Kritiken und Rezensionen - Walter Benjamin - E-Book

Kritiken und Rezensionen E-Book

Walter Benjamin

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Beschreibung

Walter Benjamin war der bedeutendste Kritiker seiner Zeit. Viele seiner Rezensionen sind immer noch erste Anlaufstelle für Literaturinteressierte. Benjamin bespricht in diesem E-Book Reiseberichte, Romane, Übersetzungen, gar Schulbücher u. v. m. Diese chronologisch geordnete Sammlung von hunderten von Beiträgen ist mit einem verlinkten Index versehen. Es finden sich Beiträge u. a. zu Lily Braun, Hugo von Hofmannsthal, Hans Bethge, Edgar Allan Poe, Lenin, Alfred Polgar, Georg Mendelssohn, Chaplin, Hans Heckel, Hebel, Gottfried Keller, Kierkegaard, Brecht, Max Brod und Franz Kafka. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 951

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Walter Benjamin

Kritiken und Rezensionen

1912 - 1940

Walter Benjamin

Kritiken und Rezensionen

1912 - 1940

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-96-0

null-papier.de/458

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1912

Lily Brauns Ma­ni­fest an die Schul­ju­gend

1924

Karl Ho­bre­cker, Alte ver­ges­se­ne Kin­der­bü­cher.

1926

Frie­dens­wa­re

Al­fred Kuhn, Das alte Spa­ni­en. Land­schaft, Ge­schich­te, Kunst.

Hugo von Hof­manns­thal, Der Turm.

Hans Beth­ge, Ägyp­ti­sche Rei­se. Ein Ta­ge­buch.

»Bel­la«

Ein Dra­ma von Poe ent­deckt

»Deut­sche Volk­heit.«

Ven­tu­ra Gar­cia Cal­de­ron: La ven­gean­ce du Con­dor.

Über­set­zun­gen

Mar­ga­ret Ken­ne­dy, Die treue Nym­phe.

Carl Al­brecht Ber­noul­li, Jo­hann Ja­cob Ba­cho­fen und das Na­tur­sym­bol.

Franz Hes­sel

Der Kauf­mann im Dich­ter

Ssof­ja Fe­dort­schen­ko, Der Rus­se re­det. Auf­zeich­nun­gen nach dem Ste­no­gramm.

Os­kar Wal­zel, Das Wort­kunst­werk. Mit­tel sei­ner Er­for­schung.

Wla­di­mir Il­jitsch Le­nin, Brie­fe an Ma­xim Gor­ki 1908 – 1913.

1927

Ei­ni­ge äl­te­re und neue­re Neu­dru­cke

Paul Han­ka­mer, Die Spra­che, ihr Be­griff und ihre Deu­tung im 16. und 17. Jahr­hun­dert.

Fjo­dor Glad­kow, Ze­ment.

Iwan Schmel­jow, Der Kell­ner.

Eu­ro­päi­sche Ly­rik der Ge­gen­wart. 1900-1925.

Gas­ton Baty, Le mas­que et l’encen­soir.

Paul Léaut­aud, Le théâtre de Mau­ri­ce Boissard.

Ra­mon Go­mez de la Ser­na, Le cir­que.

Phil­ip­pe Sou­pault, Le cœur d’or.

Hen­ry Pou­lail­le, L’en­fan­te­ment de la paix.

Hen­ry Pou­lail­le, Ames neu­ves.

Pier­re Gi­rard, Con­nais­sez mieux le cœur des fem­mes.

Mar­tin Mau­ri­ce, Nuit et jour.

Antho­lo­gie de la nou­vel­le pro­se françai­se.

Drei Fran­zo­sen

Franz Hes­sel, Heim­li­ches Ber­lin.

Aus Gott­fried Kel­lers glück­li­cher Zeit. Der Dich­ter im Brief­wech­sel mit Ma­rie und Adolf Ex­ner.

1928

Por­trät ei­nes Barock­poe­ten

Land­schaft und Rei­sen

Graf Paul Yorck von War­ten­burg, Ita­lie­ni­sches Ta­ge­buch.

Ge­org Li­chey, Ita­li­en und wir. Eine Ita­li­en­rei­se.

Der Deut­sche in der Land­schaft.

Drei klei­ne Kri­ti­ken von Rei­se­bü­chern

Eva Fie­sel, Die Sprach­phi­lo­so­phie der deut­schen Ro­man­tik.

Hugo von Hof­mannst­hals »Turm«

Eine neue gno­s­ti­sche Lie­bes­dich­tung

Mi­cha­el Sost­schen­ko, So lacht Ruß­land! Hu­mo­res­ken.

Aus un­be­kann­ten Schrif­ten. Fest­ga­be für Mar­tin Bu­ber zum 50. Ge­burts­tag.

Drei Bü­cher: Vik­tor Sch­klow­ski – Al­fred Pol­gar – Ju­li­en Ben­da

Kul­tur­ge­schich­te des Spiel­zeugs

Gia­co­mo Leo­par­di, Ge­dan­ken.

Ein grund­sätz­li­cher Brief­wech­sel über die Kri­tik über­setz­ter Wer­ke

Ge­or­ge Moo­re, Al­bert und Hu­bert. Er­zäh­lung.

Alex­an­der Mo­ritz Frey, Au­ßen­sei­ter. Zwölf selt­sa­me Ge­schich­ten.

Zwei Kom­men­ta­re

Spiel­zeug und Spie­len

Ja­kob Job, Nea­pel. Rei­se­bil­der und Skiz­zen.

Anja und Ge­org Men­dels­sohn, Der Mensch in der Hand­schrift.

Pa­ris als Göt­tin

Alexys A. Si­do­row, Mos­kau.

Isaac Ben­ru­bi, Phi­lo­so­phi­sche Strö­mun­gen der Ge­gen­wart in Frank­reich.

Feu­er­geiz-Saga

Jo­hann Wolf­gang von Goe­the, Far­ben­leh­re.

Neu­es von Blu­men

»Adri­enne Me­s­u­rat«

1929

Rück­blick auf Chap­lin

Rus­si­sche Ro­ma­ne

Zwei Bü­cher über Ly­rik

Alex­an­der Met­te, Über Be­zie­hun­gen zwi­schen Sprachei­gen­tüm­lich­kei­ten Schi­zo­phre­ner und dich­te­ri­scher Pro­duk­ti­on.

Ar­thur Ho­lit­scher, Es ge­sch­ah in Mos­kau.

Ro­bert Fae­si, Die Ern­te schwei­ze­ri­scher Ly­rik.

Ni­co­las von Ar­se­niew, Die rus­si­sche Li­te­ra­tur der Neu­zeit und Ge­gen­wart in ih­ren geis­ti­gen Zu­sam­men­hän­gen in Ein­zeldar­stel­lun­gen.

Bü­cher, die le­ben­dig ge­blie­ben sind

Die drit­te Frei­heit

Bü­cher, die über­setzt wer­den soll­ten

Mar­cel Bri­an, Bar­tho­lomée de Las Ca­sas. »Père des In­diens«.

Léon Deu­bel, Œu­vres. Préface de Ge­or­ges Du­ha­mel.

Ge­brauchs­ly­rik? Aber nicht so!

Wil­la Ca­ther, Frau im Zwie­licht.

Curt El­wen­s­poek, Rinal­do Rinal­di­ni, der ro­man­ti­sche Räu­ber­fürst.

Der ar­ka­di­sche Schmock

Echt In­gol­städ­ter Ori­gi­nal­no­vel­len

Hans He­ckel, Ge­schich­te der deut­schen Li­te­ra­tur in Schle­si­en.

Die Wie­der­kehr des Fla­neurs

Al­fred Pol­gar, Hin­ter­land.

Jo­seph Gre­gor, Die Schwes­tern von Prag und an­de­re No­vel­len.

Ma­g­nus Hirsch­feld, Berndt Götz, Das ero­ti­sche Welt­bild.

Fa­mi­li­en­brie­fe Je­re­mi­as Gott­helfs.

He­bel ge­gen einen neu­en Be­wun­de­rer ver­tei­digt

Eine kom­mu­nis­ti­sche Päd­ago­gik

Was schen­ke ich ei­nem Snob?

G.F. Hart­laub, Der Ge­ni­us im Kin­de.

1930

Lob der Pup­pe

François Porché, Der Lei­dens­weg des Dich­ters Bau­de­laire.

Ein Au­ßen­sei­ter macht sich be­merk­bar. Zu S. Kra­cau­er, »Die An­ge­stell­ten«

Ein Buch für die, die Ro­ma­ne satt ha­ben

Kri­sis des Ro­mans. Zu Dö­b­lins »Ber­lin Alex­an­der­platz«

Ga­brie­le Ecke­hard, das deut­sche Buch im Zeit­al­ter des Ba­rock.

Theo­ri­en des deut­schen Fa­schis­mus

Zur Wie­der­kehr von Hof­mannst­hals To­des­tag

Wi­der ein Meis­ter­werk

Ein Ja­ko­bi­ner von heu­te

Sy­me­on, der neue Theo­lo­ge, Licht vom Licht.

Chich­leuch­lauch­ra. Zu ei­ner Fi­bel

Ko­lo­ni­al­päd­ago­gik

1931

Theo­lo­gi­sche Kri­tik Zu Wil­ly Haas, »Ge­stal­ten der Zeit«

Lin­ke Me­lan­cho­lie. Zu Erich Käst­ners neu­em Ge­dicht­buch

Li­te­ra­tur­ge­schich­te und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft

Das Pro­blem des Klas­si­schen und die An­ti­ke.

Wie er­klä­ren sich gros­se Bü­cher­fol­ge? »Chrut und Uchrut« – ein schwei­ze­ri­sches Kräu­ter­buch

Wis­sen­schaft nach der Mode

Bau­de­laire un­term Stahl­helm

Ein Schwarm­geist auf dem Ka­the­der: Franz von Baa­der

Os­kar Ma­ria Graf als Er­zäh­ler

Grü­nen­de An­fangs­grün­de

1932

Pri­vi­le­gier­tes Den­ken

Gott­fried Kel­ler, Sämt­li­che Wer­ke.

Hans Hoff­mann, Bür­ger­bau­ten der al­ten Schweiz.

Nietz­sche und das Archiv sei­ner Schwes­ter

Hun­dert Jah­re Schrift­tum um Goe­the

Pe­sta­loz­zi in Yver­don

Der Irr­tum des Ak­ti­vis­mus

Goet­he­bü­cher, aber will­kom­me­ne

Cher­ry Ke­ar­ton, Die In­sel der fünf Mil­lio­nen Pin­gui­ne.

Er­leuch­tung durch Dun­kel­män­ner.

Je­mand meint

Stren­ge Kunst­wis­sen­schaft (1)

Stren­ge Kunst­wis­sen­schaft (2)

1933

Her­mann Gum­bel, Deut­sche Son­der­re­naissance in deut­scher Pro­sa.

Me­moi­ren aus un­se­rer Zeit

Kier­ke­gaard

Brie­fe von Max Dau­then­dey

Marc Alda­nov, Eine un­sen­ti­men­ta­le Rei­se.

Am Ka­min. Zum 25­jäh­ri­gen Ju­bi­lä­um ei­nes Ro­mans

Rück­blick auf Ste­fan Ge­or­ge

Ge­lehr­te Re­gis­tra­tur

Klei­ner Mann aus Lon­don

Deutsch in Nor­we­gen »Die Meis­ter« – deut­sches Le­se­buch für nor­we­gi­sche Gym­na­si­en

1934

Rück­blick auf 150 Jah­re deut­scher Bil­dung

Der ein­ge­tunk­te Zau­ber­stab

Neu­es zur Li­te­ra­tur­ge­schich­te

Iwan Bu­nin

A. Pin­lo­che, Fou­ri­er et le so­cia­lis­me.

Ar­nold Hirsch, Bür­ger­tum und Ba­rock im deut­schen Ro­man.

La­wrence Ecker, Ara­bi­scher, pro­ven­za­li­scher und deut­scher Min­ne­sang.

Die deut­sche Bal­la­de

Das Gar­ten­thea­ter

Ge­or­ges Laron­ze, Le Baron Haus­smann.

Ju­li­en Ben­da, Dis­cours à la na­ti­on eu­ropéen­ne.

1935

Brechts Drei­gro­schen­ro­man

Wil­helm Platz, Charles Re­nou­vier als Kri­ti­ker der fran­zö­si­schen Kul­tur.

Volks­tüm­lich­keit als Pro­blem

Pro­ble­me der Sprach­so­zio­lo­gie

Jac­ques Ma­ri­tain, Du ré­gime tem­po­rel et de la li­ber­té.

1936

Pa­ri­ser Brief (1)

Pa­ri­ser Brief (2)

1937

Re­cher­ches phi­lo­so­phi­ques.

Fe­lix Ar­mand et René Maublanc, Fou­ri­er.

(Hel­mut An­ton – Hans­jörg Gar­te – Os­kar Wal­zel – Alain: Stendhal – Hugo von Hof­manns­thal – Her­mann Bla­ckert – Her­mann Broch)

1938

Ein deut­sches In­sti­tut frei­er For­schung. (Frank­fur­ter »In­sti­tut für So­zi­al­for­schung«)

Max Brod, Franz Kaf­ka. Eine Bio­gra­phie.

Eine Chro­nik der deut­schen Ar­beits­lo­sen

Kri­sen­jah­re der Frühro­man­tik. Brie­fe aus dem Schle­gel-Kreis.

Gisèle Freund, La pho­to­gra­phie en Fran­ce au dix-neu­viè­me siècle.

Gre­te de Fran­ces­co, Die Macht des Char­la­t­ans.

Ro­man deut­scher Ju­den

Loui­se Weiss, Sou­ve­nirs d’u­ne en­fan­ce ré­pu­bli­cai­ne.

Ro­ger Cail­lois – Ju­li­en Ben­da – Ge­or­ges Ber­na­nos – G. Fessard

Rol­land de Renéville, L’­ex­péri­ence poéti­que.

Léon Ro­bin, La mo­ra­le an­ti­que.

