Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie (Leben Lernen, Bd. 277) - Luise Reddemann - E-Book

Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie (Leben Lernen, Bd. 277) E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Erst mit unserem heutigen Wissen der Psychotraumatologie werden die psychischen Folgen von NS-Zeit, Zweitem Weltkrieg und Nachkriegszeit umfassend sichtbar. Die Autorin zeigt, wie Kriegskinder und -enkel in der Psychotherapie Zugang zu den unbewussten Aspekten ihrer Familiengeschichte finden und in der Auseinandersetzung damit psychisch wachsen können. Terror und Ideologie der NS-Zeit, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und die Nachkriegszeit mit massenhaften Vertreibungen, Hunger und Entbehrungen haben tiefe Spuren im individuellen wie kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Vieles davon ist bewusst, doch Scham, Schuldgefühle und auch Todesangst sorgten dafür, dass so manches bis heute nicht an die Oberfläche kommen durfte. Über die Generationen hinweg, das zeigt die bekannte Psychotraumatologin Luise Reddemann in diesem Buch, bleiben die schweren Erfahrungen virulent und können die verschiedensten psychischen Probleme verursachen. Mit vielen Hintergrundinformationen zu den trauma-auslösenden Situationen, Beispielen für eine sensible Erinnerungsarbeit mit PatientInnen verschiedener Generationen und eigenen Kriegskinderfahrungen. - Annäherung an ein in der Psychotherapie bisher nicht aufgearbeitetes Thema - Mit Beispielen und Hinweisen für die praktische Arbeit in der Psychotherapie - Auch für Betroffene, Patientinnen und Patienten der Kriegskinder- und -enkelgeneration  - Luise Reddemann ist die bekannteste Traumatherapeutin Deutschlands »Krieg hört nicht auf, wenn die Waffen schweigen. Krieg beschädigt nachhaltig die Beziehungsfähigkeit und damit auch die Beziehungen in Familien. Wer als Therapeut über NS-Zeit, Krieg, Vertreibung als Themen der eigenen Familienvergangenheit Bescheid weiß, kann seinen Patienten besser helfen. Luise Reddemanns fundiertes Buch macht Mut, diesen Weg zu gehen.« Sabine Bode, Autorin des Bestsellers »Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen« »Luise Reddemann therapiert die Folgen des Krieges. ... Reddemann liefert mit ihrem schmalen Band, der sich zunächst an Therapeuten richtet, aber auch für Betroffene Hinweise birgt, einen wissenschaftlich fundierten, dabei lesbaren und mit Fallbeispielen angereicherten Text in Ich-Form, der auf Nachbargebiete wie Emotionsgeschichte und auf die aktuelle Politik (Stichwort Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern) ausgreift sowie die Folgen "gewalttätiger Erziehungspraktiken" vulgo Prügelstrafe nicht ausklammert. Reddemann untermauert und führt fort, wo Sabine Bode mit ihren Bestsellern über Kriegskinder und -enkel eine breite Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert hat. Sie liefert Handreichungen für den Umgang mit Opfern, und sie warnt Außenstehende, sich selbst eine größere Kompetenz als den Opfern zuzugestehen. ... Das Buch vermittelt eine Ahnung vom Ausmaß des seelischen Schadens, den die Flüchtlinge im Gepäck haben.« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2015

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Seitenzahl: 304

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Luise Reddemann

Kriegskinder und Kriegsenkel in der Psychotherapie

Folgen der NS-Zeit und des Zweiten Weltkriegs erkennen und bearbeiten – Eine Annäherung

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Roland Sazinger, Stuttgart

Unter Verwendung eines Fotos von © kuco/fotolia.com

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89222-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10825-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20276-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Bertold, Theo und Olaf, meine Söhne und für meine Enkelinnen Jana, Lena und Helena und meinen Enkel Milan

Inhalt

Einleitung

1. KAPITELErfahrungen durch und mit der NS-Zeit

Der andere Krieg

Hinweis für die therapeutische Arbeit

Zur Behandlung von »Kiegskindern«

Therapie der Opfer

2. KAPITELKriegskindheiten und die Therapie von Kriegskindern

Ein Behandlungsmodell und eine Behandlungsgeschichte

Der Behandlungsansatz der Psychodynamisch Imaginativen Traumatherapie (PITT)

Zur Behandlung von Scham und Schamvermeidung

Der Krieg nach dem Krieg

Einige allgemeine Konsequenzen für die therapeutische Praxis

3. KAPITELMütter und Väter der Kriegskinder: Gehorsam, Schuld und Verdrängen – ein Versuch, zu verstehen

Was hat Opa im Krieg gemacht?

Frauen als Mittäterinnen

Das Schweigen über leidvolle Erfahrungen von Frauen

Psychohistorische Betrachtungsweise

Einige Empfehlungen für die Praxis

4. KAPITELKriegsenkel

Kriegsenkel erzählen

»Verletzte« Introjekte

Wie kann man die Probleme der 3. Generation einordnen?

Unterschiede zwischen Kriegskindern und Kriegsenkeln

5. KAPITELTrauern und Neubeginnen heute – oder: »Nach dem Sturm«

Einige Hypothesen zum Trauerprozess

Erinnerungskultur

6. KAPITELZusammenfassung der Konsequenzen für die psychotherapeutische Arbeit

7. KAPITELFrau H.s Geschichte

8. KAPITELFremd und ungewollt im eigenen Land: Flucht und Trauma in der deutschen Geschichte

Nachwort

Danksagung

Literaturempfehlungen

Einleitung

Die Wahrheit, die wir suchen, schließt eine geistige Annäherung an das Geschehen mit ein, ein Verständnis für Opfer und Täter, mit dem sich leben lässt. Ruth Klüger1

Wir sind eine gefährliche Erfindung, wir Menschen, wir müssen alle aufpassen.Anita Lasker-Wallfisch2

Die Zeit scheint für heute tätige PsychotherapeutInnen gekommen, in ihrer Arbeit dem Schatten der kollektiven Vergangenheit mehr Raum zu geben, als dies bisher der Fall gewesen zu sein scheint3. Es geht darum, nicht nur zu wissen, sondern auch sich erschüttern zu lassen, um zu trauern und die Vergangenheit zu akzeptieren, wie sie war, um schließlich gegenwärtiger sein zu können. Nicht akzeptiertes und integriertes Vergangenes hindert am Gegenwärtigsein, darüber belehren uns Psychoanalyse und Traumaforschung seit Längerem und spirituelle Traditionen seit Jahrtausenden.

