Kreuzstich Bienenstich Herzstich - Tatjana Kruse - E-Book
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Kreuzstich Bienenstich Herzstich E-Book

Tatjana Kruse

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Beschreibung

Kommissar Siegfried Seifferheld, ledig, gutaussehend und wohnhaft in Schwäbisch Hall, wurde bei seinem letzten Einsatz schwer verletzt und in den Frühruhestand versetzt. Doch die Polizeiarbeit legt man nicht ab wie einen alten Hut. Als immer mehr alleinstehende Männer in seiner beschaulichen Heimatstadt einen unerwarteten Tod sterben, glaubt der sympathische Kommissar a. D. nicht an einen Zufall. Und so unterbricht Seifferheld seine heimliche Leidenschaft, das Sticken von Zierkissen, und macht sich auf die Spur des Serienmörders, dicht gefolgt von seinem vierbeinigen Begleiter Onis. Kreuzstich Bienenstich Herzstich von Tatjana Kruse: Spannung pur im eBook!

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Tatjana Kruse

Kreuzstich Bienenstich Herzstich

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Für Onis [...]PrologHauptsache, eine saubere LeicheEchte Kerle sticken ohne FingerhutLiebe ist chemische Lobotomie und schaltet die höheren Hirnfunktionen aus1. KapitelMänner aufgemerkt: Einen Harem zu haben wird gnadenlos überschätzt …Zurück! Oder mein Hund sabbert Sie an!Russendisco ohne WladimirPäuschen mit KläuschenHat nicht jeder eine Leiche im Keller? Oder doch wenigstens einen Stickrahmen in der Wäschetruhe?Asche zu Asche, Staub zu Staub und tote Pekinesen zum PräparatorIm schwarzen Latexdress, die Peitsche schwingend – oder wahlweise ein feuchtes FrotteehandtuchLieber frech lügen als eine schmerzliche Wahrheit sagen – auch wenn man dafür am Schnellkochtopf landetAus dem PolizeiberichtWenn Herrenwitze sprießen und Männerpointen knospen, ist wieder lustige Stammtischzeit für den Weißen Riesen, den Bärenmarken-Bär und Frau Antje aus HollandExkurs über die Abschiedsrituale hochentwickelter PrimatenMalleus BüroficarumSuperkleber ist nichts gegen brünstige FrauenAus dem PolizeiberichtEnde Legende2. KapitelSchwanengesang einer dümpelnden LeicheAus dem PolizeiberichtAlle Tage sind gleich lang, nur verschieden breitDie Kleine Meerjungfrau, die berühmte Statue in Kopenhagen, wurde bereits zwei Mal enthauptetAus dem PolizeiberichtChapeau, Herr Kommissar!Waschen allein genügt nicht, man muss auch ab und zu das Wasser und den Waschlappen wechseln …Welche Frau sucht einen Mann, der eine Frau sucht, die einen Mann sucht?Schlupflider und Stirnfalten … Wieder ein Tag mit dem Charme eines NervenzusammenbruchsBarbie läuft Amok3. KapitelIch Tarzan – du Jane?Aus dem PolizeiberichtFischstäbchen sind auch nur tote KiemenatmerWenn’s helfen soll, muss es weh tunWehe, wenn sie losgelassenAus dem Leben eines Gefahrhundes: Entfesselte Tierwelt und Seifferheld mittendrinAus dem PolizeiberichtAlle Lust und alle List wachsen auf der Weiber MistSpätestens mit den dritten Zähnen drängt es den Mann zur ZweitgattinBauknecht weiß, was Frauen wünschen: Rache – eiskalt serviertSüße Geheimnisse haben den Vorteil, dass man unendlich viele davon haben kann, ohne dass auch nur eines davon auf die Hüfte gehtDrei Dinge braucht der Mann – Feuer, Pfeife, TeerlungeFür berufstätige Frauen sind schallisolierte Toiletten und wasserfeste Mascara unabdingbar – wenn sie nicht in der Kaffeeküche Amok laufen wollenHeld trifft auf Eisprinzessin und zieht sich Frostbeulen zuSobald Kühe Kondensmilch geben und Hühner Rühreier legen, wird man auch glücklich verheiratete Männer findenUnd hier ein Reiseruf: Die schwesterliche Solidarität und die brüderliche Nächstenliebe, unterwegs im Großraum Stuttgart, möchten sich bitte mit ihren Lieben zu Hause in Verbindung setzen4. KapitelFlipper lebt!Aus dem PolizeiberichtIm Reich der atmenden Socken00-Nadel, bitte melden!Auftritt: Der HundinatorNicht alles, was stinkt, ist ChemieBienenstich à la BocuseSeifferheld wünscht sich den gläsernen Bürger – mit Sidolin geputztEs gibt Menschen, die machen einen allein dadurch wütend, dass sie atmenDie Hölle ist eine besondere Gunst, die denjenigen gewährt wird, die innig danach verlangt haben. Aber allen anderen auch – der Fairness halberAus dem PolizeiberichtWolke 9 im AnflugEs ist noch kein Meister vom Himmel gefallen – deshalb gibt es die guten Ratschläge unserer MitmenschenWer den Himmel auf Erden erwartet, hat im Geographie-Unterricht definitiv gepenntNur glückliche Schweine haben einen Ringel im SchwanzWer schläft, sündigt nicht5. KapitelMit dem Seelenklempner auf der Suche nach Psychosen und Neurosen und WindhosenPlötzliche Erkenntnis ist nicht nur buddhistischen Mönchen vorbehalten, sondern kann jeden treffen – gern auch in der Küche bei der frühmorgendlichen ZeitungslektüreAus dem PolizeiberichtWie man ein Lämmlein zur Schlachtbank führtMänner, lernt sticken!Warum Männer keine Ahnung von Menstruationskrämpfen haben und Frauen nicht in Thermoskannen pinkeln können – und warum das auch gut so istWer Gen-Mais sät, wird Widerstand ernten … Wer Abführtee trinkt, darf nicht mit Verstopfung rechnen … Wer sich bei einer lustigen Verfolgungsjagd auf die Straßenverkehrsordnung ein Ei pellt, hat kein lecker Spiegelei zu erwartenAus dem Polizeibericht6. KapitelWenn sich die kalte, klamme Hand der Angst in ein Männerherz krallt, bleibt kein Auge trockenDra di net um, der Kommissar geht um … (Sorry, musste ja mal kommen)Einblicke in die Welt eines Junggesellen – Achtung: nicht jugendfreiDer verlorene Sohn kehrt heim, aber statt Schlachtkalb gibt es kalte Pizzareste. Willkommen in der Neuzeit!Aus dem PolizeiberichtDie Frau soll den Mann weniger lieben und besser verstehen. Der Mann soll die Frau mehr lieben und gar nicht erst versuchen, sie zu verstehen. (Chinesische Weisheit)Aus dem PolizeiberichtWer solche Freunde hat, braucht den Feind nicht zu fürchten7. KapitelEs gibt nichts Neues unter der Sonne – auch nicht im MaiAus dem PolizeiberichtEin böser Verdacht keimt auf und vermehrt sich wie in einer Petrischale mit ZuckerlösungDas Haltbarkeitsdatum auf der Flasche Sir Irish Moos ist nur ein ungefährer Richtwert, keine verbindliche SollgrößeKleiner Einschub aus dem BiologieunterrichtMit Volldampf voraus! Dank Heron von Alexandria, der die Dampfmaschine schon 1900 Jahre vor James Watt erfandKlausimaus hat erneut zugeschlagen und wie es nicht anders zu erwarten war, endete es mit einem K.O. in der ersten RundeMami, Mami, er hat überhaupt nicht gebohrtAus dem PolizeiberichtTragödie als Scherzo in des-MollDie subtile Impertinenz deutscher Kleinwagen trifft auf die gar nicht subtile Penetranz deutscher XXL-TrägerinnenWohnen wie in Muttis BauchVorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, Magenauspumpen der Vater des ÜberlebensDamit Sie auch morgen noch kraftvoll zubeißen können8. KapitelDie satanische Barbarella und ihre RöntgenstrahlenDing, dong – das Bimmeln des Totenglöckchens klingt immer einen Tick zu penetrantDie Kavallerie rückt an!Mörder machen Männern keine Angst – Männer fürchten nur Haarausfall und ImpotenzEpilogUnd Die goldene Sticknadel geht an …Insemination auf Italienisch und Pseudo-ItalienischEs hat einen Grund, warum die Guillotine weiblich ist!Und tschüss!

