieser wohlgeordneten, präformierten Balance.2

Diese Lehre hat Galen im Hinblick auf den Krebs weiter ausgearbeitet. Seiner Ansicht nach entsteht Krebs durch die Unausgeglichenheit der Körpersäfte, der Dysbalance aufgrund eines Überschusses an schwarzer Galle (melancholia). Seine einprägsame Vorstellungen über die Ursachen des Krebses verfehlten ihre Wirkung nicht, dominierten fortan die Medizin und die medizinischen Lehrbücher über 1500 Jahre lang. Nur in einer Hinsicht waren sie unzulänglich: Sie waren falsch!

Die zähe Geburt der Medizin als Wissenschaft

Die Gründe für das hartnäckige, jahrhundertelange Festhalten an einem Irrtum sind merkwürdig, weil sie so offensichtlich sind. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war die Medizin nahezu ›blind‹ und ›taub‹, weil sie durch und durch autoritätsgläubig war.

Die Autorität der Klassiker wurde für wichtiger erachtet und höher geschätzt als Erfahrung, Beobachtung und Experiment. Daher hatte die damalige Medizin kein wissenschaftliches Instrumentarium entwickelt, womit medizinische Theorien hätten ausgearbeitet und überprüft werden können.

Die Idee, dass Tatsachenwahrheiten über die Natur durch Beobachtung und Experiment zu suchen sind und auch gefunden werden können, ferner, dass sich eine Wissenschaft nicht in erster Linie auf die Meinung von Autoritäten oder auf kanonische Werke verlassen darf, leitete eine fundamentale Umwälzung des abendländischen Denkens an der Schwelle zur Neuzeit ein. Diese Revolution der Wissensaneignung setzte sich im 16. Jahrhundert durch, überwand das späte Mittelalter in wissenschaftlicher Hinsicht endgültig und mündete später am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in die modernen Wissenschaften. Die Geburtshelfer dieser modernen Auffassung von Wissenschaft als einer rationalen Methode, Erkenntnisse zu gewinnen, waren Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler, Galileo Galilei, René Descartes, Leonardo da Vinci, Francis Bacon, Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz. Die Grundlagen wurden im späten 16. und im 17. Jahrhundert gelegt.

Im Kielwasser von Astronomie und von Physik – den Flaggschiffen der wissenschaftlichen Revolution – dümpelten Biologie und Medizin, die Lebenswissenschaften. In der Medizin ereignete sich die wissenschaftliche Revolution erst im 19. Jahrhundert, danach setzte dann die Evolution des medizinischen Wissens ein. Damals erwuchs aus einem Gestrüpp unendlich vieler, vereinzelter medizinischer Fakten der gewaltige Baum der modernen Medizin: Diesem Baum verdanken wir heute unsere Kenntnisse über unseren Körper und seine Krankheiten.

Das erste Instrument wissenschaftlicher Beobachtung war das menschliche Auge. Der ärztliche Blick war schon seit der Antike beides, ein Instrument der Diagnostik wie der Forschung. Bis weit in die Renaissance hinein, über eine Zeitspanne von über 2000 Jahren, drang er allerdings kaum unter die Oberfläche des Körpers. Aus vorwiegend religiösen Motiven war die Obduktion von Toten über Jahrhunderte hinweg offiziell verboten, aber auch gesellschaftlich tabuisiert; es war also nicht möglich, gesicherte Kenntnisse über das Körperinnere zu erlangen. Unter der Haut lagen weitgehend unbekannte Kontinente.

Erst Andreas Vesalius veröffentlichte 1543 seinen sehr zuverlässigen Atlas der menschlichen Anatomie De humani corporis fabrica und verscheuchte über Nacht jahrhundertealte Mythen über das Innere des menschlichen Körpers. Dieser berühmte Atlas folgte einem damals völlig neuen Prinzip, das uns heute vollkommen selbstverständlich ist: Alle anatomischen Behauptungen mussten durch Sektion und Beobachtung überprüft werden.

Mit der Entwicklung des Mikroskops war es seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert möglich, die Welt zu beobachten, die für das bloße menschliche Auge nicht mehr zu erfassen war. Nachdem man schon jahrhundertelang für die Schifffahrt und die Astronomie den Sternenhimmel, den Makrokosmos, beobachten gelernt und durch das Teleskop unendlich verfeinert hatte, öffnete sich mit einem Mal eine weitere, zweite Beobachtungsdimension: der Mikrokosmos, die Welt der Zellen und Gewebe.

Dieser scheinbar einfachen technischen Entwicklung verdankt die Medizin unendlich viel, unter anderem zwei zentrale Erkenntnisse: Zum einen ermöglichte das Mikroskop die Entdeckung von Bakterien, wodurch viele verheerende Geißeln der Menschheit aufgespürt, erklärt und überwunden werden konnten – Pest, Cholera, Tuberkulose oder Syphilis, denen ganze Generationen zum Opfer fielen. Die zweite, noch grundlegendere Einsicht markierte die Entdeckung der Zellen, der »Atome des Lebens«.