Es gibt sowohl Forschung als auch jahrzehntelange Erfahrungen in der Behandlung von Holocaustopfern und deren Nachkommen. Dass die NS-Zeit und der Zweite Weltkrieg auch in der Mehrheitsgesellschaft, also beim Großteil der Deutschen, bei Tätern und »Mitläufern«4, die 1945 am Leben waren, traumatische Spuren hinterlassen hat, weil auch Täterverhalten traumatisieren kann, weil Täter und »Zuschauer«5 – z.B. im Krieg – auch Opfer gewesen sein können, war lange Zeit als Sichtweise verpönt, ist es teilweise immer noch. Aus verständlichen Gründen! Denn es entsteht leicht der Eindruck, die Deutschen wollten sich aus ihrer Verantwortung für die Verbrechen jener Zeit stehlen. Und schlimmer noch, dies ist auch geschehen und geschieht.

Siebzig Jahre nach Ende der NS-Herrschaft und des Krieges scheint es möglich, die damaligen Gegebenheiten und auch ihre traumatisierenden Folgen in den Blick zu nehmen und z.B. den Kindern von damals, die heute alt sind, zuzugestehen, dass sie durch die Erfahrungen jener Zeit belastet, zum Teil extrem belastet, waren und jetzt im Alter durch die Folgen es teilweise immer noch sind. Denn nach heutigem Wissen haben sowohl die NS-Zeit wie der Zweite Weltkrieg und die Nachkriegszeit tiefe Spuren im individuellen, familialen und kollektiven Gedächtnis hinterlassen. Vieles davon ist bewusst, doch vermutlich ebenso vieles unbewusst. Die Spuren haben mit Scham und Schuld zu tun, aber auch mit Todesangst und Ohnmacht, um nur die wichtigsten Gefühle zu nennen, die verständlicherweise häufig durch Schutzmechanismen im Unbewussten bleiben. Vieles spricht außerdem dafür, dass Unerledigtes und Unverarbeitetes an nächste und übernächste Generationen weitergegeben wird und diese belastet, teilweise stark belastet. So mag eine Auseinandersetzung, wie sie hier angestoßen wird, nicht nur individuell zur Klärung beitragen, sondern auch Kindern und Enkeln zugutekommen und den Austausch zwischen den Generationen unterstützen. Verstehen wir unsere Eltern und Großeltern besser, so ist dies auch für uns selbst hilfreich. Aber auch das Verständnis der Älteren für die Jüngeren kann erleichtert werden.

Meine Erfahrungen in Psychotherapien deuten darauf hin, dass nicht wenige der nach dem Krieg Geborenen nicht ausreichend über die Geschichte ihrer Eltern und Großeltern und teilweise die Geschichte des 20.Jahrhunderts informiert sind. Die traumatischen Erfahrungen des Krieges und von Flucht und Vertreibung könnten dazu geführt haben, dass nicht nur diese dem Vergessen anheimfallen, sondern auch alles, was damit zusammenhängt. Scham hat ebenfalls dazu beigetragen. So wissen manche heute nicht oder nicht mehr, wo und welche Verbrechen stattgefunden haben, aber z.B. auch nichts über die Grenzen des Deutschen Reiches vor Ende des Zweiten Weltkrieges, was helfen könnte, Dinge einzuordnen. Das kann bedeuten, dass jüngere KollegInnen mit einem Geburtsort aus den früheren deutschen Ostgebieten nichts verbinden und ihre PatientInnen daher auch nicht anregen können, hier genauer zu forschen.

Die langen Schatten der Vergangenheit stellen andererseits für viele eine Realität dar, der sie nicht ausweichen möchten und können. So habe ich im letzten Jahr ein zunehmendes Interesse bei der sogenannten Kriegs-Enkelgeneration festgestellt, ein Bedürfnis, zu fragen und zu verstehen. Die Generation der »Kriegskinder« sei der Auseinandersetzung mit der familialen Vergangenheit ausgewichen, meint Gabriele Rosenthal. Darunter versteht sie mehr als die häufig gestellte Frage, »warum habt ihr das zugelassen«, sie meint konkretes Nachfragen wie z.B. »was hast du gemacht, gedacht, gefühlt, als der Nachbar verschwunden ist?« Es geht also um psychische Schwierigkeiten, sich mit einer Tätervergangenheit der Eltern zu konfrontieren6, 7, 8.

Den Dialog der Generationen gibt es zum einen natürlich – mehr oder weniger – im privaten Kontext, und er ist lange bekannt und wird seit Jahrzehnten vor allem in systemisch-familientherapeutischen Ansätzen praktiziert, allerdings auch hier nicht in erster Linie bezogen auf Familiengeschichte im Kontext historischer und politischer, sondern privater Gegebenheiten. Alle psychotherapeutischen Settings können von einer historisch geprägten Sicht profitieren. Für viele, die bereits in früheren Jahrzehnten in Psychotherapie waren, steht eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit dem Thema NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg noch an. Ältere Menschen um die 70 kommen oft erst jetzt in einen inneren Kontakt mit dem Einfluss der NS-Zeit und ihren (Kriegs-)Kindheiten und mit den dort herrschenden menschenverachtenden Einstellungen in vielen Formen, die mit den historischen Ereignissen aufs Engste verwoben sind. Deren Kinder wiederum sind häufig in großer Sorge um die Eltern, waren von Kindheit an parentifiziert und suchen nach Erklärungen. Schließlich gibt es die Gruppe derer, deren Eltern den Krieg als (junge) Erwachsene erlebt haben, die vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg unter den Folgen der Belastungen der Eltern litten. Ein Hauptthema scheint hier häufig Gewalt in der Familie zu sein9.

Es geht mir daher um individuelle Lebensläufe im Kontext gesellschaftlicher und historischer Zusammenhänge. Und es erscheint mir wünschenswert, dass diese Auseinandersetzung bei den TherapeutInnen selbst und ihrer eigenen Geschichte beginnt, um PatientInnen angemessen begleiten zu können.

