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Der Journalist Tom Geyer wird nach einem persönlichen Schicksalsschlag zu einer Reportage über eine Kreuzfahrt nach Südostasien geschickt. Was als Urlaubstrip beginnt, entwickelt sich schnell zu einer Katastrophe, denn skrupellose Verbrecher haben mehrere Bomben an Bord versteckt. Die Reederei will das geforderte Lösegeld zahlen. Doch haben die Entführer wirklich vor, die über 2000 Gäste und 600 Mann Besatzung lebend davonkommen zu lassen? Als die übliche Maschinerie anspringt und in Deutschland Polizei und GSG-9 auf den Plan treten, beginnt im Südchinesischen Meer ein Nervenkrieg zwischen Entführern und Verfolgern — und wenn man sich mit moderner Schiffsüberwachungstechnik auskennt, ist es sogar möglich, mit einem ganzen Kreuzfahrtschiff zu verschwinden. Den Einsatzkräften in Deutschland wird schnell klar, dass die Möglichkeit, das gesamte Schiff mit allen 2.600 Menschen an Bord zu verlieren, real im Raum steht.
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Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2018
Jürgen Neff
KREUZFAHRT AM ABGRUND
Thriller
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright: © 2018: Jürgen Neff
Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Umschlag & Satz: Erik Kinting
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
978-3-7469-8015-7 (Paperback)
978-3-7469-8016-4 (Hardcover)
978-3-7469-8017-1 (e-Book)
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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Für meine Familie,für Sarah, Thomas und Hartmut
Der Autor
Jürgen Neff studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, arbeitete einige Jahre am Theater und schrieb mehrere Theaterstücke. Dann fuhr er über zehn Jahre auf Kreuzfahrtschiffen zur See. Heute coacht und trainiert er u. a. Schiffspersonal, Seefahrer und Piloten in Resilienz, Kommunikation und Crew-Ressource-Management.
Die Schreiblust hat ihn nun auch in das Thrillergenre gelockt: In seinem ersten Roman lässt er die Albträume eines Kreuzfahrers wahr werden.
Prolog
Kein Halt – nichts!
Er versuchte, etwas zu ergreifen. Irgendwas!
Nur geiferndes Wasser; dieselnd und alt.
Und schleimige tote Wände.
Er trat, er schlug um sich … gelangte zurück an die Oberfläche, holte Luft, um nach Hilfe zu brüllen.
Doch die beißende Brühe schnappte schon wieder zu, brach über ihn herein und kein einziger Laut drang aus seinem öligen Mund. Ein brennender Schluck lief ihm die Kehle hinab.
Gurgelnd ging er wieder unter, tastete verzweifelt an den gleichgültigen Mauern nach etwas, an dem er sich festkrallen konnte: ein Vorsprung, ein Riss!
Nichts! Nur schlierige kalte Glätte.
Tiefer und tiefer sank er hinab.
Und das gütige Licht von dort oben wurde schwächer und immer schwächer.
Kapitel I
Die Motoren der GCL SOLARIA arbeiteten mit halber Kraft und legten einen sanften und beruhigenden Ton über das verlassene Deck des Schiffes. Ein rosa Schleier der beginnenden Abenddämmerung wob über der Meeresoberfläche. Hand in Hand spazierten Nicole und Philip versonnen auf dem Promenadendeck rund um das Schiff der GERMAN CRUISE LINES. Gedämpfte Klänge aus dem Theater waren zu hören, das sich einige Decks weiter oben befand und in dem gerade Führungsoffiziere des Kreuzfahrtschiffes vorgestellt wurden. Ein Spektakel, das sich außer dem jungen Paar fast niemand der Urlaubsgäste entgehen lassen wollte.
Gemeinsam mit über zweitausend Passagieren und sechshundert Besatzungsmitgliedern befanden sie sich auf Kurs durch den Golf von Thailand. Eine traumhafte Route erwartete sie in den nächsten vierzehn Tagen: Start der Weihnachtsreise war in Laem Chabang, in der Nähe von Bangkok, wo die Gäste gestern, am 23. Dezember, per Flugzeug aus dem verschneiten Europa angereist waren und morgens ihre Kabinen bezogen hatten. Viele hatten sich dann sofort aufgemacht, um die thailändische Hauptstadt zu erkunden, andere waren lieber auf dem Schiff geblieben, um sich zu akklimatisieren und an die schwüle asiatische Hitze zu gewöhnen.
Heute, am Heiligen Abend, hatten sie dann nachmittags abgelegt und Kurs auf Koh Samui genommen, die thailändische Trauminsel mit ihren weißen Sandstränden, dem türkisfarbenen Meer und den hohen Kokospalmen. Die nächsten Stationen waren Penang, Brunei und Kuala Lumpur in Malaysia, dann die Weltmetropole Singapur, wo das Schiff über Nacht liegen sollte, um ihnen die Möglichkeit zu geben, diese außergewöhnliche Stadt ausführlich zu genießen, bevor es dann über Ho-Chi-Minh-Stadt wieder zurück nach Laem Chabang ging.
Fast dreißig Grad Celsius und ein sternenklarer Himmel versprachen eine unvergessliche Reise fern des deutschen Weihnachtstrubels. Überall auf dem Schiff waren bunt geschmückte Weihnachtsbäume verteilt, das Mittagessen war wundervoll gewesen, mit einem festlichen Buffet, Tannenzweigen und Plätzchen. Jetzt am Abend gab es ein wenig Seegang, den die Stabilisatoren der SOLARIA jedoch komfortabel ausglichen.
Gedankenverloren schlenderten Nicole und Philipp unter den Rettungsboten entlang in Richtung Schiffsspitze. An der Rezeption war, wie sie durch die Fenster erkennen konnten, außer einer Angestellten keine Menschenseele zu sehen. Anscheinend waren sie die Einzigen, die die ruhige Abendstimmung dem Trubel im Theater vorzogen.
Alles stimmte: Die laue Luft, die jetzt, als die Sonne in einem wundervollen Abendrot ins Meer versank, langsam abkühlte, das gleichmäßige Rauschen der See, die querliegende Mondsichel umringt von den ersten Sternen, die sich nun immer deutlicher am Firmament abzeichneten … Heiligabend. Seit Stunden hatte Philipp auf diesen Moment gewartet. Gleich war es soweit, wenn sie beide vorn am Bug des Schiffes angekommen waren …
***
Zur selben Zeit schlug einige Decks weiter oben eine metallene Sicherheitstür gegen die Bordwand. Robert Fielmann schleppte sich blutend über das verlassene Pooldeck zur Reling und griff nach der Tür, doch es gelang ihm nur halb, denn seine rechte Hand fehlte. Er beugte sich über die Brüstung, hörte durch den Schleier des Schmerzes die Bugwellen in fast dreißig Metern Tiefe klagen, dann versagten seine Beine und er ging in die Knie. Sein Herz raste, sein Bewusstsein bestand einzig aus Schmerz und Todesangst.
Mit der noch intakten Hand versuchte er, sich wieder hochzuziehen, war aber zu schwach. Er blickte sich um und die Gestalt in dem blauen Arbeitsanzug trat hinter ihn. Er wollte schreien, nach Hilfe rufen, doch nur ein tonloses Röcheln drang aus seiner trockenen Kehle.
Umweltoffizier Fielmann nahm seine verbleibende Kraft zusammen. Auf allen Vieren versuchte er, zu dem roten Kästchen zu gelangen, das er einige Meter entfernt entdeckt hatte. Als er den blutenden Stumpf an seinem Arm erblickte, musste er sich übergeben, kroch aber weiter, bis sein Verfolger ihn am Nacken packte.
»Wo willst du hin?«, flüsterte die Gestalt, »zum Feuermelder?« Ein Lachen erhob sich, das jedoch vom Rauschen des Kielwassers in der Tiefe verschluckt wurde. Dann ergriff die Gestalt mit beiden Händen Fielmanns Kopf, drehte ihn brutal zu sich und sah ihn seelenlos an. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen: Du warst nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Fielmann stöhnte, zog seinen zerschundenen Arm zurück, aus dem der gesplitterte Handgelenksknochen herausragte wie die spitze Klinge eines Porzellanmessers, und rammte ihn seinem Gegner mit aller Gewalt ins Gesicht.
Dieser schrie auf und lockerte für einen Augenschlag seinen Griff und Fielmann versuchte, loszukommen. Doch da traf ihn auch schon ein Schlag. Sein Kopf wirbelte zur Seite und schlug hart gegen Metall.
»Du kleines Stück Dreck!«
Fielmann spürte, wie er hochgehoben wurde, und versuchte ein allerletztes Mal, sich zu wehren, doch er hatte keine Kraft mehr: Voller Entsetzen schrie er auf, als er bereits im Fallen war, hinab in die tosenden Fluten und in die Gischt um die GCL SOLARIA, die unbeirrt ihre Fahrt durch den Ozean fortsetzte.
***
»Fröhliche Weihnachten!«, rief einer der beiden Moderatoren und alle klatschten erfreut Beifall. Generalmanager Julian Arnold und Eventmanager Andreas Hübner hatten vor wenigen Minuten den Abend eröffnet.
Journalist Tom Geyer reckte seinen Hals, um über die Zuschauermenge hinweg einen Blick auf die Bühne zu erhaschen. Sofort wurde ihm wieder schlecht. Seekrankheit. Es schien einfach nicht besser zu werden.
»Meine Damen und Herren, liebe Gäste, im Namen der ganzen Besatzung und der GERMAN CRUISE LINES dürfen wir Sie nochmals herzlichst hier an Bord der GCL SOLARIA begrüßen. Wir freuen uns auf eine ganz besondere Reise, die alles für Sie beinhalten wird, was wir und Südostasien zu bieten haben. Deshalb ist es mir ein großes Vergnügen, es heute Abend – Heiligabend – zu verkünden: Einfach abschalten – ab jetzt beginnt Ihr Traumurlaub!«
Wieder lauter Applaus.