Beide Ebenen, die makroskopische und die mikroskopische Anatomie, geben in erster Linie Aufschlüsse über die Morphologie des Körpers und darüber, wie er sich verändert, wenn er erkrankt. Manchmal erschloss sich aus Gestalt und Struktur auch, wie ein Organ oder ein Organsystem funktioniert. Als William Harvey im 17. Jahrhundert die Anatomie des Blutkreislaufs entschlüsselte, erlaubte sein Coup viele Rückschlüsse auf die Rolle des Herzens, der Arterien, der Venen und der Lungen. Trotzdem glich dieser Blick William Harveys dem eines Ingenieurs auf das Räderwerk einer Maschine. Von dieser Faszination getrieben, erschlossen die Physiologen der damaligen Zeit vor allem mechanische Zusammenhänge des menschlichen Körpers und veränderten langsam, aber nachhaltig das (Selbst-)Bild des Menschen. Julien Offray de la Mettrie, französischer Arzt, Philosoph und Enfant terrible der Aufklärung, trieb das für seine Zeit typische mechanistische Menschenbild auf die Spitze, indem er die Anatomie des Menschen mit einer wohlgeordneten Maschine verglich.3

Das Besondere alles Lebendigen liegt aber viel tiefer, geborgen im Inneren winziger Zellen. Diese Dimension jenseits des Mikroskopischen eröffnet sich der Medizin, Biologie und Genetik erst seit ungefähr 100 Jahren. Denn erst auf dieser dritten, äußerst abstrakten Beobachtungsebene erschließen sich die Geheimnisse des Lebens. Der wichtigste Zugang ist das Experiment. Wir Mediziner möchten die Funktionen im Zellinneren verstehen und die ›Sprache‹ entziffern, in der Zellen miteinander kommunizieren. Diese ›Dinge‹ lassen sich im herkömmlichen Sinne des Wortes nicht mehr ›beobachten‹. Wie vermehren sich Zellen, wie differenzieren sie sich? Wie kontrollieren sie ihr Wachstum, und wie versorgen sie sich mit Energie, um sich ständig zu erneuern? Wie statten sie sich mit allen notwendigen Bausteinen des Lebens aus? Und wie ›entsorgen‹ sie ihren Müll und Zellschrott, um unseren Körper hoffentlich über viele Jahrzehnte bei bester Gesundheit zu erhalten?

Um sich die unglaubliche Leistung auch nur einer einzigen menschlichen Zelle von einem hundertstel Millimeter Durchmesser zu vergegenwärtigen, muss man sich vorstellen, dass diese eine Zelle mehr chemische Prozesse reguliert und eine weit größere Vielfalt an Substanzen synthetisiert als die mehrere Quadratkilometer große Anlage der BASF in Ludwigshafen, der derzeit weltweit größte Chemiekonzern.

Vieles, was in den Zellen passiert, ist immer noch rätselhaft, aber das Wissen über diese Vorgänge wächst rasant. Dem menschlichen Auge ist diese Ebene auch nach vielfacher Vergrößerung weitgehend entzogen. Selbst die leistungsfähigsten Mikroskope sind nicht ohne Weiteres in der Lage, solche Vorgänge visuell darzustellen. Dafür verfügen Biochemie, Zell- und Molekularbiologie mittlerweile über ein atemberaubend schnell wachsendes Instrumentarium, um der Zelle ihre Geheimnisse auf andere Art und Weise zu entlocken.

Zwei Hauptinteressen verfolgt die Medizin: Sie möchte verstehen, wie Krankheiten entstehen, und sie möchte lernen, wie Krankheiten behandelt werden können. Oft setzt das Hauptinteresse der Medizin, die Behandlung von Krankheit, notwendig das Verständnis der Entstehung voraus. Als die Bakterien und Viren entdeckt waren, verwandelten sich mysteriöse schlagartig in real fassbare Krankheiten, die sich sogar heilen ließen. Plötzlich besaßen die Ärzte ein Konzept und vermochten zu erklären, wie so unterschiedliche Phänomene wie Schnupfen, Lungenentzündung, Pest, Cholera, Tuberkulose oder AIDS entstehen. Auf der Grundlage dieses Konzepts konnten wirksame antibakterielle oder antivirale Medikamente entwickelt werden.

Ein anderes Beispiel ist die Aufdeckung der Mechanismen, wie jugendlicher Diabetes mellitus (die Zuckerkrankheit) oder Asthma bronchiale entstehen. Eine Überreaktion des eigenen Immunsystems zerstört die Insulin-bildenden Zellen der Bauchspeicheldrüse oder entzündet die Wände der Lungenbälkchen. Als klar wurde, dass Asthma durch Allergene ausgelöst wird, was zu einer Überreaktion des Immunsystems führt, folgte logisch der nächste Schritt, immunsupprimierende und antientzündliche Medikamente in der Asthmatherapie versuchsweise einzusetzen. Die Pathogenese einer Krankheit, also das Verständnis für die Ursachen und die Entstehungsmechanismen einer Krankheit, ist die Voraussetzung, um eine erfolgreiche Behandlungsstrategie entwerfen zu können.

Aber nicht immer geht der Weg zur Therapie diesen geordneten Gang vom Labor ans Krankenbett. Manchmal ist die Medizin gezwungen, Abkürzungen zu nehmen. Krankheiten warten nicht, und die Kranken auch nicht. Über Jahrhunderte zwang die Not die Medizin zum Handeln, ohne dass sie über subtile Einblicke in die molekularen Mechanismen einer Krankheit verfügte, und dies ist vielfach auch heute noch der Fall.