Für Onis

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Prolog

Hauptsache, eine saubere Leiche

Der Tod ist eine Schnecke.

Er kriecht sehr viel langsamer an einen heran, als man sich das als Betroffener wünschen würde.

Zumindest war das bei Ludger Klier der Fall.

Er radelte seit über zwanzig Jahren. Nicht professionell, aber fanatisch. Er war fitter als ein Nike-Turnschuh. Den Alpe d’Huez hatte er schon zwei Mal genommen.

»Wenn ich mal abtrete, dann bergab auf dem Rad bei Tempo hundertsechzig. Zack und aus. Natürlich erst im reifen Alter von neunzig«, hatte er zu seinem Fünfundvierzigsten in löwenbräubierseliger Runde im Goldenen Adler verkündet.

Deswegen fuhr er auch immer ohne Helm. Damit gleich das Licht ausging, wenn es ihn einmal wegen Aquaplanings aus der Kurve tragen sollte.

Nicht lange leiden.

Klappe zu, Radler tot.

An diesem Samstagnachmittag gegen fünf war Ludger Klier fünfundvierzig Jahre, drei Monate, sieben Tage und sechsunddreißig Minuten alt. Was er noch nicht wusste: Viel mehr Lebenszeit hatte das Schicksal nicht für ihn vorgesehen.

Es fing mit übermäßigem Schwitzen an.

Komisch, dachte Klier, der – für seine Verhältnisse gemütlich – bei kühl zu nennender Temperatur auf dem Kocher-Jagst-Radweg radelte.

Reines Sightseeing.

Nur so zum Spaß.

Und vielleicht um eine knackige Radlerin aufzureißen.

Ludger Klier war ein guter Katholik, worunter er verstand, dass er an die zehn Gebote und die sieben Todsünden glaubte und so viel wie möglich davon einhielt beziehungsweise vermied, ohne sich dabei allzu sehr verbiegen zu müssen. Dass Sex nur im Rahmen der Ehe und auch nur zur Fortpflanzung geschaffen war, glaubte er allerdings nicht. Und als eingefleischter Junggeselle suchte er stets nach sich bietenden Gelegenheiten, um diesen seinen Nicht-Glauben auch ganz praktisch unter Beweis zu stellen. Vorzugsweise mit willigen Blondinen. Aber in Dürrezeiten gern auch mit Rothaarigen, Brünetten oder was die L’Oreal-Tönungstuben sonst noch hergaben.

Hypochonder, der er war, machte er sich Sorgen, als er neben den Schweißausbrüchen auch plötzlich Stiche in der Brust verspürte. Ein Herzinfarkt?

Klier hielt an und maß seinen Puls.

Völlig normal.

Klier trank in großen Schlucken den Rest seines Energy-Drinks und radelte weiter.

Die Sonne schien nur verhalten. Es war kein Bilderbuchherbst. Vielleicht war Klier deshalb allein auf weiter Flur.

Und so beobachtete auch niemand, wie er eine knappe Viertelstunde später auf einer rasanten Abfahrt urplötzlich seinen Mageninhalt auf die hellblaue Radlerhose erbrach und gleich darauf in hohem Bogen ins Unterholz krachte.

Da lag er dann noch eine ganze Weile.

Halb unter seinem Rad, halb unter einem üppigen Brombeerbusch. Unsichtbar für alle, die des Wegs kamen.

Anfangs hätte man ihn noch hören können. Er röchelte sehr laut. Doch Klier verschreckte mit seinem Röcheln nur diverses Kleingetier.

Und sich selbst.

Er, der Lance Armstrong des Landkreises Schwäbisch Hall, vier Mal auf der Titelseite des Haller Tagblattes, er, Ludger Klier, war nicht länger Herr seiner Muskulatur. Seine Extremitäten zuckten hektisch, das Atmen fiel ihm immer schwerer. Sein Herz raste, was Klier in erster Linie in Form von ungewohnten Angstgefühlen wahrnahm. Er wollte nach seinem Handy tasten, aber sein Arm gehorchte ihm nicht mehr. Seine Zunge auch nicht. Der Unterkiefer verkrampfte. Die Lider flatterten.

Natürlich bleibt reine Spekulation, was für Gedanken Ludger Klier in diesen letzten Sekunden seines Lebens durch den Kopf schossen.

Aber wer Klier kannte, durfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er sich grämte. Nicht wegen seines allzu frühen Ablebens – obwohl all seine männlichen Verwandten es bis in die hohen Achtziger geschafft hatten, wenn sie nicht im Krieg geblieben oder mit überhöhter Geschwindigkeit nach durchzechter Nacht gegen einen Autobahnbrückenpfeiler gerast waren – und nicht einmal wegen dieses unerwarteten, völlig unerklärlichen Todes. Dass er mitten aus dem prallen Leben gerissen wurde, war völlig in Ordnung. Es traf schließlich jeden. Und Gevatter Tod holte die Besten immer zuerst. War man über vierzig, so musste man sich ja förmlich schämen, noch am Leben zu sein.