1939/1940

Al­bert Bé­guin, L’â­me ro­man­ti­que et le rêve.

Fer­di­nand Bru­not, Hi­stoire de la langue françai­se des ori­gi­nes à 1900.

Richard Hö­nigs­wald, Phi­lo­so­phie und Spra­che. Pro­blem­kri­tik und Sys­tem.

Louis Di­mier, De l’e­sprit à la pa­ro­le. Leur brouil­le et leur ac­cord.

Dolf Stern­ber­ger, Pa­n­ora­ma oder An­sich­ten vom 19. Jahr­hun­dert.

En­cy­clopé­die Françai­se. Bd. 16 u. 17: Arts et lit­téra­tu­res dans la so­ciété con­tem­po­rai­ne, I, II. (Di­rigé par Pier­re Abra­ham.)

Jean Ro­stand, Héré­dité et ra­cis­me.

Hen­ri-Irénée Mar­rou, Saint Au­gus­tin et la fin de la cul­ture an­ti­que.

Ge­or­ges Sal­les, Le re­gard. La col­lec­ti­on, Le musée, La fouil­le, Une journée, L’é­co­le.

Une Lettre de Wal­ter Ben­ja­min au su­jet de »Le Re­gard« de Ge­or­ges Sal­les

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1912

Lily Brauns Manifest an die Schuljugend1

Ei­nes fällt an dem neu­en Bu­che Lily Brauns vor al­lem auf. Es mag ein Feh­ler sehr vie­ler päd­ago­gi­scher und schul­re­for­ma­to­ri­scher Schrif­ten sein, daß sie ihr Schu­l­ide­al an so man­chen Ide­en und In­sti­tu­tio­nen ori­en­tie­ren – an Staat oder Re­li­gi­on, all­ge­mei­ner Bil­dung oder dem Prin­zip der Ar­beit – nur nicht am Ur­sprüng­lichs­ten: an der Ju­gend. Und bei vie­len Schul­plä­nen wird ein sol­cher Feh­ler nicht ein­mal auf­fal­len. Denn – pa­ra­dox konn­te man for­mu­lie­ren: die Men­ge der ge­plan­ten Re­for­men hat den Blick auf die eine wirk­li­che, wer­den­de Ju­gend ver­baut. Die Ver­fas­se­rin aber schreibt »eine Rede an die Schul­ju­gend«. Sie hat die­se eine wirk­li­che und wer­den­de Ju­gend er­blickt, die sich ih­rer selbst lang­sam be­wußt wird, ih­rer Rech­te, ih­rer Stär­ke und ih­rer Mög­lich­kei­ten, die zu Pf­lich­ten wer­den. Und doch in­dem Lily Braun zu die­ser Ju­gend von der Schu­le re­det, ver­liert sie ihre Hö­rer aus den Au­gen, schweift über sie hin­weg zu ir­gend­ei­nem lee­ren, ne­ga­ti­ven Ide­al der Frei­heit. Zi­el­lo­sig­keit bei al­lem Fa­na­tis­mus ist ein Haupt­merk­mal der Schrift.

Der Ju­gend weiß Lily Braun nichts wei­ter zu­zu­ru­fen, als: Ihr seid recht­los! In der Schu­le dürft ihr kei­ne ei­ge­ne Mei­nung ent­wi­ckeln, im Hau­se müßt ihr schwei­gen, die grund­le­gen­de, selbst­ver­ständ­li­che po­li­ti­sche Bil­dung ver­bie­tet der Staat den Vier­zehn­jäh­ri­gen, die sich sel­ber ihr Brot ver­die­nen. Da­rum: Habt in der Schu­le den Mut eu­rer ei­ge­nen Mei­nung, und wenn man euch auch auf die letz­te Bank setz­te; dar­um: Ver­sagt eu­ren El­tern den Ge­hor­sam. »Ge­hor­sam ist kei­ne Tu­gend, wenn er nicht ein freu­di­ges Ja­sa­gen zum Be­feh­le ist.«

Es kann sich nicht um die Tat­sa­chen han­deln, von de­nen die Ver­fas­se­rin aus­geht. Man mag 10 Aus­nah­men und 100 Aus­nah­men nen­nen, trotz­dem bleibt das Prin­zip, wie es sich in je­der All­täg­lich­keit in der Schu­le äu­ßert, das­sel­be – und nicht an­ders in der Fa­mi­lie. Von ganz be­deu­ten­der Wich­tig­keit aber sind Lily Brauns Fol­ge­run­gen, ihre Vor­schlä­ge, mit de­nen sie al­ler­dings Wege an­gibt, ohne ein Ziel zu nen­nen. Denn die Frei­heit ist zwar für den Au­gen­blick und für den heu­ti­gen Schü­ler ein Ziel, an sich aber nur ein Aus­gangs­punkt. Wo­hin der Weg der frei­en Ju­gend ge­hen soll­te, dar­über schweigt Lily Braun. Sie schweigt da, wo ge­ra­de der, der sich an die Ju­gend wen­det, das Be­deu­tends­te zu sa­gen hät­te.

Be­ach­tens­wert sind die Vor­schlä­ge der Ver­fas­se­rin den­noch des­we­gen, weil sie kei­nes­wegs ver­ein­zelt da­ste­hen – höchs­tens so ka­te­go­risch in der Öf­fent­lich­keit noch nicht ge­äu­ßert wor­den sind. Denn es sind Auf­for­de­run­gen und Be­geis­te­run­gen, wie sie in den Ge­sprä­chen küh­ner, un­ru­hi­ger Schü­ler Tag für Tag ge­äu­ßert wer­den; al­ler­dings um bald in ih­rer Un­durch­führ­bar­keit er­kannt zu wer­den oder dem all­zu Mu­ti­gen ein oder meh­re­re Jah­re sei­nes Le­bens zu ver­der­ben. Die­se Vor­schlä­ge – ganz ab­ge­se­hen da­von, zu wel­chen po­si­ti­ven Zie­len sie füh­ren mö­gen er­wei­sen sich auf den ers­ten Blick je­dem, der auch nur ober­fläch­lich mit den Ver­hält­nis­sen ver­traut ist, als völ­lig un­durch­führ­bar, weil un­ter der Schü­ler­schaft die Or­ga­ni­sa­ti­on und So­li­da­ri­tät fehlt, die eine un­er­läß­li­che Vor­be­din­gung auch des ge­rings­ten Er­fol­ges wäre. Als un­durch­führ­bar auch, weil es sich mit der Eman­zi­pa­ti­on der Kin­der durch­aus nicht so ver­hält, wie mit je­nen ge­wal­ti­gen Be­we­gun­gen, die die Ver­fas­se­rin so frei­ge­big zum Ver­gleich her­an­zieht, wie mit dem Be­frei­ungs­kamp­fe, den »die Skla­ven des Al­ter­tums, die Bau­ern des Mit­tel­al­ters, die Bür­ger des Zeit­al­ters der Re­vo­lu­ti­on, die Ar­bei­ter und Frau­en der Ge­gen­wart« füh­ren. Hin­ter der Schü­ler­schaft steht nicht die ma­te­ri­el­le, rohe Macht, die den Kampf, der ein­mal so fürch­ter­lich er­öff­net wäre, durch­hal­ten könn­te. Und die Schul­re­form ist ein Kampf der Ide­en, in dem die so­zia­len Mo­men­te, die jene er­wähn­ten Kämp­fe so furcht­bar ge­stal­te­ten, zu­rück­tre­ten.

Doch nicht der Man­gel an kla­ren Zie­len, nicht die gänz­lich ver­fehl­ten Vor­schlä­ge al­lein ent­wer­ten die Schrift. Un­wür­dig und em­pö­rend er­scheint es, daß die Ver­fas­se­rin als der ers­ten eine, die zur Ju­gend spricht, nicht mehr als eine – so­zu­sa­gen po­li­ti­sche Rede, nichts über einen auf­rei­zen­den Auf­ruf hin­aus zu sa­gen hat. Daß die Schrift, die agi­ta­to­risch mit wi­der­lich schwü­ler Selbst­mord-Ro­man­tik auf­ge­putzt ist (man lese die ers­ten Sei­ten!), nichts wei­ter zu sein scheint, als eine Auf­for­de­rung zu bru­ta­ler Be­frei­ung von bru­ta­ler Knecht­schaft. Daß die­ses Eine ganz ver­kannt oder ganz ver­schwie­gen ist: eine Re­form der Ju­gend müß­te her­vor­bre­chen, auch wenn un­se­re Schu­le die voll­kom­mens­te wäre. Von der neu­en Ju­gend, die aus dem Be­wußt­sein ih­rer selbst als ju­gend­li­cher Men­schen wie­der einen höchs­ten Sinn und Zweck in ihr Da­sein legt, soll­te vor al­lem spre­chen, wer sich an die Ju­gend wen­det.

Im Lich­te ei­ner sol­chen An­schau­ung er­scheint die heu­ti­ge Schu­le von selbst als Rui­ne.

Die­je­ni­gen, die den neu­en Geist in der Ju­gend zum Be­wußt­sein sei­ner selbst brin­gen, wer­den die größ­ten Re­for­ma­to­ren auch der Schu­le wer­den.

Trotz­dem im ein­zel­nen die Schrift hie und da wah­re Ge­dan­ken ent­hält, kann man ihr nur wün­schen, daß der Schul­re­for­mer sie zu den Ak­ten lege, daß kein »kind­li­cher« Geist sich an ih­rem ge­fähr­li­chen Feu­er ent­zün­den möge.

Lily Braun, Die Eman­zi­pa­ti­on der Kin­der. Eine Rede an die Schul­ju­gend. Mün­chen: Al­bert Lan­gen (1911). 28 S.  <<<

1924

Karl Hobrecker, Alte vergessene Kinderbücher.

Ber­lin: Mau­ri­ti­us-Ver­lag 1924. 160 S.

Ein Buch, dem nie­mand auf den ers­ten Blick sein bi­blio­gra­phi­sches Fun­da­ment, sei­ne Her­kunft aus viel­jäh­ri­gem Samm­ler­stu­di­um an­sieht: »Alte ver­ges­se­ne Kin­der­bü­cher« von Karl Ho­bre­cker. So vor­züg­lich – sorg­fäl­tig und tem­pe­ra­ment­voll zu­gleich – hat der Mau­ri­ti­us-Ver­lag in Ge­mein­schaft mit dem Ver­fas­ser es aus­zu­stat­ten ge­wußt, daß man glaubt, ei­nes je­ner er­freu­li­chen Wer­ke sel­ber in Hän­den zu ha­ben, von de­nen es han­delt. Die bun­te Um­schlag­zeich­nung, schwar­ze und far­bi­ge Text­bil­der in Fül­le ge­ben Pro­ben aus dem Schat­ze der Samm­lung Ho­bre­cker, von des­sen Be­deu­tung die Be­schei­den­heit des Au­tors frei­lich nicht mehr ver­rät, als es der Ge­gen­stand durch­aus er­for­dert. Ein her­vor­ra­gen­des An­schau­ungs­ma­te­ri­al wird selbst den Flüch­ti­gen mit dem Ch­ar­me be­rüh­ren, dem je­der Samm­ler die­ser Din­ge ein­mal un­ter­le­gen sein muß.

Vom Samm­ler von Kin­der­bü­chern als ei­nem Ty­pus kann man viel­leicht erst seit dem Auf­schwung der Biblio­phi­lie re­den, der zwi­schen 1919 und 1923 aus teils mehr, teils min­der er­freu­li­chen Ur­sa­chen sich voll­zog. Da­mals hat­te Ho­bre­cker längst sei­nen Pos­ten be­zo­gen und mit dem Glück, das dem be­harr­li­chen Lieb­ha­ber hier sich nie ver­wei­gert, die Fül­le des­sen ver­ei­nigt, was heu­te als un­auf­find­bar ran­gie­ren muß. Aus die­ser Samm­lung, die ihr Be­reich aus rei­ner, in­ter­es­se­lo­ser Nei­gung zur Sa­che erst ent­deckt und ge­schaf­fen hat, ist die­se ers­te Ge­schich­te des Kin­der­bu­ches, die vom zünf­ti­gen, päd­ago­gi­schen Stand­punkt sich eman­zi­piert hat, er­wach­sen. Dem ent­spricht die hier und da ver­nehm­lich streit­ba­re Ton­art, mit der die schul­meis­ter­li­chen Mora­li­tä­ten, wie sie seit der Auf­klä­rung mit wirk­lich er­staun­li­cher Zä­hig­keit im Schrift­tum für Kin­der sich ge­hal­ten ha­ben, ver­ab­schie­det wer­den. Kurz und mar­kant wird die Ent­ste­hung des ei­gent­li­chen Kin­der­bu­ches aus Fi­bel, Mär­chen, Volks­buch, Lied und Klas­sik ent­wi­ckelt. Bis in die drei­ßi­ger Jah­re des vo­ri­gen Jahr­hun­derts währt die Vor­mund­schaft des er­bau­li­chen, des be­leh­ren­den, des mo­ra­li­schen Zwecks. Der Text­teil er­weist sich star­rer und kon­ser­va­ti­ver als die an­schau­li­che Ge­stal­tung des Bu­ches, in dem schon ge­gen Ende des 18. Jahr­hun­derts die Ab­bil­dung (auch au­ßer­halb der An­schau­ungs­bil­der­bü­cher – Co­me­ni­us, Ba­se­dow –) an Raum und Be­deu­tung ge­winnt. Mit dem Bie­der­mei­er ist der far­bi­ge Kup­fer für das Kin­der­buch ob­li­gat ge­wor­den. Die­se Pe­ri­ode, de­ren Rei­zen der Au­tor nicht fühl­los ge­gen­über steht, wie sei­ne schö­ne Hym­ne auf ihre Ko­lo­ris­tik zeigt, tritt ihm, dem be­kann­ten Ho­se­mann-For­scher, doch zu­rück ge­gen die vier­zi­ger bis sech­zi­ger Jah­re, den »Hö­he­punkt« – wie er sie über­schreibt –, den die Herr­schaft des großen Ber­li­ner Ju­gend­schrif­ten-Ver­la­ges Win­ckel­mann und Söh­ne be­zeich­net. Hier aber – und das ist viel­leicht für Ho­bre­cker den Samm­ler und His­to­ri­ker das Cha­rak­te­ris­ti­sche – er­lahmt sein In­ter­es­se nicht, son­dern geht un­ge­bro­chen ins Jahr­hun­dert-Ende hin­über von Ho­se­mann zu Os­kar Pletsch, von Theo­dor Die­litz zu Ju­li­us Loh­mey­er. Auf die­sem letz­ten Weg­stück dürf­te sei­ne Ge­folg­schaft sich viel­leicht et­was lich­ten. Denn beim Auf­schwung des In­ter­es­ses für Kin­der­bü­cher spielt ganz un­ver­kenn­bar künst­le­ri­sche und tech­ni­sche An­teil­nah­me an pri­mi­ti­ven, rein hand­werk­lich ge­stimm­ten Do­ku­men­ten, wie sie mit dem Ex­pres­sio­nis­mus auf­kam, die größ­te Rol­le. Pri­mi­ti­ve, an­ony­me und hand­werk­li­che Pro­duk­ti­on wird nach 1850 sel­ten, die Fa­bri­ka­ti­on wird in­dus­tria­li­siert. Der Ruf des Künst­lers fällt mehr und mehr ins Ge­wicht. Und da­mit ist eine wach­sen­de Ab­hän­gig­keit von dem pro­ble­ma­ti­schen Schön­heits- und Bil­dungs­ide­al des Pub­li­kums ge­ge­ben. Schön­heit, Kind­lich­keit und Lieb­lich­keit der Ty­pen fin­det sich weit ro­bus­ter in den frü­he­ren Ar­bei­ten des Jahr­hun­derts be­deu­tet als in den epi­go­nal ge­stimm­ten Sa­chen des Jahr­hun­dert-En­des. So sind denn sol­che Stücke in den Re­pro­duk­tio­nen des Wer­kes mit Recht um so we­ni­ger be­rück­sich­tigt, als es den al­ten ver­ges­se­nen Kin­der­bü­chern ge­wid­met ist.