Darüber hinaus ist der menschliche Körper viel zu kompliziert, als dass es eine Gewähr dafür gäbe, ein im Labor entwickeltes Konzept oder Präparat auch erfolgreich am Krankenbett einsetzen zu können. Manipulationen von Menschen zum ausschließlichen Zweck der Forschung verbieten sich. Experimentelle Forschung ist daher immer auf Modelle angewiesen, und es gehört zur Natur eines Modells, die Wirklichkeit nur ausschnittweise und vereinfacht abzubilden. Aus den Mechanismen einer Krankheit können wir den Erfolg einer Behandlung nicht vollständig ableiten oder garantieren.

Unbekannte Faktoren und Randbedingungen können eine Behandlung, die man in der Theorie stimmig entwirft oder im Laborversuch vielversprechend weiterentwickelt, in einem Debakel enden lassen. Die erhoffte Wirkung fällt wesentlich schwächer aus als erwartet, oder die Therapie führt zu unkalkulierbaren Nebenwirkungen, die den erwarteten Nutzen eines Medikaments unterlaufen und in sein Gegenteil verkehren.

Neben dem Experiment ist daher die klinische Studie das zweite unentbehrliche Instrument medizinischer Forschung. Wenn ein neues Therapiekonzept entwickelt wird, muss es am Patienten kontrolliert und erprobt werden. Gibt es keine hinreichende Theorie über die Grundlage einer Erkrankung, dann kann eine solche klinische Studie auch einmal eine legitime Abkürzung zur Erkenntnis sein.

Das Flaggschiff der klinischen Forschung ist die sogenannte prospektive, randomisierte und kontrollierte Studie. Nahezu alle wirklich verlässlichen Erkenntnisse, die wir über die Wirksamkeit, die Erfolgsaussichten, aber auch die Risiken von Therapien haben, beruhen auf diesem Studienprinzip. Worum handelt es sich dabei?

Das Prinzip der randomisierten Studie ist denkbar einfach, mag auch die korrekte und praktische Umsetzung oft außerordentlich kompliziert sein, sie ist bereits im Alten Testament beschrieben: Daniel stritt mit dem Chef-Eunuchen von König Nebukadnezar über die Essensrationen der Gefangenen aus Judäa. Ihre Mahlzeiten bestanden aus üppigen Speisen und Wein, aber Daniel wollte seine Soldaten mit Gemüse ernähren. Der Eunuch war besorgt, dass die spartanische Diät sich nachteilig auf ihre Leistungsfähigkeit in der Schlacht auswirken könnte. Daniel schlug daher ein Experiment vor, mit dem das Problem ein für allemal zu lösen wäre:

Da sagte Daniel zu dem Mann, der den Oberkämmerer als Aufseher (…) eingesetzt hatte: Versuch es doch einmal zehn Tage lang mit deinen Knechten! Lass uns nur pflanzliche Nahrung zu essen und Wasser zu trinken geben! Dann vergleiche unser Aussehen mit dem der jungen Leute, die von den Speisen des Königs essen. Je nachdem, was du dann siehst, verfahr’ weiter mit deinen Knechten! Der Aufseher nahm ihren Vorschlag an und machte mit ihnen die zehntägige Probe. Am Ende der zehn Tage sahen sie besser und wohlgenährter aus als all die jungen Leute, die von den Speisen des Königs aßen. Da ließ der Aufseher ihre Speisen beiseite und gab ihnenPflanzenkost.4

Es scheint naheliegend und verblüffend einfach, Patienten willkürlich in zwei Gruppen zu unterteilen, diese unterschiedlich zu behandeln und dann nach vorher genau festgelegten Kriterien auszuwerten, welche Behandlung die besseren Resultate erzielt hat. Daher verwundert es umso mehr, dass man diese Strategie lange Zeit nicht genutzt hat, um Therapien auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen. Bis weit ins 18. Jahrhundert entschied in erster Linie die Autorität des Lehrers oder der Schule über die Wertschätzung und den Einsatz einer Behandlung; eine empirische Überprüfung fand so gut wie nicht statt.5 Bezeichnenderweise hatte die Medizin bis ins 18. Jahrhundert einen höchst zweifelhaften Ruf. Ärzte wurden gern und oft zu Recht als sogenannte Quacksalber zur Zielscheibe von Spöttern. Sich einer Therapie zu unterziehen barg nicht selten größere Risiken als die Krankheit.6

Lange Zeit fehlten der Medizin also die geeigneten Instrumente, sich dem Phänomen Krebs in anderer als bloß spekulativer Weise zu nähern. Das begann sich erst Ende des 18. Jahrhunderts zu ändern. Wo finden wir nun die Spuren, die uns weiterführen könnten?

Eine erste Spur: Gift?

Eine erste zuverlässige Spur stammt aus England, genauer aus der Boomtown des späten 18. Jahrhunderts: London war damals das Herz des britischen Empire und die modernste Stadt der Welt. Das Empire war nach der Niederlage der spanischen Armada 1588 zur führenden Welt- und Seemacht aufgestiegen. Großbritannien löste die industrielle Revolution aus und führte sie an,7 und wie so oft in Perioden fieberhaften Wachstums lagen Glanz und Elend, Luxus und bittere Armut dicht nebeneinander. Der Reichtum war dem Leid zahlloser Unglücklicher zu verdanken.