Es herrschte ausgelassene Stimmung im Theater der SOLARIA, dem neusten und größten Schiffe der GCL-Flotte. Ebenso wie der Rest des Schiffes war auch das Theater absolut beeindruckend: Die Mischung aus luxuriöser Eleganz und modernem Design traf exakt Toms Geschmack. Gerne hätte er vor seiner Reise die Architekten der Reederei kennengelernt, doch die waren, das hatte er bei seinen Recherchen erfahren, schon mit dem Bau des nächsten Passagierschiffes der Flotte beschäftigt. Der Markt boomte definitiv.
Tom fand die ganze Anlage faszinierend. Er wusste, dass das Theater mit modernster Technik ausgestattet war: einer großen fahr- und teilbaren LED-Wand, einem Flugwerk für Artisten, an denen diese weit über dem Bühnenboden angeseilt in der Luft schwebten und ihre halsbrecherische Akrobatik vollführten, und einer Drehbühne.
Gleich nach der Offiziersvorstellung sollte die Weihnachtsgala gezeigt werden, auf die Tom schon sehr gespannt war. Allerdings kam es ihm so vor, als ob die meisten Gäste im gut gefüllten Theater die Vorstellung der Offiziere noch viel mehr interessierte, allen voran die des Kapitäns der GCL SOLARIA. Ob dies an den romantischen Vorstellungen lag, die manch einer mit einem Captain‘s Dinner verband? Daran, dass fast jeder hier einige Folgen der Traumschiff-TV-Serie gesehen hatte? Oder einfach nur daran, dass die schicken Uniformen die Offiziere zugegebenermaßen sehr gut kleideten?
Als der Jubel der Gäste versiegte, fuhr Hübner fort. »Bevor wir Ihnen unsere eigens für diesen besonderen Abend konzipierte Gala zeigen, möchten wir Ihnen die wichtigsten Führungsoffiziere der SOLARIA vorstellen.«
»Meine Damen und Herren«, übernahm sein Co-Moderator Arnold, »wir haben ein voll ausgestattetes Hospital hier an Bord. Also, wenn auch mal der zweite Magenbitter nicht hilft oder Sie wider Erwarten die Seekrankheit ereilt: Auf Deck drei finden Sie unser Hospital mit zwei fähigen Ärzten und drei Krankenschwestern. Begrüßen Sie mit uns stellvertretend für unser medizinisches Team heute auf der Bühne Doktor Henning Münsch.«
Arnold sah dem grauhaarigen Mann entgegen, der würdig von links auf die Bühne trat, freundlich ins Publikum blickte und sich verbeugte, um dann zwei Schritte nach hinten zu treten.
Nun übernahm wieder Hübner: »Der nächste Mann, den wir Ihnen vorstellen möchten, hat sein Hobby – Essen, Trinken und Schlafen – zu seinem Beruf gemacht. Er ist der Hauptverantwortliche für alles, was den Hotelbereich angeht, betreut mit seinem Team elf Bars, sieben Restaurants und über tausend Kabinen. Es ist der Mann, der sein Haupthaar gerne offen trägt, der Hotelmanager Christian Wulfert aus Bochum.«
Unter dem Beifall der Zuschauer betrat ein glatzköpfiger Mann mit einem dünnen Bärtchen um die Mundwinkel die Bühne. Zügig schritt er in die Mitte, schlug die Hacken etwas gezwungen lächelnd zusammen und winkte ins Publikum, um sich dann neben dem Schiffsarzt zu positionieren und stramm zu stehen.
»Und wenn Sie mal etwas über U-Boote wissen wollen: Der Mann war auch zehn Jahre als Koch und Proviantmeister bei der Deutschen Marine«, fügte Hübner hinzu und Wulfert nickte ergeben.
»Mit dem folgenden Herrn, liebes Publikum, sollten Sie sich gutstellen«, übernahm nun wieder Arnold. »Wenn Sie ihn einmal an Bord treffen, sprechen Sie ihn ruhig an, laden Sie ihn auf einen Kaffee ein und seien Sie besonders nett zu ihm. Er ist nämlich für die Verteilung der Plätze in unseren Rettungsbooten zuständig. Sein Ressort umfasst die Brandbekämpfung, die Rettungsmittel und die Ausbildung der Crew für Notfälle. Meine Damen und Herren, hier ist unser Sicherheitsoffizier: Norman Schneider aus Kiel.«
Schneider betrat die Bühne, ein hochgewachsener, drahtiger Mann mit ernstem Gesichtsausdruck und entschlossenem Gang. Nur kurz sah er ins Publikum, verbeugte sich zackig, dann reihte er sich sofort in die Linie der Offiziere ein.
Tom Geyer warf einen schnellen Blick zu seiner Begleiterin. Flüchtig glaubte er, einen unwilligen Ausdruck in ihrem sonst so fröhlichen Gesicht zu erkennen, der aber sofort wieder verschwand.
Sinah Dietrich, die attraktive junge Frau, die aufmerksam das Bühnengeschehen verfolgte, war ihm tags zuvor bei seiner Ankunft als Kontaktperson vorgestellt worden. Er hatte Glück. Nicht, weil die hochgewachsene und gut gekleidete Blondine ein Blickfang war und dies offensichtlich auch wusste, sondern weil sie als Mediamanagerin der SOLARIA ein Profi war. Sie sollte Tom alles zeigen, ihm Interviews verschaffen und ihn zu den Terminen begleiten – ein Service, den Tom Geyer sehr schätzte, weil die Mediamanagerin sein Metier kannte. Sie war mit der journalistischen Herangehensweise vertraut und verstand, was er für die Arbeit an seinem Reisebericht benötigte. Das würde ihm in den kommenden dreizehn Tagen sicher vieles erleichtern.
Tom hatte im Laufe der Jahre mit vielen unterschiedlichen Pressesprechern, Referenten und Unternehmensbossen zu tun gehabt. In der Regel bekam man immer eine verantwortliche Person an die Seite gestellt, aber leider kannte diese sich nur selten mit dem Mediengeschäft aus. Meistens wurde in aller Eile irgendjemand benannt, der sich um ihn kümmern sollte. Dann hatte er zwar rechtzeitig einen Kaffee, es waren ein paar Termine verabredet und ein billiges Hotelzimmer in der Nähe gebucht, aber mehr auch nicht. Dagegen hatte er hier wirklich luxuriöse Bedingungen mit einer zwar fensterlosen aber recht hübschen Kabine auf Deck sechs und einer sympathischen Ansprechpartnerin, die ihm kompetent zuarbeitete, viele Fragen vorwegnahm und ihm zahlreiche Informationen eigenständig zur Verfügung stellte. So hatte sie ihn zum Beispiel vor der Offiziersvorstellung unaufgefordert durch den hinteren Teil des Zuschauerraums geführt und war dann mit ihm in den Crewbereich abgebogen. Tom war nicht darauf vorbereitet gewesen, in einem Raum mit lauter halb bekleideten jungen Menschen zu landen, und hatte sich instinktiv sofort wieder zurückziehen wollen.
Doch Sinah ließ ihm keine Gelegenheit dazu: »Das ist der Backstage-Bereich«, erklärte sie kurzerhand. »Hier bereiten sich die Darsteller für die Show vor.«
Der Raum war ausgestattet mit zahlreichen Sitzgelegenheiten vor einem langen Spiegel, gerahmt von unzähligen Glühbirnen. Auf jedem der Plätze lagen Schminkutensilien herum und die Künstler waren, Ellbogen an Ellbogen, damit beschäftigt, Kostüme zurechtzuzupfen, Lidstriche nachzuziehen oder Lippenstift aufzutragen.
»Nicht viel Platz hier. Wie viele Darsteller haben Sie?«, erkundigte sich Tom.
»Platz ist das rarste Gut an Bord. Insgesamt acht Tänzer, sechs Solisten und drei Seilakrobaten. Bei der Weihnachtsgala stehen sie gleich alle auf der Bühne. Da wird es hier hinten ziemlich eng.«
Sie führte ihn einen Gang entlang, der sich zu einem breiten Treppenhaus öffnete.
»Nicht ganz so gefällig wie draußen im Gästebereich«, bemerkte Sinah amüsiert, als Tom die nackten Röhren und Schaltkästen an den Wänden betrachtete.
In der Tat. Der Linoleumboden hatte einen urinfarbenen Gelbton, die Treppengeländer waren nicht wie draußen im Gästebereich mit Blattgold verkleidet, sondern in schlichtem Krankenhausweiß gestrichen, und auch die Wände hatten dieselbe Farbe – ohne jeden Schnörkel und Glanz. Es erinnerte ihn an das Hospital, in dem er vor zwanzig Jahren gelegen hatte; damals, nach dem Unfall in der Garage.
Nein … Er stutzte kurz, das war nun schon über fünfunddreißig Jahre her. Tom musste innerlich lachen. Wie oft einen doch die innere Uhr betrog. Er war gerade mal fünf Jahre alt gewesen, als er beinahe in der mit Regenwasser und altem Diesel angefüllten Grube in der Garage ertrunken wäre. Aber seither hatte er den Tag immer wieder durchlebt und deshalb war er ihm wohl auch so präsent geblieben.
»Rauchen Sie?«, fragte Sinah und holte Tom zurück in die Gegenwart.
»Nein … äh, ja … manchmal. Wieso?«, stotterte er.
