Kreuzschmerzen - Maren Lassander - E-Book

Kreuzschmerzen E-Book

Maren Lassander

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Beschreibung

Sie führen ein spannendes Leben am Abgrund – die mysteriöse L., eine Archäologiestudentin, und der ehemalige Bergführer Jorne Serrano. Im Auftrag eines Davoser Antiquitätenhändlers entwenden sie wertvolle Sakralgegenstände aus Kirchen und Klöstern in den ländlichen Gegenden der Schweiz. Die geweihten Objekte verschwinden in der okkulten Szene, Hauptabnehmer ist eine Sekte, die sich Société anonyme nennt. L. hat damit kein Problem. In den dunklen Tälern des Schweizer Katholizismus aufgewachsen, hat die junge Frau, der ihr Beichtvater schon "eine nicht unbedenkliche Neigung zum Bösen" attestierte, für religiöse Anwandlungen nur ein müdes Lächeln übrig. Jorne dagegen wird oft von "Kreuzschmerzen" – sein Wort für religiöse Gewissensbisse – geplagt. Leider werden "Fräulein Friedhof und Herr Sonnenschein" (ihre Decknamen) auch polizeilich gesucht. Das Netz der Ermittler beginnt sich gerade zu schließen, als sie ein neuer Auftrag erreicht: Das seit Jahrhunderten gesuchte Ur-Christen-Relikt, ein Brustkreuz der Tempelritter, wurde in einer abgelegenen Krypta in einem Hochtal, lokalisiert. Doch der Winter steht vor der Tür, die weißen Riegel senken sich bereits vor die Pässe. Angesichts der Summe, die auf dem Spiel steht und auch weil es die Gelegenheit ist von der Bildfläche zu verschwinden, brechen die Meisterdiebe dennoch ein letztes Mal auf …

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MAREN LASSANDER

Kreuzschmerzen

Kriminalroman

© 2023 by Maren Lassander

INTELLECTUAL PROPERTY CLAIM: Die im Roman Kreuzschmerzen beschriebenen Handlungen und Charaktere (definiert in Aussehen und Charaktereigenschaften) sind unabhängig vom Kontext dieses Romans nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG. urheberrechtlich geschützt und IPs der Autorin Maren Lassander. Jede Verwendung in Wort, Bild, Film, Ton, Kino, Radio, TV, Internet, Mobile oder anderen Medien ist ohne Erlaubnis der Urheberin untersagt.

1. eBook-Ausgabe 2023

© 2023 Golkonda in der Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Lektorat: Silwen Randebrock, Berlin

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-96509-070-5

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Eine nicht unbedenkliche Neigung zum Bösen

2. Superfinster

3. Die Meineidgenossen

Epilog: Gottesteilchen

Prolog

»Verzeihen Sie, ich müsste Sie eben mal sprechen.«

Es war ein heißer Tag auf dem Zermatter Bergsteigerfriedhof, ein normaler Augusttag im Wallis, wenn man 28 Grad Celsius auf einer Höhe von sechzehnhundert Metern normal nennen will.

Jorne Serrano setzte die mit verwelkten Blumen beladene Schubkarre ab: In der prallen Sonne stehend, die warme, gestampfte Erde unter den Füßen, wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Langsam hob er den Blick – weiße, milchweiße Knie, Bachstelzenbeine, schlanke Fesseln … Spitzensöckchen, rot gelackte Ballerinas …

»Sie sind doch der Jorne, nicht wahr?«

Der schwarze Wickelrock und die gebügelte weiße Bluse erinnerten an die Aufmachung einer Internatsschülerin, der Gretchenzöpfe und ein knallrotes Bandana eine leicht frivole Note verliehen.

»Wer will das wissen?

»Eine Friedhofspaziergängerin … mit regem Interesse an Ihren – wie soll ich sagen – Fachkenntnissen.«

Das hoch aufgeschossene Mädchen streckte die Hand aus, so von oben herab, obwohl es fast noch eine Kinderhand war, und löste bei Jorne nicht nur Misstrauen, sondern auch Verlegenheit aus. Er begann, sich linkisch die Hände zu wischen.

»Ist schon gut«, sagte das Mädchen. »Ein bisschen Dreck macht mir nichts aus. Kann ich Sie mal kurz sprechen?«

Jorne nickte, selbst wenn er sich nicht danach fühlte. Wer war diese Frau?

Ihm fiel auf, dass sie vor einer Gedenkstätte standen – dem »Grab des unbekannten Bergsteigers«. Der Stein hatte Ähnlichkeit mit dem schrecklich-schönen Berg, den er nur allzu gut kannte. Vom Friedhof aus war der weiße, selbst im Sommer von Lawinen berieselte Dreikant deutlich zu sehen. Als junger Kletterer hielt Jorne den Berg noch für ein Zeichen Gottes, weil der Mensch nie in der Lage sein würde, etwas ähnlich Imposantes zu erschaffen. Inzwischen wusste er, dass der steinerne Tempel ein Pandämonium war, und einige dieser Dämonen hausten in seiner Seele.

»Worum geht’s?«

»Eine Zweierpartie.« Sie nahm den Rucksack nicht ab – eher glitt er ihr von der Schulter; aus dem Laptopfach zog sie einen Collegeblock. In dem Hauptfach waren noch ein braunes Kuvert, Tablettenblister eines Multivitaminpräparats und eine Tüte mit Studentenfutter zu sehen.

»Dann hat Sie der Chef von der Bergsteigerschule geschickt?«

»Hm hm.« Ihr Lächeln war zuckersüß, doch da war etwas in ihrem Blick, das einem Angst machen konnte. Vielleicht lag es auch nur am sonderbaren Blau ihrer Augen. »Er scheint Sie nicht besonders zu mögen, aber ohne seine Beschreibung hätte ich Sie bestimmt nicht erkannt.«

Quatsch nicht, dachte Jorne bei sich. Niemand in diesem Talkessel, auf dessen Grund die Häuser wie im vergletscherten Kiefer eines Untiers dalagen, hatte eine dermaßen verfilzte Mähne, die übrigens noch verdächtiger wirkte, wenn er sie mittig gescheitelt zurückgekämmt trug. Im McDonald’s in Gamsen hatten sie ihn deshalb mal als Vokuhila beschimpft. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass er sich im Anschluss an die Schlägerei fragte, warum sich manche Menschen an seinem Aussehen störten. Vielleicht hatten sie Angst. Unter einer scharf geschnittenen Nase saß ihm der Mund wie ein Spatenhieb im Gesicht. Seine Augen lagen dagegen in schattigen Höhlen – und da lagen sie gut.

»Tut mir leid«, sagte Jorne, »aber ich führe nicht mehr.«

»Das weiß ich doch«, sagte das Mädchen. »Sie hatten vor Jahren einen schlimmen Unfall am Berg.« Und mit einem Blick auf ihre Notizen: »Fünf Tote. Eine der Verunglückten war Ihr Mündel. Die kleine Schizo-Vreni – so wurde sie doch in Ihrer Dorfgemeinschaft genannt. Ein richtiger Wildfang, nicht wahr? – Oh, an dieser Stelle, mein aufrichtiges Beileid … Die Versicherung forderte damals im Auftrag der Genossenschaft ein Gutachten an. Ein Kollege nannte Sie öffentlich einen Halunken. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, haben Sie sich daran gewöhnt, in der Scheiße zu leben?«

Der Satz traf Jorne wie ein Schlag in den Magen. »Ach, wissen Sie, man muss ja nicht reinfassen, sag ich immer … äh, wie war Ihr Name noch mal?«

»L.«

»Na schön, Elle …« Jorne glaubte tatsächlich, den französischen Namen Elle zu verstehen, und probte ein versöhnliches Lächeln. »Sie wollen wissen, wie es mir geht? – Ich habe Kreuzschmerzen, jeden Tag, und das nicht zu knapp.«

»Kreuzschmerzen? Ach, Sie Ärmster.« Sie kicherte wie über einen unanständigen Witz. »Sie dachten, der liebe Gott hält seine schützende Hand über Sie, Sie dachten, Sie gingen an seinem Seil, als Sie die Flachländer auf das Horu rauflotsten. Aber so war es nicht, nicht wahr, und jetzt – wo Sie auf die Nase gefallen sind – liegen Sie mit Ihrem Schöpfer … über Kreuz. Sie fragen sich, warum hat er Ihren Sturz nicht verhindert. Hab ich recht?«

Statt zu antworten, fuhr sich Jorne mit der Hand über das stopplige Kinn: Der Unfall hatte ihn zum Invaliden gemacht, zum Friedhofsgärtner, dem die Gemeinde seitdem das Gnadenbrot gab. Wärstwohl besser gestorben, Jorne … Ein guter Führer kehrt niemals ohne seine Gäste zurück.

»Ich glaube, Sie sollten jetzt besser gehen«, sagte Jorne.

