Krieger des Lichts - Ungezähmte Sehnsucht - Pamela Palmer - E-Book

Krieger des Lichts - Ungezähmte Sehnsucht E-Book

Pamela Palmer

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Beschreibung

Eigentlich ist der Gestaltwandler Jag ein Einzelgänger. Doch als eine Gruppe Dämonen Menschen anfällt, muss er mit der Kriegerin Olivia zusammenarbeiten, um die Bedrohung abzuwenden. Die rothaarige Schönheit ist ebenso stark wie verführerisch, und Jag wird schon bald von einer wilden Leidenschaft zu ihr erfasst. Aber Olivia ist keine gewöhnliche Unsterbliche. Sie verfügt über eine seltene und gefährliche Gabe, die sie niemandem enthüllen darf. Als eine dunkle Macht Olivia bedroht, steht nicht nur ihr Leben auf dem Spiel ...

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Inhalt

Titel

Widmung

Prolog

1

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5

6

7

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Danksagung

Impressum

Pamela Palmer

Ungezähmte Sehnsucht

Roman

Ins Deutsche übertragen von Firouzeh Akhavan-Zandjani

Für Kelly

Prolog

Die schottischen Highlands, 1433

»Die Schutzwälle, Mystikerin! Errichte die Schutzwälle!« Die Stimme des Anführers der therianischen Enklave hallte durch die von Feuern erhellte Höhle. Sie hatte einen schroffen und verzweifelten Tonfall angenommen, als er nach dem ersten Drader stach, der sich auf ihn stürzte. »Du musst die Schutzwälle errichten!«

Von den Kochstellen stieg Rauch auf – wie Geisterhände, die nach Decke und Wänden griffen, sich drehten und wanden im Gewirr der aufgeregten Therianer.

»Ich versuche es ja!«, rief die Mystikerin Isobel. »Aber ich erinnere mich nicht mehr an das Lied. Die Zauberer haben mir das Lied genommen.« Ihre Stimme brach, Tränen strömten über ihre Wangen, obwohl sie weiterhin die Arme schwang und mit den Händen die Bewegungen vollführte, die mit der Beschwörung des magischen Schutzschilds einhergingen, der sie vor den Dradern schützte – den Dradern, die sich von der Lebenskraft der Therianer ernährten.

Olivia drängte sich dichter an ihre Mutter und spürte, wie der Griff ihres Armes um ihre Schultern fester wurde. Sie schaute auf und sah, dass die Lippen ihrer Mutter zitterten und ihre Augen im Feuerschein schimmerten.

»Mama?«

»Schsch, Olivia.« Ihre Mutter zog sie fest in ihre Arme und drückte Olivias Gesicht an ihren Leib. »Alles wird gut, meine Kleine.« Aber in der Stimme ihrer Mutter schwang eine Furcht mit, die Olivia noch nie vernommen hatte, und auch ihr stiegen Tränen in die Augen, während ihr Herz anfing zu rasen.

»Ich habe das Lied verloren! Ich habe das Lied verloren!« Isobels tränenersticktes Wehklagen hallte durch die Höhle.

»Diese paar sind erst der Anfang!«, rief der Anführer der Enklave, Jamie. »Wappnet euch. So nah bei der Burg der Krieger des Lichts werden es ganze Schwärme von Dradern sein. Die Göttin stehe uns bei. Hätte ich geahnt, dass die Zauberer Isobel verwünscht haben, wären wir in eine andere Richtung geflohen.« In seinen Worten schwangen so viel Angst und Qual mit, dass Olivia anfing zu zittern. »Uns bleibt keine andere Wahl, als zu kämpfen.«

Ihre Mutter packte Olivia bei den Schultern und riss sie herum, während sie sich vor sie kniete. Die Tränen strömten nun ungehindert über Mamas hübsches Gesicht, als sie eine Hand hob und Olivias Wange streichelte.

»Ich liebe dich, meine Süße. Mehr als eine Mutter je ihre Tochter geliebt hat. Ich liebe dich.« Unverhüllter Gram verdunkelte den Blick ihrer Mutter.

Ein Schluchzen stieg in Olivias Kehle auf. »Mama.«

Der Griff der Hände, die auf ihren Schultern lagen, verstärkte sich. »Die Drader werden schon bald über uns herfallen. Ich werde gegen sie kämpfen und dich so lange, wie ich kann, beschützen. Aber wenn sie in Schwärmen kommen, wie Jamie befürchtet, bleibt mir nichts anderes mehr, als dich mit meinem Körper zu bedecken. Du wirst unter mir liegen bleiben, ja?« Sie schüttelte Olivia leicht. »Du wirst unter mir liegen bleiben, egal was passiert! Egal was.«

»Ja, Mama.«

Das Gesicht ihrer Mutter löste sich in Tränen auf, und sie zog Olivia noch einmal stürmisch an sich. »Oh, meine süße Kleine.«

Die Zauberer hatten ihr Dorf am heutigen Morgen angegriffen. In ihrer Erinnerung sah Olivia die Feuer immer noch brennen. Jamie hatte die Therianer im Laufschritt in die Berge geführt, um sie alle unter die Obhut derer zu stellen, die ihre Rasse schützten … die Krieger des Lichts. Aber die Burg der Krieger des Lichts lag mehr als eine Tagesreise entfernt, und die Drader hatten mit Einbruch der Dunkelheit angefangen, Jagd auf die Therianer zu machen. Eigentlich hätte Isobel in der Lage sein müssen, die Höhle mit ihren magischen Fähigkeiten zu einer sicheren Zuflucht zu machen. Eigentlich hätten sie dort in Sicherheit sein müssen …

Wenn doch nur ihr Vater da gewesen wäre. Vor mehreren Tagen hatte er sich wegen irgendeiner Angelegenheit auf den Weg zu den Kriegern des Lichts gemacht und war noch nicht zurückgekehrt. Wäre er hier, hätte er sie gerettet.

Ein Schrei durchbrach die lastende Stille und dann noch einer.

Mama drehte sie um und stellte sie mit dem Rücken gegen sich, während sie sich über sie beugte und ein Messer aus ihrem Stiefel zog. Olivias Blick ging durch die Höhle, und Entsetzen erfasste ihr Herz bei dem Anblick, der sich ihr bot. Wie eine dunkle Wolke schwärmten Drader in die Höhle … so viele. Sie hatte gar nicht gewusst, dass es so viele davon gab. Es waren mehr, als sie zählen konnte. Die kleinen Scheusale waren nicht groß, nicht größer als Papas geballte Faust, und ihre Leiber waberten wie Rauch. Doch ihre Gesichter …

Als zwei direkt auf sie zugeflogen kamen, schrie sie auf und drückte sich mit dem Rücken an ihre Mutter. Sie kniff die Augen zusammen, um die widerlichen, verzerrten Fratzen und die scharfen, schrecklichen Zähne nicht sehen zu müssen. Gleich darauf riss sie sie wieder auf und sah, wie ihre Mutter nach einem ausholte und ihm das Herz herausschnitt, sodass er sich in Rauch auflöste. Aber als dieser eine verschwand, schrie ihre Mutter auch schon auf, und Olivia wusste, dass der andere sie gebissen hatte und sich nun an ihr festklammerte, um zu fressen.

Noch mehr von den Wesen kamen auf sie zugeflogen, und ihre Mutter nahm es mit allen auf, aber es waren einfach zu viele! Einer biss Olivia in den Arm, die spitzen, kleinen Zähne zerrten an ihrem zarten Fleisch. Als Olivia aufschrie, stach ihre Mutter zu und erledigte den Drader.

Die Feuer warfen ihren flackernden Schein auf die Höhlenwände, über die die ganze Zeit Schatten von Dradern huschten. Überall in der Höhle kämpften ihre Leute gegen die schrecklichen Wesen, während sich diese auf sie stürzten und sich an Arme, Gesichter und Köpfe klammerten. Olivia sah, wie Isobel in die Knie ging, dann Angus und Barbara. Jeaniene fiel einfach schlafend zu Boden.

Warum schlief sie jetzt, wenn sie doch eigentlich kämpfen sollte?

Hinter ihr taumelte Mama. »Olivia. Jetzt«, keuchte sie. »Auf den Boden. Leg dich flach hin.«

Olivia war kaum auf den Knien, als ihre Mutter sie auch schon nach unten stieß und sich schwer auf sie fallen ließ.