Dieses Buch basiert auf einer Vorlesung bei den Lindauer Psychotherapiewochen 2014. Die Reaktionen machten mir deutlich, dass vieles noch zu bearbeiten und in klärenden Gesprächen auszutauschen ist. Daher habe ich mich entschlossen, das Material der Vorlesung für ein Buch zu bearbeiten und vor allem zu ergänzen. Als Orientierungsrahmen behalte ich im Buch die Reihenfolge der Vorlesungen bei, nicht zuletzt deshalb, weil die historisch und gesellschaftlich bedingte Umgebung Auswirkungen auf die Psyche hatte und hat.

Meine Annäherung ist keinesfalls vollständig. Leserinnen und Leser werden möglicherweise ihnen wichtige Themen vermissen.

Wie die Vorlesung ist dieses Buch als Einführung gedacht. Es geht um eine erste Annäherung, die sich in Kreisen einer angewandten Psychotherapie eher langsam entwickelt hat und einen schwierigen Diskurs über die kollektive Last der deutschen Vergangenheit und was es heute für Menschen, die eine Psychotherapie anstreben, bedeuten kann, sich anzunähern.

Es gibt inzwischen sowohl wissenschaftliche wie belletristische wie journalistische Literatur in großer Fülle zum Thema. In der Zeit seit der Vorlesung im April 2014 bis April 2015 sind zu den bisherigen noch zahlreiche neue und wichtige Arbeiten erschienen. Ich beziehe mich darauf, und zum Teil reflektiere ich eigene Erfahrungen, sowohl persönliche wie solche als Psychotherapeutin. Arbeiten, wie man konkret in der Psychotherapie mit der Thematik umgehen kann, gibt es bis jetzt kaum, so will ich den Versuch unternehmen, hier einige Vorschläge zu machen.

Ich beschränke mich in meiner Betrachtung auf einen Blickwinkel, der vor allem Erfahrungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft reflektiert, der Täter, »Zuschauer« und »Mitläufer«10, deren Kinder und Enkel, und die Folgen aus diesen Erfahrungen. Die Betrachtung der Folgen für Verfolgte der NS-Zeit wird von ihnen und deren Nachkommen bereits seit Langem geleistet. Es gibt Berufenere als mich, hierüber zu schreiben. Allerdings bemühe ich mich im ersten Kapitel um eine Reflexion meiner Begegnungen mit diesen Gegebenheiten.

In der Psychotherapie tragen Geschichten häufig mehr als eine ausschließliche Beschäftigung mit Fakten zum tieferen Verstehen bei. Daher berücksichtige ich beides und beschreibe, wie schon im Rahmen der Vorlesung, einige meiner persönlichen Erfahrungen und Erschütterungen, soweit sie mir für Erkenntnisprozesse hilfreich erscheinen.

Als Ergänzung gibt es zwei Kapitel, zunächst eines mit allgemeinen Empfehlungen für die Psychotherapie vor allem unter dem Aspekt der Berücksichtigung der Würde der PatientInnen und ein zweites, in dem eine Geschichte erzählt wird, die man als Krankengeschichte lesen kann, aber nicht muss, weil es ebenso eine Geschichte über seelische Widerstandskraft ist. »Frau H.« kommt selbst zu Wort. Sie hat mir ihre Aufzeichnungen mit dem Wunsch zur Verfügung gestellt, dass vor allem die sehr jungen Kriegskinder in ihrer damaligen Not mehr wahrgenommen werden. Diese Aufzeichnungen scheinen mir das Erleben des (Kriegs-)Kindes deutlicher zu machen, als dies in vielen üblichen Fallbeschreibungen geschieht. Es handelt sich dabei um eine Mischung aus narrativen und reflektierten Erfahrungen über ein in den letzten Kriegsjahren geborenes Kind; um die Auswirkungen der heute kaum vorstellbaren Härte im Umgang mit kleinen Kindern, die etwas von der damals herrschenden Gewaltverherrlichung und dem Mangel an Mitgefühl mit Kindern ahnen lassen, sowie den Konsequenzen des Krieges – sowohl des Weltkrieges, aber auch des »anderen Krieges«, siehe das erste Kapitel – im individuellen Leben der Frau H. aus einer ganz und gar persönlich geprägten Sicht. Wer möchte, kann diese Geschichte auch als Einstimmung zuerst lesen.

Ich gehe hier der Frage nach, was die so sozialisierten Menschen an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben und wie dies in der Psychotherapie Raum finden kann.

Nehmen wir an, es käme eine Patientin in die Praxis, Anfang 70. Sie leide seit Kurzem wieder einmal unter massiven Schlafstörungen, sei unkonzentriert, und immer wieder habe sie Panikattacken. Depressionen kenne sie schon ihr ganzes Leben. Dann sprudelt es nur so aus ihr heraus: Ihre Eltern seien Nationalsozialisten gewesen, ihr Ideal Härte. Solche PatientInnen gehören zu einer Generation, die, größtenteils anders als die vorige, der Psychotherapie nicht gänzlich ablehnend gegenübersteht; daher könnten sie, so meine Annahme, vermehrt in Psychotherapie kommen und davon profitieren.

Nehmen wir an, es käme ein Mann zwischen 40 und 50 Jahren in Therapie. Er klagt über Angstzustände, somatoforme Beschwerden, allgemeine Unsicherheit und großes Misstrauen. Vielleicht wäre Letzteres ein Hinweis auf traumatische Erfahrungen. Aber wer würde sich als Erstes die Frage stellen, ob es sich hier möglicherweise um die Übernahme von Problemen der Elterngeneration handelt? Ich habe in den letzten Jahren festgestellt, dass vieles, wenn selbstverständlich nicht alles, bei dieser Generation mit unverarbeiteten Schwierigkeiten ihrer Eltern zusammenhängen kann. Es gilt daher, daran zu denken und entsprechend anteilnehmende anamnestische Fragen zu stellen, um im weiteren Verlauf der Behandlung gegebenenfalls damit zu arbeiten.

Äußere Erfahrungen hinterlassen ihren Niederschlag im Inneren und werden auf sehr unterschiedliche Weise »metabolisiert« und verarbeitet. So hat sich in den letzten etwa zehn bis fünfzehn Jahren die Einsicht entwickelt, dass es für das Gelingen einer Psychotherapie wichtig sein kann, die historischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen; auch bei der nächsten Generation, die ja nur noch indirekt betroffen ist, was die damaligen Geschehnisse angeht, aber direkt, was die Konfrontation mit den belasteten Eltern angeht.

Mit diesem Buch möchte ich die Leserinnen und Leser einladen, in ihrer eigenen Lebensgeschichte im Bewussten und/oder im Unbewussten nach mehr oder weniger genauen Spuren der Jahre von 1933 bis 1945 und der Nachkriegszeit zu forschen.