Tausende rauchende Schlote der expandierenden Metropole mussten instand gehalten und gereinigt werden. Wer eignete sich besser, in die dunklen, schmutzigen und vor allem engen Löcher zu kriechen, als die Kinder der Armen? Meistens mussten Waisenkinder diese furchtbare Arbeit als chimney sweepers verrichten und bereits als Kleinkinder die rußigen Kamine unter Lebensgefahr reinigen. Ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren grauenhaft. Hunger und Kälte, Hitze und Schmutz waren sie in den Kaminen schutzlos ausgesetzt. Wegen der großen Hitze wurde diese Arbeit in den Kaminen oft nackt erledigt; unablässig beschmierten Teer und Ruß die Haut. Erst 1788 setzte man das Mindestalter für die chimney sweepers gesetzlich auf acht Jahre fest; vor dieser Regelung arbeiteten die winzigen Schornsteinfeger, noch bevor sie das Schulalter erreicht hatten.

Viele litten an einem nicht heilenden Geschwür im Genitalbereich, das im Volksmund »Ruß-Warze« genannt wurde. Medizinisch versorgt wurden sie fast nie, oder sie gerieten in die Fänge von Kurpfuschern. Wenige von ihnen hatten das Glück, von Koryphäen unter den Medizinern Londons behandelt zu werden. Mancher Chirurg, der in seiner Privatpraxis die Privilegierten der Hauptstadt empfing, kümmerte sich in öffentlichen Hospitälern um das Elend der Armen, ein Geschäft, das sich für Arzt und Arme als nützlich erwies. Die Ärzte erwarben den noblen Ruf der Nächstenliebe und eigneten sich bei dieser Gelegenheit ein umfassendes Praxiswissen an.

Eines der renommiertesten Mitglieder der medizinischen Royal Society Englands war Sir Percivall Pott (1714–1788), ein bedeutender Chirurg am Londoner St. Bartholomew’s Hospital. Er hatte zwar den Zenit seiner überaus erfolgreichen Laufbahn bereits überschritten, aber es gelang ihm 1775 mit der Veröffentlichung eines Aufsatzes mit einem langen, umständlichen Titel8 eine Sensation für die Krebsforschung, deren Bedeutung die Fachwelt erst später erkannte.

Bis dahin diagnostizierten Ärzte die »Ruß-Warze« als Geschlechtskrankheit. Pott aber schlug als einzige Möglichkeit, diese Wucherung erfolgreich zu behandeln, vor, sie mit einem raschen chirurgischen Eingriff zu entfernen. Andernfalls breite sich die Erkrankung über die Lymphbahnen im ganzen Körper aus. Wenn auch etwas verklausuliert, so hielt Pott diese ominöse Warze doch eindeutig für Krebs, und er war auch der erste, der den Ruß als Ursache für die Wucherung richtig erkannte. Dabei dürfte ihm kaum bewusst gewesen sein, dass er vermutlich zum ersten Mal die Hypothese vertreten, begründet und nachgewiesen hatte, Krebs könne durch eine schädigende Substanz von außen hervorgerufen werden, im weitesten Sinn also durch ein Gift. Hätte er sonst seine Theorie in einem großen Gemischtwarenladen weiterer medizinischer Beobachtungen versteckt?

Krebs des Hodensacks war im 19. Jahrhundert unter englischen Schornsteinfegern weit verbreitet. Seltsamerweise schien dieser Krebs in Deutschland und in den USA deutlich seltener als in England aufzutreten. Sir Henry Butlin, ein Kollege Potts, schickte seine Assistenten aufs Festland, sie sollten sich vor Ort kundig machen. Die Schornsteinfeger auf dem Kontinent und in den Vereinigten Staaten waren älter, trugen bessere Schutzkleidung und wuschen sich häufiger. Teer und Ruß schienen etwas zu enthalten, das bei Hautkontakt Krebs auslöste. Offensichtlich bestand eine enge Beziehung zwischen Dosis und Wirkung. Je ausgeprägter nämlich die britischen Schornsteinfeger Teer und Ruß ausgesetzt waren – medizinisch gesprochen: je höher die Exposition war –, desto größer war das Risiko, zu erkranken. Und tatsächlich bewiesen Mediziner um 1875, dass Teer und Paraffinöl aus Substanzen bestehen, die Krebs hervorrufen können. Die Beweisführung erfolgte diesmal jedoch genau umgekehrt: Versuchstiere, hauptsächlich Ratten, wurden an vorher bestimmten Hautstellen mit Teer bestrichen, und anschließend wurde beobachtet, ob Hauttumoren entstehen oder nicht. Dieses Experiment lieferte in der Tat das passende komplementäre Ergebnis zu den Alltagsbeobachtungen bei Schornsteinfegern. Viele Tiere entwickelten Tumoren an exponierten Stellen. Das Verfahren war so effizient, dass es zu einem der ersten Modelle weiterentwickelt wurde, mit denen man Krebs experimentell »produzieren«, also unter Laborbedingungen erzeugen konnte. Erstmals konnten Versuche mit Tumoren durchgeführt werden, die speziell dafür gezüchtet wurden.

Im Jahr 1907 war der Zusammenhang schließlich so weit anerkannt, dass die Hautkrebserkrankung in England im sogenannten Workmans Compensation Act als Berufskrankheit bei Schornsteinfegern anerkannt wurde.9 Mehr kann man kaum verlangen, um eine Theorie zu stützen: Eine gut dokumentierte Beobachtung liefert die Hypothese, die im Experiment schließlich vielfach bestätigt wurde.