»Mama, du bist zu schwer.«

»Schsch, Kleines.« Die Stimme ihrer Mutter drang ganz sanft und leise in ihr Ohr. Sie klang schläfrig. »Ich liebe dich, Olivia. Ich werde dich immer lieben.«

Mamas Kopf sackte neben ihrem zu Boden und versperrte ihr die Sicht, als ein Drader Olivia in die Wange biss und brennender Schmerz durch ihr Gesicht schoss. Sie schrie auf und versuchte, ihren Arm zu befreien, um nach ihm zu schlagen, aber da verfing sich schon ein weiterer in ihrem Haar und schlug seine rasiermesserscharfen Zähne in ihren Schädel.

»Mama!«

Das Entsetzen drohte ihr die Brust zu zerreißen, Tränen strömten über ihre Wangen, während sie ihre Hand befreite und an dem Drader an ihrer Wange zerrte. Ihre Hand versank in der klumpigen Masse, ihre kleinen Finger berührten das gleichmäßig schlagende Herz; sie packte es und zog. Der Drader löste sich in einer Rauchwolke auf, aber nur Sekunden später rückte ein anderer an seine Stelle. Sie stürzten sich von allen Seiten auf sie, schlugen ihr die Zähne in Gesicht, Kopf, Hände und Beine … überall dort, wo sie nicht von ihrer Mutter bedeckt wurde.

Sie würgte an ihren Tränen, kämpfte und schrie, bis ihre Kehle ganz rau und ihre Stimme heiser war. Aber niemand kam, niemand half ihr. Und bald spürte auch sie die Müdigkeit, die sie erfasste. Sie hörte auf zu kämpfen. Nach und nach begann alles um sie herum zu verschwimmen.

Dann kippte alles. Schwindel bemächtigte sich ihrer, hinter ihren Augen drehte es sich, und sie wachte auf. Ein Drader biss in ihren Fuß und sie schrie auf, aber eine seltsame Wärme begann sich von dem Biss aus in ihr auszubreiten. Eine Wärme, die durch ihr Bein strömte, dann in ihren Körper floss und dafür sorgte, dass sie sich wieder stark und gut fühlte.

»Mama?«

Aber ihre Mutter schlief immer noch.

Langsam wurde um sie herum alles ruhig. Sogar die Drader waren eingeschlafen oder davongeflogen. Nur das Knacken des Holzes in den heruntergebrannten Feuerstellen und das Zirpen der nächtlichen Insekten waren noch zu hören.

Olivia lag lange einfach nur da, so wie sie es ihrer Mutter versprochen hatte. Aber irgendwann wurde sie unruhig und zwängte sich schließlich unter der reglosen Gestalt ihrer Mutter hervor. Überall in der Höhle lagen ihre Leute, ihre Familie, still und regungslos herum. Schlafend.

Sie setzte sich neben ihre Mutter und strich ihr übers Haar, während ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen.

Sie schliefen. Es konnte nicht anders sein! Therianer starben doch nicht.

Außer durch Drader.

Wieder meinte sie, an ihren Tränen zu ersticken. Wenn sie nicht gestorben war, warum dann die anderen? Sie waren nicht gestorben. Sie waren nicht tot!

Aber tief in ihrem Innern wusste sie, dass das nicht stimmte. Während sie still dasaß, spürte sie all die Toten um sich, ihre Geister, die über ihre Haut strichen, ihr Lebewohl sagten, ehe sie die Welt der Lebenden flohen.

Und sie allein zurückließen.

Ihre Tränen wurden zu einem lauten Schluchzen, als sie das Gesicht im Haar ihrer Mutter vergrub und sich an ihren reglosen Körper klammerte, bis sie schließlich einschlief.

Sie erwachte, als aus der Ferne ein Ruf an ihr Ohr drang. Tageslicht strömte in die Höhle, und langsam hob sie den Kopf.

»Mama?«

Wieder hörte sie jemanden rufen. »Olivia!« Es war die Stimme ihres Vaters. Freude stieg in ihr auf, sie rappelte sich auf und rannte los, flog förmlich über die still daliegenden Leiber der Menschen, die sie geliebt hatte.

»Papa!«

Am Eingang zur Höhle trafen sie aufeinander. Sein feuerrotes Haar, das die gleiche Farbe wie ihres hatte, glänzte im Sonnenlicht, als er sie in seine Arme riss und so eng an sich zog, dass er sie fast erdrückte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und barg ihr Gesicht an seiner warmen Kehle.

»Was ist passiert, Kleines? Ich habe gespürt, wie deine Mutter … ging.« Während er sie in die Höhle trug, schwang in seiner Stimme das Entsetzen mit, das ihn die ganze Nacht verfolgt hatte.

»Die Zauberer haben im Dorf mehrere Feuer gelegt, die wir nicht löschen konnten; deshalb sind wir weggelaufen. Jamie sagte, die Krieger des Lichts würden uns beschützen.«

»Aber ihr habt es nicht bis zur Burg der Krieger geschafft.«

»Nein. Isobel versuchte, den Schutzwall zu errichten, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie, Papa. Und die Drader …« Wieder wurde sie vom Entsetzen der letzten Nacht erfasst, und ihre Stimme erstickte an einem Schluchzen.

Ihr Vater begann zu zittern, während er sie hielt, und Wut schwang in seiner Stimme mit. »Isobel ist mehr als fünfhundert Jahre lang die Mystikerin der Enklave gewesen. Sie hat das verdammte Lied nicht vergessen, sondern es war das Werk der Zauberer.« Er taumelte, hielt sie aber weiterhin fest. »Wo ist deine Mutter?« Seine Stimme brach, als er das letzte Wort aussprach.

Olivia hob den Kopf von seiner Schulter und zeigte auf die Stelle, aber er ging bereits in die Richtung. Er wusste es schon.

»Ach, bei der heiligen Göttin, Alexandra. Alexandra.«

Tränen liefen über seine Wangen, während er auf seine Gemahlin schaute.

»Sie schläft, Papa.«

»Ja, Kleines. Für immer.« Er krächzte fast, als er fragte: »Wie hast du überlebt, meine Kleine?«

»Mama hat mich mit ihrem Körper bedeckt.«

»Du bist nicht gebissen worden?« Wieder taumelte er, dann sank er auf die Knie, wobei er sie mit einer Hand auf seinen Schoß zog, während er die andere nach ihrer Mutter ausstreckte und ihr übers Haar strich, wie es auch Olivia in der Nacht getan hatte.

Wieder schaute sie zu ihm auf und sah, dass sein Gesicht viel zu blass war. Doch als sie ihre kleine Hand hob, um seine Wange zu berühren, griff er nach ihrem Kinn, sah sie an und drehte ihr Gesicht von der einen in die andere Richtung.

Seine Miene wurde ernst. »Du bist voller Bisswunden von den Dradern, Kleines. Wie konntest du überleben, während die anderen …?«

Plötzlich wurden seine Augen ganz groß, und sein Kopf flog zurück, als wäre er geschlagen worden.

»Papa?« Zitternd kam das Wort über ihre Lippen.

Er schob sie weg, und sie purzelte auf den Höhlenboden, wo sie sich die Hüfte an einem vorstehenden Stein stieß. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Livvie, Kleines.« Seine Worte klangen erstickt. »Geh weg von mir, Livvie. Geh weg, damit du nicht zur Mutter auch noch den Vater verlierst, ja?«

Sie verstand es nicht. Sie wusste nur, dass ihre Welt zusammengebrochen und er das Einzige war, das ihr noch geblieben war. Sie streckte die Arme nach ihm aus.

Ein schrecklicher Ausdruck trat in seine Augen. »Olivia, zurück! Bleib mir fern, sonst bringst du mich noch um.«

Mit einem herzzerreißenden Schrei sprang Olivia auf und rannte davon, wobei sie vor lauter Tränen nichts sehen konnte, als sie durch die Höhle ins helle Sonnenlicht stolperte.

»Livvie, das ist weit genug! Bleib dort.«

Von Kopf bis Fuß zitternd sank sie schluchzend zu Boden. Was hatte sie getan?

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe ihr Vater endlich aus der Höhle kam und etwas entfernt von ihr auf einen großen Felsbrocken sank.

Sie wollte schon aufstehen und zu ihm gehen, aber er hob die Hand und schüttelte den Kopf.

»Bleib dort sitzen, Kleines, und hör mir zu, ja?« Zwar lag auf seinem Gesicht ein grimmiger Ausdruck, doch seine Stimme war vor lauter Liebe ganz sanft. »Hör einfach nur zu, Olivia. Du bist von einem Drader geküsst worden, Kleines. Weißt du, was das bedeutet?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte die Worte schon einmal gehört und wusste, dass sie etwas Schlimmes besagten. Etwas sehr Schlimmes.

