Kreutzersonate - Leo Tolstoi - E-Book

Kreutzersonate E-Book

Leo Tolstoi

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Beschreibung

Tolstois Skandalwerk

Auf einer nächtlichen Zugreise treffen die unterschiedlichsten Fahrgäste aufeinander. Zwischen ihnen entspinnt sich eine angeregte Diskussion über Liebe und Ehe, Moral und Gesellschaft – und über dunkle Geheimnisse. Ermutigt von den persönlichen Geschichten legt der ehemalige Gutsbesitzer Posdnyschew ein schockierendes Geständnis ab: Getrieben von maßloser Eifersucht bezichtigte er seine Frau der Untreue und sah keinen anderen Ausweg, als eine schreckliche Tat zu begehen …

Leo Tolstois Novelle wurde zu einem Skandal, da er mit seiner Darstellung von Sexualität ein Tabu der prüden Literatur des 19. Jahrhunderts brach.

PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. – Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022

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Seitenzahl: 178

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Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig. Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.

Leo Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910) entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Nach ausgedehnten Reisen durch Europa heiratete er 1862 die sechzehn Jahre jüngere Sofja Behrs. Das Paar zog sich nach Jasnaja Poljana zurück, wo Tolstoi seine großen Romane schrieb, die ihn weltberühmt machten: Krieg und Frieden (1868 / 69) und Anna Karenina (1877 / 78).

«Tolstoi mischt in seiner meisterhaft komponierten Erzählung psychologisch subtil gestaltete menschliche Dramen mit moralisch-sozialkritischen Traktaten.» NDR

«Ein klassisches Eifersuchtsdrama aus dem zaristischen Russland.» Heidenheimer Zeitung

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Leo Tolstoi

KREUTZERSONATE

Novelle

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja

Mit einem Nachwort von Olga Martynova

Die Originalausgabe erschien

unter dem Titel Krejcerova sonata.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Manesse Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen Penguin Classics Triband-Optik aus England

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-26846-6V001

www.penguin-verlag.de

Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

(Matthäus 5, 28)

Da sprachen die Jünger zu ihm: Steht die Sache eines Mannes mit seinem Weibe also, so ist’s nicht gut, ehelich zu werden. Er sprach aber zu ihnen: Das Wort fasst nicht jedermann, sondern denen es gegeben ist. Denn es sind etliche verschnitten, die sind aus Mutterleibe also geboren; (…) und sind etliche verschnitten, die sich selbst verschnitten haben um des Himmelreichs willen. Wer es fassen kann, der fasse es!1

(Matthäus 19, 10–12)

I

Es war im Vorfrühling. Wir waren den zweiten Tag unterwegs. Passagiere, die kürzere Strecken fuhren, betraten und verließen den Waggon, drei aber fuhren wie ich schon seit dem Ausgangsbahnhof mit: eine hässliche, nicht mehr junge, zigarettenrauchende Dame mit erschöpftem Gesicht, in einer Art Herren-Paletot und Pelzkappe, ihr Bekannter, ein redseliger Mann um die vierzig in tadellosen neuen Kleidern, und, etwas abseits von den anderen, ein eher kleiner, fahrig wirkender Herr, noch nicht alt, doch mit offenbar vor der Zeit ergrautem lockigem Haar und ungewöhnlich glänzenden Augen, die schnell von einem Gegenstand zum anderen huschten. Er trug einen alten, von einem teuren Schneider gearbeiteten Mantel mit Persianerkragen und eine hohe Persianermütze. Wenn er den Mantel aufknöpfte, kamen darunter eine seitlich geschlossene Weste und ein besticktes Bauernhemd zum Vorschein. Auffällig an ihm war auch, dass er ab und zu seltsame Geräusche von sich gab, die wie Räuspern oder wie ein aufkommendes und wieder abgebrochenes Gelächter klangen.

Dieser Herr vermied es die ganze Fahrt über sorgfältig, mit den Mitreisenden ins Gespräch zu kommen und ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn seine Sitznachbarn ihn ansprachen, antwortete er kurz und schroff, er las oder rauchte und sah dabei aus dem Fenster, oder er holte aus einem alten Reisesack seinen Proviant hervor und trank Tee oder aß etwas.