Ist Krebs also tatsächlich eine »Vergiftung«? Entsteht er durch die Aufnahme von krebsverursachenden Substanzen (Kanzerogenen) aus der Umwelt? Obwohl Potts Kanzerogen-Hypothese die erste ernstzunehmende Theorie zur Krebsentstehung war, wurde es nach Potts Tod bis ins frühe 20. Jahrhundert merkwürdig still um die »Vergiftungs-Theorie«. Eindeutige Beweise für die Gefährlichkeit weiterer Substanzen oder für die Rolle von »Giften« bei der Entstehung anderer Formen von Krebs ließen auf sich warten.

In den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts rückte Krebs immer mehr ins Zentrum des medizinischen Interesses. Durch Hygiene und bessere Lebensbedingungen verloren in Europa und Nordamerika die Infektionskrankheiten ihren Schrecken, aber parallel dazu stiegen die Krebserkrankungen sprunghaft an. 1924 übertraf Krebs in den USA die Tuberkulose als Todesursache, 1934 war er nach den Herz-Kreislauf-Erkrankungen die zweithäufigste Todesursache überhaupt, und mittlerweile ist der Krebs in den USA dabei, auf Platz eins vorzurücken.

Dieser Befund ist eindeutig. Aber die Ursachen der »Krebsepidemie« lagen noch vollkommen im Dunkeln. Lässt man die damals kursierenden Hypothesen Revue passieren, springt sofort ins Auge, wie hilflos die Medizin im frühen 20. Jahrhundert im Trüben stocherte. Manche Wissenschaftler vertraten den Standpunkt, es handele sich um eine Spätfolge der schweren Influenza-Pandemie kurz nach dem Ersten Weltkrieg. Damals starben weltweit mehr Menschen an der Spanischen Grippe als während der gesamten Kriegszeit. Andere meinten, das rasch wachsende Netz asphaltierter Straßen sei schuld. Auch seriöse Mediziner schreckten nicht davor zurück, die Übervölkerung der Gewässer mit Forellen, die Übersäuerung des Blutes oder den zunehmenden Verzehr von Tomaten als Ursache für die Häufung der Krebserkrankungen verantwortlich zu machen. Keine auch nur annäherungsweise konsistente allgemeine Theorie des Krebses kristallisierte sich aus diesen Spekulationen heraus.

Ganz offensichtlich änderten sich zwischen 1850 und 1930 die Lebensbedingungen vor allem für die Bevölkerung der Groß- und Megastädte rapid. Binnen weniger Jahrzehnte katapultierte diese Periode viele Menschen vom Agrar- ins Industriezeitalter mit all seinen Vor- und Nachteilen. Die chemische Industrie wuchs rasant und ihr gelang es, viele neue Substanzen zu synthetisieren, die im vorindustriellen Zeitalter vollkommen unbekannt und 1930 überall in den Haushalten oder am Arbeitsplatz verbreitet waren. Aus heutiger Sicht kaum zu fassen, aber die These, Industriechemikalien könnten krebserregend sein, stieß bei den meisten Medizinern damals auf Unglauben. Inzwischen besteht im Gegenzug zu dieser Naivität eher die Neigung, alles, was in chemischen Anlagen an künstlichen Stoffen entwickelt wird, von vornherein unter Generalverdacht zu stellen.

An einem Spätnachmittag 1930 tauchte, aufgeregt und ohne Voranmeldung, Dr. George Gehrman im Büro von Wilhelm Hueper auf. Hueper war der damalige Direktor der Abteilung für Umweltmedizin am nationalen Krebsinstitut der USA. George Gehrman war der ärztliche Direktor des großen amerikanischen Chemiekonzerns Du Pont und musste Abbitte leisten. Schon Anfang 1930 hatte Hueper, als er das große Chemiewerk in Deepwater, New Jersey, besichtigte, darauf hingewiesen, es gebe aus Europa Hinweise, Anilinfarbstoffe könnten Krebs auslösen. Dr. Ellice McDonald, die Leiterin des Du Pont-Laboratoriums, hatte damals energisch bestritten, dass bei Du Pont jemals ein Problem mit Anilinfarbstoffen aufgefallen oder dass in den Werken eine auffällige Häufung von Krebsfällen beobachtet worden wäre.

Jetzt allerdings musste Gehrman eingestehen, dass von ein paar hundert von ihm untersuchten Arbeitern, die in der Farbenproduktion des Unternehmens tätig waren, immerhin 23 an Blasenkrebs erkrankt waren. Blasenkrebs ist keine allzu häufige Erkrankung; diese 23 Fälle konnten kein Zufall sein. Du Pont hatte im Jahr 1917 mit der Herstellung von Farben auf der Basis von sogenannten aromatischen Aminen (Anilinen) begonnen. Jetzt, nach über zehn Jahren Latenzzeit, schienen ungeahnte Folgen ans Tageslicht zu kommen. Das war umso peinlicher, als der Frankfurter Chirurg Ludwig Rehn einen möglichen Zusammenhang zwischen Blasenkrebs und Anilinfarbstoffen schon in den 1890er-Jahren vermutet und beschrieben hatte. Drei Fälle von Blasenkrebs in einer Fabrik mit lediglich 45 Mitarbeitern hatten Rehns Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Diese Fälle waren dort etwa 20 Jahre nach Beginn der Produktion von Anilinfarbstoffen aufgetreten.