Ich möchte Sie ermutigen, sich damit zu beschäftigen, um in der Folge herauszufinden, mit welchen Kenntnissen einem Patienten oder einer Patientin begegnet werden könnte. Die Fülle der hier angesprochenen Themen ist groß und mag manchmal unübersehbar erscheinen. Ich will mit einigen gut bekannten Fakten beginnen, um dann mehr und mehr in individuelle Lebensläufe einzutauchen.

Auch Psychotherapien sind zeitgebunden und konzentrieren sich auf Themen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt als relevant betrachtet werden. Und das kann sich im Lauf der Zeit erheblich verändern! So berichteten Patienten in den 70er- und 80er-Jahren relativ häufig vom Aufwachsen in Familien, in denen es keine männlichen Bezugspersonen gab. Damals wurde dann vor allem die hoch ambivalente Mutterbindung bearbeitet, was sicher nicht falsch war. Aber es wurde der Tatsache relativ wenig Bedeutung beigemessen, dass diese Mutter mit anderen Frauen allein für die Kinder zuständig war. Und was dies für sie selbst und vor allem für das (männliche) Kind bedeutete.

Eine der Problematik angemessene Sprache zu finden, empfand ich häufig als schwierig. Wie korrekt und aussagekräftig sind etwa Begriffe wie »Mitläufer«, »Zuschauer«, Täter, Opfer, transgenerationale Weitergabe, Transmission, »Kriegskinder«, »Kriegsenkel«? Alle diese Worte sind zwiespältig und lösen zwiespältige Reaktionen aus. Insbesondere die Einteilung in Opfer und Täter könnte als oberflächlich erscheinen, da sie der Komplexität des Verhaltens der jeweiligen Menschen nicht immer gerecht wird. In einer Psychotherapie wäre ich in jedem Fall mit all diesen Bezeichnungen vorsichtig. Hier verwende ich sie dennoch, weil ich im Rahmen der Überlegungen, um die es mir geht, auf Worte zurückgreifen will, die im aktuellen öffentlichen Diskurs – bei allen Bedenken – häufig verwendet werden.

Vieles, was ich zur Verfügung stellen möchte, kann sehr schmerzhaft für die Leserinnen und Leser sein. Einige befreundete KollegInnen, die den Text vorab gelesen haben, haben mir das rückgemeldet. In der Vorlesung habe ich die ZuhörerInnen eingeladen, in sich ein Bild, einen Klang oder Vergleichbares zu erspüren, das als tröstlich erlebt wird und zu dem immer dann innerlich gependelt werden kann, wenn die Themen als überwältigend belastend erlebt werden. Ich lade Sie, die Leserin, den Leser, ein, dies auch zu tun, wenn Ihnen das einleuchtet. Oder mit der Lektüre aufzuhören und sich Pausen zu gönnen, wenn es Ihnen »zu viel« wird. Bitte lassen Sie sich Zeit für Ihren Verarbeitungsprozess! Sie ist nötig für eine »geistige Annäherung an das Geschehen«, in deren Kontext Ruth Klüger die Suche nach der Wahrheit ansiedelt (s. Anmerkung 1).

Jedes Kapitel wird mit einer Geschichte eingeleitet, die behandlungsrelevante Themen aufgreift, um deutlich zu machen, was in Psychotherapien auftauchen und bearbeitet werden kann. Im Kapitel über die Kriegskinder stelle ich exemplarisch ausführlich eine Behandlung einer Patientin dar und verdeutliche meine Herangehensweise und Behandlungsphilosophie als einen möglichen Ansatz in der therapeutischen Arbeit.

Frau H. hat mir Folgendes mit auf den Weg gegeben:

Bitte

Ihr, die ein lächelnder Gott

in die Hände liebender Eltern gab,

die ihr empfangen wurdet in Zärtlichkeit,

hütet euch davor

zu meinen ihr wüsstet,

wie es ist, schon als Neugeborenes

Hass und Ablehnung

zu widerstehen.

Ihr werdet niemals wissen,

wie der Schrei der Verzweiflung

im Herzen klingt,

vielleicht könnt ihr ihn

nicht einmal ahnen.

Seid behutsam,

das wäre genug.

1. KAPITELErfahrungen durch und mit der NS-Zeit

»Voraussetzung … ist, sich erinnern zu wollen und die Erinnerung auszuhalten. Voraussetzung ist, nicht den vielzitierten Mantel des Schweigens über diese Vergangenheit zu breiten; ein Mantel, der ohnehin nicht mehr wärmt, weil er längst zerschlissen ist, so eifrig auch viele an ihm herumstopfen mögen.«Gabriele von Arnim11

»Das Begreifen der Hölle ist die Voraussetzung dafür, dass die Menschen einen Zustand zu schaffen vermögen, in dem sie Menschen sein können, und dieser Zustand ist die einzig mögliche Form eines Paradieses auf Erden.«Ernst Schumacher12

Der andere Krieg

Unter dem »anderen Krieg« verstehe ich alle Gewalthandlungen gegen Menschen, die aufgrund menschenverachtender mörderischer Einstellungen während der NS-Zeit verfolgt, beschädigt, an Leib und Leben bedroht und ermordet wurden13. Zahlen haben ihre Bedeutung, jedoch übersteigen sie meist unser Vorstellungsvermögen. Ich halte es daher für wichtig, sich mit persönlichen Erzählungen derer, die extremen Erfahrungen ausgesetzt waren und überlebt haben, zu befassen. Sie haben Erschütterndes berichtet14. Ein bedeutender literarischer Versuch der Auseinandersetzung ist das Theaterstück »Die Ermittlung« von Peter Weiss, dessen Lektüre ich empfehlen möchte15. Dieses Theaterstück bezeugt neben den Erfahrungen des Schreckens von Auschwitz auch dessen menschenverachtende Rechtfertigung durch die Täter.

Ich beginne mit einem Auschwitz-Überlebenden, der über seine Erfahrungen schon sehr früh geschrieben und dessen Geschichte mich zutiefst erschüttert hat16:

Ein Überlebender von Auschwitz

Er wurde im Prozess gegen Eichmann gehört: Yehiel Dinur, der sich selbst Ka-Zetnik nannte. Sein Buch über seine LSD-Psychotherapie bei Bastiaans17 mit dem Titel »Shivitti«18 hat mich schon vor Jahren ergriffen. Seine Therapie fand ungefähr ein Jahrzehnt nach dem Prozess statt. Die Aussagen vor Gericht scheinen für Dinur so quälend gewesen zu sein, dass er dort ohnmächtig wurde. Als ich mich jetzt wieder mit seiner Geschichte beschäftigte, ging sie mir erneut sehr nahe.