Mir schien es, als leide er unter seiner Einsamkeit, und ich wollte ihn mehrere Male ansprechen, doch sooft unsere Blicke sich trafen, was häufig geschah, da wir einander schräg gegenübersaßen, wandte er sich ab, nahm ein Buch zur Hand oder sah aus dem Fenster. Als unser Zug gegen Abend des zweiten Tages an einem großen Bahnhof hielt, ging er heißes Wasser holen und kochte sich Tee. Der Mann mit den tadellosen neuen Kleidern, ein Rechtsanwalt, wie ich später erfuhr, ging mit seiner Begleiterin, der rauchenden Dame im Quasi-Herrenmantel, im Bahnhof Tee trinken.

In ihrer Abwesenheit stiegen einige neue Personen in den Wagen ein, darunter ein hochgewachsener, glatt rasierter, runzliger Alter, offenbar Kaufmann, der einen Iltispelz und eine Stoffmütze mit riesigem Schirm trug. Der Kaufmann setzte sich auf den Platz gegenüber jenem der Dame und des Anwalts und begann sofort eine Unterhaltung mit einem jungen Mann, allem Anschein nach einem Kaufmannsgehilfen, der ebenfalls neu zugestiegen war.

Ich saß schräg gegenüber, und weil der Zug stand, konnte ich in den Momenten, da niemand vorbeiging, bruchstückhaft ihre Unterhaltung hören. Der Kaufmann verkündete zunächst, er fahre auf sein Gut, das nur eine Station entfernt liege; dann kam das Gespräch wie immer zuerst auf Preise und Geschäftliches, wie immer sprachen sie darüber, wie in Moskau zurzeit das Geschäft gehe, und über die Messe in Nishni Nowgorod2. Der Kommis erzählte, was für Gelage irgendein beiden bekannter reicher Kaufmann anlässlich der Messe veranstaltet hatte, doch der Alte ließ ihn nicht ausreden, sondern begann seinerseits von Gelagen in Kunawino zu erzählen, bei denen er früher dabei gewesen war. Er war offenbar stolz darauf und erzählte mit sichtlicher Freude, wie ebenjener Bekannte und er damals einmal in betrunkenem Zustand einen solchen Streich ausgeheckt hätten, dass man gar nicht laut davon erzählen könne, worauf der Kommis so schallend lachte, dass man es im ganzen Wagen hörte, und auch der Alte lachte und bleckte dabei zwei gelbe Zähne.

Da ich mir hier weiter nichts Interessantes erwartete, beschloss ich, bis zur Abfahrt auf dem Bahnsteig auf und ab zu spazieren. In der Tür begegneten mir der Anwalt und die Dame, die sich im Gehen angeregt unterhielten.

«Sie sind zu spät», sagte der gesprächige Anwalt zu mir, «gleich wird es zum zweiten Mal klingeln.»

Und tatsächlich war ich nicht einmal bis zum Ende des Zuges gegangen, da ertönte schon das Klingelzeichen. Bei meiner Rückkehr fand ich die Dame und den Anwalt noch immer in angeregter Unterhaltung. Der alte Kaufmann saß ihnen schweigend gegenüber, blickte streng vor sich hin und mahlte ab und zu missbilligend mit dem Kiefer.

«Und dann hat sie ihrem Gatten rundheraus erklärt», sagte der Anwalt lächelnd, während ich an ihm vorüberging, «sie könne und wolle nicht mehr mit ihm leben, denn …»

Er erzählte weiter, aber ich verstand nicht mehr, was er sagte. Nach mir kamen noch andere Passagiere in den Wagen, der Schaffner ging vorbei, ein Eisenbahnarbeiter stürmte herein, und es war recht lange so laut, dass die Unterhaltung übertönt wurde. Als der Lärm sich legte und ich die Stimme des Anwalts wieder hörte, war das Gespräch von einem Einzelfall offenbar zu allgemeinen Erwägungen übergegangen. Der Anwalt sprach davon, wie die Frage der Ehescheidung derzeit die europäische Öffentlichkeit beschäftige und dass es auch bei uns immer häufiger solche Fälle gebe. Als er bemerkte, dass nur noch seine Stimme zu hören war, unterbrach er seine Rede und wandte sich an den Alten: «Früher hat es so etwas nicht gegeben, nicht wahr?», sagte er mit einem liebenswürdigen Lächeln. Der Alte wollte etwas antworten, doch in diesem Moment setzte der Zug sich in Bewegung; der Alte nahm seine Mütze ab, begann sich zu bekreuzigen und im Flüsterton zu beten. Der Anwalt wandte den Blick ab und wartete höflich. Als der Alte sein Gebet beendet und sich dreimal bekreuzigt hatte, setzte er die Mütze wieder auf, zog sie tief in die Stirn, richtete sich auf und begann zu sprechen: «Gegeben hat es das auch früher, gnädiger Herr, nur weniger», sagte er. «Aber heutzutage ist es kein Wunder. Gar zu gebildet sind die Leute geworden.»