Wilhelm Hueper war überzeugt, dass hier ein völlig neues Forschungsfeld eröffnet werden müsse. Im großen Stil wollte er sämtliche Industriechemikalien daraufhin überprüfen, ob auch andere Substanzen das Potential haben, Krebs auszulösen. Doch die Weltwirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten verhinderte Huepers großes Projekt. Kein Industrieunternehmen wollte unter solch schwierigen Umständen ein Forschungsprojekt finanzieren, das nicht nur Geld kosten würde, sondern auch den Absatz der eigenen Produkte ins Stocken bringen oder sogar verhindern könnte. Der zweite Grund, warum Hueper sich zunächst ins wissenschaftliche Abseits manövrierte, war 1934 seine Entscheidung, den Atlantik in der falschen Richtung zu überqueren, nachdem sein Projekt in den USA auf wenig Gegenliebe gestoßen war. Ausgerechnet in dieser Zeit, in der die Nationalsozialisten einem wesentlichen Teil der wissenschaftlichen Elite Deutschlands die Forschung und das eigene Überleben systematisch unmöglich machten und tausende Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler in die USA, nach Großbritannien, in die Schweiz, nach Frankreich und in andere Länder emigrierten, kam Hueper nach Deutschland. Bald ernüchtert kehrte er in die USA zurück und veröffentlichte 1942 sein Opus magnum, einen fast 1000 Seiten starken Katalog mit dem Titel »Occupational Tumor and allied Diseases«, in dem er Krebserkrankungen umfassend dokumentierte, die nach seiner Ansicht auf Industriechemikalien zurückgeführt werden konnten. Das Buch wurde von der internationalen Fachpresse entweder ignoriert oder verrissen.

Mittlerweile ist der Zusammenhang zwischen Anilinfarbstoffen und Blasenkrebs gut belegt, wissenschaftlich anerkannt und hat zu entsprechenden Vorschriften im Arbeitsschutz geführt. Industriechemikalien scheinen nicht der entscheidende Auslöser für die »Krebsepidemie« des 20. Jahrhunderts zu sein. Trotzdem scheint sich diese These inzwischen im kollektiven Bewusstsein festgesetzt zu haben.

Wie wir noch sehen werden, ist die Realität komplizierter. In der Praxis ist es ungemein schwierig, belastbare Hinweise zu finden, dass Industriechemikalien das Krebsrisiko erhöhen. Eindeutig nachgewiesen ist das Gefährdungspotential bei Substanzen wie Asbest, Vinylchlorid, Nitrosaminen oder Benzol. Daher dürften diese Stoffe nicht mehr produziert werden oder sind entsprechend strengen Grenzwerten unterworfen.

Paradoxerweise beruht aber gerade das stärkste Argument für die Vergiftungs-Hypothese nicht auf einem finsteren Erzeugnis der modernen chemischen Industrie. Es ist vollkommen unnötig und überflüssig, sich in unzählige weitere ermüdende Beweisverfahren gegen hunderte Industriechemikalien, die gefährlich sein könnten, zu verstricken. Der überzeugendste Beweis für die »Gift-Hypothese« und zumindest eine Teilerklärung für die geheimnisvolle Krebsepidemie im 20. Jahrhundert kommt aus einer ganz anderen Richtung. Bei diesem Hauptverdächtigen handelt es sich um ein Jahrhunderte altes und rein pflanzliches Genussmittel, das wir uns aktiv, bewusst und zumindest anfangs auch freiwillig zuführen – auch wenn mir scheint, dass die meisten Erstkonsumenten zumindest Opfer pubertärer peer-pressure sind. Viele gingen wohl auch den Trug- und Wunschbildern und dem kulturellen Überbau auf den Leim, den die Werbeindustrie mit unvorstellbaren Werbesummen ausgedacht, inszeniert und um dieses Produkt herum aufgebaut hat. Den bei Weitem überzeugendsten Kandidaten für die Gift-Hypothese kennt jeder. Es handelt sich um die Zigarette.

1,2 Milliarden Menschen, also mehr als ein Fünftel der Menschheit, setzen sich dieser Gefahr aktiv aus. Mittlerweise steht überall, wo es Zigaretten gibt, in jedem Supermarkt, in jedem Kiosk, an jeder Tankstelle, zu lesen: Rauchen verursacht Krebs! Und tatsächlich trifft diese Behauptung zu. Tabakrauch ist ein Gift-Cocktail, der sich aus mehreren tausend Einzelsubstanzen zusammensetzt, von denen mindestens 40 krebserregend sind.

Der Zigarettenkonsum (und in geringerem Maß auch alle anderen Formen des Tabakkonsums) fordern weltweit Millionen Tote. 1,2 Millionen Menschen sterben jedes Jahr allein an Lungenkrebs. 9 von 10 Lungenkrebsfällen werden durch Rauchen verursacht. Kein anderer Einzelfaktor trägt ähnlich signifikant zur Entstehung von Krebserkrankungen bei. Vermutlich sind sogar 30 Prozent aller Krebskrankheiten weltweit auf das Rauchen zurückzuführen. Rauchen erhöht nicht nur das Lungenkrebsrisiko, sondern auch das Risiko, an Tumoren des Mund- und Rachenraums, der Speiseröhre, des Magens, der Bauchspeicheldrüse, der Leber, der Nieren, des Harnleiters, der Blase, sogar an akuter myeloischer Leukämie zu erkranken.