»Meinen Sie?« Das Mädchen verzog spöttisch die Lippen. »Darf ich Ihnen einen Rat geben? Gegen die Kreuzschmerzen? Stehen Sie wieder auf.«

»Dazu ist es zu spät«, sagte Jorne. »Der alte Esel ist reif für die Schlachtbank. Sie werden schon einen anderen Bergneger finden.«

Diesmal verzog sie die Lippen, als hätte sie auf etwas Saures gebissen. »Um ehrlich zu sein, ich suche eher einen Reisebegleiter – ein Mann von bedingungsloser Treue, robust, unkompliziert, tapfer bis todesmutig … und nicht allzu clever.«

»Das nenne ich mal ein Kompliment!« Noch empfand Jorne die Frechheit des Mädchens erfrischend. »Worum geht’s?«

»Um ein aufregendes, lukratives Geschäft.«

»Geht es vielleicht etwas genauer?«

»Seltene Antiquitäten, christliche Devotionalien …«

»Wo ist der Haken?«

Das Mädchen wiegte den Kopf hin und her. »Sie wollen, dass ich mit der Tür ins Haus falle, ja? Nun, der Job wird nicht einfach sein, aber er lohnt sich …«

»Davon bin ich überzeugt.« Jorne versuchte, locker zu bleiben, doch die Nägel in seinem steifen Knie begannen zu jucken. »Und deshalb schnüffeln Sie in meiner Vergangenheit rum?«

»Was hätten Sie zu verbergen?« Das Mädchen begann wieder zu blättern. »Jeder hier weiß, dass Ihr Leben ein Trümmerfeld ist …« Sie stockte, als hätte sie etwas Falsches gesagt. »Na schön, sagen wir mal, dass es in leichter Unordnung ist. Wo waren wir – ach ja, als Sie die Reha verließen, gingen Sie nicht gleich nach Zermatt. Das Patent waren Sie los, Sie mussten umsatteln – so war es doch, oder? Ein Natursteinzentrum in Domodossola stellte Sie kurzfristig ein. Sie arbeiteten in einem Steinmetzbetrieb … schliffen Inschriften von Grabsteinen ab. Das war sicher ungemein interessant. Wie lange dauerte es, bis die Handschellen klickten? Zwei Monate? Drei?« Sie hatte offenbar Mühe, nicht wieder zu kichern. »Jetzt spielen Sie nicht das Unschuldslamm … Ihr ehemaliger Chef, den ich letzte Woche im Luganer Gefängnis La Stampa besuchte, hat mir alles erzählt.«

»Wie? Sie haben den Padrone besucht?«

»Ja, den Ehrenhobel persönlich. So wird er doch in seinen Kreisen genannt. Wussten Sie wirklich nicht, dass der Weiterverkauf von gestohlenen Grabsteinen zum Kerngeschäft der Tessiner Mafia gehört?«

»Was soll das?« Jorne hatte allmählich genug. »Ich sagte schon, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.«

»Wenn ich das täte …« – sie packte ihre Kladde zusammen – »hätten Sie sich um ein fünfstelliges Sümmchen gebracht.« Und da er sie nur anstarrte: »Na sehen Sie, so dumm sind Sie auch wieder nicht.«

»Jetzt mach mal halblang.« Jorne schoss das Blut ins Gesicht. »Wenn du keine Rotznase wärst, dann …«

»Was dann?«, fiel sie dazwischen. »Unabhängig davon, ob es mit uns klappen wird, sollten Sie wissen, ich habe keine Angst vor dem Tod. Ich weiß nämlich, dass es Schlimmeres gibt.«

Huskyaugen, dachte Jorne bei sich, sie ist auf der Jagd. Nur nach was?

»Sind Sie immer so impulsiv?«, fragte er, um die Situation zu entschärfen. »War doch nur Spaß.«

Ihr Blick wurde wärmer – die Maske der Püppie fatale war zurück.

»Ich bin nicht impulsiv«, stellte sie klar, »Sie sollen nur wissen, woran Sie sind. Kommen Sie, gehen wir mal ein Stück.«

Er ließ die alte Kompostkarre stehen, folgte seiner mysteriösen Besucherin jetzt wie in Trance. Irgendwie wusste er längst, dass er nicht zu seiner Karre zurückkehren würde. Das Mädchen schien sich ihrer Sache sehr sicher. Während sie vor sich hinschlenderten, erzählte sie ihm, früher habe sie Gutachten für eine Antiquitätenbörse geschrieben. Nun arbeite sie für einen Mann in Davos.

»Schön haben Sie’s hier«, sagte sie nach einiger Zeit, »irgendwie dachte ich immer, der Friedhof von Zermatt sei nur was für Touristen.«

»Na ja, das ist er ja auch. Rund fünfzig verirrte Seelen, die sich der Berg geholt hat, meistens Ausländer. Dahinten gibt es noch die Reihengräber der Einheimischen, aber der Anblick ist deprimierend.«

»Waren Sie jemals auf dem Friedhof Kensal Green, Jorne?«

»Ich glaube nicht.«

»Sie glauben nicht …?« Es klang, als hätte das Tauwetter zwischen ihnen begonnen. »Wären Sie dort gewesen, würden Sie sich erinnern: Es ist der älteste Londoner Friedhof, und er galt einmal als größte Nekropole der westlichen Welt. Die Urnentürme sollten Sie sehen, ein Gedicht! Schade nur, die meisten Kolumbarien sind inzwischen verfallen.«

»So schlimm ist es?«, fragte Jorne zum Schein.

»Im Vergleich zur Herzgrüftl-Kapelle? – Oh ja. Die Bausubstanz von Kensal Green hat enorm unter dem sauren Regen gelitten.«

Und in diesem Ton, der eher einem Selbstgespräch glich, fuhr sie fort. Die Wiener Herzgrüftl-Kapelle sei so etwas wie »die letzte Bastion schwindender europäischer Bestattungskultur. Nicht, dass Sie denken, ich würde vor Frömmigkeit platzen, aber es ist nur eine Frage der Zeit, und irgendein Nützlichkeitsdenker wird die Gräber mit Solaranlagen bestücken.«

»Und das fänden Sie unerträglich?«, fragte Jorne behutsam.

»Dass man auf dieser übervölkerten Erde aus Gräbern etwas Nützliches macht?«

»Nein.« Das Mädchen wirkte nachdenklich. »Was ich sagen will … Europa hat sich zu einem Kehrichthaufen entwickelt. Niemand hat das die letzten zwanzig Jahre bemerkt.« Sie nickte unbestimmt in die Gegend. »Am schlimmsten ist die allgemeine Geistesverwirrung. In Schweden soll es Menschen geben, die das Gefriertrocknen von Leichen als Alternative zum Begräbnis empfehlen. Sie wollen ihre zerbröselten Körper als Düngemittel nach Afrika schicken. In Plastiksäcken … Was sagt uns das über das Selbstwertgefühl dieser Menschen?« Eher beiläufig verwies sie auf eine Reihe von Stelen zwischen bemoosten Christussen und verwitterten Engeln. »Vor dreihundert Jahren waren die Grabplatten noch größer als die Gebeine, die sie bedeckten. Die Leute glaubten an die Auferstehung, das war der Grund. Wir Modernen sind – seien wir ehrlich – auf den Aschenbecher gekommen. Und es dürfte erst der Anfang einer Entwicklung sein, die unsere europäische Grabmalkultur mit ihren stillen Hainen und österlichen Glockenblumen hinwegfegen wird.«

Jorne nickte, doch im Grunde hörte er gar nicht zu. Wie der Wolf, der in Grimms Märchen mit Rotkäppchen anbändelt, fragte er sich zu diesem Zeitpunkt, ob er sie gleich fressen solle oder erst später. Dabei schien dieses Edelmeitji gar nicht so zartbesaitet zu sein. Längst hatte er die weißen Narben an ihren Unterarmen bemerkt – wie Schlittschuhspuren auf der Kunsteisbahn …

»Gehört das Ritzen auch zu Ihrer Grabmalkultur?«

Sie saßen inzwischen auf einer Bank, die Füße in einer kühlen Efeuwucherung.

»Sie haben gute Augen.« Das Mädchen betrachtete ihren rechten Arm in diesem Moment, als ob er ein Fremdkörper wäre. »Nur ein Andenken an die Schulzeit. Wenn man raushat, wie fest man aufdrücken muss, ist es wie Fingernägelkauen.«

»Kein autoaggressives Verhalten?«

Sie wirkte für einen Moment überrascht. »Woher … ich meine … das ist der Fachausdruck, oder?«

»Ja.« Jorne bemerkte ein welkes Rosenblatt, das auf der Stahlkappe seines Arbeitsschuhs klebte. »Vreni, meine Nichte, hatte so Arme wie Sie. Das heißt, diese weißen Linien waren bei ihr mit roten Punkten markiert. Sie hat gedrückt, kam vom Heroin nicht mehr los. Machte immer so weiter. Wir suchten eine Erklärung, aber ihr Therapeut meinte, sie durchlebe eine melancholische Phase, demnach kein Grund zur Besorgnis. Dass ich mich jetzt daran erinnere, hängt vielleicht damit zusammen, dass dieser Arm das Letzte war, was ich von ihr sah. Schon merkwürdig, so ein tiefgefrorener Arm, der wie ein Ast aus dem Schnee ragt.« Sein Hals fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an, und er japste nach Luft. »Herrgott, den Rest von ihr haben sie später von den Felsen gekratzt!«

Hinter der Friedhofsmauer fuhren in diesem Moment ein paar Mountainbiker vorbei. Ihre Aufmachung hatte Jorne immer an die Rüstungen römischer Gladiatoren erinnert. Auch das Mädchen hatte die Bande bemerkt.