»Es bedeutet, dass die Drader dich verwandelt haben statt dich zu töten. So etwas liegt nicht in ihrer Absicht, es passiert einfach nur manchmal.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie ihn anstarrte. »Bin ich jetzt ein Drader?«

Ein erstickter Laut kam über seine Lippen, ein Laut, der ein Lachen hätte sein können, wären die Umstände nicht so schrecklich gewesen. »Nein. Aber du entziehst anderen ihre Lebenskraft, so wie Drader es tun. Gerade hast du das bei mir gemacht – gerade eben.«

»Das wollte ich aber nicht.«

»Das weiß ich, Kleines. Das ist etwas, über das du noch keine Kontrolle hast. Immer wenn du saugst … Nahrung zu dir nimmst … wie du es jetzt gerade tust, entziehst du jedem in deiner Nähe, ob du ihn nun berührst oder nicht, Lebenskraft.«

Sie verstand es nicht. Sie begriff nur, dass sie jetzt schlecht war und dass ihr Vater sie nicht mehr wollte. Ihr Weinen steigerte sich zu einem unkontrollierten Schluchzen.

»Kleines …« Ihr Vater legte seine Hände fest ineinander und hob sie nicht von seinem Schoß. »Alles wird gut. Ich habe von Leuten gehört, die wie du von Dradern geküsst worden waren und jahrelang unter uns weilten, ohne dass jemand es wusste. Sie hatten nicht nur gelernt, selbst darüber zu bestimmen, wann sie Nahrung zu sich nahmen, sondern auch, mit welcher Intensität, sodass sie essen konnten, ohne jemandem dabei zu schaden; denn die, die von Dradern geküsst wurden, müssen sich von Lebenskraft ernähren, wenn sie überleben wollen. Aber sie taten es, ohne dass einer von uns etwas bemerkte. Du wirst das auch lernen, meine Kleine. Und zwar schnell, ehe andere herausfinden, was du bist.« Er musterte sie mit untröstlichem Blick. »Sie würden dich umbringen, wenn es herauskommt.«

»Die Drader?«

»Nein. Die Therianer. Sie werden dich als eine Gefahr ansehen, die sie nicht in ihrer Nähe dulden möchten.«

»Aber …« Sie starrte ihn. »Und du?«

»Nein.« Tränen sammelten sich in seinen Augen. »Ich nicht. Nie. Ich habe alles verloren, meine Kleine. Ich will dich nicht auch noch verlieren.«

Er strich sich mit einer Hand übers Gesicht. »Von heute an müssen wir für uns allein leben. Die Drader können dir nichts mehr antun, aber du musst trotzdem lernen, sie zu bekämpfen. Und die Therianer auch. Wenn es jemals herauskommt, wirst du kämpfen und fliehen müssen. Du schaffst das, Kleines. Ich habe vom ersten Tag deines Lebens an gesehen, wie stark du bist.«

Sie sah ihn an und versuchte zu begreifen. »Habe ich Mama umgebracht?«

»Nein! Nein, Kleines«, sagte er etwas sanfter. »Das waren die Drader.«

»Aber ich könnte dich umbringen?« Sie musste kräftig blinzeln, um die heißen Tränen zurückzudrängen; denn sie wollte ihn unbedingt ansehen.

»Ja, das könntest du, und du wirst es wahrscheinlich auch tun. Aber du sollst deshalb keine Schuldgefühle haben, Livvie. Wenn es passiert, wirst du weitermachen wie bisher und nicht zurückschauen. Ich will, dass du lebst. Auch wenn es mich mein eigenes Leben kostet, aber ich will, dass du lebst, meine Tochter.«

Er breitete die Arme aus, und das war die einzige Aufforderung, die sie brauchte. Sie stürzte sich an seine Brust und schlang die Arme um seinen Hals, während er sie an sich presste.

»Ich liebe dich über alles, Livvie, vergiss das nie. Mein Leben für deines ist ein Preis, den ich gern bezahle.«

»Ich will dir nicht wehtun, Papa.«

Er strich ihr übers Haar, dann schob er sie sanft von sich, und sie ging wieder zu der Stelle, wo sie eben noch gesessen hatte.

Zwar hielt er sie nicht mehr in seinen Armen, doch sein Blick hüllte sie in einen zarten Schleier der Liebe. »Livvie?«

»Ja, Papa?«

Trotz der Trauer in seinen Augen lächelte er sie an. »Es war dir bestimmt zu leben, meine Kleine. Vergiss das nie. Es war dir bestimmt zu leben.«

1

Olivia saß mit geradem Rücken und übereinandergeschlagenen Beinen auf der Kante des mit Leder bezogenen Stuhls; ihr Fuß in dem hochhackigen Schuh wippte vor sorgfältig beherrschter Erregung, während Lyon, der mächtige Anführer der Krieger des Lichts, in dem mit Holz verkleideten Besprechungszimmer des Hauses des Lichts mit energischen Schritten auf und ab ging. Draußen war es dunkel geworden, doch im Raum blitzte und funkelte es vor Licht und Energie.

Ihr Blick glitt den großen Konferenztisch entlang, und sie schaute die Krieger mit fast unverhohlener Ehrfurcht an. Heute waren nur fünf von ihnen da – Lyon, der Anführer der Gruppe, Tighe, Paenther, Wulfe und die Nervensäge Jag –, doch sie strahlten solch eine Stärke aus, so eine pure, ungebändigte Kraft, dass man das Gefühl hatte, es befänden sich viel mehr von ihnen im Raum.

Alle Krieger waren außergewöhnlich groß, muskelbepackt und das Objekt der Begierde vieler Therianerinnen. Vieler Frauen, um genau zu sein. Sie waren die Wächter der therianischen Rasse, die einzigen Gestaltwandler, die es noch auf dem Planeten gab. Und sie waren mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die Einzigen, die die endgültige Vernichtung der Welt verhindern konnten.

Erstaunlicherweise hatten sie sie um Hilfe gebeten.

Na ja, nicht explizit um ihre Hilfe. Vor mehreren Wochen hatte Lyon bei der Britischen Wache angerufen – der besten therianischen Kampfeinheit – und einen kleinen Trupp von Kämpfern angefordert, die seine Krieger unterstützen sollten. Die Krieger des Lichts waren einfach zu wenige geworden, jetzt, wo sie nur noch zu acht waren und die Schlacht an mehreren Fronten geschlagen werden musste. Das wusste keiner besser als ihr Anführer.

Olivia hatte den Auftrag bekommen, den Trupp von drei therianischen Wachen zum Haus des Lichts zu geleiten. Der Auftrag ihres unsterblichen Lebens.

Nur eine Sache – eine Person – trübte die Vollkommenheit dieses Moments.

Der Krieger des Lichts Jag.

Olivia spürte, wie er sie über den riesigen Konferenztisch hinweg so aufmerksam beobachtete wie ein Tier, das auf der Jagd ist. Zwar versuchte sie, ihn zu ignorieren, ertappte sich aber dabei, dass sie in seine Richtung schaute und ihn mit einem eisigen Blick durchbohrte, der jedoch lediglich bewirkte, dass sich Lachfältchen um seine Augen bildeten.

Heilige Göttin! Er nervte sie. Doch gleichzeitig faszinierte er sie auf eine ihr völlig unverständliche Weise. Er war ein Idiot erster Güte. Das wusste sie genau. Jeder, mit dem sie sprach, wusste es. Jag hatte in der therianischen Bethesda-Enklave, wo sie, Niall und Ewan untergebracht waren, einen gewissen Ruf.

Und trotzdem wurden ihre Beine jedes Mal weich, wenn sie ihn sah, und es breitete sich eine seltsame Wärme in ihrem Körper aus. Jedes Mal, wenn ihre Blicke sich trafen, fing ihr Herz an zu wirbeln wie die Rotorblätter eines Hubschraubers. Er übte auf sie eine ungeheure Anziehungskraft aus, und sie wusste nicht, warum. Gewiss … er war sehr attraktiv mit den hohen Wangenknochen, dem markanten Kinn und dem ach-so-faszinierenden Mund. Aber eigentlich lag viel zu häufig ein finsterer Ausdruck auf seinem Gesicht oder war sein Mund zu einem höhnischen Grinsen verzogen.

Allen Kriegern des Lichts war eine gewisse Wildheit zu eigen, aber bei Jag war sie noch deutlicher ausgeprägt. Das Haar hing ihm zottelig ums Gesicht, als hätte er es mit einem Messer gestutzt, und Hose und T-Shirt wiesen Tarnfarben auf, als wollte er gerade in den Urwald aufbrechen – aber nicht, um wie eine Wildkatze auf die Pirsch zu gehen.