Der Zug nahm Fahrt auf und donnerte über die Gleisschwellen, ich hatte Mühe zu verstehen, war aber interessiert, darum rückte ich näher. Auch mein Nachbar, der nervöse Herr mit den glänzenden Augen, war offensichtlich aufmerksam geworden und lauschte von seinem Platz aus.

«Was haben Sie denn gegen Bildung einzuwenden?», sagte die Dame mit kaum merklichem Lächeln. «Ist es etwa besser, wie früher zu heiraten, als Bräutigam und Braut einander vorher nicht einmal kannten?», fuhr sie fort, nach der Gewohnheit vieler Damen nicht auf die Worte ihres Gegenübers antwortend, sondern auf die, von denen sie glaubte, dass er sie sagen würde.

«Einfach irgendwen heiraten, ohne zu wissen, ob man sich liebt oder lieben kann, und sich dann ein Leben lang quälen, finden Sie das besser?», sagte sie und wandte sich dabei offensichtlich an den Anwalt und an mich, keineswegs aber an den Alten, mit dem sie sprach.

«Gar zu gebildet sind die Leute geworden», wiederholte der Kaufmann mit verächtlichem Blick auf die Dame, ohne ihre Frage zu beantworten.

«Man wüsste gern, wie Sie den Zusammenhang von Bildung und Unfrieden in der Ehe erklären», sagte der Anwalt und lächelte kaum merklich.

Der Kaufmann wollte etwas sagen, doch die Dame fiel ihm ins Wort. «O nein, diese Zeiten sind vorbei», sagte sie. Aber der Anwalt bremste sie: «Warten Sie, lassen Sie den Herrn erst seinen Gedanken formulieren.»

«Nichts als Dummheiten bringt diese Bildung», sagte der Alte entschieden.

«Man verheiratet Leute, die sich nicht lieben, und dann wundert man sich, dass sie nicht miteinander auskommen», warf die Dame rasch ein und sah dabei den Anwalt und mich und sogar den Kommis an, der von seinem Sitz aufgestanden war und nun, auf die Rückenlehne gestützt, lächelnd der Unterhaltung lauschte.

«Tiere kann man paaren, wie ihr Besitzer es will, aber Menschen haben ihre eigenen Neigungen und Sympathien», sagte sie, offensichtlich um den Kaufmann zu kränken.

«So soll man nicht reden, gnädige Frau, Tiere sind Vieh, aber dem Menschen ist ein Gesetz gegeben.»

«Aber wie soll man denn mit einem Menschen leben, wenn keine Liebe da ist?», beeilte sich die Dame, weiter ihre Ansichten vorzutragen, die ihr wahrscheinlich sehr originell vorkamen.

«Danach hat man früher nicht gefragt», entgegnete der Alte mit Nachdruck, «das ist etwas Neues. Sobald der Frau etwas nicht passt, sagt sie gleich: ‹Ich gehe.› Sogar bei den Bauern ist das jetzt Mode. ‹Da›, sagt sie, ‹da hast du deine Hemden und Fußlappen, ich gehe zu Wanja, der hat mehr Locken als du.› Was soll man dazu sagen. Fürchten soll sich die Frau, darauf kommt es an.»

Der Kommis sah erst den Anwalt, dann die Dame und dann mich an, er unterdrückte ein Lächeln, jederzeit bereit, über die Worte des Kaufmanns zu lachen oder sie gutzuheißen, je nachdem, wie sie aufgenommen würden.

«Wovor denn fürchten?», sagte die Dame.

«Wovor? Das Weib aber fürchte den Mann!3 So soll es sein.»

«O nein – diese Zeiten sind vorbei, guter Mann», sagte die Dame, nun schon etwas erbost.

«Diese Zeiten können gar nicht vorbei sein, gnädige Frau. Eva wurde aus einer Rippe des Mannes erschaffen, und daran ändert sich bis ans Ende der Zeit nichts mehr», sagte der Alte und warf dabei so streng und siegessicher den Kopf zurück, dass der Kommis sofort beschloss, der Kaufmann habe gewonnen, und laut loslachte.