Man kann inzwischen die Protokolle des Eichmann-Prozesses und von Dinurs Befragung im Internet finden19. Sein Versuch, das Unsagbare zu sagen, soll hier exemplarisch stehen, nicht zuletzt weil er mich mit seiner Art, seine Erfahrungen zu verarbeiten, sehr tief angesprochen hat. Dieser sein Versuch muss ihn extrem belastet haben. Das Sprechen über das Entsetzliche scheint all die alten Schmerzen, Empfindungen und Gefühle wiederbelebt zu haben, für die Dinur über keine ausreichenden Schutzmechanismen zu verfügen schien. Durch seine unter Fachleuten umstrittene Therapie bei Bastiaans scheint Dinur schließlich etwas Erleichterung erfahren zu haben. So beschreibt er es zumindest in seinem Buch. Er ist 2001 gestorben.

Im August 1943 kam Dinur nach Auschwitz, nachdem er zuvor, auch in Eichmanns Gegenwart, von der Gestapo gefoltert worden war. (Segev, 200120)

Dinur erzählt vor Gericht: »… Was ich geschrieben habe (hier bezieht er sich auf Bücher, die er nach 1945 geschrieben hatte), war eine Chronik des Planeten Auschwitz. Etwa zwei Jahre war ich dort. Die Zeit dort war nicht wie hier auf der Erde. Jeder Bruchteil einer Minute verging nach einer anderen Zeitskala. Die Einwohner dieses Planeten hatten keine Namen. Sie kleideten sich nicht, wie wir uns kleiden; sie waren nicht dort geboren und bekamen keine Kinder; sie atmeten nach anderen Naturgesetzen; weder lebten noch starben sie nach den Gesetzen dieser Welt. Sie waren Kazetniks. Ihr Name war eine Nummer. Kazetnik: Diesen Namen muss ich weiter tragen, bis die Welt wachgerüttelt ist über die Kreuzigung einer ganzen Nation, wie die Welt einmal wachgerüttelt wurde nach der Kreuzigung eines einzelnen Menschen. Wie in der Astrologie, wo die Sterne Einfluss auf unser Schicksal nehmen, glaube ich fest daran, dass auch dieser Planet aus Asche in Opposition zur Erde steht und ihren Lauf beeinflusst. Von dort bin ich herabgefallen, weil ich ihnen dort oben einen Eid geschworen habe. Denn sie gingen von mir weg. Immer gingen sie von mir weg. Immer wurden sie von mir getrennt, und dieser Eid flackerte in ihren Augen. Zwei Jahre lang haben sie mich verlassen und mich immer zurückgelassen. Ich sehe sie, sie starren mich an, ich sehe sie, ich sehe, wie sie in einer Reihe stehen.«21, 22

»Kazetnik war der erste Überlebende, der direkt nach dem Krieg über Auschwitz schrieb. Seine Namenswahl war seine Demonstration: Er entledigte sich seiner persönlichen Identität und machte sich zu einem Symbol – dem Jedermann des Holocaust. Seine Erzählungen und Romane beschreiben nur eins: die Realität des Konzentrationslagers.« So erklärt es Jochanan Shelliem23.

Dinur, Ka-Zetnik, fühlte sich verpflichtet, Zeugnis abzulegen. Später hat Dinur betont, dass Auschwitz nicht auf einem anderen Planeten stattgefunden habe; ich habe seine Worte immer schon als Metaphern verstanden. Nach Segev24 war nach dem Krieg die Vorstellung, dass der Holocaust wie auf einem anderen Planeten stattgefunden hat, verbreitet. Erst langsam konnte sich der Gedanke durchsetzen, dass dieses Entsetzliche von Menschen dieses Planeten Erde anderen angetan worden war. Und wäre es nicht auch manch einem von uns lieber, sich vorzustellen, dass all dies mit uns nichts zu tun hat, dass die Täter von damals wie von einem anderen Planeten gewesen wären?

Warum verwenden wir das Wort »unmenschlich«? Und tun damit so, als gäbe es Dinge, die Menschen tun, die nicht mit ihrem Menschsein zu erklären sind. Für mich ist im Wort »unmenschlich« eine Tendenz enthalten, den Abgründen des Menschseins auszuweichen. Ohne dass wir auch diese Abgründe als »menschenmöglich« anerkennen, scheint mir Veränderung hin zum Erwünschten, der »Menschenfreundlichkeit«, erschwert. Damit meine ich allerdings nicht, dass man sich ausschließlich mit Unmenschlichkeit befassen sollte.

Dinur wurde ohnmächtig, als der Richter zu ihm sagte, er solle auf die Fragen des Staatsanwaltes eingehen. Es hat mich beschäftigt, warum Dinur ohnmächtig geworden sein könnte. War es der strenge Ton des Richters, der als Trigger wirkte, waren die Erinnerungen, denen Dinur sich auslieferte, zu viel? Zu schmerzhaft? Nicht zu vergessen ist auch, dass Dinur direkt mit Eichmann konfrontiert war, an dem er ja nicht vollkommen vorbeisehen konnte.

Im Kölner NS-Dokumentationszentrum war im Jahr 2013 eine Ausstellung zu sehen, in der Aufnahmen des Eichmann-Prozesses zu verfolgen sind. Der Berichterstatter ist erschüttert über die Art von Eichmanns Verteidigungsreden, »in perfekten Sätzen, ohne Punkt und Komma und ohne jedes Verhaspeln; in diesem Bürokratendeutsch voller Substantive, mit dieser Kälte eines Technokraten«.