Sie musste allerdings zugeben, dass die engen T-Shirts seine beeindruckenden Muskeln sehr vorteilhaft hervorhoben und den Blick auf seine breite Brust lenkten. Um seinen muskulösen Oberarm schlang sich der Reif mit dem Jaguarkopf, der ihn als Krieger des Lichts auswies.

Sie hatte Jag zum ersten und bisher einzigen Mal vor über einer Woche gesehen und war total angewidert gewesen von ihm. Seitdem musste sie ständig an ihn denken.

»Ihr habt für eine Verbindung zum FBI gesorgt?«, fragte Lyon und sein Blick richtete sich auf Tighe.

Der Krieger des Lichts, der sich, wann immer er wollte, in einen Tiger verwandeln konnte, nickte. »Delaney und ich haben uns mit einem ihrer alten Kollegen getroffen, aber er wird sich an nichts mehr erinnern. Er sieht und hört jetzt für uns und weiß es noch nicht einmal.«

Von allen Kriegern des Lichts war Tighe ihrer Meinung nach der charmanteste. Er bekam Grübchen, wenn er lächelte, und besaß lachende Augen, die jedes Mal funkelten, wenn er seine Frau, Delaney, anschaute. Die beiden bildeten ein auffallend attraktives Paar; sein Haar war so hell wie ihres dunkel, und beide strahlten für sich eine Energie aus, die sie in eine gemeinsame Aura der Kraft hüllte. Sie hatte gehört, dass Delaney früher FBI-Agentin und sterblich gewesen war. Und dass jetzt weder das eine noch das andere mehr für sie galt.

Wirklich außergewöhnlich. Andererseits neigten Dinge nun einmal dazu, sich zu verändern.

Vor langer, langer Zeit waren alle Therianer dazu in der Lage gewesen, ihre tierische Gestalt anzunehmen. Alle konnten ihre Gestalt wandeln. Doch vor fünftausend Jahren hatten sich die Therianer mit den Zauberern, die von jeher ihre Feinde gewesen waren, zusammengetan, wobei beide einen großen Teil ihrer Macht aufgaben in dem verzweifelten Versuch, den Erzdämon Satanan zu besiegen und ihn und seine Dämonenarmee ein für alle Mal in der verwunschenen Klinge der Dämonen einzuschließen. Als die Schlacht vorbei war, konnte nur noch jeweils ein Therianer der verschiedenen Tierahnenlinien die Kraft seines Tieres und damit die Fähigkeit bewahren, die Gestalt zu wandeln. Derzeit gab es nur neun – oder würden es wieder sein, wenn der neue Fuchs zu ihnen stieß.

Neun Krieger des Lichts.

Sie waren das Einzige, was zwischen Satanan und seinem letzten und bei Weitem gefährlichsten Versuch stand, sich aus seinem verzauberten Gefängnis zu befreien.

Irgendwie war der Anführer der Zauberer von einem Anflug eines mächtigen bösen Geistes befallen worden; manche hielten es für einen Hauch von Satanans ureigenem Bewusstsein. Sie befürchteten, dass Satanan durch diesen bösen Geist die Kontrolle über den Anführer der Zauberer erhalten hatte und dadurch auch über alle anderen Zauberer. Da ihm jetzt Satanans finsteres Wissen zur Verfügung stand, hatte er eine Möglichkeit gefunden, seinen eigenen Leuten die Seelen zu rauben – jenen, die so viel geopfert hatten, um vor so vielen Jahren der Bedrohung durch den Dämon Einhalt zu gebieten. Der seelenlose Zauberer wollte nur noch eins erreichen: Satanan und seine bösen Horden befreien.

Wenn den Zauberern dies gelang, würde die Welt in ihrer heutigen Gestalt aufhören zu existieren.

Tighe fuhr fort. »Wir haben genug Informationen über die beiden Serienmörder, die in den Blue Ridge Mountains unterwegs sind, sammeln können, um uns ziemlich sicher zu sein, dass es sich bei ihnen um zwei von unseren Dämonen handelt.«

Dämonen. Allein schon das Wort ließ Olivia frösteln. Die Drader waren nichts anderes als Überreste der mächtigen und furchteinflößenden Dämonen. Der Gedanke, dass diese kleinen, tödlichen Gegner mit Dämonenseelen wiederbelebt worden und jetzt so groß wie Menschen waren, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Vor zehn Tagen war es dem Zauberer, der Satanans Horden unbedingt aus der magischen Klinge holen wollte, gelungen, drei von ihnen zu befreien. Zwar waren es keine denkenden, Ränke schmiedenden Dämonen, sondern nur räuberische Geisterdämonen; doch der Tod, den sie brachten, war schrecklich.

»Ich will, dass du mit einem Team hoch fährst und sie fängst, Tighe«, erklärte Lyon. »Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, wie wichtig es ist, dass wir diese Wesen so schnell wie möglich vernichten.«

Der Gedanke, dass sie, Olivia, eine von denen sein würde, die dieser Bedrohung Einhalt geboten, löste bei ihr wieder einen Schwall der Erregung aus. Sie gehörte der Eliteeinheit der therianischen Wache jetzt seit mehr als dreihundert Jahren – seit ihrer Gründung – an, doch dies war das erste Mal, dass sie mit den Kriegern des Lichts tatsächlich zusammenarbeitete. Ihres Wissens war es überhaupt das erste Mal, dass die Gestaltwandler Hilfe von Therianern annahmen, die keine Krieger waren.

Olivia veränderte ihre Sitzposition und schlug jetzt das andere Bein über, wobei sie es geflissentlich vermied, Jag anzuschauen. Doch das schien nichts zu bringen. Sie wurde schon unruhig, wenn sie nur im selben Raum wie er war. Kribbelig. Heute genauso wie am ersten Tag. Sie war auf Lyons Wunsch hin mit ihren Männern ins Haus des Lichts gekommen, um mit ihm die mögliche Zusammenarbeit zu besprechen. Während sie mit Lyon geredet hatte, war Jag auf sie zugekommen, hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, ihre Brust gedrückt und vorgeschlagen, dass sie ihn nach oben begleitete, um die Beine für ihn breitzumachen.

Zu seiner Verteidigung musste gesagt werden, dass er einem bösen Zauber ausgesetzt gewesen war und dringend einer sexuellen Reinigung bedurfte, um sich davon wieder zu befreien. Um ehrlich zu sein, hatte er sich ihr mit einem Zwinkern, einem Lächeln genähert, und hätte er ein bisschen mehr Respekt an den Tag gelegt, wäre sie vielleicht sogar auf seine Bitte eingegangen. Therianer waren Geschöpfe, für die Sex sehr wichtig war. Und so ungehobelt er sich ihr auch genähert haben mochte, so hatte ihr Körper doch auf ihn reagiert, war bei seiner Berührung, seiner Nähe, seinem Duft Erregung in ihr aufgestiegen.

Aber er hatte ihr keinen Respekt gezollt, und so hatte sie ihn mit einem kalten Lächeln bedacht, während sie ihren Pfennigabsatz bis zur Hälfte in seinen Spann gebohrt hatte.

Damit hätte es eigentlich erledigt sein müssen, aber die Krieger des Lichts waren ein stures Pack, und dieser hier, so vermutete sie, war wohl schlimmer als die meisten anderen. Als sich ihre Blicke jetzt über dem Konferenztisch begegneten, verzog sich ihr Mund zu einem kalten, höhnischen Lächeln, mit dem sie ihn schweigend an dieses erste Zusammentreffen und ihre für ihn schmerzhafte Abfuhr erinnerte. Doch statt der finsteren Miene, auf die sie gehofft hatte, trat ein Lachen in seine Augen, ein verschmitztes Leuchten, mit dem er ihr sagte, dass die Berührung ihres Busens den Schmerz wert gewesen war. Und es beim nächsten Mal auch wieder sein würde.

Erregung durchfuhr ihren verräterischen Körper, und sie wandte sich ab. Sie besaß viel zu viel Stolz, um sich zu einem Mann mit schlechtem Benehmen und unflätiger Sprache hingezogen zu fühlen, doch ihrem Körper schien das völlig egal zu sein. Ob nun mieser Kerl oder nicht – der Mann war purer Sex, der ihre Haut zum Kribbeln brachte und ihr in jede Pore drang.