«Das sind nur die Männer, die so denken», beharrte die Dame mit einem Seitenblick auf uns, «für sich beanspruchen sie Freiheit, aber die Frauen wollen sie in ihre Gemächer einsperren. Sich selbst erlauben Sie doch alles.»

«Erlauben tut niemand etwas, nur schleppt der Mann nichts ins Haus; die Frau aber – das Weib ist ein schwaches Gefäß4», fuhr der Kaufmann fort.

Sein Nachdruck wirkte sichtlich überzeugend auf die Zuhörer; sogar die Dame spürte, dass sie ihm unterlegen war, gab jedoch noch nicht auf.

«Aber Sie werden mir wohl zustimmen, dass eine Frau ein Mensch ist und ebenso Gefühle hat wie ein Mann. Was soll sie denn tun, wenn sie ihren Mann nicht liebt?»

Der Kaufmann runzelte die Stirn und verzog den Mund. «Wenn sie ihn nicht liebt!», wiederholte er grimmig. «Dann wird sie ihn schon lieben lernen!»

Dieses überraschende Argument gefiel dem Kommis ganz besonders, er gab einen zustimmenden Laut von sich.

«Aber nein, das wird sie nicht», widersprach die Dame, «und wo keine Liebe ist, kann man sie auch nicht erzwingen.»

«Und wenn die Frau den Mann betrügt, was ist dann?», sagte der Anwalt.

«Das darf nicht sein», sagte der Alte, «da muss man aufpassen.»

«Wenn es aber doch passiert, was ist dann? Es kommt schließlich vor.»

«Es mag schon vorkommen, aber nicht bei uns», sagte der Alte. Alle schwiegen. Der Kommis regte sich, offenbar wollte er auch etwas beitragen. Er rückte noch etwas näher und begann lächelnd: «Bei uns, mit Verlaub, gab es auch einen tüchtigen Burschen, dem ist auch so ein Skandal passiert. Auch wieder schwer zu beurteilen. Ein liederliches Weib war das, an das er geraten ist. Eines Tages fing sie an, über die Stränge zu schlagen. Der Mann ist ein ernsthafter Bursche, mit Bildung. Aber sie – erst tut sie dem Schreiber schön. Er versucht noch, ihr gut zuzureden. Sie lässt nicht nach. Eine Gemeinheit nach der anderen tut sie ihm an. Fängt an, ihm Geld zu stehlen. Also hat er sie geschlagen. Aber es wurde immer schlimmer mit ihr. Mit einem Ungetauften, einem Juden, mit Verlaub, hat sie sich eingelassen. Was hätte er tun sollen? Schließlich hat er sie verlassen. Jetzt lebt er allein, und sie treibt sich herum.»

«Weil er ein Dummkopf ist», sagte der Alte. «Hätte er ihr am Anfang nicht die Zügel schießen lassen, sondern sie recht an die Kandare genommen, dann wäre sie jetzt noch da. Man darf ihnen erst gar keine Freiheit geben. Trau keinem Pferd auf dem Feld und keiner Frau im Haus.»

In diesem Moment kam der Schaffner und sammelte die Fahrkarten bis zur nächsten Station ein.

Der Alte gab ihm seine Fahrkarte. «Jawohl, rechtzeitig kurzhalten muss man das Weibergeschlecht, sonst ist alles verloren.»

«Aber Sie haben doch selbst eben noch von verheirateten Männern erzählt, die sich während der Messe in Kunawino vergnügen?», platzte ich heraus.

«Das ist etwas anderes», sagte der Kaufmann und versank in Schweigen.

Beim ersten Pfeifen stand er auf und holte seinen Reisesack unter der Bank hervor, hüllte sich in seinen Mantel, lüpfte die Mütze und ging hinaus auf die Bremsplattform.

II

Kaum war der Alte gegangen, erhoben sich mehrere Stimmen gleichzeitig.

«Da geht sie hin, die alte Zeit», sagte der Kommis.

«Das leibhaftige Mittelalter», sagte die Dame. «Was für absurde Vorstellungen von Frauen und Ehe!»

«Nun ja, von der europäischen Auffassung der Ehe sind wir noch weit entfernt», sagte der Anwalt.

«Was diese Leute vor allem nicht verstehen», sagte die Dame, «ist, dass eine Ehe ohne Liebe keine Ehe ist, dass nur die Liebe die Ehe heiligt und dass nur die von der Liebe geheiligte Ehe eine wahrhafte Ehe ist.»