Nein, ihm setzte etwas anderes zu. Er, Ludger Klier, dieses durchgestylte männliche Muskelpaket, war zeit seines Lebens enorm eitel gewesen. Wenn schon sterben, dann optisch augenfällig. Hauptsache als saubere Leiche.

Doch nun lag er im Gebüsch, mit Erbrochenem und Panik-Urin auf dem hautengen Adidas-Outfit und mit verrenkten Gliedmaßen. Es ließ sich nicht leugnen: Er war keine schöne Leiche. Vor allem keine Leiche, die gut roch.

Dabei meinte es das Schicksal noch gut mit ihm. Es teilte ihm nämlich nicht mit, dass es schon am nächsten Morgen einen Wetterumschwung geben würde. Temperaturen um die zwanzig Grad und viel Sonne.

Als Ludger Klier annähernd vierzehn Tage später von Drahthaardackel Theseus von Schönwalde gefunden wurde, hätte ihn selbst seine Mutter selig nicht mehr erkannt.

Von Kleingetier angenagt und von Maden ausgeweidet, von Insekten als Brutrevier missbraucht, waren seine Hightech-Radlerschuhe das Einzige, was an ihm noch proper aussah.

Echte Kerle sticken ohne Fingerhut

Der Knötchenstich ist ein Zierstich, der plastisch auf dem Stoff liegt. Er kann einzeln, in Reihen, senkrecht, waagerecht, diagonal oder kreisförmig angeordnet werden.

Die grobe Männerhand legte den Faden geübt neben der Ausstichstelle zu einer Schlinge, führte dann die Nadel durch die Fadenschlinge, stach ein und zog die Fadenschlinge sorgfältig an. Gleich darauf wurde die Nadel durchgezogen, so dass ein fertiges Knötchen entstand.

Voilà.

Noch zwei Knötchen, dann war der Elfenstaub perfekt.

Es war natürlich riskant, zarten Elfenstaub mit Knötchenstichen zu sticken, aber er war eben ein gestandener Kerl und scheute vor Risiken nicht zurück. Deswegen stickte er auch ohne Fingerhut. Auf Du und Du mit der Gefahr!

Das leuchtend gelbe Metallic-Garn ließ die Knötchen zierlich erscheinen. Für die staubwedelnde Elfe hatte er sich für Anchor Sticktwist in Lavendel dunkel (FB109) und Blaulila (FB117) in Kreuz- und Steppstich entschieden.

Das Motiv hatte er selbst erfunden. Er würde die Stickerei nach der Fertigstellung im Deckel einer hellblauen Schmuckschatulle anbringen.

Gerade wollte er die Fadenschlinge des letzten Knötchens anziehen, da klopfte es an die Tür.

Verdammt!

»Ich komme schon«, rief er und ließ seine Stickarbeit in der Truhe unter dem Fenster verschwinden.

Liebe ist chemische Lobotomie und schaltet die höheren Hirnfunktionen aus

Sie bügelte gewissenhaft das weiße Laken. Eigentlich war sie keine geborene Hausfrau und vertrat die Ansicht, dass es vollkommen ausreichte, wenn man einem Laken aus der Ferne mit dem heißen Bügeleisen drohte, weil es nach der ersten Nacht ja ohnehin so knittrig aussah wie das Gesicht von Altkanzler Schmidt. Aber er sollte es schön bei ihr haben.

Nicht Schmidt.

Ihr Neuer.

Es war so wunderbar, in ihrem Alter noch einmal die Freuden der Liebe zu entdecken.

Sie hatte sich schon abgeschrieben. Wenn vorn erst einmal eine Fünf steht – und bei ihr stand die Fünf schon geraume Zeit vorn –, ist der Lack ab, völlig egal, was Brigitte woman schrieb. Mochten alternde Hollywoodstars à la Sharon Stone auch etwas anderes vorleben, so doch nur, weil die in Geld schwammen und sich Botoxaufspritzungen oder knackige Personal Trainer oder beides leisten konnten. Die deutsche Durchschnittsfrau hingegen hatte sich ihrem Schicksal zu fügen. Und das Schicksal postulierte für Singlefrauen: alt gleich einsam.

Sie hatte sich sofort in ihn verliebt. Auf den ersten Blick. Er hatte so rührend ausgesehen. Das Hemd falsch geknöpft, Schuppen auf den Cordsamtblazerschultern und dieses entzückende nervöse Lächeln. Natürlich war er etwas jünger. Er würde bestimmt keine chemische Keule schlucken müssen, bevor sie auf dem frisch gebügelten Laken herumtollten.

Und er würde es ernst mit ihr meinen. Nicht wie die anderen.

Die Liste ihrer Ex-Typen bestand aus treulosen Versagern und untreuen Verlierern. Sie hatte sich das lange bieten lassen, doch nun nicht mehr. Hatte sie auch seinerzeit die Frauenbewegung nur belächelt, weil sie fand, dass weibliche Reize genügten, damit frau alles bekam, was sie wollte, so musste sie nun zugeben, dass es mit schwindenden Reizen zunehmend schwer bis unmöglich wurde, sich ein sonniges Gemüt zu bewahren. Bei der Arbeit war ihr eine dralle 29-Jährige als Chefin vor die Nase gesetzt worden, obwohl sie mit über zwölf Jahren die Dienstälteste war. Und in ihrer Stammkneipe wurde sie kaum noch angesprochen. Eigentlich gar nicht mehr. Außer vom Kellner, aber der wollte ja nur die Bestellung aufnehmen.

Darum hatte sie jetzt das Ruder in die Hand genommen. Besser spät als nie. Sie war eine selbstbestimmte Frau des neuen Jahrtausends. Sie sprach die Männer an, mit denen sie sich eine Zukunft vorstellen konnte. Und wer in ihr nur sein billiges Vergnügen suchte, der bekam, was er verdiente. Schmerzhaft langsam. Der Letzte war wohl noch gar nicht ganz kalt, aber Zeit zum Trauern ließ sie sich nicht. Die hatte sie in ihrem Alter einfach nicht mehr. Auf zu neuen Ufern.

Und ihr Neuer, der war eindeutig der Richtige. Kein Zweifel möglich. Das wurde etwas Festes. Sie spürte es. Mit jeder Faser ihres Körpers.

So. Ein letzter Dampfstrahl – dann war das Laken fertig.

Perfekt!

[home]

1. Kapitel

Männer aufgemerkt: Einen Harem zu haben wird gnadenlos überschätzt …

Sie war körperlich greifbar. Die Ruhe vor dem Sturm.

Morgens, eine Minute vor halb sieben, in einer Küche in Schwäbisch Hall.

Siegfried Seifferheld lehnte sich auf dem altersschwachen Thonet-Stuhl zurück, sah zur Uhr über dem Herd und zählte stumm die Sekunden – rückwärts natürlich, wie bei einem Countdown: fünf, vier, drei, zwei, eins.