Im un­über­seh­ba­ren Meer die­ser Li­te­ra­tur be­zeich­net ein ka­ta­log­ar­ti­ger An­hang mit mehr als 175 Ti­teln ei­ni­ge bi­blio­gra­phi­sche In­seln. Auf ei­nem Ge­biet, wo je­des 40. oder 50. Exem­plar ein Uni­kat ist, kann selbst­ver­ständ­lich an eine förm­li­che Biblio­gra­phie nicht ge­dacht wer­den, am we­nigs­ten heu­te, da noch alle Vor­ar­bei­ten feh­len. Und für man­chen Samm­ler dürf­te Ho­breckers klei­nes Ver­zeich­nis mit ei­ner De­si­de­ra­ten­lis­te schon zu­sam­men­fal­len. Des­we­gen wird er es ihm dan­ken.

»Wa­rum sam­meln Sie Bü­cher?« – Hat man je­mals die Biblio­phi­len mit ei­ner sol­chen Um­fra­ge zur Selbst­be­sin­nung auf­ge­for­dert? Wie in­ter­essant wä­ren die Ant­wor­ten, zu­min­dest die auf­rich­ti­gen. Denn nur der Un­ein­ge­weih­te kann glau­ben, es gäbe nicht auch hier zu ver­heh­len und zu be­schö­ni­gen. Hoch­mut, Ein­sam­keit, Ver­bit­te­rung – das ist die Nacht­sei­te so man­cher hoch­ge­bil­de­ten und glück­haf­ten Samm­ler­na­tur. Hin und wie­der zeigt jede Pas­si­on ihre dä­mo­ni­schen Züge; da­von weiß die Ge­schich­te der Biblio­phi­lie zu sa­gen wie nur eine. – Nichts da­von in dem Samm­ler­cre­do Karl Ho­breckers, des­sen große Samm­lung von Kin­der­bü­chern durch sein Werk1 nun dem Pub­li­kum be­kannt wird. Wem die freund­li­che, fei­ne Per­son, wem das Buch auf je­der Sei­te es nicht sa­gen wür­de, dem wäre die blo­ße Über­le­gung ge­nug: die­ses Sam­mel­ge­biet – das Kin­der­buch – ent­de­cken konn­te nur, wer der kind­li­chen Freu­de dar­an die Treue ge­hal­ten hat. Sie ist der Ur­sprung sei­ner Bü­che­rei, und einen glei­chen wird jede ähn­li­che brau­chen, um zu ge­dei­hen. Ein Buch, ja eine Buch­sei­te, ein blo­ßes Bild im alt­mo­di­schen, viel­leicht von Mut­ter und Groß­mut­ter her über­kom­me­nen Exem­plar kann der Halt sein, um den die ers­te zar­te Wur­zel die­ses Trie­bes sich rankt. Tut nichts, daß der Um­schlag lo­cker ist, Sei­ten feh­len und hin und wie­der un­ge­schick­te Hän­de die Holz­schnit­te be­tuscht ha­ben. Die Su­che nach dem schö­nen Exem­plar hat ihr Recht, aber ge­ra­de hier wird sie dem Pe­dan­ten den Hals bre­chen. Und es ist gut, daß die Pa­ti­na, wie un­ge­wa­sche­ne Kin­der­hän­de sie über die Blät­ter le­gen, den Bü­cher­s­nob fern­hält.

Als vor 25 Jah­ren Ho­bre­cker sei­ne Samm­lung be­grün­de­te, wa­ren alte Kin­der­bü­cher Ma­ku­la­tur. Er zu­erst hat ih­nen ein Asyl er­öff­net, wo sie auf ab­seh­ba­re Zeit vor der Pa­pier­müh­le ge­si­chert sind. Un­ter den meh­re­ren tau­send, die sei­ne Schrän­ke fül­len, mö­gen hun­der­te al­lein bei ihm, in ei­nem letz­ten Exem­plar, sich fin­den. Durchaus nicht mit sei­ner Wür­de und Amts­mie­ne tritt die­ser ers­te Archi­var des Kin­der­bu­ches mit sei­nem Werk vors Pub­li­kum. Er wirbt nicht um Aner­ken­nung sei­ner Ar­beit, son­dern um An­teil an dem Schö­nen, das sie ihm er­schlos­sen hat. Al­les Ge­lehr­te, ins­be­son­de­re ein bi­blio­gra­phi­scher An­hang von etwa zwei­hun­dert der wich­tigs­ten Ti­tel ist Bei­werk, das dem Samm­ler will­kom­men ist, ohne den Fer­ner­ste­hen­den zu be­hel­li­gen. Das deut­sche Kin­der­buch – so führt der Au­tor in des­sen Ge­schich­te ein – ent­stand mit der Auf­klä­rung. Die Phil­an­thro­pen mach­ten mit ih­rer Er­zie­hung die Pro­be auf das Exem­pel des großen hu­ma­ni­tär­en Bil­dungs­pro­gramms. War der Mensch fromm, gut und ge­sel­lig von Na­tur, so muß­te es ge­lin­gen, aus dem Kin­de, dem Na­tur­we­sen schlecht­weg, den frömms­ten, bes­ten und ge­sel­ligs­ten her­an­zu­zie­hen. Und da in al­ler theo­re­tisch ge­stimm­ten Er­zie­hung die Tech­nik des sach­li­chen Ein­flus­ses erst spät ent­deckt wird und die pro­ble­ma­ti­schen Ver­mah­nun­gen den An­fang ma­chen, so ist auch das Kin­der­buch in den ers­ten Jahr­zehn­ten er­bau­lich, mo­ra­lis­tisch und va­ri­iert den Ka­te­chis­mus samt Aus­le­gung im Sinn des Deis­mus. Mit die­sen Tex­ten geht Ho­bre­cker streng ins Ge­richt. Ihre Tro­cken­heit, selbst Be­deu­tungs­lo­sig­keit für das Kind wird sich oft nicht ab­strei­ten las­sen. Doch sind die­se über­wun­de­nen Feh­ler ge­ring­fü­gig ge­gen die Ver­ir­run­gen, wel­che dank der ver­meint­li­chen Ein­füh­lung in das kind­li­che We­sen heu­te im Schwan­ge sind: die trost­lo­se ver­zerr­te Lus­tig­keit der ge­reim­ten Er­zäh­lun­gen und die grin­sen­den Ba­by­frat­zen, die von gott­ver­las­se­nen Kin­der­freun­den dazu ge­malt wer­den. Das Kind ver­langt vom Er­wach­se­nen deut­li­che und ver­ständ­li­che, doch nicht kind­li­che Dar­stel­lung. Am we­nigs­ten aber das was der da­für zu hal­ten pflegt. Und weil selbst für den ent­le­ge­nen und schwe­ren Ernst, wenn er nur auf­rich­tig und un­re­flek­tiert von Her­zen kommt, das Kind ge­nau­en Sinn hat, mag auch für jene alt­frän­ki­schen Tex­te sich man­ches sa­gen las­sen. Ne­ben Fi­bel und Ka­te­chis­mus steht am An­fang des Kin­der­bu­ches das An­schau­ungs­le­xi­kon, das il­lus­trier­te Vo­ka­bel­buch oder wie man den »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us sonst nen­nen will. Auch die­ser Form hat die Auf­klä­rung sich auf ihre Wei­se be­mäch­tigt und das mo­nu­men­ta­le Ba­se­dow­sche »Ele­men­tar­werk« ge­schaf­fen. Dies Buch ist viel­fach auch text­lich er­freu­lich. Denn ne­ben ei­nem weit­schwei­fi­gen Uni­ver­sal­un­ter­richt, der zeit­ge­mäß den »Nut­zen« al­ler Din­ge ins rech­te Licht rückt – den der Ma­the­ma­tik wie den des Seil­tan­zens – kom­men mo­ra­li­sche Ge­schich­ten von ei­ner Dras­tik vor, die nicht un­frei­wil­lig das Ko­mi­sche streift. Bei die­sen bei­den Wer­ken hät­te das spä­te­re »Bil­der­buch für Kin­der« eine Er­wäh­nung ver­dient. Es um­faßt zwölf Bän­de mit je hun­dert ko­lo­rier­ten Kup­fer­ta­feln und er­schi­en un­ter F. J. Ber­tuchs Lei­tung in Wei­mar von 1792 bis 1847. Die­se Bil­de­ren­zy­klo­pä­die be­weist in ih­rer sorg­fäl­ti­gen Aus­füh­rung, mit wel­cher Hin­ga­be da­mals für Kin­der ge­ar­bei­tet wur­de. Heu­te wür­den die meis­ten El­tern sich vor der Zu­mu­tung ent­set­zen, eine sol­che Kost­bar­keit in Kin­der­hän­de zu le­gen. Ber­tuch for­dert in sei­ner Vor­re­de ganz un­be­fan­gen zum Aus­schnei­den der Bil­der auf. End­lich sind Mär­chen und Lied, in ge­wis­sem Ab­stand auch Volks­buch und Fa­bel eben­so vie­le Quel­len für den Text­ge­halt der Kin­der­bü­cher. Selbst­ver­ständ­lich die reins­ten. Ist es doch ein durch und durch mo­der­nes Vor­ur­teil, aus dem die neue­re ro­man­ar­ti­ge Ju­gend­schrift, ein wur­zel­lo­ses Ge­bil­de voll von trü­ben Säf­ten, her­vor­ge­gan­gen ist. Die­ses näm­lich, daß Kin­der so ab­sei­ti­ge, in­kom­men­su­ra­ble Exis­ten­zen sei­en, daß man ganz be­son­ders er­fin­de­risch zur Pro­duk­ti­on ih­rer Un­ter­hal­tung sein müs­se. Es ist mü­ßig, auf die Her­stel­lung von Ge­gen­stän­den – An­schau­ungs­mit­teln, Spiel­zeug oder Bü­chern – die den Kin­dern ge­mäß wä­ren, krampf­haft be­dacht zu sein. Seit der Auf­klä­rung ist das eine der muf­figs­ten Grü­belei­en des Päd­ago­gen. In sei­ner Be­fan­gen­heit über­sieht er, daß die Erde voll von rei­nen un­ver­fälsch­ten Stof­fen kind­li­cher Auf­merk­sam­keit ist. Und von den be­stimm­tes­ten. Kin­der näm­lich sind auf be­son­de­re Art ge­neigt, jed­we­de Ar­beits­stät­te auf­zu­su­chen, wo sicht­ba­re Be­tä­ti­gung an den Din­gen vor sich geht. Un­wi­der­steh­lich füh­len sie sich vom Ab­fall an­ge­zo­gen, der sei es beim Bau­en, bei Gar­ten- oder Tisch­ler­ar­beit, beim Schnei­dern oder wo sonst im­mer ent­steht. In die­sen Ab­fall­pro­duk­ten er­ken­nen sie das Ge­sicht, das die Ding­welt ge­ra­de ih­nen, ih­nen al­lein zu­kehrt. Mit die­sen bil­den sie die Wer­ke von Er­wach­se­nen nicht so­wohl nach als daß sie die­se Rest- und Ab­fall­stof­fe in eine sprung­haf­te neue Be­zie­hung zu­ein­an­der set­zen. Kin­der bil­den sich da­mit ihre Ding­welt, eine klei­ne in der großen, selbst. Ein sol­ches Ab­fall­pro­dukt ist das Mär­chen, das ge­wal­tigs­te viel­leicht, das im geis­ti­gen Le­ben der Mensch­heit sich fin­det: Ab­fall im Ent­ste­hungs- und Ver­fallspro­zeß der Sage. Mit Mär­chen­stof­fen ver­mag das Kind so sou­ve­rän und un­be­fan­gen zu schal­ten wie mit Stof­fet­zen und Bau­stei­nen. In Mär­chen­mo­ti­ven baut es sei­ne Welt auf, ver­bin­det es we­nigs­tens ihre Ele­men­te. Vom Lied gilt ähn­li­ches. Und die Fa­bel – »die Fa­bel in ih­rer gu­ten Form kann ein Geis­te­s­pro­dukt von wun­der­ba­rer Tie­fe dar­stel­len, des­sen Wert die Kin­der wohl in den we­nigs­ten Fäl­len er­ken­nen. Wir dür­fen auch be­zwei­feln, daß die ju­gend­li­chen Le­ser sie der an­ge­häng­ten Moral we­gen schätz­ten oder sie zur Schu­lung des Ver­stan­des be­nutz­ten, wie es bis­wei­len kin­der­stu­ben­frem­de Weis­heit ver­mu­te­te und vor al­lem wünsch­te. Die Klei­nen freu­en sich am mensch­lich re­den­den und ver­nünf­tig han­deln­den Tier si­cher­lich mehr als am ge­dan­ken­reichs­ten Text.« »Die spe­zi­fi­sche Ju­gend­li­te­ra­tur« – so heißt es an an­de­rer Stel­le – »be­gann mit ei­nem großen Fias­ko, so­viel ist si­cher.« Und da­bei, dür­fen wir hin­zu­fü­gen, ist es in sehr vie­len Fäl­len ge­blie­ben.