Der Kommis hörte lächelnd zu, er wollte sich möglichst viel von den klugen Reden zur weiteren Verwendung merken.

Noch während die Dame sprach, ertönte hinter mir ein Geräusch wie von einem erstickten Lachen oder Schluchzen, und als wir uns umwandten, sahen wir meinen Nachbarn, den einsamen grauhaarigen Herrn mit den glänzenden Augen, der, offenbar an der Unterhaltung interessiert, unbemerkt zu uns herübergekommen war. Er stand hinter einem Sitz, die Hände auf die Lehne gestützt, und wirkte sehr erregt: Sein Gesicht war rot, ein Wangenmuskel zuckte. «Was ist das denn für eine – Liebe – Liebe – die die Ehe heiligt?», sagte er stockend.

Die Dame sah, wie aufgewühlt er war, und bemühte sich, ihm möglichst freundlich und ernsthaft zu antworten. «Die wahre Liebe … Wenn Mann und Frau durch wahre Liebe verbunden sind, dann ist eine Ehe möglich.»

«Ja, aber was heißt das, wahre Liebe?», sagte der Herr mit den glänzenden Augen schüchtern und lächelte verlegen.

«Was Liebe ist, weiß doch jeder», sagte die Dame, die das Gespräch mit ihm offenbar zu beenden wünschte.

«Ich weiß es nicht», sagte der Herr. «Das muss man erst definieren, was Sie darunter …»

«Nun, ganz einfach», sagte die Dame, wurde dann aber nachdenklich. «Die Liebe? Die Liebe, das ist, wenn man eine oder einen Einzelnen allen anderen Menschen vorzieht.»

«Vorzieht – für wie lange? Einen Monat? Zwei Tage, eine halbe Stunde?» Der grauhaarige Herr lachte.

«Erlauben Sie, mir scheint, Sie sprechen von etwas anderem.»

«Nein, mit Verlaub, ich spreche genau davon.»

«Die Dame meint», schaltete der Anwalt sich ein, «dass die Ehe erstens aus einer Neigung hervorgehen soll, aus Liebe, wenn Sie so wollen, und nur wenn eine solche vorhanden ist, stellt die Ehe etwas Heiliges dar. Und dass zweitens eine Ehe, die nicht auf einer natürlichen Neigung basiert – auf Liebe, wenn Sie so wollen –, nichts moralisch Verbindliches an sich hat. Verstehe ich es richtig?», wandte er sich an die Dame.

Sie deutete mit einer Kopfbewegung an, dass sie mit der Erläuterung ihres Gedankens einverstanden war.

«Des Weiteren …», fuhr der Anwalt fort, doch der nervöse Herr, dessen Augen inzwischen lichterloh brannten, hatte sich offensichtlich nur mühsam zurückgehalten und fiel dem Anwalt nun ins Wort: «Nein, eben davon spreche ich auch, dass man eine oder einen Einzelnen allen anderen vorzieht, ich frage nur: für wie lange?»

«Für wie lange? Nun, lange, manchmal ein Leben lang», sagte die Dame achselzuckend.

«Aber das gibt es doch nur in Romanen, nicht im Leben. Im Leben dauert diese Bevorzugung eines Einzelnen vielleicht ein paar Jahre, und auch das ist selten, häufiger sind es Monate oder auch Wochen, Tage, Stunden», sagte er, und das Erstaunen, das er mit seiner Auffassung erregte, war ihm offensichtlich bewusst und durchaus willkommen.

«Wie können Sie! Aber nein! Erlauben Sie», begannen wir alle drei gleichzeitig. Sogar der Kommis gab einen missbilligenden Laut von sich.

«Ja, ich weiß», übertönte uns der grauhaarige Herr, «die Herrschaften sprechen von etwas, wovon man annimmt, dass es existiert, ich hingegen spreche von dem, was ist. Das, was Sie Liebe nennen, empfindet jeder Mann für jede schöne Frau.»

«Das ist ja grässlich, was Sie da sagen! Aber es gibt doch dieses Gefühl zwischen Menschen, das man Liebe nennt und das einem nicht nur für Monate oder Jahre, sondern für ein ganzes Leben geschenkt wird?»