Schlag halb sieben setzten die vollen Glocken der St. Michaelskirche am Marktplatz zum Morgengeläut an. Die alten Fachwerkmauern der Häuser schienen ins Vibrieren zu geraten, als die Schallwellen mit voller Wucht auf historische Bausubstanz und zeitgenössische Trommelfelle prallten. Die Übernachtungsgäste in den marktplatznahen Hotels Goldener Adler, Adelshof oder Scholl pflegten unweigerlich kerzengerade im Bett hochzuschießen, fanden das Geläut nach der ersten Nacht pittoresk und reagierten ab der zweiten Nacht genervt. Seifferheld war dagegen von Kindesbeinen an daran gewöhnt – das seifferheldsche Stadthaus lag Luftlinie keine zweihundert Meter von der Kirche entfernt –, und er liebte das wuchtige Läuten der uralten Glocken. Von Genervtsein konnte bei ihm keine Rede sein.

Im Gegenteil, als wegen eines Stromausfalls im September 1978 das Geläut ausfiel, war er schlagartig aufgewacht, weil etwas fehlte, und er hatte seinerzeit einige Minuten gebraucht, bis ihm klar wurde, was genau da fehlte. Das Läuten der elektrisch in Gang gesetzten Glocken nämlich.

Auch sein Hund, ein bernsteinfarbener Hovawart-Rüde namens Onis, hatte sich in seinen zwei Lebensjahren an das Läuten gewöhnt. Er lag schlafend unter dem Küchentisch, stieß nur hin und wieder ein leises Schnaufen aus. Ein Wachhund im Standby-Modus.

Nach exakt so viel Minuten wie der Durchschnittsgläubige brauchte, um ein frommes Vaterunser zu sprechen und somit geläutert in den Tag zu treten, hörte das Glockengeläut der evangelischen Stadtkirche auf.

Seifferheld seufzte, nahm noch einen Schluck Apfelmost und wappnete sich für das, was nun kommen würde. Für den Sturm nach der Ruhe.

Er war unaufhaltbar, wie die Zeit. Wie eine Horde durchgehender Büffel. Wie eine Flutwelle.

Unausweichlich wie das Schicksal.

Und da kam er auch schon.

Der Orkan.

»SIIIIEGFRIED!«, donnerte es.

Seifferhelds Schwester Irmgard trat in die Küche. Sie war der einzige Mensch auf Erden, der ihn mit seinem Taufnamen anredete. Und ihm allein durch das gedehnte Aussprechen seines Namens das Gefühl gab, die Eltern enttäuscht zu haben, weil sie ihm einen Namen gegeben hatten, der eines germanischen Helden wert gewesen wäre, aber kein Held aus ihm geworden war.

»Morgen, Irmi!«, rächte sich Seifferheld.

Nicht einmal Hannelore, ihre beste Freundin seit Kindergartentagen, wagte es, sie Irmi zu nennen. Es war ja schon ein Privileg, sie mit Irmgard anreden zu dürfen, normale Sterbliche hatten sich an ein zackiges Frau Seifferheld zu halten.

An sich machte es Seifferheld also schon zum Helden, dass er seiner Schwester derart trotzte. Hätte man zu ihrer Zeit bereits Frauen in die Bundeswehr gelassen, so wäre sie heute Generalin. Mit vier Sternen. Und so vielen Orden, dass man eine Schleppe an die Uniformjacke hätte annähen müssen, um genügend Platz für sie zu schaffen.

Früher hätte man Irmgard Seifferheld als alte Jungfer bezeichnet und dabei mitleidig gelächelt. Allerdings nicht in ihrer Gegenwart. Und wenn doch, dann nur ein einziges Mal. Irmgard Seifferheld war ein Killer, und die bevorzugte Waffe ihrer Wahl war ihre Zunge. Mit ihrer Zunge traf sie immer ins Schwarze, brachte gestandene Kerle zum Heulen und Frauen dazu, aus Frust Unmengen Schokolade zu futtern.

»Siegfried, Alkohol noch vor dem Frühstück – dass du dich nicht schämst!«

Den selbstgemachten Most von Seifferhelds altem Schulfreund Erwin als Alkohol zu bezeichnen stellte eine ungeheure Aufwertung dar und war im Grunde eine Beleidigung aller hochprozentigen Trinkwaren. Der schon lange verblichene Opa Seifferheld hatte mit seinem täglichen Glas Apfelmost zum Frühstück das reife Alter von hunderteins erreicht und auch ihr Vater hatte dank Most gesegnete neunundachtzig Jahre geschafft, bis zuletzt klar im Kopf. Aber derlei Familientraditionen zählten für Irmgard nicht. Seifferheld seufzte. Was man tat, war Irmi immer schon wichtiger gewesen als individuell bewährte Entscheidungen.

»Ein Mann muss morgens Kraft tanken, mit einem ordentlichen Frühstück. Bohnenkaffee, Eier, Wurst«, dozierte Irmgard.

Während sich Seifferheld an seinem Most festhielt, holte Irmgard die Dose mit dem guten Hochland-Ratsherrenkaffee aus dem Vorratsschrank und brühte ihm eine große Kanne auf.

Die riesige Küche nahm fast den ganzen ersten Stock des alten Fachwerkhauses ein, das sich seit nunmehr fast vierhundert Jahren in Familienbesitz befand. Die Seifferhelds – ein Nebenarm der berühmten hohenlohischen Familie gleichen Namens – waren nie wirklich reiche Leute gewesen und Renovierungen waren immer nur äußerst sparsam dosiert worden. Man konnte froh sein, dass sich in der Küche nicht noch eine offene Feuerstelle befand, sondern ein Neff-Gasherd, altersschwach zwar, doch ordentlich in Schuss. Die drei Meter lange Buchenholzarbeitsplatte neben dem Herd war die neueste Anschaffung im gesamten Raum und stammte aus den späten Achtzigern. Darauf brühte Irmgard nun verbissen ihren berüchtigten nachtschwarzen Muntermacher. Irmgards Kaffee war geeignet, Tote aufzuwecken.

»Trink!«, befahl sie schließlich, drückte ihm eine dampfende Tasse aus angeschlagenem Meissner-Porzellan in die Hand und ging zum Herd, um ihm Eier mit Speck zu braten. Sie kannte ihre Pflicht als Schwester.

Da ging die Küchentür erneut auf.

»Papa! Wie kannst du nur Kaffee trinken? Der Arzt hat dir doch von Koffein ausdrücklich abgeraten!«

Susanne Seifferheld war eine blendende Erscheinung. Mit Ende dreißig war sie bereits Managerin bei der Bausparkasse Schwäbisch Hall. Sie strahlte Kompetenz und Führungsqualitäten aus und das lag nicht nur an ihrem eleganten, taubengrauen Armani-Hosenanzug. Der Duft des Erfolgs umgab sie. Und ein Hauch von Chanel Nummer fünf.