Man kann im Dokumentationszentrum einem Kommentator lauschen und die Aussagesituation Yehiel Dinurs nacherleben. »Er sitzt im Zeugenstand; das heißt: Er soll dort eigentlich sitzen. Stattdessen steht der jiddische Schriftsteller und Überlebende des Konzentrationslagers von Auschwitz vor Erregung immer wieder auf, geht ein paar Schritte, setzt sich, springt wieder auf. Im Hintergrund ist die Stimme seines Übersetzers zu hören, dazwischen dann ein Zwischenruf vom Richtertisch, und auch der wird übersetzt. In diesem Stimmengewirr steht Dinur auf und fällt plötzlich wie vom Schlag getroffen, bleibt regungslos liegen.« Der Berichterstatter kommt zu der Annahme: »All das Reden über das Unbegreifliche und die Wiederkehr der Hölle in den Worten der Opfer scheint mit Dinurs Sturz und der Stimme Eichmanns in den Räumen des Jerusalemer Bezirksgerichts auf schmerzhafte Weise noch einmal Realität zu werden.« Erschüttert auch von Eichmanns schrecklichen Worten »Ich fühle mich bar jeder Schuld.« und von Dinurs Sturz, den er beim Verlassen der Ausstellung immer noch vor Augen habe25.

Das Schlimmste, das einem Opfer eines Gewaltverbrechens angetan werden kann, ist, wenn Täter sich als schuldlos darstellen. Eichmann hat seine Schuld im Prozess immer geleugnet. Erneut eine extreme Belastung für Yehiel Dinur!

Wo beginnen?

Vielen Älteren geht es um Verantwortung den nächsten Generationen gegenüber. Diese mag vermutlich am besten gelingen, daran sei erinnert, wenn wir neben oder nach der Trauer vor allem zu Mitgefühl und, zu einem möglicherweise viel späteren Zeitpunkt, auch zur Freude am Leben finden. Hierauf verweisen im Übrigen auch Holocaust-Überlebende wie Max Mannheimer, Esther Bejarano, Alice Herz-Sommer, um einige zu nennen. Aufgrund meiner Erfahrungen mit Traumaopfern dient eine ausschließliche Wiederbelebung des Entsetzlichen – mit der sich leben lässt – weder den Toten, derer – insbesondere alte – Patienten gedenken wollen, noch ihnen selbst und den Lebenden, denen das keine Kraft geben würde.

Auch die Erinnerung an Widerstand und Großherzigkeit sollte gepflegt werden.

Von großer Wichtigkeit erscheint mir, dass wir uns an diejenigen erinnern, die den Mut hatten – unter Gefahr für die eigene Sicherheit und dem Risiko, entdeckt und selbst vernichtet zu werden –, Opfer der NS-Gewalt zu schützen und zu retten. Ein ermutigendes Beispiel ist unter anderen das des französischen Dorfes Dieulefit, in dem 3000 Dorfbewohner in einer konzertierten Aktion 1500 Verfolgte retteten26. Wir benötigen solche Geschichten nicht zuletzt deshalb, um nicht zu verzweifeln. Der Bericht von Tanja Stelzer in der ZEIT über dieses Dorf – das auf Deutsch übrigens »Gott hat es gemacht« heißen würde – geht nahe. In diesem Bericht steht ein wichtiger Satz »Das historische Gedächtnis hat funktioniert« mit Hinweis darauf, dass das Dorf protestantisch geprägt war und: Die Geschichte der Protestanten in Frankreich sei eine der Verfolgung. »Die Nachfahren der einst Verfolgten wussten, was sie zu tun hatten.«

Überlebende des »anderen Krieges« gibt es immer weniger. Aber es gibt ihre Nachkommen und diejenigen, die während dieser Zeit auf die Welt kamen und sich mit diesem anderen Krieg beschäftigen, der u.a. in Auschwitz tobte, vor allem um derer zu gedenken, die darin zugrunde gegangen sind. Auschwitz ist ein Ort, aber auch eine Metapher für all das Böse, schier Unbegreifliche, das in der NS-Zeit geschehen ist.

Der Terror gegen und die Ermordung von Millionen Menschen, die Verbrechensgeschichte des Nationalsozialismus also, habe, so Hermann Beland, geboren 1933, bei vielen der »Kriegskinder«-Generation zu einem »Verlust der eigenen guten Identität als Deutsche« geführt27. Die Angst vor diesem Verlust – wenn nicht sogar die Angst vor der Anerkennung dieses Verlustes – mag einerseits bis heute ein starkes Motiv darstellen, »die NS-Erbschaft auszuschlagen« (Brockhaus 2011)28, andererseits führte sie auch zu der Bereitschaft – vielleicht mit dem Mut der Verzweiflung –, hinzuschauen und Verantwortung zu übernehmen.

Dürfen wir uns überhaupt mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen befassen und mit dem dadurch in Deutschland ausgelösten Leid, wo der »andere Krieg« so viel unfassbares Leid angerichtet hat?29

Gewiss weckt das Thema heftige Emotionen und hat »tiefe Gräben« aufgerissen, schreibt Gudrun Brockhaus (1997)30. Heutigen Patienten, die im Krieg geboren wurden, geht es um eine Betrachtung von beidem: der Verbrechen während der NS-Zeit sowie den Folgen des Zweiten Weltkriegs und der Folgen von beidem. Manchen geht es vor allem um die Anerkennung der Leiden der NS-Opfer und die Trauer darüber. Andere scheinen regelrecht darum zu kämpfen, dass die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs ausreichend gewürdigt werden. Beides hat Bedeutung.

Sowohl das alleinige Anklagen wie eine ausschließlich distanzierende Haltung helfen nicht, dem Schmerz und der Unsicherheit zu entkommen. Mir geht es darum, das eine wie das andere Leiden zu würdigen. Und es war klar für mich, mit dem durch den »anderen Krieg« zugefügten Leid zu beginnen und mich erst in den folgenden Kapiteln um die Folgen des Weltkriegs zu kümmern; wobei sich beide Themen ständig ineinander verflechten.

Zeitzeugen

In den letzten Jahren haben sich einige Fachleute der Psychotherapie zu Wort gemeldet, wie z.B. Hartmut Radebold, die selbst »Kriegskinder« waren. Die Reflexionen dieser KollegInnen und der Anstoß, den sie gegeben haben, sich überhaupt mit den Facetten dieser Kindheiten auseinanderzusetzen, sind sehr wertvoll. Es fiel mir auf, dass die damals sehr jungen Kriegskinder sich viel weniger zu Wort gemeldet haben. Einer, der sich öffentlich artikuliert hat, ist der Psychoanalytiker Michael Ermann. Er berichtet über Schwierigkeiten, die er heute mit der Tatsache in Verbindung bringt, 1943 im Krieg geboren zu sein31, 32. Ermann hat daraus wohl seine Schlüsse ziehend ein bedeutendes Forschungsprojekt an der Universität München initiiert, in dem auch der Frage nachgegangen wurde, wie die ehemaligen Kriegskinder mit dem Nationalsozialismus umgehen. Ich komme darauf zurück.