Einen Moment später wurde ihm klar, warum. Das Treppenhaus hatte auf dieser Ebene einen geräumigen Absatz, der als Raucherbereich genutzt wurde. An der Wand hingen Aschenbecher, vor denen paffende Mitarbeiter standen, die sich unterhielten und neugierig zu ihnen herübersahen.
»Das ist Neuneinhalb. So nennen wir diesen Bereich, eine der wenigen designated Smoking-Areas für die Crew.« Sie waren die paar Stufen die Treppe hinauf gegangen. »Neuneinhalb, weil wir uns zwischen Deck neun und zehn befinden. Ist sehr zentral gelegen. Deshalb kommen hier viele Kollegen vorbei. Ich kann mir mindestens zehn E-Mails sparen, wenn ich hier ab und zu eine schmöke.«
Tom hörte ihr zwar zu, konnte jedoch seine Augen nicht von zwei Artistinnen lassen, die sich gerade im Treppenhaus aufwärmten und die faszinierendsten Verrenkungen vollzogen. Die zwei Mädchen, die Tom auf höchstens achtzehn schätzte, bogen und dehnten sich in alle Richtungen und unterhielten sich dabei ganz entspannt, so schien es, auf Russisch. Eine der beiden ging in den Spagat, wechselte am Boden dann in den Männerspagat und wieder zurück in die Ausgangsposition.
»Ich bekomme immer Leistenziehen, wenn ich das sehe«, bemerkte Sinah neben ihm.
Die zweite der Artistinnen ging nun ebenfalls in den Spagat, griff mit einem Arm hinter ihren Kopf, zog ihr Bein hinter sich nach oben und senkte zu Toms Verblüffung die Fußsohle zuerst auf die eine Schulter, dann auf die andere. Als sie das Bein wieder losließ und den Kopf hob, trafen sich ihre Blicke und sie lächelte ihm zu. Tom erwiderte es und wandte sich dann wieder seiner Begleiterin zu, die ihm ihre Schachtel hinhielt. »Eigentlich hatte ich aufgehört.«
»Tue ich auch – jeden Abend.«
Tom nahm sich einen der Glimmstängel und dankte ihr. Sie gab ihm Feuer und er nahm einen kräftigen Zug. Es tat gut. Er war schon ganz weg gewesen von dem Zeug. Aber damals, als das mit seiner Frau geschehen war, war es das Einzige gewesen, das ihn in irgendeiner Weise hatte beruhigen können. Heute rauchte er zwar nur noch gelegentlich, aber wenn er angespannt war, unsicher oder in einer fremden Umgebung oder Situation, dann konnte er nur schwer dem Drang nach Nikotin widerstehen.
»Vielleicht hilft es«, hoffte er.
Sinah musste lachen. »Sagen Sie jetzt nicht, Sie sind noch immer seekrank.«
Im Gegensatz zur Besatzung empfand Tom die seitlichen Schiffsbewegungen in der Tat ganz deutlich, aber er ging nicht darauf ein. »Ich bin wirklich sehr dankbar für die Einblicke«, wechselte er das Thema, und zog wieder an der Zigarette. Die Artistin, die soeben ihren Kopf zwischen die Knie geklemmt hatte, ließ er nicht aus den Augen. »Ich danke Ihnen, Sinah.«
»Bitte, Tom, ich wurde dafür eingeteilt, Ihnen alles zu zeigen.«
Nachdem sie ihre Kippen gemeinsam in einem der Wand-Ascher ausgedrückt hatten, gingen sie zurück in den Theatersaal.
***
»Gleich tritt Kapitän Buske auf«, informierte Sinah ihren Gast.
Tom Geyer nickte. Bisher schien ihm alles zu gefallen, was sie ihm zeigte. Sinah freute sich über den Spezialauftrag, auch wenn sie sich bei ihrer Freundin Sarah in ironischem Unterton bedankt hatte, als diese sie vor einigen Wochen aus dem Kieler Headoffice angerufen und sie darüber informiert hatte, dass ein Journalist an Bord komme und es ihre Aufgabe sei, ihn zu betreuen.
Die Weihnachtsreisen waren immer besonders arbeitsintensiv, aber Tom zu betreuen bot eine willkommene Abwechslung. Zum Glück war ihr der Mann gleich sympathisch gewesen, als sie ihn gestern gemeinsam mit ihrem Chef in der MIDNIGHT BAR kennengelernt hatte. Mit dem gepflegten leicht melierten Bart und den vollen dunklen Haaren, die an den Schläfen schon ein wenig ergrauten, schätzte sie ihn auf vierzig. Er gab sich kommunikativ, schien Humor zu haben, dazu auch noch charmant zu sein, wie sie bei ihrem gestrigen Schiffsrundgang feststellen konnte.
Und Tom war gut vorbereitet, was sie sehr schätzte. Er hatte fast in jedem Bereich kompetente Fragen gestellt, die darauf schließen ließen, dass er sauber recherchiert hatte. Und seine Kompetenz zeigte sich auch jetzt wieder, denn er bemerkte sofort, dass etwas nicht glatt lief auf der Bühne.
Gerade hatte Sinahs Chef Andreas Hübner wieder die Moderation übernommen: »Bevor wir Ihnen Kapitän Detlef Buske vorstellen, präsentiere ich Ihnen noch einen weiteren wichtigen Mann an Bord. Umweltschutz liegt uns sehr am Herzen und deshalb haben wir auch dafür einen zuständigen Offizier. Begrüßen Sie mit mir Robert Fielmann, unseren Umweltoffizier, von uns auch liebevoll der Grüne Punkt genannt.« Der Eventmanager blickte zur Seitenbühne, von wo aus die Offiziere auftraten. Doch dort stand nur noch Kapitän Buske, der sich suchend umsah, dann aber mit den Achseln zuckte. »Scheint nicht da zu sein«, bemerkte Tom neben ihr.
Sie reckte den Hals. Robert Fielmann war tatsächlich nirgends zu entdecken.
Nach einigen peinlichen Sekunden, in denen der Moderator noch darauf zu hoffen schien, dass er den Kollegen Fielmann nur übersehen hatte, versuchte er, den Patzer zu überspielen: »Anscheinend muss Herr Fielmann gerade Dosen und Flaschen trennen, weil die Passagiere der letzten Reise wieder alles zusammen entsorgt haben.«
Ein schwaches Lachen durchzog das Publikum und sein Co-Moderator sprang ein. »Ich darf Ihnen nun den wichtigsten Mann des Schiffes vorstellen, denn es kann nur einen geben: Er ist der Mann an der Spitze dieses wundervollen Schiffes, der Mann, der Sie die kommenden zwei Wochen sicher in den nächsten Hafen bringen wird. Liebe Gäste, begrüßen Sie mit mir unseren und Ihren Kapitän Detlef Buske aus Kiel!«
Laut erklang der übliche Song Say Captain, say what und als der Kapitän die Bühne betrat, machten die beiden Moderatoren Platz für ihn und reihten sich in die Riege der Offiziere ein.
Sinah beobachtete ihren Chef. Er wirkte verärgert.
***
Aus dem Theater drangen fern die Klänge von Say Captain, say what als Philipp sanft die Arme um seine Freundin legte. Der Fahrtwind am Bug vorne war kühl und sie fröstelte.
»Alles in Ordnung? Sollen wir wieder rein gehen?«, fragte er besorgt und hoffte darauf, dass sie Nein sagte.
»Es ist alles gut. Ein wunderschöner Abend. Wir haben uns richtig entschieden. Und unsere Eltern werden sich schon wieder einkriegen. Ich genieße es sehr, einmal mit dir ganz alleine Weihnachten zu feiern.« Sie küsste ihn und sah ihm lange in die Augen.
»Ja, es ist eine ganz andere Welt und ein ganz besonderes Weihnachtsfest.«
»Und das ist Geschenk genug. Man fühlt sich hier nicht dazu verpflichtet, dem anderen etwas Besonderes zu schenken; weil hier alles besonders ist.«
Philipp lächelte und freute sich. »Und wenn ich nun doch ein Geschenk für dich hätte?«
»Philipp! Wir hatten ausgemacht …«
»Ich weiß«, unterbrach er sie. »Es ist im Grunde auch kein Weihnachtsgeschenk. Es ist eine Art Siegel.«
Sie sah ihn ein wenig unwirsch an. »Siegel?«
»Ja.«
Er brauchte einige Momente, bis er den Ring in der Hosentasche fand und ärgerte sich, dass er ihn nicht in der Schatulle gelassen hatte. Doch dann ertastete er ihn, nahm ihn heraus, hielt ihn aber noch versteckt in seiner Faust.
Er sah ihr in die Augen. Nicole war schon seit einigen Jahren die Frau an seiner Seite. Er hatte ihr viel zu verdanken. Sie hatte es fertiggebracht, ihm seine beruflichen Flausen auszutreiben und ihm geholfen, eine vernünftige Arbeit zu finden. Und sie hatte es auch geschafft, dass er sich mit seiner Familie aussöhnte, hatte seine Eltern und ihn an einen Tisch gebracht und keine Ruhe gegeben, bis die Fronten aufgeweicht und schließlich alle alten Zwistigkeiten beseitigt waren.
Er tat das Richtige, dessen war er sich sicher. »Nicole.«
Sie sah wundervoll aus im Gegenlicht des Abendrots.
»Ja?«, antwortete sie etwas zu kokett.
»Wir sind seit über vier Jahren ein glückliches Paar.«
»Das sind wir. Ich bin sehr glücklich mit dir.«
Sein Herz schlug so laut, dass er es fast hören konnte. »Nicole …«
In diesem Moment zuckte sie zusammen, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ob sie hinter ihm etwas ganz Schreckliches entdeckt hätte.
»Was ist?«
Sie sprang an die Reling, beugte sich hinaus und blickte hinunter in die See.