Perfiderweise leiden nicht nur die Raucher. Schätzungen zufolge ging man bis zu dem Rauchverbot, das heute in allen öffentlichen Räumen inklusive der Gaststätten – bis auf wenige Ausnahmen – gilt, in der Bundesrepublik von 3000 Krebstoten pro Jahr durch Passivrauchen aus. Betroffen sind heute noch vor allem die Lebenspartner von Rauchern.10

Wie erfolgte die Beweisführung im Falle des Rauchens? Dieser aufschlussreiche Nachweis zeigt, wie wichtig und richtig die Vergiftungs-Hypothese ist, obwohl sie nicht ausreicht, um den grundlegenden Mechanismus zu verstehen, wie Krebs entsteht. Im 19. Jahrhundert trat der Lungenkrebs selten auf, nahm aber zwischen den Weltkriegen und in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts rasant zu. Der Befund war nicht von der Hand zu weisen, aber über die Ursachen für diese Epidemie wurde wild spekuliert.

Diesmal gelang es zwei Briten und einem Amerikaner, Licht ins Dunkel zu bringen. 1948 wurde der damals 36-jährige Richard Doll (1912–2005) aufgefordert, sich an einem Forschungsprojekt von Austin Bradford Hill (1897–1991), einem der führenden Medizinstatistiker der damaligen Zeit, zu beteiligen. Beide wollten herausfinden, warum sich in Großbritannien die Zahl der Lungenkrebsfälle zwischen 1927 und 1947 nahezu versechsfacht hatte. Verdächtige gab es Dutzende: Der wachsende Individualverkehr mit Autos und der Ausbau des asphaltierten Straßennetzes galten als die Kandidaten, die man rasch und sicher nachweisen zu können glaubte. Kein seriöser Wissenschaftler verschwendete auch nur einen Gedanken an das Rauchen.

Die Tabakpflanze ist seit Kolumbus in Europa bekannt. Die Seefahrer des 16. und 17. Jahrhunderts brachten sie in die Alte Welt mit. Bezeichnenderweise waren es die großen Kriege, vom Dreißigjährigen Krieg über die Feldzüge Napoleons bis hin zum Ersten Weltkrieg, die zur Verbreitung des Rauchens führten. Die Generäle schätzten Tabak, weil er Angst und Hunger unterdrückt. Lange Zeit sprach man dem Tabak sogar heilende Wirkungen zu; er schützte angeblich vor Infektionen, ja sogar Syphilis sollte sich damit heilen lassen.

Erst das industrialisierte Europa gab dem Tabak mit der Zigarette die Form, in der das Rauchen seit dem Ersten Weltkrieg seinen unseligen Siegeszug über den Globus antrat. Die Zigarette bringt zwei fatale Fakten mit sich: Sie ist billig, und sie wird (meistens) auf Lunge geraucht. Tabakrauch gelangte so erstmals in hoher Dosierung in die feinsten Verästelungen des menschlichen Bronchialbaums.

Als Richard Doll sich an die Arbeit machte, gab es in der medizinischen Fachliteratur nur äußerst spärliche Hinweise auf die Möglichkeit, dass Zigarettenrauch eine Rolle bei der Krebsentstehung spielen könnte. Er kannte wohl nur eine einzige Publikation zu diesem Thema. Diese Arbeit war 1939 von einem 25-jährigen Medizinstudenten namens Franz Hermann Müller in Köln veröffentlicht worden. Müller übersah zwar nur eine Gruppe von 86 Patienten, hatte aber mit dem ihm zur Verfügung stehenden »Material« etwas Neues versucht. Jedem der 86 an Lungenkrebs erkrankten Männer ordnete Müller einen gesunden Mann zu, der hinsichtlich aller wesentlichen Merkmale dem Erkrankten möglichst ähnlich war. Als er die Gruppe der Erkrankten mit der Kontrollgruppe der Gesunden verglich, stellte er fest, dass sich unter den Lungenkrebskranken 6 Mal so viele starke Raucher befanden als in der Gruppe der Gesunden. Ein solches Verfahren nennt man in der Statistik Matched-Pair-Analyse.

Tatsächlich wurde Müllers Arbeit zu einer der wissenschaftlichen Grundlagen der Anti-Raucher-Kampagne im NS-Deutschland. Die Abneigung der Nationalsozialisten gegen das Rauchen war vorwiegend ideologisch bedingt, aber nicht von harten Fakten getragen; tatsächlich war ausgerechnet das nationalsozialistische Deutschland das erste Land der Welt, das systematische Antiraucherkampagnen startete. Der Zweite Weltkrieg und die Nationalsozialisten selbst trugen dazu bei, dass die Ergebnisse der Kampagne außerhalb Deutschlands weder bekannt noch anerkannt oder populär wurden.11

So startete Doll seine Arbeit mit der idealen Gemütsverfassung für korrektes wissenschaftliches Arbeiten, nämlich ausgesprochen skeptisch gegenüber der eigenen Hypothese. Dass Rauchen irgendetwas mit der Lungenkrebsepidemie zu tun haben könnte, glaubte er nicht. Die nackten Zahlen seiner Forschungen belehrten ihn nach und nach eines Besseren.