Geboren im März 1943, nenne ich hier – beispielhaft – einige Ereignisse, die in mir teilweise schon in der Kindheit starke Gefühle wachgerufen haben und immer noch wachrufen. Vielleicht finden Sie beim Lesen Parallelen aus Ihrer eigenen Erfahrung oder Erfahrungen Ihrer Eltern. Vielleicht fühlen Sie sich angeregt, nach eigenen Narrativen zu suchen. Und es erscheint mir wichtig, dass diejenigen, die damit weniger vertraut sind, sich mit den Fakten genauer beschäftigen. Hierzu gibt es inzwischen eine Fülle an Informationsmaterial, u.a. bei der Bundesanstalt für Politische Bildung sowie z.B. in der »Enzyklopädie des Holocaust«33.

Anfang 1943 war der Vernichtungsfeldzug gegen die Juden seit etwa zwei Jahren in vollem Gang34. Raul Hilberg, der sich bereits direkt nach dem Krieg mit den Untaten der NS auseinandersetzte, gibt in einem Video-Interview, das man sich auf der Website der Bundesanstalt für Politische Bildung ansehen kann, einen »Rückblick auf die Holocaustforschung« und auch deren damals aktuellen Stand von 2006, den ich hier zusammenfassend wiedergeben möchte35. Das Interview löste in mir tiefe Trauer und Fassungslosigkeit aus.

Hilberg beginnt seine Rede damit, dass er sagt: »Wir (die Holocaustforscher) waren alle allein … wir hatten kein Publikum.« Die Bestände, die zu erforschen waren, seien in Hunderten von Archiven gewesen. Er habe mit denen für die Nürnberger Prozesse begonnen und dafür 40000 Dokumente gelesen. Dann führt er aus, dass der Holocaust nicht geplant gewesen sei. Es habe eine Richtung gegeben, aber kein Ziel. Hitler habe sich bereits 1919 geäußert, dass er keinen »gefühlsmäßigen Antisemitismus«, sondern einen der Vernunft entwickeln wolle. Man müsse die Akten aller Behörden ansehen, denn es gebe keine Behörde, die nicht involviert gewesen sei, meint Hilberg. Er beschreibt dann detailliert, wie sich so eines aus dem anderen zu ergeben schien. Das sei wie in einer Schulklasse, wenn der Lehrer etwas frage, »da ist immer einer, der etwas weiß …« Wenn einer gefragt habe, sollen wir die Juden töten, habe Heydrich gesagt: Selbstverständlich. »Immer wieder sehe ich dieses Wort ›selbstverständlich‹. Der Holocaust war selbstverständlich, er wurde nie begründet.«

Ein gnadenloser und skrupelloser Antisemitismus existierte da bereits. (Dieser Antisemitismus hatte eine Geschichte, auf die ich hier nicht eingehen kann.) Es begann mit scheinbar »harmlosen Befehlen«. So verfügte Heinrich Himmler am 3.12.1938 ein Verbot, wonach Juden nicht mehr Auto fahren durften. Ein Jude sei deshalb vor Gericht gegangen, und das Reichsgericht habe entschieden, wenn der oberste Reichsführer SS diese Anordnung unwidersprochen von anderen Behörden publiziere, habe das Gesetzeskraft.

In den ersten Jahren habe man die Auswanderung aller Juden angestrebt. Jüdische Menschen verloren ihre Posten, ihre Arbeit, »man nannte das Arisierung«. Dann sei der Krieg gekommen. Aus einer halben Million Juden in Deutschland wurden zweieinhalb Millionen mit den polnischen Juden. Hilberg weist darauf hin, dass »in der deutschen Sprache« mit Juden zunächst jüdische Männer gemeint waren. Und es gab Befehle, diese zu erschießen.

Ab August 1941 galt, dass alle Juden zu erschießen seien, es solle keine Restfamilien geben. Das sei, so Hilberg, der Anfang des »richtigen Holocaust« gewesen. Was ich nicht wusste, war, dass zunächst Überlegungen angestellt worden waren, alle Juden nach Madagaskar zu schicken, jedoch hieß es ab dem 10.2.1941, »der Führer« habe entschieden, nicht Madagaskar, sondern der Osten komme infrage.

Hilberg berichtet im Weiteren davon, wie ein KZ nach dem anderen entstand und dass – ohne Erfolg – versucht wurde, die Tatsachen zu verheimlichen. Zuletzt sei der Holocaust »eine Sache von Zahlen« gewesen.

Hilberg nennt einen Bericht, wonach am 27.3.1943 ein Führerbefehl erging, dass der Ausbau der Gaskammern »beschleunigt« durchzuführen sei. Er zitiert auch die schreckliche Aussage von Himmler vom 4. und 6.10.1943 in seinen Posener Reden von den angeblich so tapferen Männern der SS, die »anständig« geblieben seien angesichts der »Aufgabe« des Tötens. Und Himmler sagte auch, dass »die Juden ausgerottet werden« müssten. Und – noch schlimmer – die Männer – die die Massenvernichtungen durchführten – hätten »keinen Schaden an Geist und Seele« genommen, meinte Himmler. Hilberg ist hier seine Erschütterung deutlich anzumerken. Mir war dieser Teil der Himmler-Rede nicht – bewusst – bekannt, und er hinterlässt bei mir immer noch Ratlosigkeit und Entsetzen.

Auch wenn ich nicht weiß, ob Historiker mir zustimmen würden, meine ich, dass es psychologisch betrachtet denkbar wäre, dass in meinem Geburtsjahr 1943 die unbeschreiblichen Grausamkeiten gegenüber jüdischen und als Juden verfolgten Mitmenschen und anderen extrem zunahmen und dass dies mit den Niederlagen im Krieg zu tun haben könnte. Die Schlacht von Stalingrad war kurz vor meiner Geburt mit einer schweren Niederlage für die Deutschen zu Ende gegangen, und Goebbels hatte bald nach dieser Niederlage mit breiter Zustimmung den »totalen Krieg« ausgerufen36.

Heute kann ich in den Erinnerungen der damals jungen Jüdin Marie Jalowicz Simon lesen, dass sie, als sie am 3.Februar von der Niederlage erfuhr, jubelte. Die Niederlage der Deutschen ließ in ihr Hoffnung keimen, dass das Ende des Dritten Reiches näher rückte.