»Nicole, was hast du?«
Mit halb zugekniffenen Augen suchte sie das Meer unter ihnen ab. »Ich habe gerade etwas gesehen.«
»Was?«
»Da!«, schrie sie und zeigte mit dem Finger ins Meer hinab. »Da ist jemand ins Wasser gefallen!«
»Was?«, Philipp beugte sich auch über die Brüstung. »Wo denn?«
»Dort!«
Und dann entdeckte Philipp ihn auch, den Körper, der dort unten in den abendlichen Fluten trieb.
»Mein Gott … Mann über Bord«, keuchte er. Nach einem kurzen, fassungslosen Moment kam Bewegung in ihn. »Mann über Bord!«, brüllte er nun. »Wirf einen Rettungsring raus, schnell!«
***
Tom blickte durch eines der großen Glasfenster, die das Theater umgaben, hinaus auf die unruhige See. Viertel nach sechs. Bald war es dunkel.
Für ihn hatte die Nacht nicht nur etwas Romantisches oder Schönes, nicht einmal hier im Urlaubsparadies Thailand. Tief in seinem Inneren empfand er sie seit damals gleichermaßen als Bedrohung. Auch wenn er gelernt hatte, mit diesen Gefühlen zu leben.
Ihm war nach wie vor flau im Magen und er fragte sich, ob das nun die ganze Reise so weitergehen sollte. Er hatte es Hartmut gesagt. Aber natürlich war es längst zu spät, sich darüber zu ärgern, dass sein Chefredakteur ihn zu der Reise überredet hatte. Außerdem … wenn er ganz ehrlich war, konnte er das Geld gebrauchen. Wenigstens hatte er Hartmut, als er ihn mittags über sein Satellitenhandy anrief, aus dem Bett geholt. Die Zeitverschiebung hatte er doch tatsächlich völlig vergessen.
Tom kratzte sich an seinem Bart.
»Wir übertragen auch jede Show im Bord-TV«, informierte ihn Sinah, während auf der Bühne der Kapitän seine Begrüßungsansprache hielt. Doch Tom war gerade nicht mehr so ganz bei der Sache. Das flaue Gefühl im Magen machte ihm immer mehr zu schaffen. »Das heißt, Ihre Mitarbeiter müssen sich nicht nur mit der Filmproduktion auskennen, sondern benötigen auch Erfahrung mit Live-Sendungen«, resümierte er mehr aus Freundlichkeit denn aus Interesse.
»Ganz genau.«
Erfreut entdeckte Tom so etwas wie Anerkennung in Sinahs Blick.
Er wandte sich wieder der Bühne zu, wo der Kapitän soeben seine Rede beendete und den Gästen nochmals eine wundervolle und erholsame Reise wünschte: »Auf jedem der GCL-Schiffe, das macht uns schon aus der Ferne erkennbar, ist am Bug das Bild eines lächelnden Wales zu sehen. Das ist unser Versprechen an Sie, liebe Gäste. Und ich persönlich verspreche Ihnen, dass ich Sie sicher, pünktlich und mit einem entspannten Lächeln zu den beeindruckenden Destinationen im wundervollen Asien bringen werde.« Unter dem Applaus der Zuschauer verließ der Kapitän, gefolgt von seinen Offizieren, die Bühne.
»Meine Damen und Herren: Unser und Ihr Kapitän, Detlef Buske«, verabschiedete Julian Arnold den Obersten.
Dann ergriff Eventmanager Hübner wieder das Wort: »Wir dürfen Ihnen nun eine ganz besondere Show ankündigen, die Sie nur heute Abend und nur hier auf der GCL SOLARIA bewundern können, denn sie wurde eigens für unser gemeinsames Weihnachtsfest inszeniert. Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen mit unserer Galashow!«
Hübner und Arnold gingen ebenfalls und nachdem der Applaus verebbt war, zog das Licht ein und sanfte Glöckchen erklangen.
»Hat Ihnen Sinah schon alles gezeigt?«, sprach Hübner Tom an, als er ihn sah.
»Ja, danke, es ist alles sehr beeindruckend«, bestätigte Tom und musste wegen der Eröffnung der Show seine Stimme heben.
»Sie haben noch lange nicht alles gesehen«, meinte Sinah lächelnd. »Hast du Fielmann irgendwo entdeckt?«, erkundigte sich Hübner etwas bissig bei ihr. Als sie verneinte, ging er gekonnt zum nächsten Thema über: »Herr Geyer, haben Sie Kinder? Sie müssen sich unbedingt unser tolles Kinderland ansehen. Das ist, wie ich finde, einer der reizvollsten Plätze des gesamten Schiffes.«
»Das werde ich auf jeden Fall, Herr Hübner. Sagen Sie, wäre es möglich, auch einmal den Kapitän persönlich zu sprechen und die Brücke zu besichtigen?«
Tom bemerkte das Zögern des Entertainers, das jedoch schnell von einem breiten Lächeln abgelöst wurde. »Wir tun das nur noch ganz selten«, erklärte Hübner. »Früher war es gang und gäbe, dass wir Brückenführungen für die Gäste anboten. Aber seit dem elften September haben wir den Zugang zu sensiblen Bereichen stark zurückgefahren.«
»Verstehe.«
»Aber, Tom … darf ich Tom sagen?«
Eigentlich nicht.
»Für Sie, Tom, machen wir das. Ich rede mit dem Kapitän.«
Tom ärgerte sich über die plumpe Vertraulichkeit, aber wenn es half, konnte er sich damit arrangieren. Er war es gewöhnt, dass sich ihm viele Türen öffneten, hinter die Kulissen gehen zu können, Prominente in VIP-Lounges zu treffen oder in verbotene Bereiche geführt zu werden. Auf der anderen Seite war ihm klar, dass ein guter Reporter sich solche Privilegien erarbeiten musste. Man musste die richtigen Leute kennen, ihnen das Gefühl geben, wichtig zu sein und dass es sich für sie auszahlte, der Presse einen Gefallen zu tun. Und man musste, das war mindestens genauso wichtig, das Selbstvertrauen haben, mit dem Presseausweis zu winken und frech zu fragen.
Ganz Profi setzte er also seinen dankbaren Gesichtsausdruck auf, als Hübner nochmals unterstrich, dass man ja Verantwortung für über dreitausend Menschen trage und in den heutigen Zeiten nie wissen könne. Weiter hörte er nicht zu, er kannte den Text und wurde gerade vom Bühnengeschehen abgelenkt. Dort hatte er die Artistin entdeckt, die zu den Klängen von All I want for Christmas auftrat. Sie hing einige Meter über dem Boden und verdrehte schon wieder ihren Körper auf äußerst unmenschliche Art und Weise. »Beeindruckend, nicht wahr?«, bemerkte Hübner.
Tom nickte. Sein Magen meldete sich wieder und er bewunderte die junge Künstlerin aufrichtig dafür, dass sie bei dem Schwanken dort oben solch halsbrecherische Verrenkungen durchführen konnte. »Über acht Meter Höhe und ohne Netz.«
Tom wollte soeben seine Anerkennung ausdrücken, da verstummte plötzlich die Musik und es erklang ein entsetzlich lautes und unmenschlich lang gezogenes Klingelzeichen durch das Theater.
»Was ist los?«, erkundigte sich Tom bei Hübner, der nicht minder irritiert zu sein schien.
Doch noch bevor Hübner etwas antworten konnte, schallte eine Durchsage von der Brücke durch das ganze Theater: »Achtung! Attention! Man overboard! Man overboard!«
Hübner und Sinah blickten sich ungläubig und mit großen Augen an. »Mann über Bord!«, wiederholte Sinah entsetzt.
»Mein Gott! Ich muss auf die Brücke«, stieß Hübner aus. Als die Musik der Show wieder einsetzte, zeigte er wild gestikulierend den Bühnendarstellern an, mit der Show fortzufahren. »Entschuldigen Sie mich«, stieß er dann hastig hervor. »Ich muss sofort los.«
Tom reagierte, ohne nachzudenken.
***
Tom hatte Mühe, mit Hübners schnellen Schritten mitzuhalten. Während er hinter dem Eventmanager her eilte, lief sein Gehirn bereits auf Hochtouren. »Kann ich mit auf die Brücke?«, hatte er reflexartig gefragt und war mitgelaufen. Neugier, Dreistigkeit oder Selbstüberschätzung? War es tatsächlich in den Genen veranlagt oder die Folge einer gewissen Erziehung oder eines speziellen Charakterzugs? Tom hatte aufgehört, darüber nachzudenken. Er wusste nur, dass er ihn hatte: den Drang, wann immer etwas geschah, das nach einer Story roch, dabei sein zu wollen – dabei sein zu müssen! Genau das machte einen guten Journalisten aus: Er musste dabei sein, er durfte nichts Wichtiges, nichts Spektakuläres verpassen. Und Mann über Bord fiel definitiv in diese Kategorie. Hübner hatte einen Augenblick gezögert, doch dann genickt.
Zügig durchquerten sie das Kasino und gelangten in die Bar, in der sie sich am Vortag zum ersten Mal getroffen hatten und Hübner ihm seine persönliche Betreuerin vorgestellt hatte. Den Begriff hatte Sinah, die jetzt direkt hinter ihm war, mit einem abfälligen Blick kommentiert, den Hübner souverän übersehen hatte.