»Sehen Sie die?«, fragte das Mädchen. »Die sind autoaggressiv. Ich bin nur ein bisschen verstimmt … Na gut, im Beck’schen Depressionsinventar habe ich mal 20 von 32 Punkten erreicht, aber da hatte ich vorher auch eine Menge Valiumtabletten geschluckt.«

»Demnach waren Sie auch in Behandlung – wegen der Ritzerei, meine ich?«

»Sie nerven«, sagte das Mädchen. »Na schön, aber Sie werden es doch nicht verstehen. Im Buch Mose1 werden den Frauen Tätowierungen am Körper verboten. Ich lasse mir aber von Gott nichts verbieten.«

»Sicher nicht«, pflichtete Jorne ihr bei. »Ich bin erleichtert, dass es nicht anderes ist.«

»Sie meinen einen Selbstmordversuch?«, fragte das Mädchen. »Den Versorgungsvertrag mit der Erde kann man nur aufkündigen, wenn man was Besseres hat. Das hab ich nicht. Ich bin nur ein Tier und werde wie ein Tier sterben. Was ist mit Ihnen?«

»Ich bin schon gestorben«, sagte Jorne. »Ich hoffe trotzdem, dass es noch etwas anderes gibt. Und deshalb glaube ich noch immer an Gott. Damit hat sich die Zweierpartie dann wohl erledigt.«

»Nicht für mich.« Das merkwürdige Mädchen hatte den Collegeblock weggepackt und trank einen Schluck Wasser. Die Hitze flimmerte zwischen den Gräbern. Jorne senkte den Blick auf die blauschwarzen Schatten, die zwischen den Platten des Pflasterwegs in der Erde versickerten.

Tut mir leid, Vreni, du kannst nichts dafür …

»Sie tun mir unrecht«, sagte sie plötzlich, »wenn Sie denken, dass ich mit Ihrem Glauben nichts anfangen kann. Im Gegenteil, ich weiß die christlichen Werte durchaus zu schätzen.« Es folgte ein kurzes, etwas zu vertraulich wirkendes Zwinkern. »Da wären beispielsweise kostbare Sakralgegenstände, die in so einen Rucksack passen … Verstehen Sie, wie ich das meine?«

Bei Jorne war endlich der Groschen gefallen.

»Kirchenraub? Ist es das?«

»Ein hässliches Wort, aber es stimmt.« Sie sah ihn abschätzend an. »Hätten Sie damit ein Problem? Glauben Sie, Gott, der Herrgott wird Sie dafür zur Rechenschaft ziehen, Sie braver Katholik?«

»Die Kirche ist nicht Gott«, sagte Jorne, »sie ist seiner nicht würdig.«

»Vielleicht doch.« Ihre Augen blitzten kurz auf. »Selbst die Bibel schildert Gott als rachsüchtiges, blutrünstiges Monster … Aber lassen wir das. In meinem Fach geht es nur um ein paar Antiquitäten, für die die Kirche sowieso keine Verwendung mehr hat. Sie erinnern sich vielleicht, die deutschen Bischöfe legten kürzlich bei einem Besuch in Palästina aus Rücksicht ihre Brustkreuze ab. Mein Auftraggeber dagegen kann diese Kleinodien – wenn auch in einem unorthodoxen Rahmen – noch gut gebrauchen.«

»Dann klauen Sie …« – Jornes Entscheidung stand noch auf der Kippe – »auf Bestellung?«

»Ja, es gibt eine Abnahmegarantie wie bei jeder archäologischen Expedition.« Das Mädchen warf einen Blick auf die Uhr, im Aufstehen strich sie sich die Rockfalten glatt. »Sie werden mitmachen, nicht wahr?«

Jorne sah sie an, schüttelte den Kopf, sah sie länger an, nickte, schüttelte dann wieder den Kopf.

»Ich brauche Sie, Jorne, und das hat einen einfachen Grund.« Sie spreizte die Finger der rechten Hand nach Art einer balinesischen Tempeltänzerin – sehr biegsam diese Finger, sehr beweglich und fast so durchsichtig wie die Leimtentakel der fleischfressenden Sonnentaupflanze. »Sehen diese Finger so aus, als könnten sie eine Brechstange halten?«

»Wenn Sie so direkt fragen – eigentlich nicht.«

»Dann muss ich Ihnen nicht sagen, wie es ausgehen wird, sollte ich jemals versuchen, ein Schloss zu knacken oder ein Loch in eine Panzerglasscheibe zu hämmern.«

»Verstehe«, sagte Jorne, »Sie suchen eigentlich keinen Reisebegleiter, sondern ein Werkzeug fürs Grobe.«

»Trifft den Nagel genau auf den Kopf«, sagte das Mädchen. »Solche Werkzeuge haben natürlich ihren Preis, und ich bin bereit, ihn zu zahlen.« Aus dem Innenfach ihres Rucksacks zog sie das braune Kuvert. Der Falz war gewellt, was vielleicht auch an dem kreuz und quer verlaufenden Klebeband lag. – »Ach, hätten Sie vielleicht zufällig … etwas Scharfes dabei?«, kommentierte sie ihren Versuch, die Klappe des Umschlags mit den Fingernägeln zu öffnen.

»Einen Brieföffner?«, fragte er spöttisch zurück. »Aber ja, ich laufe zufällig den ganzen Tag mit so einem Teil durch die Gegend.«

Es war allerdings kein Brieföffner, den er zückte, sondern ein Stichel – ein echtes Caela Sculptoris – mit einer angeschliffenen Spitze.

Sie zögerte einen Moment. »Ich bin beeindruckt. Sie sind tatsächlich bewaffnet.«

»Nur ein Andenken«, sagte Jorne, »an Domodossola, Sie wissen ja.«

»Ja, ich weiß.« Das Kuvert war inzwischen geöffnet, der Inhalt deutlich zu sehen. »Nennen Sie es einen Vertrauensvorschuss. Ich bezahle Sie hier und jetzt – vorausgesetzt, Sie kommen mit.«

Jorne sah sich um. Vor lauter Nervosität leckte er sich über die nach Erde schmeckenden Lippen. »Ihnen ist klar, wir reden hier nicht von Ladendiebstahl, sondern von … qualifiziertem Raub.«

»Sehr qualifiziertem sogar!« Sie versuchte wie Bambi zu blinzeln. »Die Schweiz hat es in dieser Epoche auf allen möglichen Gebieten zu Höchstleistungen gebracht, nur in der Kriminalität hinkt sie dem Rest der Welt hinterher. Ich habe vor, das zu ändern.«

»Das nenne ich mal eine Ansage«, sagte Jorne.

»Wirklich? Ich glaube, Sie nehmen mich noch immer nicht ernst.« Und als er nur in sich hineinlächelte: »Ich bin eine Frau mit einem IQ, der das Hirn der meisten Menschen wie eine Erbse aussehen lässt. Und – was auch nicht unwichtig ist – ich zahle Ihnen Ihren alten Führertarif, plus ein Schmerzensgeld obendrauf – macht zweitausendfünfhundert Franken.« Mit flinken Fingern begann sie die Scheine zu zählen. »Und dafür erwarte ich keine Quittung oder dergleichen, aber Ihr Einverständnis, dass Sie an meinem Seil gehen. Verstehen Sie mich?«

»Solange es keine Hundeleine ist … kein Problem.« Jorne steckte das Geld ein und quittierte den Handel mit einem Nicken. Die Sonne war in diesem Moment hinter den Bergen verschwunden. Von einem Augenblick zum nächsten schien es eine andere Welt.

»Wollen Sie mir nicht endlich Ihren richtigen Namen sagen?«

»Ich heiße L. Das sagte ich doch.«

»Wie der Buchstabe? Dann ist es eine Abkürzung. Nur für was?«

»Eines Tages werde ich es Ihnen verraten.« Wieder dieses Lächeln. »Sie brauchen übrigens auch noch einen Decknamen. Sollten wir telefonieren, wollen wir uns ja nicht aus Versehen belasten.«

Sie hatten den Ausgang des Friedhofs inzwischen erreicht.

»Sie heißen mit Nachnamen Serrano … Haben Sie spanische Wurzeln?«

»Soweit ich weiß, aber bei uns in der Familie hat keiner Ahnenforschung betrieben. Der Name bedeutet übrigens Hochländer oder Montagnard, wie die Welschen unsereins nennen.«

»Ich hab’s«, sagte das Mädchen, »ich werde Sie am Telefon Herr Sonnenschein nennen. Wie finden Sie das?«

»Herr Sonnenschein?« Jorne hatte einen anderen Sinn für Humor – nämlich keinen. »Wieso?«

»Na hör’n Sie mal, Sie sind der Frohsinn in Person. Bei Ihrem sonnigen Gemüt müssen Sie sicher nie die Heizung anstellen!«

Die umliegenden Berge hatten schon einen orange-violetten Anstrich bekommen. »Eine letzte Frage. Warum glauben Sie, dass ich der Richtige bin?«

Er hatte sie offenbar in Verlegenheit gebracht, denn ihr Blick irrte über die steinernen Platten am Boden. »Wir haben eine ähnliche Vita«, sagte sie. »Das Leben hat uns übel mitgespielt, aber wir sind nicht zerbrochen.«

»Das sieht nur so aus«, sagte er lächelnd. »Ich bin ein Verlierer.«

»Ja, ja … und am Ende landen wir alle in einer Kiste, und alles ist gut!« Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Sehen Sie, in diesem Leben kommt es darauf an, ein möglichst schlechter Verlierer zu sein. Ich für meinen Teil werde nicht die linke Wange hinhalten und auch nicht den Arsch oder was diese Menschengemeinschaft von mir erwartet … Ich hole Sie hier am Friedhofstor um Mitternacht ab, alles klar? Ach ja, und bringen Sie ein paar Werkzeuge mit – ein Brecheisen wäre für den Anfang nicht schlecht. Bis dann, Herr Sonnenschein, es geht los!«

1 Buch Mose 19, 28

1

Nach einem sintflutartigen Regen, der auf der Fahrbahn für Hochwasser sorgte, stand die Sonne so tief, dass der Verdacht begründet erschien, nicht das Klima, sondern die Erdachse habe sich in den letzten Jahren verändert.