Fest entschlossen, ihn nicht weiter zu beachten, ließ sie ihren Blick schweifen. Neben Jag saß Wulfe, dessen schlimm vernarbtes Gesicht vor Konzentration ganz angespannt wirkte. Es war ihr schleierhaft, wie ein eigentlich schnell heilender Unsterblicher zu solchen Narben hatte kommen können, doch sie wollte nicht fragen. Er hatte sie zwar freundlich begrüßt, als sie einander vorgestellt wurden, aber ansonsten wirkte er zurückhaltend, als rechnete er damit, sie mit seinen Narben aus der Fassung zu bringen.

Neben Wulfe spielte Kara, Lyons Frau, unter dessen fürsorglich liebevollem Blick mit dem Kätzchen, das auf Skyes Schulter hockte. Skye war Paenthers Frau, eine Zauberin, die jedoch eine Seele besaß und eine gütige noch dazu. Direkt hinter den beiden Frauen stand Paenther wie ein furchteinflößender Leibwächter mit vor der Brust verschränkten Armen. Der Eindruck wurde jedoch von dem Anflug eines Lächelns gemildert, das jedes Mal um seine Lippen zuckte, wenn sein Blick auf seine Frau fiel.

Die Krieger des Lichts waren überaus fürsorglich. Eine besonders eng verbundene Bruderschaft. Doch sie spürte, dass dies für Jag nicht galt.

So sehr sie es auch versuchte, konnte sie ihn schließlich keinen Moment länger ignorieren, und sie stellte fest, dass er sie immer noch nervtötend unverwandt mit seinem Blick durchbohrte. In seiner tierischen Gestalt hätte bestimmt sein Schwanz gezuckt, während er sie wie eine Katze ansah, die auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen.

Eindeutig unzivilisiert. Nicht dass sie auf zivilisiertes Benehmen Wert gelegt hätte. Überhaupt nicht. Besonders nicht im Bett. Aber Respekt verlangte sie unbedingt. Und was sie von diesem Krieger des Lichts bisher gehört und gesehen hatte, sagte ihr, dass er absolut niemandem Respekt zollte. Ihr Körper mochte von dem Mann vielleicht fasziniert sein, aber ihr Stolz sagte, wo es langging. Jag würde einfach eine andere Frau finden müssen, die er verfolgen konnte. Diese hier war definitiv nicht interessiert.

Wenn nur ihr eigensinniger Blick endlich aufhören würde, sie zur Lügnerin zu machen.

Jag konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so fasziniert von einer Frau gewesen war.

Unter zusammengezogenen Augenbrauen musterte er Olivia und den adretten, hellbraunen Hosenanzug, unter dem sie einen dunkelgrünen Pullover trug. Und obwohl er wegen des Konferenztisches, der zwischen ihnen stand, ihre Füße nicht sehen konnte, wusste er, dass ihre schmalen Füße in Pumps, oder wie Frauen die Dinger auch nennen mochten, mit zehn Zentimeter hohen Absätzen steckten. Er hatte sie sofort bemerkt, als sie in den Raum gekommen war und sein Spann zu pochen angefangen hatte. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Verdammt, er mochte es, wenn eine Frau tough war.

Er beobachtete sie über den Tisch hinweg, während ihr Blick in eine andere Richtung ging und sie so tat, als würde sie ihn ignorieren. Das feuerrote Haar hing ihr dick und glatt auf die Schultern, und es juckte ihm in den Fingern zu überprüfen, ob es sich genauso weich anfühlte, wie es aussah. Sie besaß ein ebenmäßiges, hübsches Gesicht, das aber trotzdem Stärke ausstrahlte – ein entschlossenes Kinn, einen festen, arroganten Mund, die grauen Augen so scharf wie Glas und so kalt wie ein Winterhimmel.

Diese Augen zuckten nun über ihn. Sie versuchte, ihn nicht zu beachten, doch sie schaffte es nicht, den Impuls zu unterdrücken, dass ihr Blick immer wieder zu ihm zurückkehrte. Genauso wenig, wie er den Blick von ihr abwenden konnte.

Er hatte nie eine bemerkenswerte Vorliebe für Rotschöpfe gehabt, und genau betrachtet war an dieser Frau hier eigentlich nichts Besonderes. Doch Olivia war ein Paradebeispiel für den aristotelischen Ausspruch, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist. Die Frau war einfach umwerfend und zog ihn in einer Weise in ihren Bann, die er noch nicht einmal ansatzweise verstand. Vom ersten Moment an hatte sie ein Feuer in ihm entfacht, das keine Anstalten machte zu verlöschen.

Dafür musste er sie erst ins Bett bekommen und seine Begierde an ihr stillen. Was angesichts seiner ersten Annäherung wohl eine Herausforderung sein würde.

Normalerweise machte er sich nicht viel Gedanken darüber, wie Frauen auf seinen etwas absonderlichen Charme reagierten. Der Umstand, dass er ein Krieger des Lichts war, öffnete ihm trotz seiner hundsmiserablen Manieren die Tür zu vielen Schlafzimmern. Sobald er drin war, wusste er, was er tun musste, um sicherzustellen, dass man ihn wieder einlud – wenn er jemanden nicht irgendwann zu sehr verärgerte. Was manchmal passierte. Sein Charme wurde einfach nicht ausreichend gewürdigt.

Der Gedanke brachte ihn zum Lächeln – ein kurzes Zucken um seine Mundwinkel.

Olivia hatte es eindeutig nicht zu würdigen gewusst, wie er sie letzte Woche begrüßt hatte. Sogar für seine Verhältnisse war er ein bisschen zu weit gegangen, als er sich einer fremden Frau genähert und ihren Busen gedrückt hatte. Aber in dem Moment war er wegen des Zaubers, der versuchte, Einfluss auf ihn zu nehmen, nicht ganz bei sich gewesen, und sie hatte etwas an sich gehabt, das ihn wie ein Magnet anzog. Vielleicht war ihr Haar das Problem, dieser herrlich strahlende Schopf, die Art, wie er das Licht einfing. Oder der Anflug eines schottischen Akzents, der bei ihr manchmal mitschwang.

Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihm kaum bis zur Schulter reichte, aber trotzdem den Raum mit ihrer Präsenz füllte, bis er an nichts anderes mehr denken konnte. Nichts anderes mehr sehen konnte. Oder vielleicht lag es auch an der Glut in ihrem Blick, die ihn gefangen nahm, am mühsam gezügelten Temperament, das sie hinter einem frostigen Auftreten verbarg.

Er wusste es einfach nicht, aber was immer es auch sein mochte, das ihn so zu ihr hinzog – es machte keine Anstalten, schwächer zu werden.

Okay, die Frau faszinierte ihn also. Früher oder später würde er sie dazu bringen, seinen Namen zu stöhnen und ihn anzuflehen, mit ihr ins Bett zu gehen. Das würde ihr nicht gefallen. In der Hinsicht gab er sich keinen Illusionen hin. Der Stolz stand ihr ins Gesicht geschrieben und war in jeder Bewegung ihres wunderbar zierlichen Körpers zu erkennen.

Nein, sie würde ihr Verlangen nach ihm als Schwäche ansehen und als Selbstbetrug, wenn sie ihn anflehte, mit ihr zu schlafen. Aber sie würde ihn trotzdem anflehen, denn nur wenige Frauen konnten ihm widerstehen, wenn er es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, sie zu verführen.

Jag lächelte. Nicht einmal Olivia. So sehr sie es auch versuchte, der kleine, arrogante, verführerische Rotschopf schaffte es nicht, ihn zu ignorieren. Er ging ihr unter die Haut. Genauso, wie sie ihm.

Neben ihm ließ Wulfe die Knöchel knacken. »Haben wir irgendetwas Neues über diese Dämonen herausgefunden?«

Lyon presste die Lippen aufeinander. »Nein. Sie scheinen nichts weiter als seelenlose Fressmaschinen zu sein, was aber nicht bedeutet, dass sie ungefährlich sind. Hawke und Kougar haben versucht, eine der alten Dämonenfallen wieder aufzustellen, aber bisher ohne Erfolg. Nach fünf Jahrtausenden ist zu viel von unserem Wissen über diese Kreaturen verloren gegangen. Kougar hat zwar nicht aufgehört, an den Fallen zu arbeiten, aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass sie auch funktionieren. Wir werden die Mistviecher auf die herkömmliche Art und Weise erledigen müssen.«

Jag wusste, was als Nächstes kommen würde. Man musste kein Hirnchirurg sein, um zu begreifen, warum die therianische Wache zur Party eingeladen worden war. Des Chef wollte die guten alten Zweierteams wieder ins Leben rufen. War das nicht süß?