Tom war sich im Klaren darüber, dass Sinah nicht nur die Aufgabe hatte, ihm Einblick in alle Bereiche zu verschaffen, sondern auch seine Aufpasserin war. Sie war sein Schatten, der darauf achtete, dass alles im rechten Licht erschien, dass er nicht zu tief bohrte. Auch das war Routine für ihn. In jeder Firma gab es Probleme, Knatsch unter Kollegen, unzufriedene Mitarbeiter, Aussagen und Dinge, die missgünstig ausgelegt werden konnten. Die Aufgabe eines persönlichen Betreuers war es, die Aufmerksamkeit eines Reporters davon abzulenken, dafür andere, positive Dinge ins Licht zu rücken, unangenehme Fragen abzufedern oder ungeschickte Antworten zu relativieren. Und natürlich hatte sie zudem darauf zu achten, dass er gewisse Regeln befolgte und die Abläufe nicht störte.
Sie stürmten durch die MIDNIGHT BAR und durch eine Tür in ein Treppenhaus der Crew. Oben angelangt, kamen sie zu einem langen Gang, der zu einer massiven Tür führte. Rechts und links gingen ebenfalls Türen ab, neben denen jeweils kleine Schilder mit der Aufschrift Doorcard angebracht waren. Auf der ersten Doorcard stand Staff-Captain und der Name Hardy Köpke. Die Doorcard, die dann folgte, war die des Kapitäns Detlef Buske höchstpersönlich.
Tom wunderte sich, dass die Kabinentür offen stand. Doch er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Hübner öffnete bereits die schwere Tür am Ende des Ganges. Dahinter befand sich ein kleiner dunkler Raum, der lediglich durch eine rote Lampe beleuchtet war, die unverblendet von der niederen Decke ragte. Zwei Meter weiter versperrte eine weitere Tür den Weg – eine Schleuse. Hübner hatte nicht übertrieben mit den Sicherheitsmaßnahmen, obwohl die offene Tür der Kapitänskajüte dazu nicht recht zu passen schien.
Nachdem Sinah die erste Schleusentür hinter sich geschlossen hatte, drückte Hübner auf den Knopf eines kleinen elektrischen Gerätes, das aussah wie eine gewöhnliche Türklingelanlage, positionierte sich mit seinem Gesicht vor der kleinen Kamera, die sich direkt über dem Klingelknopf befand und wartete.
»Kein freier Zugang zur Brücke, selbst als hochrangiger Offizier«, stellte Tom fest.
»Richtig. Der Generalmanager ist der Einzige aus dem Hotelbereich. Ansonsten sind es lediglich Offiziere des Decks, die ohne explizite Erlaubnis Einlass erhalten.«
»Ja?«, ertönte jetzt endlich eine schroffe, hektisch klingende Stimme.
»Der Eventmanager.«
Nach einigen Sekunden surrte es an der Tür.
Hübner wollte sofort eintreten, doch der Sicherheitsoffizier, Norman Schneider stand an seiner Brust, ließ ihn nicht vorbei. »Was will der hier?«, blaffte er. »Wir haben keine Zeit für Interviews.«
»Das ist mir bewusst«, antwortete Hübner, ohne auf den rüden Ton einzugehen. »Herrn Geyer wurde von der Geschäftsleitung uneingeschränkter Zugang versprochen. Wo ist das Problem?«
»Dass wir gerade ganz andere Probleme haben!«, schnauzte Schneider, gab aber den Weg frei und ließ sie passieren.
»Was ist los, Norman?«, fragte der Staff-Captain, gerade als Tom einen ersten Blick auf die Brücke werfen konnte.
»Eventmanager Hübner schleppt Firmenfremde an. – In einer Notsituation!«
»Denkbar schlechtester Augenblick«, versetzte Staff-Captain Köpke ernst in Richtung Hübner. »Gehen Sie rüber zur Nock und verhalten Sie sich bitte ruhig.« Dann ließ er sie stehen und begab sich gemeinsam mit Schneider zum Kapitän, der breitbeinig in der Mitte der Brücke stand.
Tom, Hübner und Sinah Dietrich gesellten sich zu Generalmanager Julian Arnold, der sich im rechten Seitenflügel der Brücke befand und sie besorgt anblickte.
»Das geht einfach gar nicht«, hörte Tom den Sicherheitsoffizier blaffen, der unfreundlich zu ihnen herübersah.
Auch Kapitän Buske fixierte Tom verärgert, schwenkte jedoch schnell wieder zurück zu Schneider. »Das ist jetzt nicht wichtig, Norman.«
Tom schaltete unmittelbar seinen inneren Beobachtungsapparat an. Alles mitschneiden, Tom!
Die verglaste Brücke erstreckte sich über die komplette Breite des Schiffes und hatte in den beiden Nocks zwei transparente Flügel, die noch darüber hinausragten. Die gesamte Front war von Schalttafeln, blinkenden Leuchten und Anzeigemonitoren gesäumt. Auf der Brücke befanden sich neben dem Kapitän, seinem Stellvertreter Hardy Köpke und dem rüden Sicherheitsoffizier Schneider noch ein Offizier und zwei Matrosen, die an der Vorderfront patrouillierten und mit Ferngläsern Ausschau hielten. Außerdem waren der Schiffsarzt und eine Krankenschwester anwesend.
Der Geräuschpegel war hoch, es piepte von allen Seiten, der Kapitän diskutierte lautstark mit Köpke und Schneider. Aus einem Funkgerät, das der Offizier in den Händen hielt, plärrte es. Er war offensichtlich Italiener und sein Englisch klang entsetzlich, als er etwas antwortete. Die Anspannung aller war deutlich zu spüren.
»Was ist denn überhaupt los?«, erkundigte sich Hübner bei dem Generalmanager.
»Wir haben ein MOB«, antwortete Arnold.
»Ernsthaft?«
Arnold nickte abwesend, und blickte wieder aufs Meer hinaus. Tom folgte unwillkürlich seinem Blick. Er war überrascht, wie viel man auch so spät noch erkennen konnte. Es war inzwischen fast 18.30 Uhr und die Sonne schon untergegangen, doch hier oben hatte man trotz der Dämmerung noch immer eine passable Sicht.
»Ein Paar befand sich auf dem Vorderdeck und hat beobachtet, wie etwas ins Wasser fiel. Etwas Großes. Sie waren sich nicht ganz sicher, klar. Aber sie glaubten, einen Menschen im Wasser gesehen zu haben.«
»Das ist ja schrecklich«, antwortete Hübner und sah Sinah an, die die Fassung behielt.
»Noch nie vorgekommen bei uns«, erläuterte sie Tom.
»Die Maschinen wurden sofort gestoppt«, erklärte Arnold, »aber …« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Und so etwas auf der Weihnachtsreise.«
Natürlich. Tom war das bei dem Trubel völlig entfallen. Heute war der besinnlichste Tag des Jahres! Vor seinem Reiseantritt hatte er darüber räsoniert, wie wohl der Heilige Abend auf einem Kreuzfahrtschiff gefeiert wurde. Er selbst hatte sich nie viel aus Weihnachten gemacht – bis er Jenny kennengelernt hatte. Danach war eh alles anders gewesen.
Jenny hatte ihn aus einem tiefen Loch herausgeholt, wie sie es gerne ausgedrückte. Sein Leben hatte aus Karriere, Partys, Sauftouren und belanglosen Frauengeschichten bestanden. Mit seiner athletischen Erscheinung und seiner charmanten Art war er bei der weiblichen Hälfte der Menschheit immer sehr gut angekommen, etwas, das er beruflich wie privat stets gut einzusetzen gewusst hatte und was seine Mutter immer, nicht ohne Stolz, belächelte. »Irgendwann wird eine kommen«, hatte sie immer prophezeit, »die wird‘s dir zeigen.« Sie hatte recht behalten. Jenny war anders gewesen. Sie hatte sich von seiner Attraktivität ebenso wenig beeindrucken lassen wie von seiner Lebemann-Masche. Je mehr er sich bemühte, desto kühler hatte sie reagiert. All seine hart erarbeiteten Verführungstricks waren an ihr abgeperlt wie Regen an der Windschutzscheibe. Es hatte ihn wahnsinnig gemacht, vor allem, als sie irgendwann tatsächlich mit ihm ausging und er für das Rendezvous alles aufbot, was ihm an Extravaganz einfiel. Der Abend hatte damit geendet, dass er im Auto ungeschickt versuchte, sie zu küssen, Jenny ihm aber gekonnt ausgewichen war. Er erinnerte sich gut, wie sie ihm noch einmal frech zublinzelte, bevor sie durch die Haustür verschwand und ihn im Wagen sitzen ließ, umgeben von ihrem berauschenden Duft. Noch bevor er sie endlich das erste Mal geküsst hatte, war er ihren Eltern vorgestellt worden. Zugegeben, es war Zufall gewesen und hatte nichts mit dem Kuss zu tun, aber dennoch seltsam für einen wie Tom, der den Besuch bei den Eltern einer Freundin vermied, solange es ging. Ihr Vater hatte ihn damals mit misstrauischen Blicken durchbohrt, doch Jennys Mutter war sofort nett zu ihm gewesen, und hatte gleich verstanden, was sie an ihm fand. Jedenfalls hatte Jenny das später so erzählt. Und obwohl sie nicht mehr da war, stand Tom noch immer eng in Kontakt mit ihren Eltern und telefonierte regelmäßig mit ihnen.
Er musste an den Moment ihres ersten Kusses denken. Er hatte ein bisschen gestottert und war nervös gewesen, ein Gefühl, das er seit er fünfzehn war nicht mehr gehabt hatte, als er zum allerersten Mal ein Mädchen küsste. Und Jenny hatte es genossen – genossen, ihn so hilflos zu sehen. Dann war alles schnell gegangen. Der erste Sex, die tosenden Wochenenden im Bett, spontane Kurzreisen, Händchenhalten im Tierpark, dummtrunkenes Knutschen in der Kaufhausumkleide, durchbrochen von Phasen der Unsicherheit mit unnötigen Eifersuchtsszenen und unglaublich intensiven Versöhnungsnächten, wundervollen Grillabenden bei ihren Eltern, heimlichem Sex in deren Gartenlaube … das Zusammenziehen schon nach vier Monaten und die Verlobung und Heirat nach einem Dreivierteljahr. Er schloss die Augen und senkte den Kopf. Ach Jenny. Warum?