Na wenn schon, dachte L. und kniff die Augen zusammen, ein krummes Ding mehr auf der Welt.

Mit einer Handbewegung – wie man eine Fliege verscheucht – zog sie die vergilbte Blende nach unten. Sie war lange Überlandfahrten gewohnt, doch meistens in stockfinsterer Nacht und ohne kosmisches Gegenlicht. Offenbar hatte sie die denkbar ungünstigste Uhrzeit für ihre Reise gewählt.

Mutters »Sterbeheim« lag am Zürisee, L. fuhr die Strecke jetzt, wo es auf das Ende zuging, mehrmals im Monat. Es war der einzige mehrstöckige Neubau in einem Ort mit holzverkleideten Qualitätskäseschachteln, deren Architekten womöglich am Zeichenbrett von Atomschutzbunkern oder Futtersilos geträumt hatten. Die behaglichen Wohnmaschinen reihten sich am Ufer entlang, und hier – zwischen zenbuddhistisch anmutenden Schottergärten, monolithischen Gabionen, Betonpflanzen und beleuchteten Badezubern – hausten die bessergestellten Helvetier, die im Grunde nie wussten, was ein tief empfundenes Tischgebet war. L. fühlte sich ihnen auf schlimme Weise verbunden. Es war nicht nur die dezente Formensprache der Villen, die die Bewohner ideologisch als eingefleischte Realisten verriet, es war mehr: Wie alternde, aber rüstige Titanen im heidnischen Reservat, so lebten diese Raffer ihren perfekt gestalteten Alltag. Die Habgier trieb sie unermüdlich voran, und viele von ihnen hatten es nicht nur zu tresorartigen Eigenheimen, Rasenmährobotern und Maybach-Limousinen gebracht, sondern auch zu einem wasserlosen, mit blauen Glassteinen aufgeschütteten Infinitypool, der die körperliche Mühsal des Schwimmens ersparte. Das hatte L. immer schon imponiert. Tja, reich müsste man sein … Ein Stardust-Remix im Radio machte L. richtig munter, das Zählwerk des Tachos spulte die Kilometer ins Nichts.

Das ländliche Ungefüge der Landschaft war dagegen nicht sonderlich interessant. Außer sumpfigen, abgeernteten Äckern gab es wenig zu sehen. Ein paar Bahnbauruinen – Sichtbeton, verdreckt oder schon halb vom Frost erodiert, hier und da mit Folien abgedeckte Felder, die im Sommer vielleicht reflektierten, Schrottcontainer, die hier jemand abgestellt hatte, um sie kaltschnäuzig zu vergessen. Ab und zu tauchte die obligatorische, von Coop gekaperte Tankstelle auf, die dann eher einem Minimarkt glich. Insgesamt hatte der Verlauf der Straße aber etwas ebenso Eintöniges wie Beunruhigendes: Mit jeder Überwindung einer Steigung lief die Fahrbahn gleich einer Schlossallee auf die nächste, von säulenartigen Bäumen begrenzte Lichtscharte zu. Um diese Uhrzeit fielen die Schlagschatten tiefschwarz auf den schlaglochvernarbten Asphalt, was aus dem Inneren eines sich fortbewegenden Fahrzeugs immer so aussah, als würde sich die Straße in einem Flimmern auflösen. Das war der Grund, warum L. selbst große Schlaglöcher übersah. Die Tropfenhaut auf der Windschutzscheibe zuckte nach jedem Rums wie ein lebendes Wesen zusammen.

Ein gerader Mensch gleicht einer geraden Allee, die nur halb so lang erscheint wie jene, die krumm verläuft … Moment mal, L., wie kommst du jetzt auf Jean Paul? Spukt da nicht schon genug Belesenheit in deinem Oberstübchen herum?

Ein Thuner Schleicher mit Pferdeanhänger zwang sie zu überholen, wobei sie einen kurzen Blick in den Rückspiegel warf. Hm, vielleicht ein bisschen zu schrill, aber die steckbrieflich gesuchte Kriminelle hast du abgehängt … Keine Ähnlichkeit, nicht die geringste.

Es war ihr nicht leichtgefallen, sich von ihren blonden Flechten zu trennen, aber es musste sein. So wie das Piercing und die dunkel geschminkten Lippen. Die Porzellanschminke aus dem Gruftishop hätte sicherlich einer Geisha alle Ehre gemacht. L. mochte diesen Teil der Maskerade tatsächlich – sie empfand die kalkige Blässe als schön, vielleicht weil sie gut mit dem blau gefärbten Irokesenschnitt harmonierte. Dessen mit Lack gefestigte Stacheln erinnerten an den Anfang einer kniffligen Mikadopartie. Der blaue Lorbeerkranz, der sich um ihre Schläfen ringelte, ließ ahnen, dass die Farbe wohl nicht wasserfest war, denn ein Platzregen hatte sie vor ein paar Stunden erwischt. Ein Taschentuch musste her – etwas, um die Tinte zu löschen. Beiläufig begann sie, in dem offenen Bäuchlein eines Stofftiers zu kramen, das als Beifahrer neben ihr saß: Der Dinorucksack war so neu wie die Eisenstecker in ihrem Gesicht. Der Flokatimantel gehörte ebenfalls zur Verkleidung. L. hatte wirklich alle Register gezogen, um genügend Abstand zwischen sich und das Fahndungsfoto zu bringen. Während ihre Finger Tampons, ein Teppichmesser, ein Zigarettenetui und ein halbes Dutzend Nagellackfläschchen abtasteten, sah sie den Plüschdinosaurier unverwandt an.

Was denn? Ich hab halt gern ein paar Extrafarben dabei … Und das Messer? Sagen wir mal, Vorsicht ist die Mutter des Kerzenständers …

L. blies sich eine aufsässige, gelegentlich tropfende Haarsträhne aus der Stirn. Der heutige Tag ließ sich lakonisch als »Tag der Dusche« bezeichnen. Andererseits hatte er auch zu einer glücklichen Begegnung geführt: Vom Regen überrascht und auf der Suche nach einem Unterstand, war sie auf dem Gebrauchtwagenmarkt von Leuk-Susten gelandet, und da – ohne dass sie danach Ausschau gehalten hatte – war ihr der schwarze Ford Transit ins Auge gefallen. Laut Fahrzeugschein hatte die Karre einem Bestatter gehört, keine siebzigtausend Kilometer auf dem Tacho. Auch nicht unwichtig für eine professionelle Einbrecherin: Bei einem unterdurchschnittlichen Leergewicht blieb viel Spielraum für Fracht. Der Vorbesitzer hatte offenbar Särge oder Ähnliches transportiert. Zwei Bretter und Spanngurte lagen noch auf der Ladefläche herum. Schon deshalb war der Transit, Baujahr ’88, nach L.s Geschmack. Dennoch – trotz Allwetterreifen und einem Satz Schneeketten – hatte sie im strömenden Regen versucht, den Preis um dreihundert Franken zu drücken, was den Verkäufer – ein ebenholzfarbenes, silbensäuselndes Nussknackergesicht – ungemein irritierte. Auch er hatte das Schiffen stoisch ertragen und dabei ab und zu in den Donner gefurzt. Ja, Raclette verbindet fast immer … Vielleicht wollte er auch nur sehen, wie der Haaraufstand auf ihrem Kopf kollabierte.

»Na schön, ich komm dir noch mal fünfzig Franken entgegen.«

»Warum nicht fünfundfünfzig?«

»Putana la madonna, so eine ist mir im Leben noch nicht untergekommen!«

Erst als ihr Kamm um neunzig Grad abgeknickt war, hatte er nachgegeben und es krachen lassen, als hätte er eine Zirkuspeitsche im Arsch. Den Zündschlüssel drückte er ihr natürlich nicht in die Hand, er ließ ihn unter sich in eine Schlammpfütze fallen. Raue Sitten – doch daran war L. gewöhnt.

L. stammte aus einem Dorf im Bezirk Östlich Raron, wobei es vielleicht nur eine andere nach Abricotine riechende Trostlosigkeit war, in der es durchaus vorkommen konnte, dass der Bruder die eigene Schwester mit Mutter ansprach. Unter dem Firnis der Wohlanständigkeit ging es drunter und drüber. Stinknormal waren dagegen die Wochenenden im Rothis Western-Club in der Nähe von Gampel-Steg. Viele Einheimische kreuzten hier auf, um sich an Spareribs und gegrillten Hühnern zu laben. Es hieß, manche kamen auch nur, um die »Inalboner« vom Treibstofflager unter die Tische zu saufen. L.s Mutter – geborene Invalidin, aber noch weit davon entfernt, Sozialhilfe zu beziehen – konnte ein Lied davon singen. Schon als Schülerin hatte sie hier nebenberuflich als Serviertochter gejobbt. Später saß sie dann bei Denner hinter der Kasse, und L.s Vater Hubertus – Stammgast des Western, der sich vollmundig zu den christlichen Fernfahrern zählte – hatte sie dort dann wohl eines Abends nach Ladenschluss »missioniert«. Ihr kleines Gebrechen – ein fehlender Unterarm – spielte für ihn ebenso wenig eine Rolle wie die Mär vom Treppensturz oder vom Tritt eines wild gewordenen Kalbs, der angeblich den Bauch der schwangeren Großmama traf.