Zu Seifferhelds großem Bedauern war seine Tochter, sein einziges Kind, weder verheiratet noch liiert. Enkel würde es für ihn, so wie es aussah, nicht geben. Er sah Susanne schon zu einer zweiten Irmgard heranreifen. Die Bevormundung hatte sie jedenfalls schon sehr gut verinnerlicht.

Susanne leerte das Gemüsefach aus dem Kühlschrank und warf alles in den silberfarbenen Mixer – das einzige Küchengerät, dessen Benutzung sie beherrschte. Die Küche war nicht ihr Element, dafür war sie Herrin über Zahlenkolonnen und hochkomplizierte Statistikberechnungen. Als das infernalische Surren des Geräts loslegte, öffnete Hund Onis ein Auge, seufzte, schloss es wieder und schlief weiter.

Seifferheld sagte nichts. Es war zwecklos. Susanne würde ihm ein Glas frisch gepressten Gemüsesaft vor die Nase stellen, wie sie es jeden Morgen tat. Ein festes Ritual. Nur die Farbe des Saftes variierte, je nach Inhalt des Gemüsefaches. An diesem Morgen erwies sich der Inhalt des Glases als dunkellila. Mit verschränkten Armen baute sich seine Tochter vor ihm auf und ließ mit ihrer Körperhaltung durchblicken, dass sie stante pede seine Entmündigung beantragen würde, sollte er nicht von dem Gebräu kosten.

Während Seifferheld stoisch einen Schluck Gemüsesaft hinunterzwang, Irmgard noch mehr Butter in die heiße Pfanne mit den Eiern und dem Speck gab und Susanne zufrieden zum Kühlschrank ging und einen Esslöffel Magerjoghurt light löffelte, öffnete sich die Küchentür abermals und das letzte Mitglied der seifferheldschen Menage trat – noch im quietschgelben Pyjama – ein: Karina, die 20-jährige Nichte von Siggi und Irmgard, ein paradiesvogelbuntes Geschöpf, das derzeit an der Fachhochschule für Mediengestaltung studierte und bei ihnen wohnte, bis sich eine bessere Bleibe fand. Wobei zu bezweifeln war, ob es etwas Besseres gab, als kostenlos in einem fünfstöckigen Innenstadthaus mit stets prall gefülltem Kühlschrank zu logieren. Seifferheld sah Karina nicht so bald ausziehen.

»Onkel Siggi, was trinkst du denn da?« Seine Nichte klang entsetzt. »Das ist nichts für dich. Morgens braucht der Mensch was Warmes. Du musst Grüntee trinken. Der hat viel Vitamin C.«

Seifferheld seufzte nur. Äußerlich kam die junge Frau nach ihrer Mutter, einer rassigen Italienerin, die sein Bruder vom Papstbesuch in Rom mitgebracht hatte, aber innerlich merkte man ihr doch sehr die hohenlohischen Seifferheld-Gene an. Wie alle jungen Menschen hatte sie sehr feste Überzeugungen. Was Weltpolitik, Umweltschutz und streng vegetarische Ernährung anging, verstand sie keinen Spaß.

Karina goss nach kurzem Hantieren am Herd exakt siebzig Grad heißes Wasser über einen japanischen Sencha und schenkte ihrem Onkel eine Tasse ein.

»Hier, lecker Grüntee, Onkel Siggi. Ist auch gut gegen freie Radikale.«

Seifferheld lächelte. »Ich bin kein Polizist mehr, Kleine. Seit meiner Pensionierung muss ich nicht länger gegen Radikale vorgehen.«

Karina rollte mit den Augen.

Die folgenden fünf Minuten vergingen in relativer Stille. Hund Onis schnarchte leise, die drei Frauen werkelten jede für sich auf der überlangen Arbeitsplatte und Seifferheld schürzte in dunkler Vorahnung die Lippen.

Und kurz vor sieben Uhr war es dann wieder so weit.

Der Moment kam, in dem Siggi Seifferheld bedauerte, seinerzeit von dem Bankräuber so fatal angeschossen worden zu sein, dass er nach mehreren Operationen und einer langen Reha vorzeitig pensioniert werden musste. Wäre er damals bei dem Überfall auf die Volksbankfiliale in der Marktstraße nicht seinen uniformierten Kollegen zu Hilfe geeilt, weil er zufällig gerade in der Nähe war, oder wäre er den Bruchteil einer Sekunde schneller der Kugel aus dem Weg und zur Seite gehechtet, würde er jetzt noch arbeiten, könnte morgens um sechs ins Büro der Mordkommission fliehen – ungeachtet, wann sein Dienst offiziell anfing – und müsste sich nicht der nun folgenden Entscheidung stellen, die weitaus stärkere Männer als ihn in die Knie gezwungen hätte.

Kurz vor sieben verlangten die drei Frauen in seinem Leben wie jeden Morgen um exakt diese Zeit, dass er sich für eine von ihnen entschied: Irmi stellte den Teller mit den fetttriefenden Speckeiern vor ihn auf den Tisch, Susanne ein Holzbrett mit Magerjoghurt auf zwei Vollkornbrötchen und Karina eine Schüssel mit veganem, laktose-, milcheiweiß-, gluten- und cholesterinfreiem Müsli.

Was würde er tun?

Natürlich dasselbe, was er jeden Morgen tat.

»Onis«, sagte er zum Hund, »Gassi!«

Und wie jeden Morgen verließ er ohne Frühstück das Haus, um erst dann wiederzukommen, wenn Susanne an ihrem Eckbüroschreibtisch in der Bausparkasse saß, Karina in der Fachhochschule war und Irmgard beim Einkaufen.

Frührentner haben’s nicht leicht, aber oft wurden sie leichter: Auf diese Weise hatte Siggi bereits sieben Kilo abgenommen und im hehren Alter von sechzig Jahren sein Idealgewicht erreicht.

Immerhin.

Ein Gutes hatte das Ganze also wenigstens.

Zurück! Oder mein Hund sabbert Sie an!

Aeonis vom Entenfall, Rufname Onis, war für die Hovawart-Zucht ungeeignet. Er hatte nämlich eine Knickrute. Anders ausgedrückt: Sein herrlich buschiger, bernsteinbeiger Schwanz ringelte sich wie bei einem Ferkel.