Er holte tief Luft. Das war alles schon so lange her und noch immer konnte er es nicht fassen. Aber jetzt musste er sich zusammenreißen und seinen Job machen.
Als er die Augen wieder öffnete, erschrak er beinahe zu Tode: Er blickte in einen tiefen Abgrund.
***
Sarah Küpers hatte Wollmütze, Schal und Handschuhe angezogen, sich fest in ihren langen Wintermantel eingemummelt, ihre Thermoskanne geschnappt und war für die Mittagspause hinaus auf den Hof gegangen, um dort in der kalten aber frischen Luft ihr belegtes Brot zu essen, das sie sich von zu Hause mitgebracht hatte, weil die Kantine Weihnachten geschlossen war. Zufrieden saß sie mit ihrem wärmenden Tee in den Händen auf der kleinen Bank und freute sich an dem Anblick des bunt blinkenden Weihnachtsbäumchens, das im Innenhof von GERMAN CRUISE LINES aufgestellt war. Sarah war klar gewesen, dass sie kaum jemanden im Gebäude von GCL antreffen würde. Das war nun mal so, wenn man an Feiertagen Dienst hatte.
Es war kalt in Kiel am 24. Dezember und sie nahm schnell einen weiteren wärmenden Schluck. Sinah kam ihr in den Sinn: Sie schipperte gerade irgendwo in Asien herum, wo es sicher mehr als fünfundzwanzig Grad warm war. Doch heute war Heiligabend. Wenn sie daran dachte, dass sie nach Feierabend einen Abstecher auf den Kieler Weihnachtsmarkt machen und später zu ihren Eltern fahren würde, um mit ihnen besinnlich zu feiern, dann beneidete sie ihre beste Freundin kaum. Tee und Glühwein schmecken besser als Mai Tai und Singapure Sling dachte sie grinsend und hob ihre Teetasse. »Ich hoffe, dein Reporter ist nett, liebe Sinah«, sagte sie und trank.
Sarah war die Sekretärin und persönliche Assistentin von Bettina Rupp, Director of Guest Service von GCL. Vor einigen Wochen war die PR-Abteilung auf Bettina und sie zugekommen, weil eine namhafte Hamburger Zeitung einen ausführlichen Bericht über die Weihnachtsreise der SOLARIA bringen wollte. Gern hatte Bettina Rupp der Bitte entsprochen, dem Reporter möglichst viele Einblicke zu ermöglichen, und Generalmanager Arnold und Kapitän Buske informiert, damit diese sich darauf vorbereiten konnten. Dass Sinah die Kontaktperson von Tom Geyer sein sollte, war Sarahs Vorschlag gewesen. Nicht, weil Sarah ihrer Freundin ein wenig Abwechslung verschaffen wollte, sondern weil sie Sinah tatsächlich für die beste Wahl hielt.
Sie überlegte, wie spät es dort gerade war. Thailand hatte im Winter eine Zeitverschiebung von fünf Stunden, die Sonne dürfte dort bereits untergegangen sein.
Sarah fröstelte. Es war schon verdammt kalt hier. Der Kieler Hafen, an dem das Firmengebäude von GCL stand, war seit Tagen zugefroren. Gerade wollte sie einen weiteren Schluck Tee nehmen, da klingelte es aus ihrer Manteltasche. Das Diensthandy? Merkwürdig. Sie hatte für die Pause das Festnetz umgeleitet, aber wer rief um diese Zeit an?
»Ich bin‘s. Fröhliche Weihnachten«, meldete sich zu ihrer Überraschung eine trockene, wohlbekannte Stimme.
»Bettina?«
»Wer sonst?«
»Kontrollieren Sie, ob ich auch arbeite?« Sarah lachte.
»Das kann ich sehen. Drehen Sie sich mal um.«
Als sie es tat, entdeckte sie ihre zierliche Chefin, die nicht einmal auf einen Meter sechzig Körpergröße kam, sofort an der Glasfront ihres beleuchteten Büros. Mit Telefon am Ohr und ernster Miene stand sie dort und blickte zu ihr herab.
»Was tun Sie hier?«
»Es gibt Arbeit. Die SOLARIA hat ein MOB-Signal gesendet.«
So schnell sie konnte packte Sarah ihr Picknick zusammen und rannte die Treppe zu ihrem Büro hinauf. Das musste ein Irrtum sein.
Doch im Büro angekommen bestätigte Bettina ihr erneut den Notruf des Schiffes. Sie war direkt aus ihrer nicht weit entfernten Wohnung ins Büro geeilt und hatte umgehend zwei weitere Kollegen informiert.
Mann über Bord! Sarah war fassungslos. Als Bettinas rechte Hand war sie unter anderem dafür zuständig, bei Ausnahmefällen wie der wetterbedingten Umroutung eines Schiffes oder dem Ausfall eines Liegeplatzes die Verantwortlichen zu benachrichtigen und in Absprache mit ihrer Chefin ein Blitzmeeting anzuberaumen.
Dafür gab es ein genau definiertes Prozedere. Je nach Fall entschied Bettina Rupp, wie groß der Kreis derjenigen sein sollte, die per Mail und parallel auf dem Blackberry kontaktiert und sofort in die Kieler Zentrale beordert wurden. Betraf die außergewöhnliche Lage lediglich den Hotelbereich, war der Kreis kleiner als in Fällen von nautischer oder sicherheitstechnischer Relevanz. Im aktuellen Fall hatte sie sofort entschieden, den vollen Umfang zu aktivieren. »Weihnachten hin oder her«, legte Bettina in ihrem typisch resoluten Ton fest, der niemals auch nur den Hauch einer Emotion verriet. »Meeting in einer Stunde, genau um halb drei im Golden Gate.«
***
Tom fasste sich langsam wieder. Er hatte sich in Gedanken an Jenny verloren und nicht bemerkt, dass in die Außennock eine Glasplatte in den Boden eingelassen war, auf der er die ganze Zeit mit beiden Beinen gestanden hatte.
Mit einem unauffälligen, aber doch großen Schritt trat er auf eine Stelle, die mit Teppichboden belegt war und sich angenehmer unter den Sohlen anfühlte. Seinen Blick jedoch konnte er kaum von den Wellen abwenden, die dort unten in der Tiefe zusammenschlugen. Er sah hinab in die Gischt und hatte das Gefühl, er baumle über einer Klippe, musste sich am Geländer festhalten.
»Ich bitte um Aufmerksamkeit«, ergriff Kapitän Buske das Wort und die Brückenoffiziere gingen in Habachtstellung.
Tom zwang sich, sich zu konzentrieren und genau zu beobachteten, was vor sich ging.
Man merkte dem Kapitän die Anspannung an, wenn auch weniger deutlich als dem Generalmanager neben ihnen, der nervös auf seiner Unterlippe kaute. »Es ist Ihnen allen bekannt: Wir haben einen möglichen MOB. Und wir müssen jetzt schnell handeln. Wir haben das oft geübt. Jetzt zeigt es sich, ob wir es im Ernstfall beherrschen. Das MRCC ist benachrichtigt, damit auch das Kieler Headoffice automatisch alarmiert. Der Search-and-Rescue-Transponder wurde sofort nach der Meldung ausgesetzt. Wir wissen jedoch nicht, wie viel Zeit bis dahin vergangen war, somit kennen wir nicht die Distanz zwischen der Boje und der eventuell zu rettenden Person.« Der Kapitän machte eine kurze Pause.
Tom wusste, dass mit MRCC das Marine Rescue Coordination Center gemeint war, welches bei allen Arten von Seenotfällen kontaktiert wurde und weltweit vernetzt war.
»Die kleine SART-Boje mit Lichtsignal und Navigationshilfe wird sofort von der Brücke aus ins Wasser geworfen, wenn jemand über Bord geht«, flüsterte Sinah Tom zu. »Um die ungefähre Position mit Abdrift bestimmen zu können. Offen bleibt, wie weit die Person von dem Transponder entfernt ist. Insofern ist es ein Lotterie-Spiel.«
»Es gibt zwei klassische Manöver, zwischen denen man in diesem Fall wählen kann«, fuhr der Kapitän fort. Neben ihm stand Sicherheitsoffizier Schneider, der gerade, so schien es Tom, lange die Mediamanagerin fixiert hatte. »Ich habe mich gegen die Quickstopp-Wende entschieden. Stattdessen fahren wir ein knappes Q-Manöver. Wir gehen jetzt vor den Wind, leiten einen Williams-Turn ein und kehren an den Ausgangspunkt zurück. Wir haben höchstens noch eine halbe Stunde eingeschränkte Sicht, Leute, dann ist es stockdunkel und wir können es vergessen. Also, das muss jetzt schnell gehen. Legen wir los.«
Die Offiziere sprengten auseinander. Der Italiener begab sich zurück an die Seekarten und auf beiden Seiten der Brücke postierte sich jeweils ein Matrose mit Fernglas.
»Wir hatten schnelle Fahrt. Es könnte sein, dass wir bereits über eine Seemeile entfernt sind«, erklärte Sinah Tom leise.
In diesem Augenblick blickte der Kapitän streng zu ihnen herüber und Tom erstarrte. »Läuft die Show noch im Theater?« Der Kapitän hatte sich an Julian Arnold gewandt, der hinter Tom stand.
Es war jedoch Hübner, der antwortete: »Ja, ich wollte erst einmal kein Aufsehen.«
»Sofort abbrechen. Es wird jetzt ruppig.«
Umgehend griff der Unterhaltungschef zum mobilen DECT-Telefon an seinem Gürtel und ging ein Stück beiseite.