Im nächsten Jahr kam L. auf die Welt – als Siebenmonatskind in einem Brutkasten, was der Mutter als böses Omen erschien. Der Vater hatte dagegen von einem »Gotteschindli« gesprochen. Von Anfang an nahm er L. auf seine Predigten mit. Eine zwischen vier Pflöcken gespannte Blache2 auf freiem Feld gab dabei das windige Kirchenschiff ab. Zwei Dutzend Plastikstühle, selbst gebackene Oblaten und ein ausrangierter Fußballpokal, der als Messkelch diente – mehr brauchte es nicht, damit der Säufer in eine Rage verfiel, die durchaus mit der eines Derwischs am zehnten Tag des Muharrem mithalten konnte. Dabei ging es stets um die allgegenwärtige Versuchung des Bösen, das der Katechismus in vier Kapiteln beschreibt. Es war immer dasselbe und die Moral einer bösen Geschichte: »Wer nicht zum Herrn betet, dient dem Teufel!« Auch dass er danach kollabierte, gehörte dazu und diente den sparstrumpfreligiösen Frauen als Wink, ihre in der Hand angeschwitzten fünf Franken zu spenden. »Vergelt’s Gott!«, rief dann Vaterkerls kleine, den Klingelbeutel schwenkende Maus, »vergelt’s Gott, ihr guten Seelen!« Ja, Gottes Reich war bekanntlich auf harten Devisen gegründet. Während sie ihr herzallerliebstes Gesichtchen aufsetzte, war L. sich durchaus bewusst, dass sie schwindelte – doch die Erwachsenen logen noch mehr. Wie freute sich L. darauf, eines Tages erwachsen zu sein!

Der Vaterkerl sah das natürlich anders. Wenn er sie beim Lügen erwischte, gab es Schläge mit einem Plastiklineal aufs blanke Gesäß – oder er steckte seinen »Satansbraten« in eine wassergefüllte Tonne, die er dann mit einem Deckel verschloss. Da saß sie dann und schlotterte vor sich hin.

Als L. dann zwölf war, dachte sie sich: Es sind die Lügen, die man den Kindern beibringt und die sie dann auswendig kennen, wenn sie längst wissen, dass sie nicht wahr sein können, nicht in dieser oder irgendeiner anderen Welt. Nur das Unglück ist echt und wird mit jedem Tag größer. Merke: Je zermürbender die Menschwerdung, umso leichter fallen die Kinder den Pfaffen zum Opfer. L. war anders, die Jammersaat wollte nicht fruchten. Vielleicht war sie einfach zu intelligent. Ihren Drang nach Erkenntnis empfand sie als etwas genauso Naturgesetzliches wie das Wachsen der Wurzeln gegen den Erdmittelpunkt oder die unter dem Mikroskop sichtbare Drift der Mikroben zum sauerstoffreichen Rand des Objektträgers. Sie war mit ihren Rationalforderungen zu diesem Zeitpunkt in etwa so weit wie der große Dichter Jean Paul. Hatte der nicht geschrieben, Jesus habe im Jenseits »die Augen des Vaters« gesucht und stattdessen nur die »leeren, bodenlosen Augenhöhlen des Kosmos« gesehen, das Monstrum, das sein Zeitgenosse William Blake mit dem Namen Nobodaddy – Niemandsvater – bedachte. Wenn es ihn gab, dachte L., so war er nichts weiter als ein hartherziger Bastard. Mit vierzehn hatte sie dann bereits mit der Verunklärung der biblischen Wunder begonnen. Die Augenwischerei der Bibel bestünde in einer quasi-logischen Verkettung von Trugschlüssen, die auf der Behauptung beruhten: Gott sei eben nur Gott, weil sich seine Existenz niemals nachweisen ließe. Dies sei in einer aufgeklärten Zeit nicht nur unredlich, sondern unethisch. Niemand könne sich mehr ein »Credo quia absurdum«3 erlauben. Im günstigsten Licht betrachtet handele es sich also bei der Kirche um eine Verwertungsgesellschaft von Wahnvorstellungen. Andererseits, wenn es stimmte, dass Maria vom Heiligen Geist empfangen habe, dann hätte Gott wohl Josephs Verlobte hinter dessen Rücken gevögelt … Nicht unbedingt nett. Folgerichtig erschien L. der Katholizismus wie ein Freibrief, aus Leibeskräften Böses zu tun. Jeder religiöse Mensch zählte von vornherein zu den Betrogenen. Der Pfaffe dagegen, dessen einziges Geheimnis es war, dass er jedem die Tür zum Himmelreich wies, doch niemals den Fehler machte, selbst durch diese Pforte zu gehen, wurde schon zu Lebzeiten für seine Schliche belohnt. Sie nannte den Klerus daher nicht nur hinter vorgehaltener Hand Hütchenspieler und clevere Parasiten.

Solche barschen Urteile sprachen sich schnell in der Gemeinde herum, und ihr Beichtvater lud L.s Mutter daraufhin zu einem Vier-Augen-Gespräch. Er habe bei der Tochter »eine nicht unbedenkliche Neigung zum Bösen« feststellen müssen, eine res dura, was in etwa einer »harten Sache« entspricht: »Es ist ja nicht nur, dass sie ihren Willen gegen die Zehn Gebote durchsetzen will, nein, das Mädchen sucht regelrecht nach dem Widerspruch im Wort Gottes, eine schlimme Absicht für ein so zartes Geschöpf.« Und dann, als müsse er noch deutlicher werden: »Ihre Tochter führt Krieg gegen Gott, gute Frau. Dabei ist sie, wie Eva vor dem Sündenfall, von anmaßendem Selbstbewusstsein erfüllt. Sie leugnet die Urprämisse unseres Glaubens, die bekanntlich besagt, Gott gesteht es den Menschen zu, aus freien Stücken zwischen Gut und Böse zu wählen.« L. dagegen glaube wie Einstein, »dass Gott würfelt, allerdings mit gezinkten, mindestens zwölfseitigen Würfeln. Mit dieser Einstellung gerät sie mit Sicherheit auf jene Bahn, die in ewige Verdammnis und Finsternis führt.«

Von der entsetzten Mutter als Heidin beschimpft, hatte L. nur mit den Achseln gezuckt: »Na und, ich habe die Erlösungsbotschaft vernommen und mich scheckiggelacht. Ist das verboten?«

Schon die Heilige Schrift – das kirchliche Betriebssystem – hinke aus ihrer Sicht hinten und vorn, ein einziger Schwindel aus Hirten-, Huren- und Sippengeschichten, Halbwahrheiten und abgekupfertem Kitsch. Selbst die Engel wären nur ein Abklatsch der altbabylonischen Flügelwesen. Mit Jesus machte L. kurzen Prozess: »Aus dem Leben eines Scharlatans, der seine Bauernfängerei mit dem Leben bezahlte, mehr fällt mir dazu nicht ein.« Schon der für seine Weisheit bekannte Stauferkaiser Friedrich der Zweite habe in Jesus einen Schwindler gesehen. Die Chuzpe, sich als Messias aufzuspielen, nannte sie: »Freizeitbeschäftigung für kiffende Penner im römisch besetzten Palästina.«

Das entsprach tatsächlich den Fakten: Allein in Nazareth tummelten sich unter römischer Besatzung mehr als zwanzig Erlöser, doch keiner war so dreist wie der Zimmermannssohn, den sie Jeschua nannten. Nicht genug, dass er unter dem Einfluss von Haschisch stundenlang Volksreden hielt, nein, er behauptete nicht nur, der Erretter, sondern der fleischgewordene Sohn Gottes zu sein, eine Prämisse, die den Stand der Priester natürlich bedrohte. Anfangs ging alles gut, die Plebs vergöttern bekanntlich den Aufmüpfigen, der die Obrigkeit provoziert. Bald standen nicht nur bußfertige Dirnen Schlange, auch reiche Nichtstuer biederten sich an: »Sag, Joshua, wer ist bei dir heute zu Gast?« – »Du wirst es nicht glauben, Schmuel, aber es ist Gottes Sohn, ja, Gottes leibhaftiger Sohn.« Die Masche sprach sich dann schnell in Galiläa herum. Es fanden sich immer mehr kleine Gauner, um dem stets höher stapelnden Meister zu folgen. Die, welche nicht nur einen hungrigen Bauch, sondern auch ein narzisstisch gekränktes Ego mitbrachten, ernannten sich kurzerhand zu Aposteln. Mal versteckten sie einen Haufen Brot in der Wüste, mal stellte sich einer von ihnen tot und ließ sich von Jesus »erwecken«. Oder sie lotsten ihren Messias zu einer vorher ausgekundschafteten Furt, was von Weitem so aussah, als latsche er über das Meer. In einem Schulaufsatz bezeichnete L. die biblischen Wunder als »Schaustückchen, die jedem Varietékünstler die Schamröte ins Gesicht treiben würden«.