Sein Blick richtete sich auf Olivia und forderte sie heraus, den Kopf in seine Richtung zu drehen, aber sie übersah ihn geflissentlich. Unter ihrem adretten Oberteil konnte er die Rundung einer wohlgeformten Brust erkennen. Sein Körper spannte sich bei der Erinnerung an das weiche Fleisch unter seiner Hand an. Eine Weichheit, nach der er sich jetzt sehnte.

Das war kein Witz, er war wohl wirklich von ihr besessen. Er konnte an nichts anderes denken, als ihr wieder nahe zu sein. Ob er nun schlief oder wach war, stets war sie in seinen Gedanken, während er sich vorstellte, wie sie sich nackt und mit gespreizten Beinen unter ihm wand und ihn anflehte, sie zu nehmen.

Ein Blick aus grauen Augen durchbohrte ihn, als hätte sie seine Gedanken vernommen. Nie und nimmer, meinte er sie laut rufen zu hören.

Er lächelte. Das würden sie wohl sehen, nicht wahr?

Lyons Stimme holte ihn aus seiner Versunkenheit. »Oben bei Harpers Ferry sind in letzter Zeit viele Menschen verschwunden. Es gibt keine Leichen, aber es könnte trotzdem ein dritter Dämon hinter dem Massaker stecken.« Lyons Blick ging zwischen Jag und Paenther hin und her. »Ihr beiden seid in der Höhle gewesen. Kann einer von euch eine Dämonenfährte aufnehmen?«

Jag nickte. »Na klar. Ich weiß nicht, ob meine Nase je wieder dieselbe sein wird.«

Paenther schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich es kann, Boss. Seit damals die Verbindung zu meinem Tier getrennt wurde, arbeiten meine Sinne nicht mehr so gut.«

»Jag, dann kümmerst du dich darum. Ich will wissen, ob Dämonen oder Zauberer etwas mit dem Verschwinden der Menschen zu tun haben. Und wenn ein Dämon dahintersteckt, will ich ihn tot sehen.«

»Aye, aye, Captain. Soll ich mir einen Partner suchen, mit dem ich das erledige?«

Lyon sah ihn argwöhnisch an. Als würde er dem, was sein Jaguar-Gestaltwandler tat oder sagte, nicht ganz trauen. Wie auch?

»Ja, einer von der Wache wird dich begleiten. Wer das ist, entscheidet Olivia.« Lyon wandte sich an Tighe. »Du wirst dich mit den beiden anderen von der Wache Kougar und Hawke anschließen. Du bist der Verantwortliche in deiner Gruppe. Paenther, dich schicke ich woanders hin. Der Schamane und Ezekiel stellen gerade ein kleines Team aus Zauberern und Therianern zusammen, um Jagd auf die Klinge der Dämonen zu machen und Inir festzusetzen. Du wirst das Ganze leiten.«

Jag beugte sich vor und zwang Olivia so, ihn anzusehen. »Na, was ist, Rotschopf? Willst du mein Partner sein? Wir werden richtig viel Spaß miteinander haben, Süße. Ich werde dich um den Verstand vögeln, wenn wir nicht gerade Jagd auf Dämonen machen.«

Olivias Augen blitzten vor Schreck auf, aber es lag noch etwas anderes in ihrem Blick – etwas Finsteres, Brennendes.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich die beiden Männer, die auch zur Wache gehörten, am anderen Ende des Raumes kerzengerade aufrichteten, als wären sie bereit, sich jederzeit auf ihn zu stürzen, um sie vor ihm zu schützen. Sie wollten es tatsächlich mit einem Krieger des Lichts aufnehmen. Lächerlich.

Wie ein Verkehrspolizist schoss ihre Hand hoch und gebot den beiden Einhalt, ohne dabei jedoch den Blick von Jag abzuwenden.

»Jag!«, fuhr Lyon ihn an. »Du wirst der Dame den gebührenden Respekt erweisen.«

Jag lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verzog den Mund zu einem leichten, befriedigten Lächeln. Oh ja, er liebte es, für gute Stimmung zu sorgen.

Olivia drehte sich jetzt ganz zu ihm um und ahmte dabei seine Haltung von eben nach, indem sie sich mit leutseliger Miene nach vorn beugte. Wenn er sie mit seinen Worten beleidigt hatte, ließ sie sich das nicht anmerken. Stattdessen zog sie eine flammend rote Augenbraue arrogant hoch. »Wie ich sehe, hat meine erste Lektion in Gehorsam nicht gefruchtet. Du bist ein bisschen schwer von Begriff, was?«

Jag lehnte sich wieder nach vorn, als würden sie Nase an Nase stehen und nicht von einem anderthalb Meter breiten Tisch getrennt sein. Als wären sie allein und nicht von seinen und ihren Leuten umringt. »Ich lerne am besten, wenn du mir dabei einen bläst.« Tief in seinem Innern knurrte ihn sein Tier wütend an.

Du brauchst dich nicht wie mein gottverdammtes Gewissen aufzuführen, raunte er dem Jaguargeist murrend zu.

Olivias Wangen röteten sich noch nicht einmal ansatzweise, aber in ihren Augen glitzerte es herausfordernd. »Das nächste Mal werde ich dir meinen Absatz durch die Eier bohren müssen.«

Jag grinste. Heilige Göttin, aber diese Frau schärfte all seine Sinne wie Blitze bei einem Unwetter. »Versuch es doch, Süße. Bin gespannt, ob du es schaffst. Versuch es nur.« Begleite mich, Olivia. Sei meine Partnerin. Er konnte die Worte nicht laut sagen. Es würde ihr viel zu viel Spaß machen, ihm einen Korb zu geben. Nein, er musste an ihren Stolz appellieren. Wenn ihn nicht alles täuschte, würde ihr Stolz noch sein bester Freund werden.

Jag lächelte. Verdammt und zugenäht, das wird lustig werden.

2

»Diejenigen, die Richtung Westen gehen, sollten daran denken, dass Hawke und Kougar letzte Nacht auf einen Schwarm von fast vierzig Dradern gestoßen sind. Es werden nicht nur hier immer mehr, sondern anscheinend überall.« Lyon richtete den Blick auf Olivia. »Du und deine Männer werdet nachts hinter einem Schutzwall bleiben müssen, es sei denn, ihr seid mit einer Gruppe zusammen, die groß genug ist, um es mit so vielen aufzunehmen.«

Olivia nickte, obwohl die Warnung bei ihr gar nicht nötig war. Für jene, die von Dradern geküsst worden waren, stellten andere Drader keine Gefahr mehr dar. Am liebsten ernährte sie sich von deren Lebenskraft. Natürlich konnte sie Lyon das nicht sagen. Sie konnte es niemandem sagen … wenn sie am Leben bleiben wollte.

Und ihr Leben begann endlich, so etwas wie Bedeutung zu bekommen.

Sie hatte erste Gespräche mit Lyon über die Schaffung einer dauerhaften Reservewache geführt, deren einzige Aufgabe darin bestehen würde, die Krieger des Lichts in ihrem aktuellen Kampf gegen die Zauberer zu unterstützen. Bisher hatte ihre Lebensaufgabe immer nur darin bestanden, so viele Drader wie möglich zu vernichten. Aber nachdem die Zauberer jetzt versuchten, Satanan zu befreien, hatte sich das geändert. Endlich bot sich ihr die Gelegenheit, an vorderster Front zu kämpfen und bei großen Veränderungen eine entscheidende Rolle zu spielen, indem sie gegen Zauberer und Dämonen in die Schlacht zog … wenn Lyon mit ihrer Arbeit und der ihrer Männer zufrieden war.

Wenn Jag es ihr nicht vermasselte. Sie warf einen Blick zum anderen Ende des Raumes, wo ihre Männer, Niall und Ewan, standen und Jag immer noch finster anstarrten, weil er sich ihrer Anführerin gegenüber so unverhohlen anzüglich und respektlos verhalten hatte. Wen sollte sie dem Blödmann zwangsweise als Partner zur Seite stellen?

Sogar während sie sich krampfhaft bemühte, Jag zu ignorieren, sorgte der pure Sex ihrer allzu öffentlichen Auseinandersetzung dafür, dass sie vor Erregung bebte und ganz feucht war. Wenn sie sich doch bloß nicht so zu ihm hingezogen fühlen würde. Trotz seiner lausigen Umgangsformen spürte sie jedes Mal, wenn er in der Nähe war, wie er sie mit seinen glühenden Blicken auszog, sodass ihr ganzer Körper von seinem Innersten her mit Hitze erfüllt wurde.