«Nein. Selbst angenommen, ein Mann würde sein Leben lang eine bestimmte Frau vorziehen, dann würde die Frau aller Wahrscheinlichkeit nach einen anderen vorziehen – so ist die Welt, und so war sie schon immer», sagte er, holte ein Zigarettenetui hervor und zündete sich eine Zigarette an.

«Und doch gibt es auch eine Gegenseitigkeit der Gefühle», sagte der Anwalt.

«Nein, die gibt es nicht», widersprach er, «genauso wenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen können. Und abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, kommt hier auch noch die Übersättigung ins Spiel. Sein Leben lang eine Einzige oder einen Einzigen lieben – ebenso gut könnte man behaupten, dass eine einzige Kerze ein Leben lang brennt», sagte er und sog gierig den Rauch ein.

«Aber Sie sprechen die ganze Zeit nur von der körperlichen Liebe. Glauben Sie etwa nicht, dass es auch eine Liebe gibt, die auf gemeinsamen Idealen beruht, auf einer geistigen Verwandtschaft?», fragte die Dame.

«Geistige Verwandtschaft! Gemeinsame Ideale!», wiederholte er und machte sein charakteristisches Geräusch. «Dann gibt es aber keinen Grund, pardon, zusammen zu schlafen. Wie die Dinge liegen, gehen die Leute nämlich miteinander ins Bett wegen ihrer gemeinsamen Ideale», sagte er und lachte nervös.

«Erlauben Sie», sagte der Anwalt, «aber die Fakten sprechen gegen Ihre Auffassung. Wir sehen, dass die Ehe existiert, dass sie von der gesamten Menschheit oder deren größtem Teil praktiziert wird und dass viele Menschen ein langes, treues Eheleben führen.»

Wieder lachte der grauhaarige Herr auf. «Erst sagen Sie, dass die Ehe auf der Liebe gründet, wenn ich aber bezweifle, dass es eine andere als die sinnliche Liebe gibt, wollen Sie mir deren Existenz damit beweisen, dass es Ehen gibt. Heutzutage ist die Ehe doch nur noch ein Betrug!»

«Mit Verlaub», sagte der Anwalt, «ich behaupte nur, dass Ehen existiert haben und auch weiter existieren werden.»

«Richtig. Aber warum? Sie haben existiert und existieren weiter bei Menschen, die in der Ehe etwas Mystisches sehen, ein Sakrament, das sie vor Gott verpflichtet. Bei solchen Menschen gibt es Ehen, bei uns nicht. Bei uns heiraten Menschen, für die die Ehe nur im Beischlaf besteht, und die Folge ist entweder Betrug oder Gewalt. Der Betrug lässt sich noch leichter ertragen. Mann und Frau tun nur vor der Außenwelt so, als lebten sie monogam, tatsächlich aber treiben sie Vielweiberei und Vielmännerei. Das ist scheußlich, aber noch nicht das Schlimmste – wenn sich jedoch Mann und Frau, wie es meistens geschieht, nach außen hin verpflichten, ihr ganzes Leben gemeinsam zu verbringen, einander aber schon vom zweiten Monat an hassen, wenn sie sich trennen möchten und doch zusammenbleiben, dann ist das Ergebnis die Hölle, jene Hölle, der zu entkommen Menschen sich um den Verstand trinken, sich duellieren, sich selbst oder den anderen umbringen und vergiften.» Er sprach immer schneller, ließ niemanden mehr zu Wort kommen und geriet zunehmend in Rage. Alle schwiegen. Es war peinlich.

«Zweifellos gibt es kritische Episoden im Eheleben», sagte der Anwalt, der dem ungebührlich erhitzten Gespräch ein Ende machen wollte.

«Wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin?», sagte der grauhaarige Herr leise und scheinbar wieder ruhig.

«Nein, ich habe nicht das Vergnügen.»

«Ein zweifelhaftes Vergnügen. Posdnyschew ist mein Name. Ja, ebender Posdnyschew, dem die bewusste kritische Episode zugestoßen ist, auf die Sie anspielen, die Episode nämlich, dass er seine Frau umgebracht hat», sagte er und musterte rasch jeden Einzelnen von uns. Keiner wusste etwas zu sagen, alle schwiegen.

«Nun, egal», sagte er und machte wieder sein Geräusch. «Oder vielmehr, verzeihen Sie! Ach! … Ich will Sie nicht belästigen.»

«Aber nein, ich bitte Sie», sagte der Anwalt, ohne selbst zu wissen, worum er eigentlich bat.