Ei­nes ret­tet selbst den alt­mo­dischs­ten, be­fan­gens­ten Wer­ken die­ser Epo­che das In­ter­es­se: die Il­lus­tra­ti­on. Die­se ent­zog sich der Kon­trol­le der phil­an­thro­pi­schen Theo­ri­en, und schnell ha­ben über die Köp­fe der Päd­ago­gen hin­weg Künst­ler und Kin­der sich ver­stän­digt. Nicht als ob die­se aus­schließ­lich mit Rück­sicht auf jene ge­ar­bei­tet hät­ten. Die Fa­bel­bü­cher zei­gen, daß ver­wand­te Sche­ma­ta an den ver­schie­dens­ten Stel­len mehr oder we­ni­ger va­ri­iert auf­tau­chen. Eben­so wei­sen die An­schau­ungs­bü­cher z. B. in der Dar­stel­lung der sie­ben Welt­wun­der auf Kup­fer des 17. Jahr­hun­derts, viel­leicht auch noch wei­ter, zu­rück. Ver­mu­tungs­wei­se sei ge­sagt, daß die Il­lus­tra­ti­on die­ser Wer­ke in his­to­ri­schem Zu­sam­men­hang mit der Em­ble­ma­tik des Ba­rock ste­he. Die Ge­bie­te sind sich nicht so fremd wie man wohl den­ken möch­te. Ge­gen Ende des 18. Jahr­hun­derts tau­chen Bil­der­bü­cher auf, die eine bun­te Men­ge von Sa­chen auf ei­nem Blat­te – und ohne ir­gend wel­che fi­gu­ra­le Ver­mitt­lung – zu­sam­men­stel­len. Es sind Ge­gen­stän­de, die mit dem glei­chen Buch­sta­ben be­gin­nen: Ap­fel, An­ker, Acker, At­las u. dgl. Ein oder meh­re­re fremd­spra­chi­ge Über­set­zun­gen die­ser Vo­ka­beln sind bei­ge­ge­ben. Die künst­le­ri­sche Auf­ga­be, so ge­stellt, ist der­je­ni­gen ver­wandt, wel­che die bil­der­schrift­ar­ti­ge Kom­bi­na­ti­on al­le­go­ri­scher Ge­gen­stän­de den Zeich­nern des Ba­rock stell­te, und in bei­den Epo­chen ent­stan­den in­ge­ni­öse hoch­be­deu­ten­de Lö­sun­gen. Nichts auf­fal­len­der, als daß im 19. Jahr­hun­dert, das für sei­nen Zu­wachs an uni­ver­sa­lem Wis­sen so reich­lich Kul­tur­gü­ter des vor­her­ge­hen­den da­hin­ge­hen muß­te, das Kin­der­buch we­der text­lich noch il­lus­tra­tiv Ein­bu­ße er­litt. Zwar kom­men so fein kul­ti­vier­te Wer­ke wie die Wie­ner »Fa­beln des Äso­pus« (Zwei­te Auf­la­ge bey Heinr. Friedr. Mül­ler, Wien o.J.), die Ho­breckers Ver­zeich­nis bei­fü­gen zu kön­nen ich mich glück­lich schät­ze, nach 1810 nicht mehr vor. Es ist über­haupt nicht das Raf­fi­ne­ment in Stich und Ko­lo­rit, in dem das Kin­der­buch des 19. Jahr­hun­derts mit den Vor­gän­gern wett­ei­fern könn­te. Sein Reiz liegt zum gu­ten Teil im Pri­mi­ti­ven, in den Do­ku­men­ten ei­ner Zeit, da die alte Ma­nu­fak­tur mit den An­fän­gen neu­er Tech­ni­ken sich aus­ein­an­der­setzt. Seit 1840 hat­te die Li­tho­gra­phie die Herr­schaft, wäh­rend vor­her im Kup­fer­stich noch häu­fig Mo­ti­ve des 18. Jahr­hun­derts be­geg­nen. Das Bie­der­mei­er, die zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­re, sind nur im Ko­lo­rit cha­rak­te­ris­tisch und neu. »Mir scheint in je­ner bie­der­mei­er­li­chen Zeit eine Vor­lie­be für Kar­min, Oran­ge und Ul­tra­ma­rin zu be­ste­hen, auch ein leuch­ten­des Grün wird viel­fach ver­wen­det. Wo blei­ben ne­ben die­sen fun­keln­den Ge­wän­dern, ne­ben dem Azur des Him­mels, den wild­wa­bern­den Flam­men der Vul­ka­ne und Feu­ers­brüns­te, die ein­fach schwarz-wei­ßen Kup­fer und Stein­dru­cke, wie sie für die lang­wei­li­gen großen Leu­te im all­ge­mei­nen gut ge­nug wa­ren? Wo blü­hen wie­der sol­che Ro­sen, wo leuch­ten solch rot­ba­cki­ge Äp­fel und Ge­sich­ter, wo blin­ken noch sol­che Husa­ren in grü­nem Dol­man und gelb­ver­schnür­tem, krap­pro­tem Waf­fen­klei­de? Selbst der schlich­te, maus­graue Zy­lin­der des ed­len Va­ters, die loh­gel­be Kopf­be­de­ckung der schö­nen Mut­ter ru­fen un­se­re Be­wun­de­rung wach.« Die­se selbst­ge­nüg­sam pran­gen­de Far­ben­welt ist durch­aus dem Kin­der­buch vor­be­hal­ten. Die Ma­le­rei streift, wo in ihr die Far­big­keit, das Durch­sich­ti­ge oder glü­hend Bun­te der Töne ihre Be­zie­hung zur Flä­che be­ein­träch­tigt, den lee­ren Ef­fekt. Bei den Bil­dern der Kin­der­bü­cher be­wirkt es je­doch meist der Ge­gen­stand und die Selb­stän­dig­keit der gra­phi­schen Un­ter­la­ge, daß an eine Syn­the­se von Far­be und Flä­che nicht ge­dacht wer­den kann. In die­sen Far­ben­spie­len er­geht sich al­ler Verant­wor­tung ent­bun­den die blo­ße Phan­ta­sie. Die Kin­der­bü­cher die­nen ja nicht dazu, ihre Be­trach­ter in die Welt der Ge­gen­stän­de, Tie­re und Men­schen, in das so­ge­nann­te Le­ben un­mit­tel­bar ein­zu­füh­ren. Ganz all­mäh­lich fin­det de­ren Sinn im Au­ßen sich wie­der und nur in dem Maße wie es als ih­nen ge­mä­ßes In­ne­res ih­nen ver­traut wird. Die In­ner­lich­keit die­ser An­schau­ung steht in der Far­be und in de­ren Me­di­um spielt das träu­me­ri­sche Le­ben sich ab, das die Din­ge im Geis­te der Kin­der füh­ren. Sie ler­nen am Bun­ten. Denn nir­gends ist so wie in der Far­be die sehn­suchts­lo­se sinn­li­che Kon­tem­pla­ti­on zu­hau­se.

Die merk­wür­digs­ten Er­schei­nun­gen aber tre­ten ge­gen Ende des Bie­der­mei­er, mit den vier­zi­ger Jah­ren, gleich­zei­tig mit dem Auf­schwung der tech­ni­schen Zi­vi­li­sa­ti­on und je­ner Ni­vel­lie­rung der Kul­tur auf, die nicht ohne Zu­sam­men­hang da­mit war. Der Ab­bau der mit­tel­al­ter­li­chen sphä­risch ge­stuf­ten Le­bens­ord­nun­gen war da­mals vollen­det. In ihm wa­ren ge­ra­de die feins­ten edels­ten Sub­stan­zen oft zu un­terst ge­ra­ten, und so kommt es, daß der Tie­fer­bli­cken­de ge­ra­de in den Nie­de­run­gen des Schrift- und Bild­werks, wie in den Kin­der­bü­chern, die­se Ele­men­te fin­det, die er in den an­er­kann­ten Kul­tur­do­ku­men­ten ver­geb­lich sucht. Das In­ein­an­der­sin­ken al­ler geis­ti­gen Schich­ten und Ak­ti­ons­wei­sen wird so recht deut­lich an ei­ner Bohè­me­exis­tenz je­ner Tage, die in Ho­breckers Dar­stel­lung lei­der kei­nen Platz ge­fun­den hat, ob­wohl ei­ni­ge der vollen­dets­ten, frei­lich auch sel­tens­ten Kin­der­bü­cher ihr zu ver­dan­ken sind. Es ist Jo­hann Pe­ter Ly­ser, der Jour­na­list, Dich­ter, Ma­ler und Mu­si­ker. Das »Fa­bel­buch« von A. L. Grimm mit Ly­sers Bil­dern (Grim­ma 1827), das »Buch der Mähr­chen für Töch­ter und Söh­ne ge­bil­de­ter Stän­de« (Leip­zig 1834), Text und Bil­der von Ly­ser, und »Linas Mähr­chen­buch«, Text von A. L. Grimm, Bil­der von Ly­ser (Grim­ma o. J.) – das sind drei sei­ner schöns­ten Kin­der­schrif­ten. Das Ko­lo­rit ih­rer Li­tho­gra­phien sticht von dem bren­nen­den des Bie­der­mei­er ab und paßt um so bes­ser zu dem ver­härm­ten, ab­ge­zehr­ten Aus­druck man­cher Ge­stal­ten, der schat­ten­haf­ten Land­schaft, der Mär­chen­stim­mung, die nicht frei ist von ei­nem iro­nisch-sa­ta­ni­schen Ein­schlag. Das Ni­veau der Kol­por­ta­ge, auf dem die­se ori­gi­na­le Kunst sich ent­wi­ckel­te, do­ku­men­tiert sich am schla­gends­ten in den viel­bän­di­gen, mit selbst­ent­wor­fe­nen Li­tho­gra­phien ge­zier­ten »Abend­län­di­schen tau­send­und­ei­nen Nacht«. Ein grund­satz­lo­ses, aus trü­ben Quel­len ge­schöpf­tes Sam­mel­su­ri­um von Mär­chen, Sage, ört­li­cher Le­gen­de und Schau­er­mär, wel­ches in den drei­ßi­ger Jah­ren bei F. W. Goed­sche in Mei­ßen er­schie­nen ist. Die ba­nals­ten Städ­te Mit­tel­deutsch­lands – Mei­ßen, Lan­gen­salza, Pot­schap­pel, Grim­ma, Neu­hal­dens­le­ben – tre­ten für den Samm­ler in einen ma­gi­schen to­po­gra­phi­schen Zu­sam­men­hang. Oft mö­gen da Schul­leh­rer als Schrift­stel­ler und Il­lus­tra­to­ren in ei­ner Per­son ge­wirkt ha­ben, und man male sich aus, wie es in ei­nem Büch­lein aus­sieht, das auf 32 Sei­ten und 8 Li­tho­gra­phien der Ju­gend von Lan­gen­salza die Göt­ter der Edda vor­stellt.

Für Ho­bre­cker aber liegt der Brenn­punkt des In­ter­es­ses we­ni­ger hier als in den vier­zi­ger bis sech­zi­ger Jah­ren. Und zwar in Ber­lin, wo der Zeich­ner Theo­dor Ho­se­mann sei­ne lie­bens­wür­di­ge Be­ga­bung vor al­lem an die Il­lus­tra­ti­on von Ju­gend­schrif­ten wand­te. Auch den we­ni­ger durch­ge­ar­bei­te­ten Blät­tern gibt eine an­mu­ti­ge Käl­te der Far­be, eine sym­pa­thi­sche Nüch­tern­heit im Aus­druck der Fi­gu­ren einen Stem­pel, an dem je­der ge­bor­ne Ber­li­ner sei­ne Freu­de ha­ben kann. Frei­lich wer­den die frü­he­ren, we­ni­ger sche­ma­ti­schen und we­ni­ger häu­fi­gen Ar­bei­ten des Meis­ters, wie die rei­zen­den Il­lus­tra­tio­nen zur »Pup­pe Wun­der­hold«, ein Pracht­stück der Samm­lung Ho­bre­cker, für den Ken­ner vor je­nen ge­läu­fi­ge­ren ran­gie­ren, die kennt­lich am uni­for­men For­mat und Ver­lags­ver­merk »Ber­lin Win­ckel­mann & Söh­ne« in al­len An­ti­qua­ria­ten be­geg­nen. Ne­ben Ho­se­mann wirk­ten Ram­berg, Rich­ter, Speck­ter, Poc­ci, von den Ge­rin­ge­ren zu schwei­gen. Für die kind­li­che An­schau­ung er­öff­net in ih­ren schwarz-wei­ßen Holz­schnit­ten sich eine ei­ge­ne Welt. Ihr ur­sprüng­li­cher Wert ist dem der ko­lo­rier­ten gleich: sei­ne po­la­re Er­gän­zung. Das far­bi­ge Bild ver­senkt die kind­li­che Phan­ta­sie träu­me­risch in sich selbst. Der schwarz-wei­ße Holz­schnitt, die nüch­ter­ne pro­sa­i­sche Ab­bil­dung führt es aus sich her­aus. Mit der zwin­gen­den Auf­for­de­rung zur Be­schrei­bung, die in der­glei­chen Bil­dern liegt, ru­fen sie im Kin­de das Wort wach. Wie es aber die­se Bil­der mit Wor­ten be­schreibt, so be­schreibt es sie in der Tat. Es wohnt in ih­nen. Ihre Flä­che ist nicht wie die far­bi­ge ein Noli me tan­ge­re – we­der ist sie’s an sich noch für das Kind. Viel­mehr ist sie gleich­sam nur an­deu­tend be­stellt und ei­ner ge­wis­sen Ver­dich­tung fä­hig. Das Kind dich­tet in sie hin­ein. Und so kommt es, daß es auch in der an­de­ren, der sinn­li­chen Be­deu­tung die­se Bil­der »be­schreibt«. Es be­krit­zelt sie. Es lernt an ih­nen zu­gleich mit der Spra­che die Schrift: Hie­ro­gly­phik. Die ech­te Be­deu­tung die­ser schlich­ten gra­phi­schen Kin­der­bü­cher liegt also weit ab von der stump­fen Dras­tik, um de­ret­wil­len die ra­tio­na­lis­ti­sche Päd­ago­gik sie emp­fahl. Aber auch hier be­stä­tigt sich: »Der Phi­lis­ter hat oft in der Sa­che Recht, aber nie in den Grün­den.« Denn kei­ne an­de­ren Bil­der füh­ren wie die­se das Kind in Spra­che und Schrift ein eine Wahr­heit, in de­ren Ge­fühl man den ers­ten Wor­ten der al­ten Fi­beln die Zeich­nung des­sen mit­gab, was sie be­deu­ten. Far­bi­ge Fi­bel­bil­der wie sie jetzt auf­kom­men sind eine Ver­ir­rung. Im Reich der farb­lo­sen Bil­der er­wacht das Kind, wie es in dem der bun­ten sei­ne Träu­me aus­träumt.