Besagte Knickrute hob er jedoch voller Stolz und Lebensfreude, wenn er mit seinem Mensch Gassi gehen durfte. Wie ein großer Puschel schaukelte sie hoch über seinem Allerwertesten hin und her. Andere Hunde mochten das bisweilen als Impertinenz empfinden, aber die Zweibeiner nahm dieser Anblick von Schönheit und Fröhlichkeit ausnahmslos für ihn ein. Zumal er Menschen liebte und als Beweis seiner Liebe ausnahmslos jedem seinen Schädel in den Schritt rammte und ausgiebig sabberte.

Sein Mensch ließ ihn am liebsten frei laufen. Und Onis genoss das sehr. Im Turbotempo schoss er mit der ganzen Kraft seiner zwei Jahre durch den Stadtpark. Meistens sah Seifferheld von seinem Hund nur ein blitzartiges beiges Aufleuchten am Horizont oder hörte ein heiteres Wuffwuff, wenn Onis einer der vielen Stockenten auf dem Kocher einen freundschaftlichen Gruß zubellte. Was die ungeselligen Stockenten in aller Regel mit einem genervten Quaken und Fluchtflügen quittierten.

Siegfried Seifferheld – jugendliche sechzig, gletscherblaue Augen, eisengrauer Kurzhaarschnitt, Sternzeichen Jungfrau, Aszendent mal gewusst, aber für nicht wichtig erachtet – hatte den Hund kurz nach seinem Berufsunfall geschenkt bekommen. Die Kugeln, die Hüft- und Oberschenkelknochen partiell zu Knochenspänen verarbeitet hatten, ließen ihn in einem Alter zum Frührentner werden, in dem andere erst so richtig loslegten und Polizeichef in kleineren oder auch größeren Orten wurden oder doch zumindest vom Polizeipräsidenten in Stuttgart die urkundliche Ernennung zum Hauptkommissar de Luxe entgegennahmen und nach A12 besoldet wurden. Seifferheld wurde stattdessen zum Helden, aber auch zum Kommissar i. R. – im Ruhestand. Oder wie er es empfand, zum Kommissar a.D., außer Dienst – wie in ade, adiós, aus und vorbei.

Da half es auch nicht, dass er vertretungsweise im Urlaubs- oder Krankheitsfall für den offiziellen Pressesprecher der Haller Polizei die Rubrik Aus dem Polizeibericht für das Haller Tagblatt schreiben durfte. Seine alten Kameraden spürten, wie nutzlos er sich fühlte, und schoben regelmäßig irgendwelche Unpässlichkeiten oder Abwesenheiten vor, damit er wenigstens über diese Kurz- und Kürzestartikel aus dem Polizeialltag noch am aktiven Leben teilhaben konnte. Seifferheld hasste dieses Mitleid, aber auf die Polizeiberichterstattung verzichten wollte er auch nicht. Der Rest seines Lebens lag lang und öde vor ihm.

Seine Kollegen hatten sich nach dem Vorfall allesamt vorbildlich verhalten. Immer noch gehörte er dazu. Man traf sich einmal die Woche inoffiziell zum Mord-zwo-Stammtisch. Und auch offiziell war er noch gefragt und hatte vor kurzem, beim Tag der offenen Tür in der Salinenstraße, den ganz Kleinen auf dem Geschicklichkeitsparcours beweisen dürfen, dass die Polizei dein Freund und Helfer ist.

Allerdings konnte Seifferheld nicht gut mit ganz Kleinen. Zu seiner Zeit war man nicht so rotznäsig zu Erwachsenen gewesen. Wenn überhaupt, hätte man heimlich die Zunge herausgestreckt, aber nicht völlig offen den Stinkefinger gezeigt. Manch einem kleinen Rollerfahrer hätte er am liebsten mit seiner Gehhilfe einen Knuff versetzt. Aber Seifferheld fürchtete sich vor dem geballten Mütterzorn. Man schneidet vor Hyänen ja auch keine Grimassen.

Ansonsten verstrichen seine Tage in ereignisloser Gleichförmigkeit.

Seine Morgenrunde führte ihn immer in die sogenannten Ackeranlagen, den Stadtpark seiner Heimatstadt Schwäbisch Hall. Aus den Äckern, auf denen die Haller in den Hungerjahren nach dem Zweiten Weltkrieg Kartoffeln gepflanzt hatten, war 1982 zur Landesgartenschau eine gepflegte Parklandschaft in Fußnähe zur Innenstadt geworden. Eine grüne Lunge. Na ja, ein grüner Lungenflügel. Aber immerhin mit zahlreichen Bänken zum Ausruhen, was Seifferheld gerade anfangs sehr entgegenkam. Mittlerweile schaffte er es dank Physiotherapie einmal quer durch die Ackeranlagen. Nur vor dem Rückweg legte er immer noch eine Pause auf der Bank vor den Stadtwerken ein. Und zählte die von Onis genervten Enten.

Touristen, die Schwäbisch Hall gerade in den Sommermonaten völkerwanderungsgleich heimsuchten, waren um diese Uhrzeit noch nicht unterwegs. Auch keine Radfahrer auf dem Kocher-Jagst-Weg, der durch die Ackeranlagen führte.

Für jemand, der noch bis vor wenigen Jahren Schwerkriminelle dingfest gemacht hatte, war so ein beschauliches Dasein nicht wirklich befriedigend zu nennen. Nach dem frühen Krebstod seiner Frau war Seifferheld zum Workaholic geworden. Zähe, akribische Ermittlungsarbeit war sein Markenzeichen gewesen. Unermüdlich hatte er sich gewissermaßen in die Wade des Verbrechens verbissen, bis er den Fall geklärt hatte.

Jetzt biss er nur noch heimlich in eine Butterbrezel, die er auf dem Weg in die Ackeranlagen in der Bäckerei Brunner gekauft hatte. »Mit extra viel Butter, wie immer, gell, Herr Seifferheld?«, wurde er jeden Morgen gefragt, und er gab stets ein Nicken zur Antwort.

Seifferheld war kein Mann vieler Worte.

Ruhestandspläne hatte Seifferheld nie geschmiedet. So gesehen hatte ihn der arbeitsunfallbedingte Vorruhestand eiskalt erwischt. Weltreisen auf einem Kreuzfahrtschiff, selbst Busreisen mit Heizdeckengarantie waren für ihn und seine Hüfte zu unbequem.

Man wusste ja auch nie, ob es an den Orten, die man besuchte – seien sie nun in der Südsee oder am Bodensee –, das gute Haller Löwenbräu gab. Vermutlich eher nicht. Das war ein absolutes Ausschlusskriterium. Haller Löwenbräu musste einfach sein.