Noch peinlicher empfand sie die überlieferte Dramaturgie: Aus Langeweile oder Neugierde hatte der römische Statthalter Pontius Pilatus den Nazarener ans Kreuz schlagen lassen. Er verschied so, wie jeder gewöhnliche Mensch das Zeitliche segnet – ziemlich unspektakulär: Gaffer sahen ihm dabei zu, Streuner pinkelten an sein Kreuz, eine sentimental veranlagte Dirne beweinte den Verlust ihres Kunden. Und das war’s dann für den selbst ernannten Messias gewesen. Die Scharlatane, die sich später als seine Apostel aufspielten, fantasierten daher noch etwas Schaubudenzauber – wie das Zerreißen eines Tempelvorhangs – dazu. Doch das war erst der Anfang eines Bubenstücks, auf das eines Tages zwei Milliarden Menschen hereinfallen würden: Paulus, ein verkrachter Jurist, diente sich an, um allzu grobe Schnitzer im Narrativ der Bibel zu kitten. Doch erst der echte Wahnsinn des Christentums – die schlimmsten Feinde zu lieben – legte das Fundament der bis heute einzigartigen Sklavenreligion: Wer sich zu ihr bekannte, streckte die Waffen, er schied aus dem natürlichen Wettbewerb aus. Einmal christianisiert, wurden aus freien Menschen erbärmliche Schlucker, die das einzige Leben, das sie hatten, für ein fadenscheiniges Quasidabeisein im Jenseits verwirkten. Das passte vielen Despoten gut in den Kram: Wo sie früher ganze Völker mitleidlos ausmerzen ließen, wurden diese von nun an christianisiert. Auch Karl der Große, ein wahrlich erfahrener Schlächter, gestattete seinen besiegten Feinden die Wahl – Kopf ab oder lebe weiter als Christ. War damit nicht alles gesagt? Mit der Mär vom angeblich gottgegebenen Joch der Leibeigenschaft hatte die deutsche Kirche die Bauern mehr als dreihundert Jahre daran gehindert, das Raubritterpack zum Teufel zu jagen.

Zum Befolgen der Zehn Gebote verdammt würde kein Christ jemals eine Revolution anzetteln können. Die sogenannte christliche Ethik war demnach nichts anderes als eine Vorstufe der Pawlowschen Konditionierung. Nicht umsonst entpuppt sich das Jenseits als Spiegelbild der menschlichen Unrechtsgesellschaft: Es gibt oben und unten, es wird gestraft und belohnt, mit dem Unterschied, dass es diesmal der im Diesseits Benachteiligte ist, der den Stab brechen darf. Der ewige Letzte, der um sein Leben Betrogene ist endlich Primus geworden. Hier zeigt sich, was man den Ursprung aller Religion nennen mag – die Umkehrung der realen Machtverhältnisse. Alles, was sich die Gläubigen durch religiöse Zwänge verwehrten, erwartete sie nun in der höheren Welt.

L. jedoch war weder jenseitskrank noch bereit, auf die irdische Welt zu verzichten. Die Unsterblichkeit, die das Christentum garantierte, machte ihr fast so viel Angst wie die ersten Liebesverstrickungen. Ihre Arme waren zu diesem Zeitpunkt bereits ein einziger, von Narben durchzogener Flickenteppich.

Na, kleine Primel, hast du dich wieder geritzt? Traurig, wie schnell du vergehst … Aber denk mal gut nach: Das Dumme an der Unsterblichkeit ist, dass man sie auch anderen zugestehen muss – den politischen Fuselbrennern zum Beispiel oder den Heinzen der »Hochpfuinanz«. Und ja, natürlich auch den Kundinnen von Zalando! Mal ehrlich – wäre es nicht die Hölle, sollten sich diese Seelchen als unsterblich erweisen und dann in alle Ewigkeit von Pumps und nietenbehämmerten Handtaschen schwatzen? Schlimmer vielleicht nur die Möglichkeit eines männlichen Gegenstücks – die ewige Vereinsmeierei von Rennsport bis Fußball. Knallköppe, die Tabellen bejammern – Zahlenverhängnisse also, die nur einer als tragisch empfindet, der gerade mal bis zehn zählen kann. Wie tröstlich war da die Einsicht, dass all die großen Emotionen des Menschen, seine hehren Gefühle und Erinnerungen, nur aus einer Reihe von biochemischen Bausteinen bestehen – Saft, den die limbische Hirnrinde panschte, um es dem von der Natur weitgehend abgekoppelten Affen zu ermöglichen, sich die künstlich verlängerte Lebenszeit zu vertreiben …

»Da sieht man’s mal wieder«, sagte L. zu sich selbst, »Hauptsache sterblich, mein Mädchen, Hauptsache sterblich …«

Die Preziose in ihrer Unterlippe begann gerade wohlig zu jucken, da machte sich ihr Handy bemerkbar, und sie warf einen Blick auf das Display. Den Namen hatte sie lange nicht mehr gelesen.

»Was wollen Sie, Mann?«

»L.? – Was ist denn los? Ich habe mindestens zehn Nachrichten auf Ihrem AB hinterlassen.«

Es war ihr ehemaliger Auftraggeber, der Antiquitätenhändler aus Davos, und er hatte nie einen anderen Namen gehabt als »der Mann«.

»Sind Sie mir gram oder warum rufen Sie nicht einmal zurück?«

»Das wissen Sie doch, die Tschugger4 sind immer noch an mir interessiert. Ich denke, ich werde mir eine tropische Exilinsel suchen und da überwintern.«

»Wie schade, denn ich hätte etwas sehr Lukratives für Sie.« Der Anrufer machte eine Kunstpause. »Der Kassenwart der Société anonyme bat mich persönlich, Sie mit dem Fall zu betrauen. Sind Sie interessiert?«

Sie drosselte etwas das Tempo, denn sie hatte eine Dornenkrone auf der Fahrbahn entdeckt.

»Würden Sie mir vorher eine Frage beantworten? Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Jesus seinen Dornenkranz auf einer Autostraße verlor?«

»Ziemlich unwahrscheinlich«, erwiderte der Mann, ohne seinen Tonfall zu ändern. »Ich würde sagen, es ist ein überfahrener Igel. Hab ich recht?« Die Stimme klang sonderbar dumpf, was wahrscheinlich an einem digitalen Sprachverschleierer lag. »Das Interessante an solchen Dornenkronen sind die dazugehörigen Reifenspuren«, meinte er noch. »Früher wichen die Fahrer aus, heute wollen sie die Tiere erwischen.«

»Ist das so?«, fragte L., die sich insgeheim wünschte, das Thema nicht angeschnitten zu haben.

»Ja, das ist so«, sagte der Mann. »Nebenbei bemerkt – es geht um eine Viertelmillion für jeden der Partner.«

Es mochte nebenbei bemerkt sein, doch war das mal eine Zahl, die L. aufhorchen ließ. Mutters Pflegekosten hatten sich im letzten Monat verdoppelt, L.s Kriegskasse musste dringend aufgestockt werden.

»Und worum handelt es sich? Der Summe nach muss es etwas Größeres sein – die Bundeslade oder nur die Glocke vom Münsterturm?«

»Im Gegenteil«, sagte der Mann, »es geht um etwas sehr Handliches. Alles Weitere erfahren Sie, wenn wir uns sehen.« Er machte eine noch längere Pause. »Rufen Sie ihn an? Ich meine, Sie werden doch nicht ohne Begleitschutz losziehen …«

L. kniff die Augen zusammen, denn der alte Fixstern flammte gerade mit aller Macht auf.

»Herr Sonnenschein und ich haben uns letztes Jahr einvernehmlich getrennt – nachdem er mich als unzuverlässig, unglaubwürdig und schlampig tituliert hatte.« Sie klappte die Blende herunter, der letzte Aufzug des Lichtspektakels namens claire lumière hatte begonnen. »Ich lege keinen Wert auf eine Fortsetzung der … Zusammenarbeit.«

»Meine Frage war nur rhetorisch gemeint«, sagte der Mann. »Sie wissen ja, ich stelle nur Fragen, die ich auch selber beantworten kann.«

»Und?«, seufzte L. »Was ist aus ihm geworden? Kümmert er sich wieder um den Friedhof der verreckten Bergsteiger? Oder schleift er für den Padrone Grabsteine ab?«

»Weder noch.« Der Mann räusperte sich. »Es dürfte Sie überraschen, aber Ihr Kompagnon ist in der Nähe von Stuttgart im Tiefbau gelandet … Wenn unsere Informationen stimmen, setzen die Schwaben Ihren Freund in einem Versuchsstollen ein. Tja, vom Hochgebirgstiger zum Erdferkel – das klingt nicht gut.«

»Ach was.« Obwohl sie die Nachricht aufwühlte, hielt sie sich noch immer bedeckt. »Herr Sonnenschein hatte immer schon eine masochistische Ader.«

»Ich weiß nicht recht«, sagte der Mann. »Für mich klingt das eher so, als hätte er sich endlich selbst unter die Erde gebracht. Vom grimmigen, schwarzen Maul der Erde verschlungen … Wenn es jemanden gibt, der ihn aus diesem Loch herauslocken kann, dann sind Sie es.«

»Hm, was Sie nicht sagen.« Das Bild eines gewaltigen Tunnels schob sich vor L.s geistiges Auge: Jorne – er stand mit dem Rücken zu ihr vor einer schwarz gestrichenen Tür, in deren Rahmen ein Bildhauer die Fratzen von Lemuren gemeißelt hatte. Urplötzlich drehte Jorne den Kopf, sah sie an, sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen – da kam auch schon die Ausfahrt in Sicht.