Im Rahmen ihrer ersten Arbeit untersuchten Doll und Hill die Geschichte von 649 Patienten mit Lungenkrebs. Sie analysierten diese Gruppe mit Hilfe einer Strategie, die der von Müller sehr ähnlich war; allerdings bedienten sie sich eines deutlich raffinierteren statistischen Handwerkszeugs und waren von ihren Ergebnissen schlicht verblüfft. Wer unter den Patienten mehr als 25 Zigaretten am Tag rauchte, hatte ein 25 Mal höheres Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken, als die Nichtraucher, lautete das Fazit der Untersuchung. Kurz zuvor, im Mai 1950, hatte auf der anderen Seite des Atlantiks ein amerikanischer Arzt namens Ernst Wynder eine sehr ähnliche Studie mit 684 Patienten veröffentlicht, die zu demselben Ergebnis gelangte.12 Beide Arbeiten hinterließen im Bewusstsein der Öffentlichkeit seltsamerweise kaum Spuren. Sogar in den Kreisen der Spezialisten stießen sie zunächst vorwiegend auf Unglauben und Skepsis.

Ob eine Substanz krebsauslösend wirkt, kann man von zwei vollkommen unterschiedlichen Perspektiven zu beantworten versuchen: Man stellt die Situation im Labor experimentell nach oder überprüft die Wirklichkeit mit Hilfe der epidemiologischen Statistik.13 Experimentelle Strategien der Beweisführung gegen das Rauchen gab es zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichungen von Doll, Hill und Wynder noch nicht. Sie gingen das Problem daher anders an, nicht aus der Froschperspektive des Labors, sondern aus der Vogelperspektive der Feldstudie. Solche Untersuchungen sind das Geschäft der Epidemiologen. Sie beobachten echte Menschen im wirklichen Leben und versuchen mit statistischen Mitteln, das komplexe Geflecht von Ursachen, Kofaktoren, Epiphänomenen und Wirkungen zu entwirren.

Eine rückblickende Untersuchung von Menschen, die tatsächlich an Lungenkrebs erkrankt sind, in der Art, wie sie schon Franz Herrmann Müller und dann auch Doll, Hill und Wynder durchgeführt haben, birgt Tücken. Auch wenn Raucher viel häufiger an Lungenkrebs erkranken als Nichtraucher, ist damit nicht bewiesen, dass der Tabakkonsum tatsächlich die Ursache der Erkrankung ist. Das Mantra kluger und vorsichtiger Epidemiologien lautet: Koinzidenz ist nicht gleich Kausalität! Es wäre denkbar, dass eine vom Rauchen abhängige Co-Variable der wahre Schuldige ist. Es wäre möglich, dass sich Raucher im Durchschnitt schlechter ernähren, weniger bewegen, einen niedrigen sozio-ökonomischen Status haben … Eine solche versteckte Co-Variable könnte dem wahren Schuldigen durchaus als Tarnung und Mimikry dienen. Die Gefahr der Kontamination eines Ergebnisses durch versteckte Co-Variablen kann nie grundsätzlich ausgeschlossen werden. Sie kann aber minimiert werden, wenn man die Kriterien intelligent auswählt, die der Paarbildung einer retrospektiven Analyse zugrunde liegen, wodurch die schiere Größe der untersuchten Gruppen erheblich sinkt.

Nicht nur innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft herrschte zunächst Skepsis gegenüber den Schlussfolgerungen von Hill, Doll und Wynder. Auch außerhalb der Wissenschaft blies ihnen der Wind hart ins Gesicht, denn es ging schon damals um extrem viel Geld. Die Tabakindustrie fürchtete Milliardenverluste.

Um ihre Kritiker zu überzeugen, planten Doll und Hill daher einen völlig neuen und sehr aufwendigen Typ von Studie. Statt sich Erkrankte anzuschauen und zu versuchen, in deren Vergangenheit Spuren zu finden, planten sie eine große Bevölkerungsgruppe (noch) Gesunder prospektiv, das heißt in die Zukunft hinein, zu beobachten. Man wollte klären, ob starke Raucher im geplanten Beobachtungszeitraum häufiger an Krebs erkranken als vergleichbare Nichtraucher. Auch hier steckt noch ein kleiner Fehlerteufel in dem Wörtchen vergleichbar. Weil die beiden Wissenschaftler bei dieser Feldstudie eine ungleich größere Gruppe von Menschen beobachten wollten, stieg ihre Chance, zufällige Fehler durch versteckte systematische Unterschiede zwischen den Gruppen allein aufgrund der großen Zahl der Beobachteten eliminieren zu können.

Außerdem wählten sie ihre Untersuchungsgruppe äußerst geschickt. Sie planten, alle in Großbritannien praktizierenden Ärzte zu beobachten. Ärzte waren nicht nur gut zugänglich, sie waren in Bezug auf ihre Lebensbedingungen auch eine vergleichsweise homogene Gruppe von Personen, was die Gefahr von systematischen Fehlern zusätzlich verringerte. Über 40000 Ärzte nahmen an dieser Studie teil. Jede Krebserkrankung, jeder Todesfall und, soweit möglich, jede Todesursache wurden registriert. Eine erste Zwischenauswertung wurde bereits 1954 nach zweieinhalb Jahren vorgenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren von den 40