Außerdem wollte er Onis nicht im Stich lassen und fremden Händen zur Betreuung übergeben. Der Hund hatte sich als weitaus mehr als nur ein Haustier erwiesen. Er war ein Freund, der aus treuen braunen Augen verständnisvoll blickte, wenn Seifferheld mit seinem Schicksal haderte. Oder wenn an Tagen mit hoher Luftfeuchtigkeit die Schmerzen mal wieder unerträglich wurden. Seifferheld war auch Manns genug, um einzuräumen, dass der Hund das emotionale Loch in seinem Leben füllte. Die abendliche Durchkraulrunde war zwar kein adäquater Ersatz für eine menschliche Beziehung, aber sie hielt Seifferheld frei von Neurosen, davon war er überzeugt.

An diesem Morgen tollte Onis quietschvergnügt mit seinem Bernhardinerfreund Bill durch die Fluten des Kochers, der an dieser Stelle nur hundekniehoch und mit moderater Strömungsgeschwindigkeit in Richtung Neckar unterwegs war. Das Lieblingsspiel der beiden Rüden war Sumo-Ringen. Bill beherrschte eine lässige Schulterwurftechnik, gegen die Onis keine Chance hatte. Doch das tat der Freude des Hovawarts keinen Abbruch.

Seifferheld winkte Bills Frauchen zu, packte seine Butterbrezel und das Haller Tagblatt aus und machte es sich auf seiner Stammbank gemütlich.

Ein Graureiher, von den Hunden schnöde vertrieben, erhob sich majestätisch in die Lüfte. Eine Amsel zwitscherte. Der Chinese, der jeden Morgen durch den Park joggte und mehrmals pausierte, um im Zeitlupentempo Tai-Chi-Übungen zu zelebrieren, lief vorbei und rief Seifferheld einen Gruß zu. Seifferheld winkte zurück. Das war das Schöne an einer Kleinstadt, fand er: Man grüßte sich noch, auch wenn man sich gar nicht kannte. Aber wer sich zu dieser frühen Stunde im dornröschengleich schlummernden Park begegnete, der wusste, dass er mit dem anderen zumindest eines gemeinsam hatte: das Frühaufsteher-Gen. Ein äußerst verbindendes Element!

Seifferheld biss kräftig in den gebutterten Teil der Brezel – das Beste immer zuerst, gemäß dem Motto: Life is short, eat dessert first – und schlug den Lokalteil der Zeitung auf.

Verschwundener Radfahrer tot aufgefunden, lautete die Schlagzeile. Natürlich erst hinter Bau des Kocherquartiers sprengt den Zeitrahmen – Streit um neuen Namen dauert an und auch nur eine statt vier Spalten – ein Einkaufszentrum und die Frage, ob es Kocher-Karree oder Salinenhöfe heißen sollte, waren schließlich wichtiger als eine Leiche, für die man ohnehin nichts mehr tun konnte. Das war schwäbischer Pragmatismus.

Seifferheld las.

Ludger K., der vor zwei Wochen von seinem Arbeitgeber, der hier ansässigen Firma Klafs Saunabau, als vermisst gemeldet worden war, ist von einem Spaziergänger tot aufgefunden worden. Der 46-jährige Saunatechniker lebte allein und hatte vor allem durch seine semiprofessionelle Leidenschaft für das Radfahren von sich Reden gemacht. Erst im letzten Jahr gewann er noch die »Tour de Ländle«, die quer durch Baden-Württemberg führt.

Onis kam angelaufen und schüttelte sich das Kocherwasser aus dem Fell. Es war wohl eine besondere Geste der Männerfreundschaft zwischen ihnen, dass er Seifferheld eine erfrischende Tropfendusche ermöglichte, anstatt sich mit Sicherheitsabstand am Ufer trocken zu wackeln.

Seifferheld war in Gedanken verloren und bekam nichts mit, weder sein durchweichtes Cordhosenbein noch die Tatsache, dass Onis die Butter von dem Brezelrest schleckte, der ihm aus der Hand geglitten war.

Schon wieder war ein Mittvierziger erst verschwunden und dann tot aufgefunden worden.

Der wievielte war das jetzt? Der dritte? Oder vierte?

Hm.

Seifferheld glaubte nicht an Zufälle.

Seine Schnüfflernase begann zu zucken.

Russendisco ohne Wladimir

»Huch, ein Mann!«

Olga Pfleiderer quietschte, als hätte sie eine Maus gesehen.

Dass sich ihr Entsetzen in Wirklichkeit jedoch in Grenzen hielt, zeigte sich daran, dass sie völlig gelassen am Küchentisch sitzen blieb, in der Linken die dampfende Kaffeetasse, in der Rechten die qualmende Zigarette.

Seifferheld hatte ganz vergessen, dass heute Donnerstag war.

Donnerstag war Putztag.

Es hatte eine erbitterte Schlacht gegeben.

»Ich putze selbst!«, hatte Irmi verkündet, weil sie fand, dass gedungene Hilfskräfte nie so porentief rein säuberten wie sie selbst. Und weil sie davon überzeugt war, dass Putzfrauen grundsätzlich den Intimbereich ihrer Arbeitgeber ausspionierten.

»Ich muss an meinen Ruf denken!«, hatte Susanne gewettert. Alle Rotarier-Gattinnen hatten Putzfrauen. Alle Soroptimistinnen ebenfalls. Als Frau von Format waren gewisse Dinge in einer Kleinstadt wie Schwäbisch Hall einfach essenziell: Man flog zum Shoppen von Designerkleidung nach Berlin oder Mailand (allenfalls bummelte man samstags durch Stuttgart), man fraternisierte sich nicht mit dem gemeinen Fußvolk (außer wenn man auf Charity-Events Standdienst hatte und an Krethi und Plethi gebrauchte Bettpfannen und Secondhand-Bücher verkaufte) und – ganz wichtig – man hatte Personal.

Die Schlacht ging unentschieden aus, mit einem Kompromiss, von dem sich die hohe Weltpolitik noch eine Scheibe abschneiden konnte. Jeden Montag und jeden Donnerstag kam von acht bis zwölf Frau Pfleiderer, eine Kasachin, der man nachsagte, sie habe ihren deutschen Ehemann, den um dreißig Jahre älteren Willi Pfleiderer, in sein verfrühtes Grab gepflegt. Trotz der Proteste seiner Kinder aus erster Ehe besaß sie nun das schmucke Einfamilienhäuschen auf dem Teurershof.

Aber natürlich putzte Frau Pfleiderer nicht, sondern saß in viel zu enger Kittelschürze (mit nichts darunter) und fleischfarbenen Nylonkniestrümpfen rauchend am Küchentisch, während Irmi den Herd und die Spüle wischte. Manchmal saß Olga Pfleiderer auch rauchend auf dem Badewannenrand, während Irmi die Fliesen scheuerte.

Irmi und Frau Pfleiderer verstanden sich glänzend. Meistens versuchten sie, sich darin zu übertrumpfen, wer von beiden es schlimmer getroffen hatte: die heimatlose Russlanddeutsche ohne Familie oder die sitzengebliebene Deutschdeutsche mit unmöglicher Familie. Irmi gewann immer.