»Nun kommen Sie, L., wir beide wissen doch, dass Sie eine Viertelmille nicht in den Wind schlagen werden.«

»Wollen Sie damit andeuten, dass ich piepengeil bin?«

»Das haben Sie gesagt, nicht ich.« Der Mann lachte auf. »Doch wer sich absetzen will, tut gut daran, etwas auf der hohen Kante zu haben. In Thailand könnten Sie mit einer Viertelmillion in Frührente gehen.«

»Dann kennen Sie meine Lebensplanung besser als ich.« L. hatte fast das Pflegeheim ihrer Mutter erreicht. »Na schön, ich erledige die Besorgung. Und …« – sie zögerte einen Moment – »mailen Sie mir Herrn Sonnenscheins Nummer. Ich kann nichts versprechen, aber ich versuche, ihn aus seinem Erdloch zu locken.«

2 Schweizerisch: Plane

3 Lat.: Ich glaube, weil es gegen den Verstand ist.

4 Schweizer Rotwelsch: Polizisten

2

»Was hat das heute geregnet, als ob der liebe Gott die Arche Noah wieder flottmachen wollte!« Das Klappergestell, das L. einst zur Welt gebracht hatte, erwartete sie schon vor ihrer Wohnung, auf dem Geschosspodest zur fünften Etage. »Du, hör mal, Kindchen, mein Abserbeln5 geht jetzt wirklich zügig voran …«

»Pst! Nicht so laut!« L. zog die Mutter sanft hinter sich her durch die offen stehende Tür. »Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst nicht im Treppenhaus schwatzen? Und den Schlüssel hast du auch wieder von innen stecken lassen. Eines Tages wirst du dich noch aussperren. Und dann?«

»Ist mir doch egal.« Die opiathaltigen Schmerzmittel hatten Mutters Gesicht aufgeschwemmt, aus ihren grauen, kurzsichtigen Augen fiel ein glasiger Blick. »Wenn es vorbei ist, möchte ich, dass du meine Asche in der Rhone verstreust. Versprichst du mir das?«

Wie ein welkes Blatt trieb sie quer durch den Raum, über den taubenblauen Teppichboden zum Bett. Die Einrichtung hatte etwas von einem Kubrick-Set, der Sterbebühne aus 2001. Doch anstelle des Monolithen gab es im Wohnzimmer ein Unterhaltungsmöbel ähnlicher Größe. Davor stand jetzt auf einer Styroporbox eine schlichte, anthrazitfarbene Urne.

»Hat sechzig Franken gekostet«, sagte die Einarmige. »Alles andere hätte ich schäbig gefunden, auch Gott gegenüber. Schließlich beißt man nur einmal ins Gras.«

Das ist wohl wahr, dachte L. Hör einer Katholikin beim Sterben zu, und du wirst die Macht des Glaubens erkennen. Wir dagegen werden im Moment des Verendens wie jener verrückte Polarforscher sein, von dem es hieß, er habe sich all seiner Kleider entledigt, bevor er nackt hinausrannte in die arktische Nacht und in einem Whiteout verschwand …

Mutter schien sich dagegen aufs Sterben zu freuen, sie schwebte förmlich aus dem Leben hinaus, die Ärzte hatten das gefräßige Etwas in ihrem Körper weitgehend narkotisiert. Der Patientin präsentierten sie nur noch die Einwilligungsformulare.

»Jesus, wie siehst du denn aus!« Mutter hatte den Irokesen endlich bemerkt.

»Ist das dein neuer Look oder was?«

»Ja, klar.« L. hängte Rucksack und Mantel an die Garderobe. Der Ständer war leer, denn Mutter ging schon lange nicht mehr aus dem Haus. »Gefällt er dir?«

»Sicher, du siehst aus wie Draculas Tochter. Wenn dir das wirklich gefällt, würde ich mal zum Arzt gehen und mich gut durchchecken lassen.« Bevor sie die Bettdecke erwischte, griff die verbliebene Hand der Mutter ein paarmal ins Leere. Die Bewegung war nicht mehr Folge des Willens, selbst ihr Kieferknacken war kaum mehr als ein Reflex. Eine Pflegerin fuhr sie einmal am Tag auf den Balkon mit unverbautem Blick auf den See. Dort saß sie dann – dick eingepackt – und starrte in das sich auffächernde Kielwasser der ab- und anlegenden Fähren und erfreute den Besuch mit ihren Lebensweisheiten: »Also, wenn man etwas besitzt – einen Korkenzieher zum Beispiel –, das Teil aber nicht findet, dann besitzt man es nicht, weil es sich der Nutzung entzieht. Also leg das Teil so, dass du erst gar nicht anfangen musst, danach zu suchen … Dasselbe gilt auch für Gebrauchsanweisungen und Beipackzettel von Medikamenten.«

Bis zum Ausbruch der Krankheit hatte Mutter im Simplon-Center geputzt, genauer gesagt, sie hatte den Nasswischwagen geschoben, vom Schrubben wurde ihr schwindlig im Kopf. Irgendwann schmiss sie hin und verschwand. Sie tauchte einfach ab, trieb sich für Monate am Ufer der Rhone herum. Als man sie endlich unterhalb von Baltschieder fand, war sie mit dem Ausbuddeln von Regenwürmern beschäftigt, die sie den Anglern verkaufte. In den Sommermonaten gab es an den ausgedehnten Uferböschungen ein Kommen und Gehen, Mutter hatte an den Fischern täglich zwischen fünf und zehn Franken verdient. Davon konnte sie existieren. Nur mit viel gutem Zureden hatte L. es geschafft, ihre Mutter zu überzeugen, sich wenigstens hin und wieder im Sozialmedizinischen Zentrum zu melden und untersuchen zu lassen. Ein halbes Jahr ging das gut, dann lebte sie wieder das Leben einer Landstreicherin. Erst die Aussicht »würdevoll, gut versorgt in einer richtigen Wohnung mit vier Wänden« zu sterben, sollte die Mutter dazu bewegen, nach Küssnacht zu ziehen. Seitdem wartete sie hier auf den Tod.

Wenn die Tage einander ohne Notwendigkeit folgen, dann dauert es nicht mehr lang. Die alten Römer glaubten noch, man würde dann in die Sphäre der »Mehrzahl« gelangen, ins Totenreich. Eine neue Studie der Regierung hatte gezeigt, dass die Toten inzwischen in der Minderheit waren. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte waren die Lebenden den Verstorbenen zahlenmäßig voraus.

»Na, Arm-Seelchen, grübelst du mal wieder so vor dich hin? Oder warum ziehst du so eine Schnurre?« In Mutters Stimme raschelte es. »Nein, Kind, ich werde dir nichts hinterlassen. Nur den alten Wohnwagen. Falls er noch da steht, wo ich ihn abgestellt habe.« Sie kroch unter die Decke, knackte einmal laut mit den Knöcheln und angelte sich die Fernbedienung aus einem Bastkörbchen neben dem Bett. Sie brauchte ein paar Sekunden, um den Lautstärkeregler zu finden.

»Oh, jetzt fällt’s mir ein …« Mutter hob ihr spitzes, haariges Kinn. »Im Fernseher kam was über eine Firma im Aargau, die aus Asche Diamanten herstellen kann. Dann könntest du mich am Finger tragen – wie wäre das?«

»Können wir nicht mal über was anderes reden?« Die Situation war wie auf einem Bahnsteig: Nur einer hat eine Fahrkarte, der andere bleibt wohl oder übel zurück.

»Da bleibt nicht mehr viel«, fuhr die Mutter fort. »Aber was soll’s, ist doch eh alles egal. Unsere Himmelsbürokraten in Rom haben versagt. Das Reich Gottes ist ihnen abhandengekommen, und jetzt wimmelt es da nur so von Kommunisten, Weibsmännern und Ministrantenvernaschern!«

»Mutter, du solltest …« Der Vibrationsalarm ihres Handys lenkte L. ab. Tatsächlich … »der Mann« hatte ihr Jornes Nummer gemailt.

»Was denn? Heute geht die Kirche mit schlechtem Beispiel voran. Was glaubst du hätte Jesus zu dieser Schande gesagt? Aber wenn du mich fragst, dann hält der seit zweitausend Jahren die Schnauze und lässt uns in unserm Erdensaft schmoren!«

Erdensaft? L. stand am offenen Fenster und schöpfte Luft, um dem Geruch von Bettpfannensud zu entkommen. Der Ausblick war an diesem Abend von Nebelschwaden getrübt. Ein Himmel war nicht zu sehen, an seiner Stelle hing ein grauschwarzes Nichts über dem See.

»Was für ein Nebel!«, rief die Mutter. »Wenn du mich fragst, ist das die letzte Verdunstung vom Heiligen Geist. Treibst du dich eigentlich immer noch mit diesem Jorne herum?« Sie begann hektisch an ihrer Perücke zu zupfen. »In der Presse stand mal, dass er« – sie bekreuzigte sich – »ein Grabräuber war, ein räudiger Tombaroli!6 Mit so einem rechnet Gitt – ich meine, Gott – so was von gnadenlos ab.«

Gitt, dachte L., da hast du was Wahres gesagt, Mutter … Schon komisch, dass es dem alten Gitt in seiner Rachsucht nie langweilig wird. Geht es wirklich immer nur um die Abrechnerei mit der eigenen Schöpfung, der er Fallen stellt, um sie straucheln zu sehen? L. drückte Mutters Kissen zu einem Nackenhörnchen zusammen und lächelte lieb. Alter Niemandsvater, hast dir nie groß was aus deinen Kreaturen gemacht, so ist es doch, oder? Selbst dann nicht, als sie dich poststrukturalistisch sezierten. Der kosmische Metzger weiß es ohnehin besser als seine hilflosen Kälber, er wird niemals Rechenschaft ablegen müssen, denn ob es Gott gibt oder nicht – für die Sterblichen ist es gleich. Oder eben nicht wichtiger als dieses gottverdammte Teilchen, das sie kürzlich im CERN, in diesem Umlaufbeschleuniger am Rande des französischen Jura, entdeckten. Es war alles ein Witz, eine üble Scharade.