Keiner hat eine ausschließlich individuelle Geschichte. Wir alle werden in ein größeres Ganzes hineingeboren, ob wir wollen oder nicht. Auch wenn wir nicht verantwortlich sind für die Geschehnisse, prägen sie uns doch. Um die Eingebundenheit der individuellen Geschichte bewusst zu machen, greife ich hier ergänzend zum bisher Gesagten einige Ereignisse aus meinem Geburtsjahr heraus.

1943

Kurz vor meiner Geburt vollendet Viktor Ullmann in Theresienstadt im Januar 1943 sein Streichquartett Nr. 3. Ein tief trauriges Werk. Er lehnte Flucht und Exil ab, um seinen Mitmenschen in der Not beizustehen und

um Zeugnis abzulegen, dass der Geist nicht gemordet werden kann.

Er wird 1944 in Auschwitz ermordet

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Ebenfalls kurz vor meiner Geburt wurden die Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet. Sie folgten ihrem Gewissen und fühlten sich damals auf eindrucksvolle Weise verantwortlich für Deutschland. »Im Namen des ganzen deutschen Volkes fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut der Deutschen, zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat.«

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Die Geschwister-Scholl-Stiftung bemüht sich bis heute um das Gedenken und vergibt einen wichtigen Preis, ein Preisträger war Arno Gruen. Gruen ist nicht müde geworden, über Internalisierungen von Täterstrukturen und was diese anrichten können nachzudenken. Ihn interessiert der »Verrat am Selbst«, der »Verlust des Mitgefühls« so die Titel von zwei seiner Bücher39. Aus meiner Sicht kündigen u.a. die Werke Kafkas und Rilkes, um nur zwei zu nennen, die Gnadenlosigkeit und Härte an, die zwar während der NS-Zeit ihren Höhepunkt erreichte, aber bereits Jahrzehnte zuvor begannen, und legen Zeugnis über deren Folgen ab. Eine hellsichtige Beschreibung eines autoritären Charakters stammt von Heinrich Mann in seinem »Untertan«. Dieses Buch erschien bereits 1914.

Als »Frauen von der Rosenstraße« wurde eine Gruppe von Frauen bekannt, die sich den Nazis ab dem 27.Februar entgegengestellt haben und forderten, dass ihre jüdischen Männer freigelassen wurden.

Ab dem 6.März werden die Verhafteten wieder freigelassen.40 Gerade für Frauen können die Frauen von der Rosenstraße ein Vorbild sein, auch und wegen ihres gemeinsamen solidarischen Handelns.

Im August 1943 werden in dem kleinen griechischen Ort Kommeno – wie an anderen griechischen Orten – 317 Menschen von deutschen Soldaten grausam massakriert. Der deutsche Jazzmusiker Günter Baby Sommer engagiert sich seit 2008 dort bei einem Festival, um der Toten zu gedenken und die Lebenden zu erfreuen. Auf einer seiner CDs sind die Klagegesänge der letzten Überlebenden zu hören. Sie gehen mir durch Mark und Bein.

Die Reihe dieser kurzen Narrative könnte endlos fortgesetzt werden. Mich haben immer wieder Jorge Sempruns Bücher sehr beeindruckt, insbesondere »Die Reise« und die Reflexion über den Entstehungsprozess dieses Buches 20 Jahre später in »Schreiben oder Leben«41. Eine Reflexion, die auch unter traumatherapeutischen Gesichtspunkten bedeutsam ist, denn Semprun stellt die Frage, was es für ihn bedeutet, sich mit dem Entsetzlichen auseinanderzusetzen. Nicht alle Traumatisierte wollen oder können das! Semprun erfuhr es teilweise wie ein Sterbenmüssen. Imre Kertézs42 hingegen geht in seinem »Roman eines Schicksallosen« mit seinen Erfahrungen in der Auschwitz-Hölle auf eine mich erschütternd distanzierende Art um, die mich als Leserin umso mehr zwingt zu fühlen, worüber er sich zu sprechen weigert.

Aus all den Zeugnissen zu Auschwitz und anderen Holocaust-Erfahrungen lerne ich auch, wie viel Lebenswille neben dem Schrecken da war und wie jeder und jede einzelne Überlebende auf eine sehr individuelle Art diese verarbeitet hat.

Eines der wichtigsten Bücher zur literarischen Verarbeitung des Holocaust, das mir eine große Hilfe zum Verstehen ist, ist das Buch von Terence des Prés: »Der Überlebende« (2008)43. Des Prés setzt sich auf sehr engagierte Weise dafür ein, dass wir die Berichte der Überlebenden mitfühlend begreifen sollten und nicht deutend, indem wir über Dinge reflektieren, die wir nicht erfahren haben und daher auch nicht in ihrer Tiefe verstehen können. Des Prés betont, dass es um »ein Leben mitten im Tod« ging. Wer kann sich das vorstellen, wenn er es nicht selbst erfahren hat? Wir gehen davon aus, dass wir »mitten im Leben des Todes« sind, aber was bedeutet es, mitten im Tod leben zu wollen?

Mich hat in diesem Zusammenhang die Geschichte der Geigerin Alma Rosé, die das sogenannte Mädchenorchester geleitet und damit vielen Frauen das Leben gerettet hat, immer wieder beschäftigt. Warum hatten ihre nicht jüdischen Partner, ihr Mann Váša Příhoda oder ein späterer Geliebter, sie nicht zu retten versucht? Alma Rosé ist in Auschwitz nicht unmittelbar ermordet worden, sondern 1944 vorgeblich eines »natürlichen Todes« an einer Krankheit, wahrscheinlich Typhus, gestorben, heißt es. Man kann hören, dass sie eine exzellente Geigerin war auf der einzigen Aufnahme, die von ihr existiert. Dort spielt sie das Doppelkonzert von Bach gemeinsam mit ihrem Vater Arnold Rosé, Konzertmeister der Wiener Philharmoniker und Begründer und Primarius des Rosé-Quartetts, der 1938 nach jahrelanger Tätigkeit für das Orchester von einem auf den anderen Tag von seinem Platz vertrieben wurde. Alma Rosé muss eine außerordentliche Musikerin, aber auch ein besonderer Mensch gewesen sein, voller Mut und Verantwortungsbewusstsein