Aber sie wollte auf keinen Fall, dass irgendjemand mitbekam, welche Wirkung er auf sie hatte … am allerwenigsten Jag selber.

»Tighe, nimmst du Delaney mit?«, fragte Lyon.

»Ja. Ich brauche ihre Erfahrung als ehemalige FBI-Agentin.«

»Okay.«

Olivia beobachtete, wie sich Jags Blick auf Tighe richtete und plötzlich ein böses Grinsen in seinen Augen aufleuchtete. Als er den Mund öffnete, verkrampfte sie sich instinktiv, weil sie wusste, was gleich wieder kommen würde.

»Sorry, Streifentier, aber ich werde mich dir und deiner FBI-Frau nicht anschließen. Dabei hatte ich mich schon so auf einen netten Dreier gefreut. Wie ich schon mal sagte, könntest du sie gern von vorne nehmen, während ich es ihr von hinten besorge.«

Olivia zuckte vor Fassungslosigkeit zusammen, und ihr Blick huschte von Lyons deutlich sichtbarer Verärgerung zu Tighes rasender Wut. Sie war an derbes Sex-Gerede von Männern gewöhnt, aber sich nicht nur vor der Frau, sondern auch vor seinem Boss so respektlos über die Frau eines anderen zu äußern, überschritt eindeutig die Grenze des Erlaubten.

Das Knurren, das Tighe ausstieß, klang genau wie das einer wütenden Wildkatze.

»Tighe.« Delaney griff nach dem Handgelenk ihres Mannes. »Jag, hör um Himmels willen auf, ihn zu provozieren.«

Jag grinste nur, als hätte er genau das getan.

»Ich weiß, dass du mich auch willst, Agent. Ich erkenne es daran, wie du mich jedes Mal anschaust, wenn ich nackt bin.«

»Jag.« Delaneys Stimme war vor Verärgerung ganz tief.

Tighes Reißzähne und seine Krallen traten hervor, während seine Iriskreise größer wurden, bis sie die Augen vollständig ausfüllten, sodass sie wie die eines Tigers aussahen. Er hatte sich zwar nicht verwandelt, sondern war nur wild geworden, wie sie diesen Schwebezustand zwischen Mensch und Tier nannten, aber er bot einen schrecklichen Anblick, als er mit einem Satz den Tisch überwand, sich auf Jag stürzte und zusammen mit ihm zu Boden krachte.

Olivia sprang auf und beobachtete alles mit faszinierter Fassungslosigkeit. Als Tighe Jag an die Kehle ging, traten auch bei diesem Reißzähne und Krallen hervor, während ein bösartiges Grinsen auf seinen Lippen lag, als wäre der Kampf genau das, worauf er aus gewesen war.

Was war mit dem Kerl los? Wusste er eigentlich, wie viele Therianer jeden Morgen gleich nach dem Aufwachen zum Spiegel rannten, um zu sehen, ob sie während der Nacht gezeichnet worden waren? Hatte er überhaupt eine Ahnung davon, wie sehr sich viele Therianer wünschten, zu dieser Bruderschaft zu gehören, die er anscheinend als so selbstverständlich betrachtete?

Die beiden Krieger bekämpften sich mit Zähnen und Klauen, sodass Blut floss und sie sich gegenseitig Kleidung und Fleisch zerfetzten.

Zumindest wusste sie jetzt, dass Jag es nicht nur auf sie abgesehen hatte. Nein, er schien entschlossen, wirklich jeden gegen sich aufzubringen.

Als wollte er ihre Wut.

Plötzlich kam ihr die Erkenntnis. Verdammt. Er verhielt sich so, als brauchte er die Bestrafung, wobei er sich der Gründe hierfür wahrscheinlich gar nicht mal bewusst war. Dieses selbstzerstörerische Verlangen hatte sie einst auch gekannt. War das etwa sein Problem?

Oder war er einfach nur ein psychopathischer Mistkerl?

Lyon ließ die beiden fast drei Minuten lang miteinander kämpfen, ehe er ihnen schließlich Einhalt gebot.

»Es reicht!«, brüllte er, und seine Stimme hallte von den Wänden wider.

Sofort löste sich Tighe von Jag, während sich seine Zähne und Krallen wieder zurückzogen. Seine zerfetzte Kleidung war voller Blut.

Jag taumelte nach hinten. Blut strömte ihm ungehindert über Gesicht und Rücken. In seiner Wange klaffte eine tiefe Wunde, aber in seinen Augen funkelte ein ruchloses Feuer tiefer Befriedigung. Er hatte weit mehr einstecken müssen, obwohl die beiden Krieger einander allem Augenschein nach ebenbürtig waren.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass Jag ein mindestens genauso guter Kämpfer war. Nein, er hatte Tighes Wut mit Absicht auf sich gezogen, um sich dann nur wenig mehr als zu verteidigen, damit er nicht ernsthaft verletzt wurde.

Was nur ihre Theorie untermauerte, dass er den Angriff provoziert hatte. Er hatte die Prügel gewollt.

Lyon trat zwischen die beiden Kämpfer, wobei seine eigenen Krallen hervortraten, während er Jag gegen die Wand drängte und seine Klauen in den blutenden Hals des Gestaltwandlers grub.

Ein tiefes Knurren drang aus Lyons Kehle. »Zweihundertfünfzig Jahre lang habe ich deine ruppige Art hingenommen, weil ich wusste, dass ich nichts daran ändern konnte. Bring die Krieger des Lichts oder mich gegen dich auf, wenn du willst, aber ich werde es nicht dulden, wenn du dich den Frauen in diesem Haus gegenüber respektlos verhältst. Hast du mich verstanden?«

Jag grinste nur. »Ich bringe euch also gegen mich auf.«

Und das tat er, oder etwa nicht? Tighe war wütend auf ihn und Lyon auch.

Wieder dröhnte das laute Knurren eines Löwen durch den Raum. »Hör auf damit, Jag, sonst werde ich dich eigenhändig ins Gefängnis werfen und dort verrotten lassen, sobald diese Dämonen nur noch Staub sind. Ich brauche ein Team, verdammt noch mal. Ein Team, bei dem ich mich darauf verlassen kann, dass es zusammenarbeitet, um dieser Bedrohung Herr zu werden. Und dabei brauche ich dich auch.«

Jags Lippen verzogen sich wieder zu diesem leichten, unangenehmen Lächeln. »Du wirkst ein bisschen angespannt, Boss. Hat dein kleines Frauchen mittlerweile etwa festgestellt, dass sie zu gut für dich ist?«

Lyon riss seine Klauen aus Jags Kehle und schob ihn von sich. »Halt die Klappe, Jag.«

Olivia beobachtete die Auseinandersetzung interessiert. Es wäre eine Lüge gewesen, hätte sie behauptet, es hätte ihr nicht gefallen zu sehen, wie Jag eine Tracht Prügel erhielt. Wenn da nur nicht dieser Anflug von Mitgefühl gewesen wäre, das durch das nagende Gefühl hervorgerufen wurde, dass sie wusste, was ihn umtrieb, und durch den Verdacht, dass er innerlich genauso litt wie sie einst. Und das wünschte sie keinem.

Sie setzte sich wieder hin und schlug die Beine übereinander. Unabhängig davon, was ihn zu seinem Verhalten trieb, war er völlig verkorkst. Sie wäre von Sinnen, würde sie auch nur in Erwägung ziehen, ein Team mit ihm zu bilden. Aber konnte sie denn einen ihrer Männer ruhigen Gewissens mit ihm gehen lassen?

Jag richtete sich auf. Das T-Shirt hing ihm in Fetzen vom wohlgeformten Oberkörper, und die Tarnhose war voller Blut. Als er nach seinem Stuhl griff, sah Olivia etwas Rosafarbenes aufblitzen, und als sie sich umdrehte, bemerkte sie die Haushälterin der Krieger, eine auffallende Vogelfrau mit rosafarbenen Federn, die langsam mit einem Tablett voller dampfender Becher ins Zimmer kam, wobei ihre Flamingo-Beine lange, linkische Schritte machten.

Olivia hatte Pink, die Vogelfrau, bei ihrem ersten Besuch kurz gesehen und festgestellt, dass sie sehr zurückhaltend war und sich wegen ihrer ungewöhnlichen Erscheinung in Gegenwart von Fremden unwohl fühlte.

»Was zur Hölle ist das denn?«, murmelte Niall am anderen Ende des Zimmers, leider so laut, dass alle es hörten. Er war nicht dabei gewesen, als sie Pink kennengelernt hatte.

Olivia zuckte zusammen.