In al­ler His­to­rio­gra­phie ge­hört die Aus­ein­an­der­set­zung über das Jüngst­ver­gan­ge­ne zum Strit­ti­gen. Das ist auch in der harm­lo­sen Ge­schich­te des Kin­der­bu­ches nicht an­ders. Über die Ein­schät­zung der Ju­gend­bü­cher vom letz­ten Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts an wer­den am leich­tes­ten die Mei­nun­gen aus­ein­an­der­ge­hen. Vi­el­leicht hat Ho­bre­cker, wenn er den auf­dring­li­chen Schul­meis­ter­ton an den Pran­ger stellt, ver­steck­tere Miß­stän­de des neue­ren Ju­gend­schrift­tums we­ni­ger be­ach­tet. Auch lag es sei­ner Auf­ga­be fer­ner. Der Stolz auf ein psy­cho­lo­gi­sches Wis­sen vom kind­li­chen In­nen­le­ben, das an Tie­fe und Le­bens­wert nir­gends mit ei­ner al­ten Päd­ago­gik wie der Jean-Paul­schen »Le­va­na« zu mes­sen ist, hat eine Li­te­ra­tur groß­ge­zo­gen, die im selbst­ge­fäl­li­gen Buh­len um die Auf­merk­sam­keit des Pub­li­kums den sitt­li­chen Ge­halt ver­lo­ren hat, der den sprö­des­ten Ver­su­chen der klas­si­zis­ti­schen Päd­ago­gik ihre Wür­de gibt. An sei­ne Stel­le ist die Ab­hän­gig­keit von den Schlag­wor­ten der Ta­ge­spres­se ge­tre­ten. Die heim­li­che Ver­stän­di­gung zwi­schen dem an­ony­men Hand­wer­ker und dem kind­li­chen Be­trach­ter fällt fort; Schrei­ber wie Il­lus­tra­tor wen­den sich mehr und mehr durch das un­lau­te­re Me­di­um der aku­ten Sor­gen und Mo­den zum Kin­de. Die süß­li­che Ges­te, die nicht dem Kin­de, son­dern den ver­dor­be­nen Vor­stel­lun­gen von ihm ent­spricht, wird in den Bil­dern hei­misch. Das For­mat ver­liert die edle Un­schein­bar­keit und wird auf­dring­lich. In all die­sem Kitsch lie­gen frei­lich die wert­volls­ten kul­tur­his­to­ri­schen Do­ku­men­te, aber sie sind noch zu neu, als daß die Freu­de an ih­nen rein sein könn­te.

Wie dem nun sei: in dem Ho­brecker­schen Wer­ke selbst wal­tet, sei­ner in­nern wie äu­ßern Ge­stalt nach, der Ch­ar­me der lie­bens­wür­digs­ten ro­man­ti­schen Kin­der­bü­cher. Holz­schnit­te, far­bi­ge Voll­bil­der, Schat­ten­ris­se und fein­ko­lo­rier­te Dar­stel­lun­gen im Text ma­chen es zu ei­nem über­aus er­freu­li­chen Haus­bu­che, mit dem nicht al­lein der Er­wach­se­ne sein Ver­gnü­gen hat, son­dern an dem sehr wohl sich Kin­der ver­su­chen kön­nen, um in den al­ten Fi­bel­tex­ten zu buch­sta­bie­ren oder un­ter den Bil­dern sich Mal­vor­la­gen zu su­chen. Dem Samm­ler aber wird ein­zig die Be­fürch­tung, die Prei­se stei­gen zu se­hen, einen Schat­ten auf sei­ne Freu­de wer­fen. Da­für bleibt ihm die Hoff­nung, ein oder das an­de­re Bänd­chen, das acht­los der Zer­stö­rung preis­ge­ge­ben war, möge die­sem Wer­ke sei­ne Er­hal­tung zu dan­ken ha­ben.

Karl Ho­bre­cker, Alte ver­ges­se­ne Kin­der­bü­cher. Ber­lin: Mau­ri­ti­us-Ver­lag 1924. 160 S.  <<<

1926

Friedensware

»Pa­ris ist un­ser Ziel!«

In Rom, in Zü­rich, in Pa­ris – kurz, hat­te man den deut­schen Bo­den ein­mal ver­las­sen, wo man woll­te – wa­ren von 1920 bis 1923 deut­sche Er­zeug­nis­se für die Hälf­te des Prei­ses zu fin­den, den man im Aus­land, ja in Deutsch­land selbst, sonst für die glei­chen Wa­ren an­zu­le­gen hat­te. Da­mals be­gan­nen die Gren­zen sich wie­der zu öff­nen und der Rei­sen­de trat sei­ne Tour an. Vom Aus­ver­kauf muß­te man le­ben und je hö­her der Dol­lar stieg, de­sto grö­ßer wur­de der Kreis der Aus­fuhr­gü­ter. Er schloß im Hö­he­punkt der Ka­ta­stro­phe auch geis­ti­ges Kul­tur­gut in sich ein. Die kan­ti­sche Idee des ewi­gen Frie­dens – schon längst im geis­tig mit­tel­lo­sen In­land un­an­bring­lich – stand un­ter je­nen spi­ri­tu­el­len Aus­fuhr­ar­ti­keln an ers­ter Stel­le. Un­kon­trol­lier­bar in ih­rer Ver­ar­bei­tung, nun seit zehn Jah­ren schon ein La­den­hü­ter, war sie lie­fer­bar zu kon­kur­renz­lo­sen Prei­sen und kam, die Wege des se­ri­öse­ren Ex­ports zu eb­nen, wie ge­ru­fen. An wah­re Frie­dens­qua­li­tät war nicht zu den­ken. Das rau­he haus­ge­mach­te Ge­dan­ken­ge­spinst Im­ma­nu­el Kants hat­te zwar als höchst stra­pa­zier­bar sich er­wie­sen, doch sag­te es dem brei­te­ren Pub­li­kum nicht zu. Hier galt es, dem mo­der­nen Ge­schmack der bür­ger­li­chen De­mo­kra­ti­en Rech­nung zu tra­gen, ein bun­te­res Fähn­chen auf den Markt zu brin­gen und noch dazu den Rei­sen­den zu fin­den, der über je­den nö­ti­gen Elan der Ges­te aus dem drei­mal ge­lo­cker­ten Hand­ge­lenk des Jour­na­lis­ten und des Stifts zu­gleich ver­füg­te. Daß der Re­ser­ve­leut­nant ehe­mals als Rei­sen­der be­son­ders gern ge­se­hen war, ist be­kannt. Er war in bes­se­ren Krei­sen gut ein­ge­führt. Das gilt denn auch durch­aus von Herrn von Un­ruh, der 1922 als Stadt­rei­sen­der für den ewi­gen Frie­den den Pa­ri­ser Platz be­ar­bei­tet hat. Frei­lich – und dies war da­nach an­ge­tan, für Au­gen­bli­cke Herrn von Un­ruh sel­ber stut­zig zu ma­chen ist sei­ne Ein­füh­rung in fran­zö­si­sche Krei­se vor Jah­ren bei Ver­dun nicht ohne Auf­se­hen, nicht ohne Lärm, nicht ohne Blut­ver­gie­ßen ab­ge­gan­gen. Wie dem auch sei – der Be­richt, den er vor­legt – »Flü­gel der Nike – Buch ei­ner Rei­se«1 – be­sagt, daß sei­ne Füh­lung mit dem Kun­den­krei­se sich be­haup­tet hat, auch als er nicht mehr schwe­re Mu­ni­ti­on, son­dern Frie­dens­wa­re be­mus­tert vor­leg­te. Nicht gleich be­stimmt mag sich ver­si­chern las­sen, daß die Ver­öf­fent­li­chung sei­nes Rei­se­jour­nals – die Lis­te sei­ner Kun­den und ge­tä­tig­ten Ab­schlüs­se – dem fer­ne­ren Ge­schäfts­gang von Nut­zen ist. Denn sie war nicht so­bald er­folgt, als man die Ware aus Pa­ris zu re­tour­nie­ren be­gann.

In je­dem Fal­le ist es äu­ßerst lehr­reich, den Pa­zi­fis­mus Herrn von Un­ruhs nä­her zu prü­fen. Seit­dem sich die ver­mein­te Kon­ver­genz der sitt­li­chen Idee und der des Rechts, auf de­ren Voraus­set­zung die eu­ro­päi­sche Evi­denz der kan­ti­schen Frie­dens­leh­re be­ruh­te, im Geist des 19. Jahr­hun­derts zu lö­sen be­gann, wies im­mer deut­li­cher der deut­sche »Frie­de« auf die Me­ta­phy­sik als den Ort sei­ner Grund­le­gung. Das deut­sche Frie­dens­bild ent­springt der Mys­tik. Dem­ge­gen­über hat man längst be­merkt, daß der Frie­dens­ge­dan­ke der west­eu­ro­päi­schen De­mo­kra­ti­en durch­aus ein welt­li­cher, po­li­ti­scher und letz­ten En­des ju­ris­tisch ver­tret­ba­rer ist. Die pax ist ih­nen Ide­al des Völ­ker­rechts. Dem ent­spricht das In­stru­ment der Schieds­ge­rich­te und Ver­trä­ge prak­tisch. Von die­sem großen sitt­li­chen Kon­flikt des schran­ken­lo­sen und be­wehr­ten Frie­dens­rechts mit ei­ner fried­li­chen Ge­rech­tig­keit, von al­le­dem was je im Lau­fe der Ge­schich­te dies The­ma man­nig­fach in­stru­men­tier­te, ist eben­so wie von den welt­ge­schicht­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten die­ser Stun­de in Herrn von Un­ruhs Pa­zi­fis­mus nicht die Rede. Viel­mehr sind die großen Di­ners die ein­zi­gen in­ter­na­tio­na­len Fak­ten, de­nen sein neu­er Pa­zi­fis­mus Rech­nung trägt. Im Frie­den der ge­mein­sa­men Ver­dau­ung ist sei­ne In­ter­na­tio­na­le aus­ge­brü­tet und das Gala­me­nü ist die ma­gna char­ta des künf­ti­gen Völ­ker­frie­dens. Und wie ein über­mü­ti­ger Kum­pan beim Lie­bes­mahl ein kost­ba­res Ge­fäß zer­schmeißt, so wird die sprö­de Ter­mi­no­lo­gie des kö­nigs­ber­ger Phi­lo­so­phen mit dem Tritt ei­nes Ka­no­nens­tie­fels zum Teu­fel be­för­dert und was üb­rig­bleibt ist die In­ner­lich­keit des him­meln­den Au­ges in sei­ner schö­nen al­ko­ho­li­schen Gla­sig­keit. Das Bild des be­gna­de­ten Schwät­zers mit trä­nen­den Bli­cken, wie nur Sha­ke­s­pea­re es fest­hal­ten konn­te! – Die große Pro­sa al­ler Frie­dens­kün­der sprach vom Krie­ge. Die eig­ne Frie­dens­lie­be zu be­to­nen, liegt de­nen nahe, die den Krieg ge­stif­tet ha­ben. Wer aber den Frie­den will, der rede vom Krieg. Er rede vom ver­gan­ge­nen (heißt er nicht Fritz von Un­ruh, wel­cher ge­ra­de da­von ein­zig und al­lein zu schwei­gen hät­te), er rede von dem kom­men­den vor al­lem. Er rede von sei­nen dro­hen­den An­stif­tern, sei­nen ge­wal­ti­gem Ur­sa­chen, sei­nen ent­setz­lichs­ten Mit­teln. Doch wäre das viel­leicht der ein­zi­ge Dis­kurs, ge­gen den die Sa­lons, die Herrn von Un­ruh sich ge­öff­net ha­ben, voll­kom­men laut­dicht ab­ge­schlos­sen sind? Der viel­be­ru­fe­ne Frie­de, der schon da ist, er­weist bei Licht be­se­hen sich als der eine – und ein­zig »ewi­ge«, der uns be­kannt ist – des­sen jene ge­nie­ßen, die im Krieg kom­man­diert ha­ben und beim Frie­dens­fest ton­an­ge­bend sein wol­len. Das ist denn Herr von Un­ruh auch ge­wor­den. »Wehe« ruft sein kas­san­dri­sches Kau­der­welsch über alle, die nicht zur rech­ten Zeit – das wäre etwa zwi­schen Fisch und Bra­ten – es inne wur­den, daß die »in­ne­re Um­kehr« die ein­zig passa­ble Re­vol­te ist und daß die »Re­vo­lu­ti­on des Bro­tes« und die Ma­chen­schaf­ten der Kom­mu­nis­ten zu­guns­ten ei­ner vom Sou­per ge­läu­tert sich er­he­ben­den Ge­mein­schaft der »Kom­mu­nio­nis­ten« zu­rück­zu­ste­hen ha­ben, de­ren In­nungs­schild – kein Zwei­fel das Sekt­glas sein wird. Und ak­ku­ra­ter konn­te vor Ver­sail­les der Fest­poet der Re­pu­blik sich gar nicht äu­ßern: »Wenn ich zwi­schen den ge­krön­ten gol­de­nen Git­tern ste­he – zer­rei­ßen möch­te ich sie, die­se gan­ze Buchs­bau­m­an­la­ge der Ty­ran­nei!«