Buske drehte sich zu einem Schaltpult, drückte einen Knopf und man hörte einen kurzen Gong. Noch einmal wandte er den Kopf zu ihnen, und Tom war sich sicher, dass dieser durchdringende Blick nun definitiv ihm ganz allein galt. Dann setzte Buske seinen Mund an ein Mikrofon: »Verehrte Gäste, hier spricht Ihr Kapitän. Wir haben einen Notfall. Es könnte sein, dass eine Person über Bord gegangen ist. Deshalb müssen wir beidrehen und eine Suchaktion starten. Bitte machen Sie sich darauf gefasst, dass wir in wenigen Sekunden hart beidrehen und dabei in Seitenlage gehen. Keine Sorge, die Krängung wird nicht all zu stark. Bitte halten Sie sich fest, setzen Sie sich am besten hin und achten Sie darauf, dass Ihnen nichts auf den Kopf fällt. Dies ist keine Übung. Ich melde mich später wieder.«
Jetzt war es ausgesprochen. Tom konnte sich vorstellen, was nun auf dem Schiff los sein würde. Verängstigte Gäste würden das Personal ansprechen, sich an Stühle krampfen. Andere gerieten vielleicht in Panik, rannten trotz Warnung zu ihren Kabinen und stürzten, wenn der Kapitän das Ruder herumriss. Es würde Chaos ausbrechen. Aber das alles war jetzt unvermeidbar. Die Passagiere kannten wenigstens die Fakten und spekulierten nicht wild herum. Gäste, die sich gerade nicht bei ihren Mitreisenden aufhielten, würden wahrscheinlich auf die Suche gehen und schnell durchdrehen. Tom stellte sich Eltern vor, die ihrem Kind erlaubt hatten, sich allein auf den Weg zu machen, um an einer Bar ein Eis zu kaufen. An der Rezeption war jetzt sicher die Hölle los.
Das war auch Julian Arnold klar, der momentan wie wild telefonierte. Zunächst hatte er den Bar-Manager angerufen, dann die Chef-Rezeptionistin, nun hatte er den Hotelmanager an der Strippe. »Es werden sicher gleich viele Passagiere auf Deck fünf und elf an der Reling hängen. Ihr müsst unbedingt so viele Leute wie möglich dorthin schicken. Verteilt euch und beruhigt die Menschen. Der Service wird nur minimal beibehalten. Aber nicht ganz stoppen!«
Toms Aufmerksamkeit kehrte zurück zur Brücke. Hier herrschte im Gegensatz dazu nun völlige Stille, die nur durch einen gelegentlichen Befehl des Kapitäns unterbrochen wurde, der breitbeinig mit dem Staff-Captain an seiner Seite dastand und voraus blickte.
»Ruder hart Steuerbord, auf sechzig Grad und dann legen wir sie vor den Wind.« Staff-Captain Hardy Köpke drückte einige Knöpfe, gab etwas in den Computer ein und das Schiff drehte sich sofort, viel schneller und härter, als Tom es erwartet hatte. Er griff reflexartig wieder nach dem Handlauf.
Arnold und Hübner warfen sich einen erstaunten Blick zu und Sinah, die außer Reichweite des Holzgeländers um die Brückennock stand, ergriff Toms Oberarm, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. »Shit. Jetzt gab‘s im Restaurant sicher einige Scherben«, stieß sie leise aus.
»Norman, ich kann noch nicht sagen, ob wir die Person Luv oder Lee aufzunehmen versuchen. Bitte beide Rescue-Boote steuerbord und backbord vorbereiten.« Der Kapitän war nun in Fahrt, er kommandierte lautstark und entschlossen. »Wir peilen erst mal die SART-Boje an und sehen dann, ob wir von dieser Position aus auf Sicht etwas ausrichten können. Wenn nicht, müssen wir beide zu Wasser lassen und solange kreuzen, bis wir den Rettungsring entdecken, der einigermaßen schnell ins Wasser ging.«
»Aye, Kapitän!«, antwortet Sicherheitsoffizier Schneider mindestens ebenso zügig und lautstark und stürmte mit den Worten »LSA von der Brücke!« davon.
Tom war ein wenig enttäuscht, dass der Kapitän kein Steuerrad in der Hand hielt und herumriss. Natürlich funktionierte heutzutage alles über Computer, aber irgendwie hatte er erwartet, dass ein solches Schiff, wenn es nicht über Autopilot fuhr, dann doch über ein klassisches Steuerinstrument gelenkt wurde. Stattdessen wirkte es eher wie bei Raumschiff Enterprise: Captain Kirk gab Befehle und der Steuermann führte sie per Knopfdruck und Computer aus.
»Ruder hart über auf Gegenkurs«, gab Buske gerade Anweisung.
Tom ließ seinen Blick nicht von ihm. Sein Ton war bestimmt, aber ruhig. Er agierte ohne übertrieben militärisches Gehabe, doch es war ganz klar, dass auch auf einem zivilen Kreuzfahrtschiff nur einer das Sagen hatte: der Kapitän. Wie jedes andere Schiff hatte auch ein solcher Urlaubsdampfer eine streng hierarchische Struktur, die von Disziplin und Autorität geprägt war. Buske war vollkonzentriert und traf die Entscheidungen zügig und selbstbewusst. Seine Offiziere vertrauten ihm und folgten seinen Anweisungen.
»Peilung des Transponders?«
»Wir sind noch fünfhundert Meter entfernt, müssten ihn eigentlich trotz Seegang schon sehen können.«
»Halt sie gerade, zwei Grad mehr Steuerbord. – Ja, ist voraus!«
Tom spähte nach vorn und entdeckte tatsächlich die blinkende Boje rechts der Schiffsspitze, die zeitweise hinter den Wellen verschwand und dann wieder auftauchte. Bei dem Anblick wurde Tom erneut schlecht und er musste an den Passagier denken, der gerade ebenso durchs Meer schaukelte, mal über und mal unter dem Wasser – natürlich nur, wenn er nicht vom Aufprall bewusstlos geworden und sofort in die Tiefe gesunken war.
»Ist die Boje auf etwa ein bis zwei Uhr, drehen wir bei und fahren einen Nahezu-Aufschießer«, befahl der Kapitän mit den Augen am Fernglas. »Dann versuchen wir zu schätzen, wie weit er verdriftet sein könnte.«
»Der kann überall sein«, bemerkte Hübner neben Tom.
»Ruhe!«, stieß Buske mit scharfem Blick zu ihnen aus.
Tom sah wieder durch die Bodenscheibe. Unter ihnen schlug gerade erneut eine heftige Welle gegen die Schiffswand. Wie sollte sich jemand in diesen Fluten über Wasser halten? Dann spürte er, wie Sinah sich noch fester an seinen Oberarm klammerte. Er musste an Jenny denken. Manchmal war es vorgekommen, dass sie ihn überraschend am Oberarm gepackt hatte, um ihn in eine bestimmte Richtung zu ziehen, ihm etwas in einem Schaufenster zu zeigen, zu warnen, dass die Fußgängerampel gerade auf Rot gesprungen war, oder auch nur, um ihm für zwei Sekunden ihre Form von Ich liebe dich oder Du gehörst mir und ich will dich jetzt haben zuzuflüstern. Es waren Momente gewesen, in denen sie ihm mehr sagte, als in manchen Gesprächen über ihre Beziehung. Sinah jedoch wusste davon nichts und deshalb hatte Tom das Gefühl, gleich beiden Unrecht zu tun – weil er Sinahs Griff zuließ und weil er sie dafür benutzte, die Erinnerung an Jenny zu genießen.
Er veränderte seine Körperposition, was Sinah veranlasste, seinen Arm loszulassen, sich an die Brüstung zu begeben und dort festzuhalten.
»Zweihundert Meter voraus auf ein Uhr«, meldete der Staff-Captain.
»Gut«, kommentierte Buske. »Bring uns längsseits. Hat schon jemand den Rettungsring entdeckt?«
Zu den beiden Ferngläsern der Matrosen in den Flanken der Brücke und dem des Kapitäns gingen zwei weitere nach oben.
»Verdammt!«, stieß Staff-Captain Köpke aus, »das ist nicht so einfach – selbst bei dem geringen Seegang.«
»Und die Sicht wird von Minute zu Minute schlechter«, setzte Kapitän Buske frustriert hinzu.
***
Das fing ja gut an.
Angelika Carstensen nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas. Ihre Mutter und sie waren beide zum ersten Mal an Bord eines solchen Schiffes und Angelika eigentlich bis vor einer Dreiviertelstunde sehr froh gewesen, ihr diese Reise zum fünfundsiebzigsten Geburtstag geschenkt zu haben. Ihre Mutter war in den letzten Jahren nicht mehr viel aus der Hansestadt herausgekommen und hatte sich auch lange gesträubt, dieses Geschenk überhaupt anzunehmen. Doch Angelika hatte sie mit sanftem Druck dazu genötigt: »Die Reise ist bereits bezahlt und verfällt sonst. Und alleine gehe ich nicht.« Das hatte am Ende bei der alten Dame gezogen und sie konnte ihre Freude an dem Rummel, wie sie die Offiziersvorstellung bezeichnet hatte, trotz der Anstrengungen des langen Fluges nur wenig verbergen. – Auch wenn sie es leugnete: Angelikas Mutter war eine typische Person der Nachkriegsgeneration, sparsam, obwohl sie es mit ihrer Rente nicht unbedingt nötig hatte, und gönnte sich nur selten etwas. Deshalb musste sie ab und an sanft dazu genötigt werden, hatte dann aber ihre Freude daran.