Jag erstarrte und wurde wieder wild, als er sich auf den ahnungslosen Mann stürzte und Niall mit einer Klaue an die Wand drückte.

»Keine Respektlosigkeiten dem Vogel gegenüber«, stieß der Krieger knurrend zwischen gefletschten Zähnen hervor.

Niall wurde ganz blass, und das Blut tropfte auf sein Hemd, während er zu dem wütenden Gestaltwandler aufschaute.

»Ich …« Nialls Blick huschte an Jag vorbei und richtete sich auf Pink. »Ich entschuldige mich. Es war nicht so gemeint.«

»Jag«, sagte Pink mit sanfter Stimme.

Erstaunlicherweise reagierte der Gestaltwandler bei ihr ganz anders als bei allen anderen. Er ließ Niall los und wandte sich mit einem leisen Knurren ab.

Als sich Jag hinsetzte und Reißzähne und Klauen wieder verschwanden, während er sich das Blut vom bereits wieder verheilenden Gesicht wischte, glitt sein Blick über Olivia. In seinen Augen sah sie Wut und echte Fürsorge aufblitzen.

Interessant. Offensichtlich gab es welche, die er nicht drangsalierte.

Pink setzte sich wieder in Bewegung und bot jedem im Raum einen Becher an.

Jag sah wieder in Olivias Richtung. Seine Lippen kräuselten sich, und aufs Neue trat dieser dreiste Ausdruck in seine Augen, als er den Blick auf ihren Busen richtete. Seine abgebrühte Fassade hatte Risse bekommen, als er Pink zu Hilfe geeilt war, und das wusste er. Deshalb verdoppelte er sein ungebührliches Verhalten jetzt noch. Völlig eindeutig.

Doch es schützte sie nicht vor der unpassenden Reaktion ihres Körpers, dass sie wusste, warum er ihre Brust anstarrte. Sie versuchte zwar krampfhaft, seinen durchdringenden Blick zu ignorieren, aber sie spürte, wie ihre Brüste bei seiner leidenschaftlichen Musterung fester wurden und sich ihre Nippel zu kleinen, harten Knospen zusammenzogen. Ihr wurde plötzlich ganz heiß, und eine verräterische Wärme stieg in ihr auf, die ihre Haut rötete und ihr Blut erhitzte. Heilige Göttin, was stellte er nur mit ihr an!

Je mehr Zeit sie in seiner Gegenwart verbrachte, desto weniger schien sie es unter Kontrolle zu haben, wie ihr Körper auf ihn reagierte. Und sie brauchte diese Kontrolle … dringend. Das Problem war, dass sie Hunger bekam. Nicht auf Essen, sondern auf Lebenskraft, die all jene, die von Dradern geküsst worden waren, brauchten, um zu überleben. Ihre Haut kribbelte überall, und daran erkannte sie, dass es an der Zeit war zu essen.

Langsam und ganz vorsichtig entzog sie der Luft Energie, wie sie es häufig tat. Sie nahm nur einen kleinen Schluck reiner, testosterongeladener Kraft, die den Raum füllte, in sich auf und schöpfte dabei nur eine dünne Schicht von Lebenskraft ab, die keiner bemerken würde. Die keiner vermissen würde.

Jag knurrte. Es war ein tiefer, gefährlicher, animalischer Laut, der Olivia verwirrt in seine Richtung schauen ließ. Und alle anderen auch.

Jag sprang auf und durchbohrte Paenther mit seinem Blick. »Deine kleine Schlampe macht schon wieder was. Ich kann die Energie auf meiner Haut kribbeln fühlen.«

Überrascht riss Olivia den Kopf hoch.

Sofort hörte sie auf, Nahrung zu sich zu nehmen. Er hatte sie gespürt. Auf keinen Fall. Völlig unmöglich.

Paenther löste die vor der Brust verschränkten Arme. Eine Hand legte er schützend auf Skyes Schulter, die andere schwebte über seinem Messer. »Skye ist den Kriegern des Lichts genauso ergeben wie alle anderen hier.«

Tighe schüttelte den Kopf. »Ich spüre nichts.«

»Ich auch nicht«, stimmte Wulfe ihm zu.

Lyons Blick richtete sich auf Jag, und sein Gesicht spiegelte Vorsicht und Sorge wider, aber keinen Zweifel. »Was genau spürst du?« Jag mochte vielleicht ein dämlicher Mistkerl sein, aber der Anführer der Krieger des Lichts kannte ihn offensichtlich gut genug, um zu wissen, dass er ihnen das hier nicht vorspielte.

»Irgendwas …« Jag schüttelte den Kopf. »Es ist wieder weg.«

Olivia wurde erst heiß, dann kalt. Noch nie hatte jemand gespürt, wenn sie Nahrung zu sich nahm.

»Fühlte es sich wie Zauber an?«

»Ich weiß nicht. Nicht wie bei Skye. Zumindest fühlte es sich nicht so wie bei ihr an.«

Lyon wandte sich an den Krieger mit den Narben im Gesicht. »Wulfe, hol den Schamanen her. B. P. und Skye, ihr überzeugt euch davon, dass kein verdammter Zauberer im Haus ist.« Er zuckte zusammen. »Vergib mir, Skye. Ich meinte natürlich: kein unerwünschter Zauberer.«

Skye nickte. Ein leichtes, schiefes Lächeln lag auf ihren Lippen. Paenther drückte ihre Schulter, dann hielt er ihr seine Hand hin, und zusammen mit Wulfe verließen sie den Raum.

Lyon richtete seinen Blick wieder auf Jag. »Wenn du es wieder spürst, will ich das wissen.«

Jag salutierte frech vor Lyon. »Aye, aye, Captain.«

Olivia musste schlucken und zwang sich zur Ruhe, um sich nicht zu verraten. Krieger des Lichts standen in dem Ruf, sogar ein schnell schlagendes Herz zu hören. Sie wusste nicht, ob sie wirklich über ein so feines Gehör verfügten, doch jetzt war nicht der Moment, um es zu überprüfen.

Verdammt! Wie sollte sie Nahrung zu sich nehmen, wenn Jag es jedes Mal merkte? Das ging nicht. Er durfte nicht in der Nähe sein.

Damit war ihr die Entscheidung darüber, ob sie mit ihm ein Team bilden sollte, abgenommen.

Sie konnte es einfach nicht machen.

Sie hatte vor langer Zeit gelernt, ihre Nahrungsaufnahme zu kontrollieren und jeweils nur kleine Mengen Energie zu stehlen, was keinem Schaden zufügte. Aber sie wusste nicht, ob sie die Nahrungsaufnahme für eine bestimmte Zeit ganz einstellen konnte. Sie war noch nie in die Situation gekommen, es ausprobieren zu müssen. Wenn sie es nun vergaß? Wenn sie zum Beispiel anfing, Energie aufzunehmen, während sie schlief? Jag würde es früher oder später herausfinden, wenn er in ihrer Nähe war. Früher oder später wäre das Spiel vorbei.

Ihr Leben wäre zu Ende – das Leben, für das ihr Vater seines geopfert hatte. Zwar schrieb das therianische Gesetz nicht mehr den Tod derjenigen vor, die von Dradern geküsst worden waren, doch diejenigen, die entdeckt wurden, verschwanden seltsamerweise immer nach einer gewissen Zeit. Das Mindeste, was ihr passieren würde, wären der Ausschluss aus der Wache und ihre Verbannung aus dem Volk der Therianer. Sie würde nur noch unter Menschen leben können, die nicht wussten, was sie eigentlich war.

Nein, so ein Risiko konnte sie nicht eingehen. Es wurde ihr schwer ums Herz, und ihre hochfliegenden Hoffnungen brachen in sich zusammen. Eine Stationierung in der Nähe des Hauses des Lichts würde es nicht geben … für sie nicht. Die Wache, die den Kriegern als Reserveeinheit zur Verfügung stehen sollte, würde von jemand anders geführt werden müssen.

Sie würde ihnen dabei helfen, die Dämonen aufzuspüren, weil sie sich dazu verpflichtet hatte und es zu spät war, jemand anders aus England herüberkommen zu lassen. Aber sobald dieser Auftrag erledigt war, würde sie nach Schottland zurückkehren, um so weit wie möglich von dem einzigen Mann entfernt zu sein, der nach all den Jahrhunderten, die vergangen waren, seitdem sie von einem Drader geküsst worden war, eine echte Bedrohung für sie darstellte.

Der erste Mann, der ihr nach zu vielen Jahren, als dass man sie noch hätte zählen können, unter die Haut ging.

Jag.

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