Wenn eins in al­le­dem ver­söh­nend stimmt, so ist es die Pie­tät, mit wel­cher der her­an­ge­wach­se­ne Dich­ter der kleins­ten Phra­se sei­nes »Neu­ge­bau­er« oder »Ploetz« die Treue hält. In wel­che Räu­me ruft er nicht zu­rück, wo der Schwei­zer ein »Lands­mann Tells«, die Map­pe des Brief­trä­gers ein »Schick­sals­sack mit Leid und Freud« und Ap­fel­si­nen ›pur­pur­ne Son­nen­früch­te‹ ge­we­sen sind! Wie der Pen­nä­ler in der letz­ten Stun­de sich »große Män­ner« in die Schul­bank schnitzt, so fin­den wir den Dich­ter, der ver­schlief, noch im­mer über den Lek­tio­nen sei­ner Fle­gel­jah­re sit­zen. In Ge­gen­den, durch die noch Schüt­zen­grä­ben lau­fen, sieht er sich sel­ber ein­zie­hen »wie Co­rio­lan, als er in das La­ger des Au­fi­di­us kam«, und träumt sich dann im Strom der Welt­ge­schich­te wei­ter, bis er sich als den ein­zi­gen er­kennt, der den »Mut hat… sich als Win­kel­ried vor die Ge­gen­wart hin­zu­wa­gen«. Wie er so win­kel­fried­lich spinnt, er­wächst in ihm »das Schick­sal wie eine Blu­me von un­aus­sprech­li­cher Ah­nung«, da­ne­ben aber auch das duft­los blü­hen­de Kräut­chen des schlich­ten Blöd­sinns. »Das Was­ser der Mee­re wer­den wir zün­den, daß noch die Fi­sche Be­geis­te­rung ler­nen« – so setzt er’s sich und sei­nen Ka­me­ra­den vor. Dann wie­der schrillt ein Pfiff in sei­ne Träu­me­rei und löst die Bil­der pue­ri­ler Selbst­be­frie­di­gung aus. »Im­mer noch heult die Heul­bo­je wie der Schrei al­ler Frau­en, die wir un­ter uns stie­ßen, ehe sie eine Stim­me ge­habt.« Das Deutsch des Herrn von Un­ruh macht an das Ge­ha­ben der Mor­phi­nis­ten den­ken, wel­che Mahl­zeit wie Lek­tü­re und Ge­spräch auf Au­gen­bli­cke un­ter­bre­chen müs­sen, um durch die Dro­ge Le­bens­kraft sich ein­zu­sprit­zen. So bre­chen sei­ne Sät­ze jäh ab und kei­ne Pe­ri­ode fin­det zum Vor­stoß die Kraft, ehe sie nicht an den Aro­men ei­ner fau­li­gen Ding­welt noch ein­mal ge­nippt. »›Nietz­sche!‹ Der Die­ner prä­sen­tiert den ho­hen Auf­bau ei­nes Erd­beerei­ses.« »›Wol­len Sie da­mit sa­gen‹, kippt Mel­chi­or einen Grand-Mar­nier hin­ter die Zäh­ne.« Doch weil in die­sem Buch wie nir­gends sonst Gour­mets ver­sorgt und Wort und Spei­se auf­ge­fah­ren sind, von de­nen Tisch und Le­ser zum Bre­chen voll wer­den, so will auch ein er­le­se­ner Laut bis­wei­len nur un­ter dem Haut­gout des fau­len Stils ge­schmeckt sein. Dem Ken­ner würzt ein höl­der­lin­sches »O« (»daß du liebst … und Dein Auge so glänzt, das ist mir ein Wink, o ein Zei­chen«) im Sta­di­um der Ver­we­sung den Sprach­brei nur um so bes­ser.

So­viel vom Wer­de­gang des de­spe­ra­ten Stils. Von dem Bu­che aber ein Meh­re­res. Da liegt nun der Ab­hub al­ler vier­schrö­ti­gen In­ti­mi­tä­ten, de­nen der Au­tor auf sei­nem Wege hab­haft ge­wor­den ist. Ein wah­rer Schind­an­ger von Freund­schaft, Dich­ter­ruhm und Frau­en­eh­re tut sich auf und wie fri­sche Ver­stümm­lun­gen ste­chen über­all die lei­di­gen Vor­na­men her­aus. Da ist der hart ge­straf­te, der be­kla­gens­wer­te »Jaques«. Was im­mer sei­ne Schuld als Gön­ner ei­nes sol­chen Gas­tes mag ge­we­sen sein – da steht er nun als Part­ner des un­end­li­chen Ge­fa­sels und hat ge­büßt. Da sind »Agé«, sind Valéry, Drieu La Ro­chel­le: sie alle in den öden At­ti­tü­den, die auf der Schmie­re den »Cau­seur« be­zeich­nen. Da, gleich auf dem drit­ten Blatt, er­scheint – her­an­ge­winkt wie man ei­nem Chauf­feur winkt – der deut­sche »Ste­fan«. Und »die Noail­les«, von de­ren »Schen­kel« Un­ruh, sich »lang­sam aus den sei­de­nen Pols­tern he­bend«, ab­zu­rück­en ver­sucht. – Wo­hin, als in die Knei­pe, wo man nach er­le­dig­tem Ge­schäft den gu­ten Ab­schluß mit dem Kun­den fei­ert, ge­hört die­se un­ge­wa­sche­ne Ver­trau­lich­keit? An die Ge­schäftstour schließt der Bum­mel sich zwang­los an. Der Gast schleift sei­ne Wir­te durch die Stadt und vor dem Knei­pen­dunst der Ta­fel­run­de sperrt nun der Bür­ger Mund und Ohren auf, da er sich end­lich Zeu­ge wer­den sieht, wie’s un­term Künst­ler­völk­chen so frei da­her­geht. Der Ver­fas­ser rülpst sich in Her­zens­lau­ten, und in der Ehr­lich­keit sei­nes se­ra­phi­schen Pa­zi­fis­mus er­kennt der Spie­ßer freu­dig und er­staunt die so­no­re Bier­ehr­lich­keit sei­ner frü­he­ren Kom­mi­li­to­nen wie­der. Vom Abends­tern glei­tet im­mer wie­der ein trä­nen­feuch­ter Blick zum Or­dens­stern her­un­ter: denn das ei­ser­ne Kreuz ers­ter Klas­se im Krie­ge war die­ser Brust, was der Schlag des erst­klas­si­gen Her­zens dar­un­ter im Frie­den. All­mäh­lich kommt dann un­ter Schwü­ren und Ge­ständ­nis­sen die Stun­de der Zote her­auf. Durch­drin­gen­der sind Schwei­ne­rei­en in kein Ohr ge­flüs­tert und zim­per­li­cher nie­mals sti­li­siert wor­den. Doch kei­ne, der er ihre er­bau­li­che Sei­te nicht ab­ge­wön­ne. Und end­lich he­ben alle eu­ro­päi­schen Ren­kon­tres dem Schmock sich ge­gen einen Hin­ter­grund »nächt­li­cher Dir­nen« ab, de­ren grob­ge­mal­ter Pro­spekt das Rei­se­pan­ora­ma schließt. Be­wan­dert in Pa­läs­ten und in Puffs, vor Pfei­ler­spie­geln und vor Pfüt­zen gleich sehr zu Hau­se (wo im­mer ei­ner sich be­spie­geln kann: wie denn sein Bild in den ei­ge­nen Lack­schu­hen eine Ab­flucht von Tief­sinn im Au­tor wach­ruft), kann er das Fa­zit sei­ner Rei­se nicht präg­nan­ter fas­sen, als in dem Traum, von dem er uns er­zählt, daß ein fran­zö­si­scher und ein deut­scher Ge­ni­us – Ro­din und Lehm­bruck – ihn, den Frie­dens­bo­ten, un­wi­der­steh­lich nach sich zie­hen – zu zwei Hu­ren. Die Ge­schäfts­rei­se en­det als Bier­rei­se und die Völ­ker­ver­stän­di­gung geht im Dreck aus. Denn wei­ter als die Dumm­heit die­ses Buchs reicht die spie­gel­gei­le Ei­tel­keit des Ver­fas­sers, hö­her als die Ei­tel­keit des Au­tors türmt der Un­rat ei­ner Pro­duk­ti­on sich auf, an der ganz neu die theo­lo­gi­sche Er­kennt­nis sich be­währt, daß die Wer­ke der Ei­tel­keit Schmutz sind. Er ist hier über bei­de Län­der­brei­ten aus­ge­gos­sen, daß kein großer und ehr­li­cher Name mehr bleibt, der von sei­nem Ge­stank nicht durch­tränkt wäre.

Der PEN-Klub hat für Fritz von Un­ruh ein Di­ner ge­ge­ben. Ein we­nig Blut an den Flü­geln des Frie­den­sen­gels – das macht ja in Eu­ro­pa kei­nen mehr irre. Doch galt das Es­sen nur dem Frie­dens­bo­ten? Vor al­lem galt es wohl dem Au­tor Fritz von Un­ruh. An der Fest­ta­fel saß ja der Dich­ter des »Rei­ter­lie­des«.

Rei­ter­lied

Ula­nen, stolz von Lüt­zow her Mit Rei­ter­mut durch­flo­gen, Be­lei­digt ist die deut­sche Ehr’, Auf! in die Schlacht ge­zo­gen. Die Gäu­le raus, das Schwert zur Hand, Die Welt braucht uns Ula­nen, Wir stür­men frisch in Fein­des Land und hol’n uns wel­sche Fah­nen. O Da­sein, herr­lich sü­ßes Gut, Jetzt ler­nen wir dich lie­ben: Fürs Va­ter­land und deut­sches Blut Bist du dem Tod ver­schrie­ben. Stan­dar­ten hoch und vor­wärts nun, Zu re­den gibts nicht viel – Die heil­ge Pf­licht, wir wer­den sie tun, Pa­ris ist un­ser Ziel. Doch die­ser Schwur sei ernst ge­tan: Wie Gott auch bläst die Flam­men – Wir Lüt­zower stehn auf dem Plan Und hau’n die Welt zu­sam­men.

Hier regt der neue, der ver­in­ner­lich­te Pa­zi­fis­mus zum ers­ten Male sei­ne tief­schwar­zen Flü­gel. So fuhr der ers­te Schrei der Frie­dens­krä­he über die Schlacht­fel­der. Sie kam – in ih­rem Schna­bel hielt sie die Pal­me des Kleist­prei­ses. Von lan­ger Hand – B. Z. am Mit­tag, 16. Au­gust 1914 – ist Pa­ris das Ziel ge­we­sen. Es ist er­reicht.

Fritz von Un­ruh, Flü­gel der Nike. Buch ei­ner Rei­se. Frank­furt a. M.: So­cie­täts-Dru­cke­rei, Abt. Buch­ver­lag 1925. 404 S.  <<<

Alfred Kuhn, Das alte Spanien. Landschaft, Geschichte, Kunst.

Ber­lin: Ver­lag Neu­feld u. He­ni­us (1925). 184 S.

Das Buch löst sei­ne Auf­ga­be, zur spa­ni­schen Rei­se zu stim­men, in durch­aus sym­pa­thi­scher Wei­se. Es weckt die Nei­gung »eine Erde zu über­que­ren, de­ren An­blick von al­lem ver­schie­den ist, was jen­seits der Py­re­nä­en exis­tiert«, und mit Recht er­kennt die Vor­re­de in dem neu­er­wach­ten In­ter­es­se am ele­men­tar Eth­ni­schen in sei­ner en­gen Ver­bin­dung mit re­li­gi­ösen Le­bens­ver­fas­sun­gen einen Im­puls von vie­len, die sich heu­te nach Spa­ni­en auf­ma­chen. In das Land, wo afri­ka­ni­sche Kul­tur sich mit ro­ma­ni­scher mehr noch ver­schlingt als aus­ein­an­der­setzt, der Is­lam und das Chris­ten­tum sich die Ent­schei­dungs­schlacht um Eu­ro­pa ge­lie­fert ha­ben, führt der an­spruchs­lo­se Text wei­tes­te Krei­se ein. Er­freu­lich be­rührt, daß die Kunst in text­li­cher und bild­li­cher Dar­stel­lung ge­zie­mend be­rück­sich­tigt ist, ohne, wie das oft ge­schieht, so stu­pid in den Vor­der­grund zu drän­gen, daß die not­wen­di­gen to­po­gra­phi­schen, his­to­ri­schen und kul­tu­rel­len Da­ten dar­über zu kurz kom­men. Viel­mehr sind »Land­schaft, Mensch und Kunst« die drei Zen­tren, um wel­che die Dar­stel­lung sich grup­piert.

Hugo von Hofmannsthal, Der Turm.

Ein Trau­er­spiel in fünf Auf­zü­gen. (Mün­chen: Ver­lag der Bre­mer Pres­se 1925.) 158 S.