Angelika nahm einen erneuten Schluck und sah hinaus aufs Meer. Das war doch aussichtslos! Bald war es stockdunkel.
Sie hatte ihre Mutter auf die Kabine bringen müssen, so sehr hatte diese sich aufgeregt. Die erneute Unterbrechung der Theatershow und die darauffolgende Durchsage des Kapitäns, der kurz zuvor noch auf der Bühne gestanden und eine so wundervolle Begrüßungsrede gehalten hatte, hatte großen Tumult im Publikum verursacht. Gäste waren aufgesprungen und zu den Glasscheiben gerannt, um etwas zu entdecken. Eine Frau rief lauthals nach ihrem Mann und erst als dieser sich ebenso laut von der Bar aus meldete, beruhigte sie sich wieder. Angelikas schwerhörige Mutter hatte nur die Hälfte der Durchsage gehört, jedoch verstanden, um was es ging. Die Vorstellung, ein Passagier sei während der Weihnachtsgala über Bord gegangen, hatte eine furchtbare Wirkung gehabt. Als ihre Mutter eingeschlafen war hatte Angelika sich in den Außenbereich einer Bar begeben, um dort einen Drink zu sich zu nehmen und abzuwarten, wie das Drama nun weiterging.
Es war kaum noch etwas zu sehen. Die Nacht legte sich unerbittlich über die See. Wie wollten die bei diesen Sichtverhältnissen jemanden finden?
»Sieht nicht gut aus für den armen Kerl«, kommentierte der Barkeeper, der seinen Hals hinter der Theke reckte, um ebenfalls etwas mitzubekommen.
»Hin ist hin«, erwiderte Angelika. »Hätte auch noch bis Koh Samui warten können, mit dem Schwimmengehen. Die Strände sollen traumhaft sein.«
Der Barkeeper musste lachen. »Stimmt allerdings«, erwiderte er mit deutlichem Berliner Dialekt. »Das zweite, meine ich, mit den Stränden.«
Nun musste Angelika lachen. »Die Frage für mich ist eher: Ist er gesprungen oder war er einfach nur sturzbesoffen?«
»Beides schrecklich«, antwortet er.
Gelangweilt zog Angelika an ihrer Zigarette und blies den Dunst in den dunklen Himmel. Dann nahm sie einen erneuten Schluck. Die Suchscheinwerfer flogen wie irre gewordene Glühwürmer über die schwarze See.
»So richtig Spannung kommt bei dem Tragödienstück nicht auf. Die Weihnachtsgala wäre mir lieber gewesen. Also, Ronny, ick nehm ma‘ noch einen«, ahmte sie seinen Berliner Dialekt nach.
»Is jut«, erwiderte er.
Der Barkeeper musste erneut lachen, verschluckte sich jedoch daran, als er den bösen Blick des Hotelmanagers am Ende des Tresens entdeckte. Sofort eilte er zu ihm.
»Findest du das witzig, Ronny?«, fragte Wulfert.
»Nee, nee«, antwortete dieser schnell.
»Dann darf ich jetzt also auch mal bestellen«, bemerkte er mit übertriebener Höflichkeit, die nicht wirklich verbarg, wie genervt er war.
Angelika erkannte auch recht schnell, warum: Neben dem Hotelmanager, der ihr bereits bei der Offiziersvorstellung positiv aufgefallen war, stand ein aufgebrachter Gast, dem Wulfert gerade ein Glas Sekt spendierte und der unentwegt auf ihn einredete und dabei immer lauter wurde:
»Es ist doch nicht so schwierig, Tomatensaft auf ein solches Schiff zu bringen. Sonst haben Sie doch auch alles hier.«
»Sicher«, antwortete Wulfert beschwichtigend, auch wenn die Halsschlagader des Hotelmanagers sichtbar anschwoll.
»Also, warum sparen Sie dann ausgerechnet an den Basics?«, erwiderte sein Gegenüber.
»Spaaaren, Spaaaren …« Wulfert zog das Wort ironisch in die Länge. »Wir sparen nicht. Aber es ist aus operativen Gründen nicht so einfach, an jeder Bar eine Bloody Mary zu mixen.«
»Wo liegt das Problem?«, echauffierte sich der füllige Gast, der sich offensichtlich schon einen Sonnenbrand zugezogen hatte.
»Da kommt Ihr Gläschen Sekt, Herr Franzke.« Stinkfreundlich versuchte Wulfert ihn ein wenig abzulenken.
Doch dieser ließ sich nicht beirren: »Ich will aber eine Bloody Mary.«
»Trinken Sie eben einen verdammten Wodka-Blutorange«, mischte sich Angelika von der Seite ein. »Wo liegt das Problem?«
Im Rücken des Gastes, der sich zu ihr umgedreht hatte, musste Wulfert fast lachen.
»Was geht Sie das an?«
»Es geht mich gar nichts an«, antwortet Angelika gleichgültig. »Ich habe das eh nie verstanden. Sie etwa?«, fragte sie mit Blick zu dem Hotelmanager. »Was finden die Leute eigentlich an diesem Gesöff? Das ganze Jahr über trinkt keine Sau Tomatensaft oder Bloody Mary. Und dann sitzen sie in einem Flugzeug in den Urlaub, gerieren sich plötzlich wie neureiche Lottogewinner und anstatt mal einen scheißteuren Dom Pérignon zu saufen, bestellen sie dieses Zeug, weil es nichts kostet und sie mal in einem schlechten Achtzigerjahre-Agentenfilm gesehen haben, dass der Lebemann das so tut.« Sie kicherte und nahm einen Schluck aus ihrem Glas.
Der dicke Franzke schnappte mit rotem Kopf nach Luft und wusste offensichtlich nicht, was er darauf antworten sollte. Es dauerte einige Sekunden, bis er sich wieder gefangen hatte. »Also ich trinke regelmäßig Bloody Mary. Und ich bin hier Gast und darf doch wohl, wenn mir etwas fehlt oder am Service auffällt, eine Anmerkung machen.«
Angelika hatte ihren Blick wieder aufs Meer gerichtet, wo sich allerdings nichts Interessantes ereignete.
»Wir können schlicht nicht an jeder Bar offenen Tomatensaft lagern, weil er nur ganz selten bestellt und auch sehr schnell schlecht wird«, erläuterte Wulfert dem schnaubenden Franzke, der ihn kopfschüttelnd seinen Satz nicht einmal ganz beenden ließ und gleich atemlos einfiel:
»Also ich sehe schon, Sie wollen mir nicht helfen. Es ist ihnen offensichtlich egal, dass ich in meinem verdienten Urlaub bei Ihnen nicht meine Wünsche erfüllt bekomme.«
»Herr Franzke, es ist mir sogar sehr wichtig«, antwortete Wulfert, dem anzusehen war, wie er innerlich kochte.
»Aber?«, fragte Franzke blitzschnell und mit einem derart ironischen Ton, dass Angelika sich nicht beherrschen konnte:
»Aaaber … da draußen treibt verdammt nochmal vielleicht gerade die Leiche eines seiner Gäste. Glauben Sie nicht, dass der Hotelmanager etwas anderes im Kopf hat, als sich um Ihre bescheuerte Regelblutung zu kümmern?«, fauchte sie.
Franzkes Augen weiteten sich vor Empörung und er vergaß für einige Sekunden völlig das Atmen. Als er es bemerkte, schnappte er nach Luft, starrte zunächst sie erbost an, dann den Hotelmanager und dann schüttete er das Glas Sekt in sich hinein, stellte es auf die Theke, drehte auf dem Absatz um und tappte ohne ein weiteres Wort davon.
Wulfert lachte erleichtert, als Franzke die Bar verlassen hatte. »Danke.«
Er hob sein Sektglas in Angelikas Richtung und sie erwiderte die Geste.
»Ich konnte nicht anders.« Sie nahm einen großen Schluck und lehrte damit ihr Glas. »Solche Leute machen mich krank. Sollen doch einfach mal Urlaub machen. Aber für Sie ist das sicher Routine.«
»Na ja, es gibt immer Gäste, die spezielle Wünsche haben.« Angelika hob ihr leeres Glas in Richtung Barkeeper, der ihr zunickte und sofort begann, ihr einen neuen Drink zu mixen.
»Der geht auf mich«, bestimmte Wulfert sofort.
Als sie das Glas gerade an den Mund setzte, machte das Schiff ein erneutes überraschendes Manöver.
***
»Wind von dreißig Grad backbord. Er müsste eigentlich in unsere Richtung getrieben sein. Alle Maschinen stopp«, entschied Buske und ergriff das Walkie-Talkie, das vor ihm auf der Manöverstation bereitstand.
»LSA für Brücke.« Aus dem Funkgerät ertönte die Stimme von Norman Schneider.
»LSA hört.«
»Sind die Rescue-Boote bereit?«
Der Sicherheitsoffizier bestätigte mit durchs Funkgerät verzerrter Stimme. Wenn Tom den Schnellkurs, den er sich hatte verabreichen lassen, richtig in Erinnerung hatte, waren diese Boote einzig für solche Einsätze gedacht. Sie hatten nur Platz für einige Personen, waren wie kleine Schnellboote und konnten zügig zu Wasser gelassen werden.
»Haltet euch bereit, beide auszusetzen«, antwortete ihm der Kapitän und presste schon wieder das Fernglas vor seine Augen. »Entweder ist er auf dreißig Grad backbord, vermute ich, oder er müsste auf Steuerbord direkt zu sehen sein.«
Geschlossen blickten sie auf die immer dunkler werdende See – die Brückenbesatzung mit ihren Sichthilfen, alle anderen Anwesenden ohne. Auch Tom verlor einen kleinen inneren Kampf und stierte mit zusammengekniffenen Augen aufs Meer hinaus.