Im Hintergrund lief das Radio. SWR4. Flotte Schlager. Olga Pfleiderers Fuß wippte im Takt. Sämtliche Weichteile ihres drallen Körpers wippten ebenfalls.

»So ein schöner Mann. Und so allein«, gurrte Frau Pfleiderer mit ihrem schweren Dialekt.

Über ihrem Dekolleté klaffte die Kittelschürze auf einmal beängstigend weit auseinander und über dem wohlgeformten Knie rutschte der Saum der Schürze nach oben. Dabei schien sich Olga Pfleiderer gar nicht bewegt zu haben. Ihre Muskelkontrolle musste außergewöhnlich sein.

Seifferhelds Augenbraue schoss nach oben.

»Entschuldigung, die Damen. Ich wollte nur eine Tasse Kaffee holen, dann gehe ich auf mein Zimmer.«

Irmi legte den Wischlappen aus der Hand. »Die Kanne ist eben leer geworden. Ich brühe dir einen neuen auf.«

»Dank dir, Irmi.« Seifferheld besah sich den Rücken seiner Schwester, die an der Arbeitstheke den Wasserkocher einschaltete und dann zur Dose mit dem Hochlandkaffee griff. Irmi glaubte fest an ein Mischungsverhältnis eins zu eins von Kaffee und Wasser. Seifferheld würde damit, wie immer, wenn Irmi ihm Kaffee braute, den Gummibaum im Treppenhaus gießen. Dass er damit ein Lebewesen zum Tod verurteilte, nahm er billigend in Kauf. Entweder der Gummibaum oder er.

»Kommen Sie, Herr Siegfried. Leisten Sie uns Gesellschaft«, bat Olga und schob mit dem nylonkniestrumpfbestrumpften Bein einen Küchenstuhl in seine Richtung.

Seifferheld wollte schon ablehnen, da fiel ihm etwas ein.

Er schaltete das Radio leiser – es liefen gerade die Wildecker Herzbuben mit ihrem Klassiker Magst mi au – und setzte sich. Allerdings schräg zu Olga, den Blick fest auf Irmi gerichtet. Seifferheld war auch nur ein Mann, und die Fleischhügel, die sich im Rhythmus zu Olgas Atemzügen hoben und senkten, schienen gleichsam den Nordpol für seine Magnetaugen zu bilden.

»Ich habe gerade die Zeitung gelesen«, fing er an. »Schon wieder ist ein Mann verschwunden.«

»O ja, das ich habe auch gelesen«, rief Olga. Sie strich sich mit der Zigarettenhand eine blondierte Haarsträhne aus dem Gesicht. Kleine Rauchwölkchen erhoben sich über ihrem Kopf, Asche rieselte auf ihre Schulter. »So viele Männer erst weg, dann tot. Ist sich schrecklich.«

»Ist sich Zufall«, sagte Irmi und goss das kochende Wasser über den gemahlenen Kaffee. Noch beim Schütten drehte sie den Kopf zu ihrem Bruder. »Ich kenne dich, du willst auf ein Verbrechen hinaus.«

»Aber alle Männer sterben natürliche Tod«, sagte Olga und drückte die Zigarette im Unterteller aus. Eigentlich war das seifferheldsche Haus strikt rauchfrei, aber Irmi hatte – nur um Susanne zu ärgern – die einzige Putzfrau genommen, die sich beim Bewerbungsgespräch gleich in den ersten beiden Sekunden als bekennende Kettenraucherin geoutet hatte.

»Siggi vermutet immer hinter allem ein Verbrechen. Er kann’s nicht lassen. Aber es ist lächerlich.« Irmi nahm seine Tasse vom Abtropfbrett und füllte sie mit dem Kaffee, der nicht wie ein Gebirgsquell gluckste, sondern zäh wie Melasse in das Meissner Porzellan plumpste.

Seifferheld schluckte schwer.

Onis, der sich bis zu diesem Moment an seinem Wassernapf im Flur gütlich getan hatte, kam mit tropfender Schnauze in die Küche gelaufen.

»Oh, was für eine schöne Hund!«, rief Olga begeistert, was sie beim Anblick von Onis immer tat. Sie beugte sich vor, um ihn zu streicheln, während der Rüde seine Schnauze tief in ihren Schritt bohrte.

»Gewöhn dem Köter doch mal dieses Verhalten ab, ist ja widerlich«, schimpfte Irmi. »Letzte Woche war Frau Bertsch-Baierle vom Kirchengemeinderat da. Ich bin tausend Tode gestorben, als er diese Nummer bei ihr durchzog.«

Olga schien sich aber nicht daran zu stören. Mit ihren überlangen, knallrot lackierten Fingernägeln brachte sie Hovawart Onis zum Schnurren, indem sie ihn hinter den Ohren kraulte. Ja, peinlich, aber wahr: Der Rüde schnurrte, wenn er sich beglückt fühlte. An ihm war ein veritabler Kater verloren gegangen.

»Der Radfahrer heute im Haller Tagblatt, das war schon der vierte. Tagelang sind die Männer spurlos verschwunden, und plötzlich findet man sie tot auf.« Seifferheld klopfte mit dem Zeigefingergelenk auf die Tischplatte. »Ich bitte dich, Irmi, wer da noch an Zufall glaubt, der glaubt auch an den Weihnachtsmann.«

Irmi zuckte mit den Schultern, nahm den Wischlappen wieder zur Hand und setzte ihre Arbeit fort. »Wenn du meinst, Siggi. Besprich deine Verdachtsmomente doch einfach beim nächsten Stammtisch mit deinen Ex-Kollegen.«

Gar keine dumme Idee, fand Seifferheld. Was er natürlich nicht aussprach. Irmis Ego brauchte keine Bestätigung. Es war ohnehin megalithisch.

Olga war mit dem Durchkraulen des Hundes fertig und vermittelte den Anschein, als wolle sie ihre Krallen jetzt in das dazugehörige Herrchen versenken.

Seifferheld sprang abrupt auf. »Ich muss los«, rief er.

»Wohin denn?«, fragte Irmi. »Der Olaf kommt erst heute Nachmittag zur Physiotherapie. Und du hast ja sonst kein Hobby.«

»Keine Hobby?« Olga wirkte entsetzt. »So eine stattliche Mann und keine Hobby? Keine Sport?« Sie zwinkerte.

Offenbar meinte sie Sport in der Horizontalen und hatte sich selbst als Trainerin im Sinn.

»Ich muss in die Stadtbibliothek«, erklärte Seifferheld, Panik in der Stimme.

»Wozu das denn?«, verlangte Irmi fassungslos zu wissen. Ihr Bruder und Bücher?

»Recherche!«, behauptete Seifferheld.