Mit sei­nem neu­en Trau­er­spiel »Der Turm« greift Hof­manns­thal auf die Ge­stal­ten­fül­le des Ba­rock zu­rück. Als der ge­heim­nis­reichs­ten ei­ner aus der Men­ge tritt Cal­de­rons Prinz Si­gis­mund in ein neu­es Le­ben. Dem Dra­ma liegt ein Stoff im emi­nen­ten Sin­ne, der des spa­ni­schen »La vida es su­eño« zu­grun­de: Das Le­ben ein Traum. Der Künst­ler aber wirkt nur in den Stoff hin­ein, in­dem er ihm ge­horcht. Heißt »dich­ten« einen Stoff zur Aus­ein­an­der­set­zung mit sich sel­ber brin­gen, so führt es oft durch eine Rei­he von Sta­tio­nen. Die großen The­men staf­feln sich in For­men, von de­nen eine in die an­de­re greift. Und nir­gends gilt dies stren­ger als im Dra­ma. Denn sei­ne Form ist ein sehr wich­ti­ger In­dex vom schöp­fe­ri­schen Wil­len ei­nes Kol­lek­tivs. Des­sen Ge­setz aber be­sagt, daß in der Span­nung zwi­schen Ur­form und Va­ri­an­te die ech­te, die pro­duk­ti­ve In­ten­si­tät sich aus­schwingt. Sie ist zu al­ler blo­ßen »Ori­gi­na­li­tät« der Ge­gen­satz. Die Zahl der frucht­ba­ren dra­ma­ti­schen Stof­fe ist be­grenzt; un­end­lich sind nur die Mo­ti­ve, die sie Form ge­win­nen las­sen. Er­fin­dung schlecht­weg ist ge­ra­de im Dra­ma­ti­schen die Pas­si­on des Di­let­tan­ten. Der glaubt in ihr die »Ori­gi­na­li­tät« ver­bürgt. Sie aber liegt, ih­rem Be­grif­fe nach, au­ßer­halb des Kraft­fel­des der his­to­ri­schen Span­nun­gen, die das ei­gens­te Le­ben des großen Dra­mas be­stim­men.

Die ge­schicht­li­che Span­nung, wie die­ses neue Werk so­wohl in sich wie im Ver­hält­nis zu dem Cal­de­ron­schen Ur­bild sie ent­fal­tet, macht ihr höchs­tes In­ter­es­se aus. Man weiß, im Mit­tel­punk­te je­nes Dra­mas steht der Traum. Ein Kö­nig­reich Po­len »mehr der Sage als der Ge­schich­te« ist dort, wie auch bei Hof­manns­thal, der Schau­platz. Da­rin­nen herrscht Ba­si­li­us als Kö­nig. Von sei­ner ver­stor­be­nen Ge­mah­lin hat er einen Sohn Si­gis­mund. Die Astro­lo­gen se­hen des­sen Ho­ro­skop voll Un­heil. Der Mut­ter brach­te er im Wo­chen­bett den Tod, der Va­ter fürch­tet wei­te­re Er­fül­lung je­nes Spruchs, der an­gibt, daß der Sohn die vä­ter­li­che Kro­ne rau­ben wer­de. Da­her ver­birgt man ihn an ei­nem ab­ge­le­ge­nen Ort. In ei­nem Tur­me wächst der jun­ge Si­gis­mund her­an. Mit nie­man­dem als sei­nem Wär­ter darf er re­den, nicht frei um­her­ge­hen, Ket­ten schmie­den ihn an sein Ge­fäng­nis. Der vä­ter­li­che Arg­wohn des Ty­ran­nen steht bei Cal­de­ron, dem ho­hen Funk­tio­när an Phil­ipps Hofe, nicht au­ßer al­lem Ver­hält­nis zu Na­tur- und Staats­recht. In sei­ner Weis­heit gibt viel­mehr der Fürst dem Prin­zen die Ge­le­gen­heit zu ei­ner Pro­be. Den Schla­fen­den ent­führt man auf das vä­ter­li­che Schloß, und hier er­wacht er, wird als Prinz be­grüßt und zeigt in Spiel und Ge­gen­spiel sein wah­res We­sen. Zorn, Wol­lust, Miß­gunst, Hoch­mut bre­chen aus dem In­nern des fürst­li­chen Ca­li­ban. Es bleibt nichts üb­rig als ihn zu ent­fer­nen und dem von neu­em in die Ker­ker­nacht ver­senk­ten »Dies al­les ist ein Traum ge­we­sen« ein­zu­schär­fen. Was kommt, ent­schei­det sich in die­ser zwie­fach ir­rea­len Schicht ver­mein­ten Träu­mens. Der Prinz im Grü­beln, de­kre­tiert am Ende: »Doch sey’s Traum, seys Wahr­heit eben: / Recht thun muss ich; war’ es Wahr­heit, / Dess­halb, weil sie’s ist; und war’ es / Traum, um Freun­de zu ge­win­nen, / Wenn die Zeit uns wird er­we­cken.« Da ruft der Va­ter aus frei­en Stücken ihn auf den Thron, der Spruch der Wei­sen er­füllt sich zu al­ler Glück, die Dro­hung der dä­mo­ni­schen Na­tur aber hat christ­li­che Vor­sicht ver­ei­telt.

Dies ist der Stoff, der um neu­es Le­ben den Dich­ter an­ging. Der Traum als An­gel­punkt his­to­ri­schen Ge­sche­hens – das ist sei­ne fas­zi­nie­ren­de, be­fremd­li­che For­mel. Was konn­te Hof­manns­thal be­stim­men, ih­rem Auf­ruf zu ent­spre­chen? Durch das, was nur »Va­ri­an­te« ei­nes Stof­fes ist, glückt ihm, aufs tiefs­te eine Form zu wan­deln, zu be­we­gen. Cal­de­ron schrieb ein »Schau­spiel«, in dem die spie­le­ri­schen, die ro­ma­nisch-ro­man­ti­schen Mo­men­te zu er­staun­lichs­ter Ent­fal­tung kom­men. Der Spa­nier um­reißt die gan­ze, höchst ba­ro­cke Span­nung sei­nes Stof­fes in­ner­lich. Als Re­fle­xi­on, in der Vo­lu­te rollt er ihn zu­sam­men. Im »Turm« ist, was sich dort ver­schlun­gen, auf­ge­rollt. Die Un­na­tur je­ner vä­ter­li­chen Ge­walt, das Mar­ty­ri­um die­ses prinz­li­chen Da­seins sind beim Na­men ge­nannt. Viel­mehr in ei­ner – auch im Thea­tra­li­schen – un­ver­gleich­li­chen Haupt­sze­ne nen­nen sie sich sel­ber beim Na­men. In den Schran­ken die­ser neu­en »Traum­sze­ne« rast nicht die blin­de Krea­tur sich aus, die lei­den­de hält über ih­ren Pei­ni­ger Ge­richt. Und da der Va­ter aus Grün­den der Staats­rä­son – um eine Re­bel­li­on zu stil­len – sei­nen Sohn zu sich er­he­ben will, schlägt Si­gis­mund ihm ins Ge­sicht. »Wer bist du Sa­tan, der mir Va­ter und Mut­ter un­ter­schlägt? Be­glau­bi­ge dich?« Da­mit hat die Funk­ti­on je­nes Traums sich im tiefs­ten ge­wan­delt. Wo er bei Cal­de­ron, wie ein Hohl­spie­gel, in ei­nem un­er­meß­li­chen Grun­de die In­ner­lich­keit als tran­szen­den­ten sie­ben­ten Him­mel auf­rei­ßt, da ist bei Hof­manns­thal er eine wah­re­re Welt, in wel­che ganz und gar die Wach­welt hin­ein­wan­dert. »Wir wis­sen von kei­nem Ding wie es ist, und nichts ist, von dem wir sa­gen könn­ten, daß es an­de­rer Na­tur sei als un­se­re Träu­me.« »Sie ha­ben zu mir ge­sagt: du hast ge­träumt und im­mer wie­der: du hast ge­träumt! Da­durch, wie wenn ei­ner einen ei­ser­nen Fin­ger un­ter den Türan­gel steckt, ha­ben sie vor mir eine Tür aus­ge­ho­ben und ich bin hin­ter eine Wand ge­tre­ten, von wo ich al­les höre, was ihr re­det, aber ihr könnt nicht zu mir und ich bin si­cher vor eu­ren Hän­den!« Durchaus hat al­les sich im Wirk­li­chen zu­sam­men­ge­zo­gen wie un­ter der Ein­wir­kung ei­ner ät­zen­den Ein­sicht. Das brei­te Lie­bes­s­piel der spa­ni­schen Büh­nen­tra­di­ti­on ist eben­so da­hin­ge­fal­len wie die tran­szen­den­te Mora­li­tät des Traum­le­bens. Hof­mannst­hals Sze­nar kennt kei­ne be­deut­sa­me­re Frau­en­rol­le. Ein männ­li­ches Ne­ben­spiel tritt an den Platz der par­al­le­len Lie­bes­hand­lung. Ju­li­an, der für den Prin­zen haf­tet, ihn be­wacht, liebt Si­gis­mund und sucht den­noch zu­gleich für den Ehr­geiz sei­nes ei­ge­nen Stre­bens ihn aus­zu­nut­zen. Der Mann, dem nichts als ein win­zi­ges Aus­set­zen des Wil­lens, ein ein­zi­ger Mo­ment der Hin­ga­be fehlt, um des Höchs­ten teil­haft zu wer­den, ist nie so leib­haft über die Bret­ter ge­gan­gen. Sein Ge­gen­spie­ler, der Arzt, Herr sei­ner Kunst und Kun­di­ger von ih­ren tiefs­ten Grün­den, eine pa­ra­cel­si­sche Er­schei­nung, der sei­nes­glei­chen, sei­nen Obe­ren in der blö­den Krea­tur er­kennt, als wel­che Si­gis­mund am An­fang der Ge­scheh­nis­se, fast ohne Sprach­ver­mö­gen, aus dem Tur­me ihm ent­ge­gen­kommt.

Die­ses Dra­ma ist ein wei­te­res, ent­schie­dens­tes Vor­drin­gen in ei­nem Be­zirk, der gleich sehr dem dra­ma­ti­schen Ge­stal­ten sei­nes Dich­ters wie der neue­ren Sze­ne schlecht­weg vor­be­stimmt scheint. Das »Vor­tra­gi­sche« mag man ihn nen­nen. Aus dem Ri­tu­al ist das Dra­ma er­wach­sen, Ur­ty­pus der dra­ma­ti­schen Span­nung die Span­nung zwi­schen Wort und Ak­ti­on. Nicht was man in läß­li­cher Rede so nennt: nicht eine Span­nung im Be­reich der Wor­te sel­ber (nicht die der De­bat­te) noch auch die des sprach­lo­sen Rin­gens (des Kamp­fes schlecht­hin) ist dra­ma­tisch. Das ist al­lein die Span­nung des Ri­tuals, die zwi­schen Tun und Rede sel­ber, im Po­la­ren, über­springt. Dem so ver­stan­de­nen in­ner­lichs­ten Zir­kel des Dra­ma­ti­schen ist selbst das Tra­gi­sche schon äu­ßer­lich. Es trägt die Span­nung zwi­schen Leib und Spra­che – von Ak­ti­on und Wort – rein sprach­lich aus und die De­bat­te als ein Spä­te­res, ein Ve­rein­zel­tes und als Va­ri­an­te des Dra­ma­ti­schen schlecht­weg kommt auf. Die­ses Dra­ma­ti­sche selbst aber ist ein Vor­tra­gi­sches. Als »Ödi­pus«, »Elek­tra« und »Al­kes­tis« des Dich­ters vor mehr als zwan­zig Jah­ren er­schie­nen, da dräng­te eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der grie­chi­schen Tra­gö­die ans Licht, wie sie der ba­ro­cken Dra­ma­tik in Opitz’ »Troe­rin­nen« vor­an­ge­gan­gen war. In ganz Eu­ro­pa wuchs da­mals die neue Form, die sich in Deutsch­land als das »Trau­er­spiel« wenn nicht am reins­ten so am ra­di­kals­ten präg­te. Ein »Trau­er­spiel« heißt nicht um­sonst der »Turm«. Und so ent­sagt er der Chi­mä­re ei­ner neu­en »Tra­gik«. Was er im Prin­zen Si­gis­mund be­schwört, das ist vor al­lem der ge­schun­de­ne Leib des Mär­ty­rers, dem ge­ra­de Spra­che – nicht um­sonst – sich wei­gert. Da­mit nimmt die­ses letz­te Dra­ma des Dich­ters die kost­ba­re Tra­di­ti­on der deut­schen Büh­ne so kühn wie si­cher an dem Punk­te auf, wo sie der Klas­si­zis­mus un­ter­brach. Und wenn die Dra­ma­tur­gen (die doch wahr­lich nicht Über­fluß an ed­len Ma­te­ria­li­en ha­ben) den Stof­fen min­der als den Kräf­ten neu­er Tex­te das wahr­haft Recht­zei­ti­ge ab­zu­mer­ken trach­ten wür­den, so wäre viel­leicht ge­ra­de die­ses Werk heu­te schon über die deut­schen Büh­nen ge­gan­gen. Es sind Sze­nen dar­in­nen, wel­che die ge­wal­ti­gen An­for­de­run­gen an Dar­stel­ler und Spi­el­lei­ter mit der tiefs­ten Er­schüt­te­rung des Pub­li­kums loh­nen wür­den. Der blu­ti­ge Kö­nig, wie er sich, gleich Sha­ke­s­pea­res Clau­di­us ins Ge­bet, in die Schön­heit ei­nes Herb­sta­bends ver­liert; der Prinz, wie er vorm Al­ko­ven sei­ner Mut­ter zu­rück­schau­ert und doch nicht weiß, wo­vor er sich be­fin­det; Ju­li­an, sein Wäch­ter, wie der Arzt ihm die Ent­schei­dungs­fra­ge stellt.