In der neonbeleuchteten Küche, wo sich in der Mikrowelle ein Fertiggericht drehte, fiel L.s Blick auf den Wandkalender des Bistums. Das Oktoberblatt zeigte die Cathédrale Notre-Dame de Lausanne. Oktober, natürlich, vor einem Jahr, als sich die Bäume wie ihre Geldbörsen goldgelb verfärbten – in jenem Annus horribilis der römischkatholischen Ökumene, als das Klubhaus des Limburger Bischofs selbst in der Schweiz Schlagzeilen machte –, hatten sie sich getrennt. Da saß ihnen die Polizei bereits auf den Fersen. Erste, in Bahnhofbuffets ausgehängte Steckbriefe machten die Runde, der Phantombildzeichner hatte ganze Arbeit geleistet. Angesichts der brenzligen Situation hatte sie, L., beschlossen, erstmals das Gespenst von Mutter zu hüten. Sie mietete diese Suite im Pflegeheim an, organisierte den Umzug von Gampel nach Zürich. Die ersten Wochen schlief sie in einem Abstellraum neben der Tür. Schlaf war gut, Schlaf und Essen. Während man schläft oder isst, quält man sich nicht mit Dingen herum, an denen sich ohnehin nichts mehr ändert. Und überhaupt – alles war besser als die Matratzengruft im Studentenhaus Tscharnergut, eine Bleibe, in der man nur wohnt, wenn man nichts anderes hat und wo man mit dem »Tross der Verklemmten« klarkommen muss, der nachts die Etagen nach Frauen durchkämmt. Manche hatten sie um drei Uhr morgens aus den Federn geklingelt, um sie wegen einer angeblich anstehenden Prüfung über »sakrale Eisenkunst« zu befragen. Ausreden gibt’s!

Das Glöckli der Mikrowelle riss sie aus ihren Gedanken. Wie immer stellte sie die Schale auf ein Tablett und legte den Esslöffel rechts an den Rand. Die Einarmige hatte nie gelernt, mit Messer und Gabel zu essen.

»Bin froh, dass ich das nicht mehr mitmachen muss, wirklich froh.« Während sie vor sich hin löffelte, verfiel die Mutter in selbsthypnotisches Nicken. »Es dauert nicht mehr lange, und die Beduinischen stecken auch hier die Kirchen in Brand. In Züri, stell dir vor, gibt es bereits in jedem zweiten Viertel eine versteckte Kellermoschee. Wo bleibt da die Una Sancta Ecclesia, frage ich dich? Doch dazu müssten wir uns erst mal von den Hirndämpfen der Lutheraner befreien!« In einem bösen Traum habe sie die Liebfrauen-Kirche bereits brennen gesehen. »Weißt du, warum wir den zerstörerischen Lauf des Vaters aller Lügen nicht aufhalten können?« Die Mutter spuckte etwas neben den Teller. »Weil es heute an Blutzeugen fehlt – Christen, die bereit sind, für den Glauben zu sterben! So wie die heilige Jungfrau Johanna. Für die war der Scheiterhaufen einfach das Höchste. – Wo bleibt jetzt mein Nachtisch?«

Es hatte nie etwas gebracht, ernsthaft mit Mutter zu sprechen. Aus dem, was sie Wirklichkeit nannte, war sie schon früher immer nur beunruhigt erwacht: Das manische Gerede, ihr Leben von Grund auf umzukrempeln und »alles anders zu machen«, endete dann jedes Mal mit der beklemmend euphorischen Einsicht, dass sie es geschafft habe, auf ihrem Lebensweg »immer falsch abzubiegen« und dass deshalb alles seine Richtigkeit habe. Ein paar Wochen später trieb sie dann bereits wieder bewusstlos im Strom des alltäglichen Lebens dahin und wollte sich an nichts mehr erinnern.

Entsprach dieser Seelenzustand nicht der ursprünglichen Stufe des Menschen? Dessen Vernunft, so sah es zumindest der Philosoph Ortega y Gasset, sei »nicht ausreichend, um ihm zu gestatten, den Bereich der tierischen Existenz zu überschreiten; er ist ein Tier mit gelegentlichen Lichtblicken, ein Tier, in dessen Inneren von Zeit zu Zeit die Einsicht aufkeimt«.

Von Zeit zu Zeit: Die meisten verenden zwischendrin – warum sollte die Einarmige eine Ausnahme sein?

»Sag mal, Tochter, wie zahlst du das eigentlich?« Als L. den Nachtisch servierte, legte sich eine gesprenkelte Klaue auf ihren Arm.

»Ich hab neulich den Verwalter gefragt, und der hat mir gesagt, was du hier monatlich löhnst. Hast du im Lotto gewonnen? Oder gehst du anschaffen, oder was? ›Magersüchtiges Strichelchen macht Hausbesuche im Goms‹ – stand neulich so in der Zeitung. Und auch der Stundentarif.«

Statt zu antworten, richtete L. ihren geistigen Röntgenblick auf die Mutter: Welcher Mangel bestimmter Neurotransmitter in Mutters Gehirn mochte für diese Frage verantwortlich sein? Wahrscheinlich fehlte es ihr einfach an Vasopressin, dem Hormon, dem nachgesagt wurde, es habe schon Rattenmütter in Glucken verwandelt.

Ja, wenn es ums Geld ging, war Mutter auch zu Gemeinheiten fähig. Insgeheim hatte L. nur darauf gewartet, dass sie die alte Seelenpeitsche auspacken würde. »Du wärst nicht die erste Studentin, die sich so ein Zubrot verdient.«

»Du hörst mir einfach nie zu«, erwiderte L., die schon lange das war, was man selbst im Wallis eine »entschiedene Lügnerin« nennt. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass ich bei einem Auktionshaus untergekommen bin?« Sie sagte es betont gleichgültig, um die Aversion zu verbergen, die sie nicht erst seit gestern gegen dieses taktlos fragende, organische Uhrwerk empfand. »Ich erstelle Schätzungsinventare und werde für meine Expertisen bezahlt.«

»He, gib acht!« Die Mutter hatte einen Ring aus Schokoladenmousse um den Mund. »Ich merk noch, wenn mich jemand verschattet …«

»Du meinst verschaukelt.«

»Nein, verschattet! Du lügst Menschen an und bringst sie so in den Schatten. Das hast du immer getan!«

»Ging es nicht gerade um meine Arbeit?«

»Welche Arbeit? Mit altem Krempel verdient man kein Geld!«

»Den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf«, giftete L.

»Ja. Und den anderen – zu denen du gehörst – gibt er’s weder im schlafenden noch im wachen Zustand!« Ein Hustenanfall veranlasste die Alte, nach einem Spucktuch zu suchen.

»Lass gut sein, Muttchen, reg dich nicht auf.«

»Das verbitte ich mir!« In ihrer Wut fegte die Einarmige das Tablett vom Bett. »Du redest mit mir, als hätte ich Gehirnhämorrhoiden! Falsche Kröte! Warst halt schon immer ein verrotteter Mensch! Dein Vater wollte dich in ein Heim stecken …«

»Hätte er’s nur getan«, fiel L. dazwischen, »dann wäre er nicht in Versuchung gekommen, mich nachts zu beehren.«

Jetzt war es raus, und die Einarmige war wie gelähmt.

»Ich geh dann mal«, sagte L. In Gedanken war sie schon unterwegs, die nachtschwarze Windschutzscheibe mit den hart schlagenden Wischern vor Augen.

»Wie – du gehst schon, Arm-Seelchen?« Die in der Verachtung ihrer Tochter stets auflebende Mutter klang fast enttäuscht. »Geh lieber nicht«, sagte sie dann in einem süßlich-giftenden Ton. »Lange wandeln die Gottlosen auf bequemen Pfaden, doch das Ende ist der Hölle Abgrund.«

Sie lachte auf, vielleicht weil im Fernseher ebenfalls losgelacht wurde. »Du kannst nicht ewig wie eine Rasierklinge durch die Welt laufen und andere mutwillig schneiden. Werd erwachsen! In deinem Alter hatte ich schon zwei Kinder!«

L. war in ihren Mantel geschlüpft und stand abmarschbereit an der Tür. »Wieso eigentlich, wenn das Band der Liebe zwischen Mutter und Kind nicht länger ist als die Nabelschnur?«

Den Blick auf den Fernseher gerichtet, verfiel die Mutter in ihr selbsthypnotisches Nicken. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so in dir aussieht.« Das Rascheln in ihrer Stimme fächerte Nacht in L.s sich windende Seele.

»Wie sieht es denn in mir aus?«

»Superfinster.« Mutters Hand, die abwinkte, knackte wie eine Kastagnette. »Und jetzt raus, Teufelin, fahr zur Hölle!«

Lange Treppe. Stufe um Stufe. Tür auf, Tür zu: Erst als L. vor das beleuchtete Säulenportal trat – gleich neben Briefkästen aus gebürstetem Edelstahl, einem Fahnenmast ohne Flagge und einem hölzernen, von Algen befallenen Blumenkarren, in dem nichts mehr blühte –, war sie bereit, Rotz und Wasser zu heulen.

Wenn die Welt meint, du bist schlecht, dann tu ihr doch den Gefallen. Und von diesem Moment an folgst du einem sicheren Kurs, der das Gute in dir immer nur herabkorrigiert, abwertet, vernichtet. Arm-Seelchen – da hatte Mutter schon recht. Statt sich weiter in Selbstmitleid zu ertränken, sprang sie in ihren Wagen und fuhr los.

5 Schweizerisch: langsames Sterben

6 Ital.: Grabräuber

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