Das alte Trau­er­spiel schlug sei­nen Bo­gen zwi­schen Krea­tur und Christ. In des­sen Schei­tel­hö­he steht der voll­kom­me­ne Prinz. Wo Cal­de­rons christ­li­cher Op­ti­mis­mus den sah, da zeigt sich der Wahr­haf­tig­keit des neue­ren Au­tors Un­ter­gang. Si­gis­mund geht zu­grun­de. Die dä­mo­ni­schen Ge­wal­ten des Turms wer­den sei­ner Herr. Die Träu­me stei­gen aus der Erde auf und der christ­li­che Him­mel ist längst aus ih­nen ge­wi­chen. Im Aufruhr tritt ein sa­gen­haf­ter »Kin­der­kö­nig« die wah­re Erb­schaft die­ses Prin­zen an, wie For­tin­bras die Ham­lets in der Thron­be­stei­gung. Im Geist des Trau­er­spiels hat der Dich­ter den Stoff des Ro­man­ti­schen ent­klei­det und uns bli­cken die stren­gen Züge des deut­schen Dra­mas dar­aus ent­ge­gen.

Hans Bethge, Ägyptische Reise. Ein Tagebuch.

Ber­lin: Eu­pho­ri­on Ver­lag (1926). 156 S., 48 Abb.

Durch die form­voll­en­de­te Ge­stal­tung, die al­len Er­zeug­nis­sen die­ses Ver­la­ges eig­net, lädt das Buch zum Blät­tern ge­ra­de­zu ein. Die schö­nen Pho­to­gra­phien (von Ernst Ra­thenau) sind an­spre­chend und ex­akt wie­der­ge­ge­ben. Lei­der ist der Text trost­los. Es be­lei­digt das Auge, ein Bet­tel­deutsch, das auf Ro­ta­ti­ons­pa­pier ge­hört, auf solch ed­lem Ma­te­ri­al fest­ge­hal­ten zu se­hen. Be­reits in »Ge­nua«, ei­nem »Er­eig­nis von star­kem und be­son­de­rem Reiz«, macht man auf al­ler­hand im wei­te­ren Ver­lauf der Rei­se sich ge­faßt. Im Lan­de sel­ber gibt es – bei­spiels­wei­se eine Mu­se­ums­füh­rung, ge­gen die das Kau­der­welsch des lau­sigs­ten Frem­den­füh­rers Mu­sik ist. »Die ägyp­ti­sche My­tho­lo­gie war im­mer ver­wor­ren, die Re­li­gi­on von den Pries­tern nie­mals in ein fes­tes Sys­tem ge­bracht, es glei­tet al­les et­was un­ge­wiß durch­ein­an­der … Wenn ich Bild­hau­er wäre und soll­te den Gott des Wei­nes oder den Gott der Schön­heit dar­stel­len, ich glau­be nicht, daß ich ihn we­sent­lich an­ders bil­den könn­te als die Grie­chen den Bac­chus oder den Apol­lo ge­bil­det ha­ben. Aphro­di­te als Göt­tin der Lie­be: ja. Ha­thor, die ägyp­ti­sche Aphro­di­te mit dem erns­ten Kuh­ge­sicht: nein. Für die tier­köp­fig dro­hen­de Göt­ter­welt der Ägyp­ter ist kein Raum in un­se­rer Phan­ta­sie.« Aber schließ­lich ist Beth­ge kein Bild­hau­er. Und ganz zu Hau­se ist er erst auf kri­ti­schem Ge­biet. »Wer sich an ei­nem To­ten rä­chen und ihn aus den Won­nen des Pa­ra­die­ses ver­trei­ben woll­te, brauch­te nur sei­nen Na­men weg­zu­mei­ßeln, und der Arme war der Ewig­keit ver­lus­tig. Das sind sehr kind­lich-pri­mi­ti­ve Vor­stel­lun­gen, die man mit der Idee der Uns­terb­lich­keit ver­knüpf­te.« Nein, Herr Ver­fas­ser! Das sind sehr kind­lich pri­mi­ti­ve Vor­kennt­nis­se für eine Rei­se nach Ägyp­ten. So daß man sich gar nicht wun­dern kann, von dem Pha­rao My­ke­ri­nos zu hö­ren: »Er muß ein sym­pa­thi­scher Mensch ge­we­sen sein.« Wo­mit man denn wohl­be­hal­ten auf dem »An­hal­ter Bahn­hof« sich wie­der­fin­det. Doch in uns klingt, was wir da un­ten in dem fer­nen Wun­der­land ge­se­hen und ge­hört noch nach: Beth­ge als Schmock: ja. Beth­ge als Schrift­stel­ler mit dem erns­ten Kuh­ge­sicht: nein.

»Bella«1

En Mé­di­ter­ranée – par les Mes­sa­ge­ries Ma­ri­ti­mes. So lädt der Rücken die­ses Bu­ches ein, wenn Bel­las Le­ben vor dem Le­ser ab­ge­lau­fen ist. Man kann nicht bes­ser ihr Ge­dächt­nis fei­ern. Beim Le­sen geht man ge­gen stei­fen See­wind an, und über den Din­gen, auf die man trifft, liegt eine Salz­krus­te.

Der Press­e­chef im Pa­ri­ser Mi­nis­te­ri­um des Aus­wär­ti­gen, Jean Gi­rau­doux, nimmt kei­nen nom de guer­re an, wenn er Ro­ma­ne schreibt (von Fa­b­re-Luce er­scheint so­eben die po­li­ti­sche Ro­man­ze »Mars« un­ter dem schö­nen Dich­ter­na­men Jac­ques Sin­dral). Gi­rau­doux bleibt als Au­tor hoch­ge­stell­ter Funk­tio­när und be­an­sprucht den tech­ni­schen Ap­pa­rat ei­nes Bü­ros für sei­ne Phan­ta­sie min­des­tens eben­so­sehr wie in der Wahr­neh­mung sei­ner Be­rufs­ge­schäf­te. Man möch­te sei­ne Sa­chen sich im Amt ge­schrie­ben den­ken. Oder in ei­ner Dicht­er­schu­le als »the­me en clas­se«. Er sel­ber muß aufs glück­lichs­te er­fah­ren ha­ben, was er von den ge­lehr­ten Brü­dern Du­bar­deau be­merkt:

»Sie konn­ten ohne das all­täg­li­che Bad in ei­ner Flut Ver­trau­ter, Halb-Be­kann­ter, Flut von Stim­men und von Lä­cheln nicht aus­kom­men. Es war auch nicht nur Sa­che der Ge­wohn­heit, wes­we­gen sie im Lärm, in Zim­mern, wel­che auf den Kor­ri­dor hin­aus­ge­hen, stu­die­ren muß­ten, wo im­mer Leu­te vor­bei­ka­men, Leu­te, die Du­rand oder Du­pont, Bloch oder Becha­mort, La Ro­che­fou­cauld oder Uzès hie­ßen. Die Mensch­heit war das Fer­ment, das ihre Ver­su­che ge­lin­gen ließ. Bei all ih­ren Ex­pe­ri­men­ten über Gas­mi­schun­gen, hy­bri­de Pflan­zen, die Le­bens­fä­hig­keit des neu­en Ös­ter­reich, hät­ten sie der Auf­zäh­lung der Mi­schungs­be­stand­tei­le bei­fü­gen kön­nen, ›ich neh­me hin­zu: einen Men­schen.‹ Die An­we­sen­heit ei­nes be­lang­lo­sen In­di­vi­du­ums La­ba­ville hat­te beim Ge­lin­gen der Syn­the­se den Aus­schlag ge­ge­ben. Wenn La­ba­ville mit sei­nen Knöp­fen und sei­ner Kasch­mir­kra­wat­te nicht da war, ar­bei­te­te On­kel Karl nicht gut. Sie alle brauch­ten ein Ge­sicht als Fe­der-Wi­scher oder Blick-Wi­scher, wenn sie die Au­gen von den che­mi­schen Syn­the­sen oder den Gif­ten, die da wirk­ten, er­ho­ben. Ja selbst der Astro­nom brauch­te am Abend, wenn er dem Fir­ma­men­te ge­gen­über­stand, den blas­sen Kopf von ei­nem Se­kre­tär in sei­ner Nähe.«

Der Au­tor sel­ber ist von die­sem Stamm und schlägt in sei­nem Bu­che sich zu ihm. Als Nef­fe nimmt er an den Kämp­fen teil, die Re­ben­dart, Mi­nis­ter­prä­si­dent, den großen, frei­ge­sinn­ten Brü­dern lie­fert. Das Ur­bild die­ses Re­ben­dart heißt Poin­caré, und die Ge­stalt, die sich im Pris­ma der sechs Brü­der bricht, ist Bert­ho­lots. Denn gern setzt Gi­rau­doux ein Kol­lek­tiv an Stel­le ei­nes In­di­vi­du­ums. Die Re­ben­dart er­schei­nen eben­falls als Grup­pe. Der Haß, der sie mit pri­mi­ti­ver Ver­ve zeich­net, hat ih­ren Größ­ten, Hen­ri Poin­caré, den Ma­the­ma­ti­ker, zu­guns­ten je­ner Brü­der­grup­pe an­nek­tiert. Was üb­rig­bleibt, ist eine gott­ver­las­se­ne Sip­pe, die auf dem Lan­de ihre Exis­tenz ver­trau­ern muß, um nicht die we­ni­gen aus ih­rer Mit­te, die in der Haupt­stadt eine Rol­le spie­len, bloß­zu­stel­len. Die Zeich­nung die­ses Mi­nis­ter­prä­si­den­ten er­schöpft ihr Mo­dell, wie eine chi­ne­si­sche Mar­ter den Sträf­ling. »Alle Sonn­ta­ge stand er zu Fü­ßen ei­nes je­ner guß­ei­ser­nen Sol­da­ten, die leich­ter als er selbst zu­recht­zu­häm­mern wä­ren, hielt sei­ne Rede und gab vor zu glau­ben, die To­ten hät­ten sich nur et­was ab­ge­son­dert, um über die Sum­men, die Deutsch­land schul­det, sich schlüs­sig zu wer­den.«

Im po­li­ti­schen Feld­la­ger spielt ein Lie­bes­kom­plott. Der Ro­meo – Phil­ipp, der Be­richt­er­stat­ter – auf Sei­ten sei­ner auf­ge­klär­ten On­kel, die Ju­lia – Bel­la, eine jun­ge Wit­we – die Schwie­ger­toch­ter Re­ben­darts. Von die­ser Lie­bes­hand­lung wird das sü­ßes­te Ge­flecht im Bu­che nicht ge­wo­ben, son­dern auf­ge­trennt. Denn bei­de ha­ben, eh noch die Er­zäh­lung ein­setzt, sich ge­hört und kann­ten nicht den wah­ren Na­men von­ein­an­der. Nun bringt der Streit der Ca­pu­let und Mon­ta­gu nur Trüb­sal, Gram, Ent­frem­dung zwi­schen bei­de. Nicht all­zu­oft er­scheint in der Ge­schich­te Bel­la selbst; es ist dar­in von der Rück­sicht des Lieb­ha­bers et­was, der sei­ne Freun­din un­ter Leu­ten nicht er­mü­den will. Seit­dem sie um­ein­an­der wis­sen, sind sie stumm. Die Sze­ne – der be­gna­de­te Ver­rat der Bel­la – die ih­nen vor­ein­an­der und den an­dern die Spra­che wie­der­gibt und Re­ben­dart im Au­gen­bli­cke, da sein An­schlag fäl­lig ist, ent­waff­net, wird der Tod der Frau. Ihr platzt ein Blut­ge­fäß in der Er­re­gung.

Der Er­zäh­ler aber ver­liert nicht den Atem. Er saugt nur tiefer das ge­lieb­te Le­ben in sich und wen­det die Ge­schich­te Bel­las Va­ter zu, ver­folgt die Lie­be in der Deszen­denz, steigt zu den Quel­len, en­det im Mo­tiv der son­der­bars­ten vä­ter­li­chen Trau­er, in der die Toch­ter ih­ren Va­ter neu be­lebt.

In die­ses Grad­netz wur­de die ge­naues­te Ge­schich­te ein­ge­tra­gen. In kei­ner frü­he­ren konn­te ähn­lich scharf, worum es Gi­rau­doux zu tun ist, sich ent­fal­ten. Selbst hier be­nimmt der Zau­ber der un­glaub­lich leich­ten Hand, die das Ge­sche­hen wie einen Fal­ten­wurf zu­recht­rückt, dem Le­ser bei­na­he den Be­griff von die­ser Kunst und Form. Sie ist – mit ei­nem Wor­te es zu sa­gen – die schöns­te Ak­tua­li­sie­rung der Kreuz­wort­rät­sel. (Mi­thin: ganz ei­gent­lich in ein Sche­ma ein­ge­schrie­ben.) Wenn dort Wor­te sich in den Buch­sta­ben schnei­den, so ste­hen hier Bil­der, wel­che un­ter sich im Ding, im Na­men, im Be­griff sich über­que­ren. Ein Rät­sel, des­sen ge­lös­tes Bild die wil­des­ten Züge des po­li­ti­schen und ero­ti­schen Kamp­fes in sei­nen atem­rau­ben­den Kreu­zun­gen gibt. Aus­schnit­te die­ser Kreuz­wort­me­ta­pho­rik: das Par­la­ment ist Rie­sen­schreib­ma­schi­ne, an de­ren Kla­via­tur der Prä­si­dent sitzt; so leicht wie eine Urne trägt sich das Dos­sier mit ei­nem To­des­ur­teil; ein Baum ist Grab­mal und zu­gleich tri­go­no­me­tri­sches Si­gnal. »Le Puzz­le du pa­ra­dis per­du par l’hom­me« stellt in sol­chen Bruch­stücken sich wie­der her.

Auf sol­che Wei­se öff­net man in Frank­reich die Archi­ve. Zer­leg­bar ist das Per­so­nal sel­ber, und der po­li­ti­sche Mensch tut sich auf wie ein Safe. Eine Frau­en­hand greift hin­ein und langt einen Pa­cken mit Lie­bes­brie­fen her­aus. Man wird in Mos­kau die­ses Buch ver­schlin­gen.

Jean Gi­rau­doux, Bel­la. Hi­stoire des Fon­tran­ges. Pa­ris: Ber­nard Gras­set (1926). 244 S.  <<<