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1899 Mit einem dröhnenden Kopf und massiven Erinnerungslücken kommt Daniel zu sich. Wem er vertrauen kann weiß er nicht mehr, ihm wird eingeredet, dass er einen Unfall hatte! Warum sind Daniels Eltern verschwunden? Was haben diese Albträume zu bedeuten die ihn immer wieder heimsuchen? Und was hat das diabolischen Rauschen, Zischen und Klopfen zu bedeuten? Nur noch Erinnerungsfragmente, Flashbacks und sein bester Freund Kröte können ihm dabei helfen die Wahrheit herauszufinden. Sind das nur die Fantasien eines heranwachsenden jungen Mannes oder steckt dahinter etwas weitaus Größeres, etwas das am Ende unser aller Schicksal bestimmen wird?
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Seitenzahl: 238
Veröffentlichungsjahr: 2023
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1899
Rausch… Zisch… Klopf…
Kopfschmerzen, Erinnerungslücken. Daniel kommt in einer Welt zu sich, die ein Netz aus Lügen und dämonischen Erscheinungen um ihn spannt! Nur noch Erinnerungsfragmente, Flashbacks und sein Freund Kröte können ihm dabei helfen seine Eltern zu suchen und die Wahrheit herauszufinden.
Sind das nur Fantasien eines verwirrten Kindes oder steckt dahinter etwas das am Ende unser aller Schicksal bestimmen wird?
Erwachen
1918
Abgefangen
Ersetzt
Großeltern
1930
Vereinigung
Stiefel
Aufklärung?
1942
Erste Etage
Erinnern
1965
Dusche
Nachwort
Es rauscht ganz leise, alle weinen. Es klopft ganz zart, Panik zieht Kreise. Dann zischt es ganz sanft und in den Schreien, die Stille verdampft!
Ein reißendes Einatmen flutet meine Flügel mit toxischem Sauerstoff und zieht mich in eine diabolische Welt, die sich mir zunächst nur schemenhaft offenbart. Dunkle Schleier bedecken die eisige Nacht, die sich in Stille und teuflischer Unruhe hüllt. Ein Wispern des Bösen liegt in meinen Ohren und kriecht bis in mein verschüchtertes Herz. Gefesselt stehe ich da, unfähig der bedrückenden Szenerie zu entkommen. Ein Gefängnis aus Angst und Terror, das keiner physischen Blockade bedarf. Fester, schwarzer, zäher Morast tränkt die Wiese unter mir mit Tod und Verderben. Ein Nährboden als Grundlage, für das Übel das mir noch bevorsteht. Ironisch willkommen heißen mich die tödlichen Fangarme der fast schon menschlichen Tannen, die sich pedantisch in Reih und Glied vor mir aufstellen. Lächelnd grüßend, aber mit Gier greifend nach meinem Fleisch, strecken sie sich verbissen in meine Richtung. Das Toxikum in der Luft dringt immer weiter in meinen Körper ein und senst mir Stück für Stück das Leben aus meinem Leib. Unkontrollierter Hustenreiz stellt den verzweifelten Versuch dar, dem Verderben zu entkommen. Hilflos kämpfend, will ich meinen Körper aus den unsichtbaren Fesseln lösen. Aussichtslos, es gibt kein Entkommen!
Plötzlich spüre ich wie etwas mein Füße greift und mit gluckerndem Stöhnen mir von unten entgegenruft. Verstört blicke ich langsam meinen Körper hinab. Aus dem Boden überall um mich herum erstrecken sich Hände und Arme aus dem Boden die nach mir greifen. Zwischen ihnen drücken sich Gesichter, bedeckt mit der Teer artiger Flüssigkeit und versuchen zu schreien. Doch die Substanz klebt auch in ihrem Mund und lässt nur ein gurgelartiges, verzweifeltes Schreien hinaus. Panisch versuche ich meine Füße aus ihren Fängen zu reißen, doch zu fest umschlossen sitzen ihre knochigen Griffe. Das Adrenalin durchzieht meinen ganzen Körper und panisch schlage ich um mich, zerre und drücke, doch ohne Erfolg. Als ich schon fast aufgeben will, spüre ich zwei Hände auf meinen Schultern, die mich von hinten packen und in Richtung des Waldes drücken. Die Gestalten die aus dem Boden hervorkrochen und mich vor ein paar Sekunden noch fast in Stücke gerissen haben, versinken mit gequältem Ausdruck wieder im Boden. Bis auch der letzte von ihnen mit leisem gluckern versunken ist, höre ich nicht auf auf den Boden zu starren. Erleichtert fühle ich mich nicht im geringsten, ich weiß immer noch nicht wer hinter mir steht und mich nach vorne drückt. Meinen Kopf kann ich nicht drehen, als wäre ich in einer art Starre. Es geht nur immer weiter nach vorne, Schritt für Schritt in Richtung der hölzernen Bedrohung. Stolpernd, keuchend gebe ich mich der unbekannten Macht hin, wohlwissend, dass Widerstand gegen den Druck in Richtung Verderbnis zwecklos ist.
Nervös strecken sich die Tannen in meine Richtung, ungeduldig wartend auf ihre Beute. Das Knarzen ihrer Gelenke füllt die Stille mit schreiender Gier. Unruhiges Gemurmel drängt sich zu den Schreien der Tannen. Undefinierbare Wortfragmente fügen sich immer mehr zu Wörtern zusammen. In einer Schleife gefangen, werden die Worte wiederholend lauter und versuchen helfend zu mir durchzudringen. Zum Greifen nah sind mir jetzt die hölzernen Finger, die lechzend danach streben, mich in tausend Stücke zu zerfetzen. Aus ihren Rinden drückt sich eine schwarze Flüssigkeit, die kocht und dampft und langsam an ihren vermoderten Stämmen herunterläuft. Die Stimme, sie wird immer lauter, aber ist immer noch kaum zu verstehen. Sie Rauscht in meinen Ohren und verbreitet nichts als Verunsicherung. Ein Teppich aus schmerzenden Klängen, vibrierend im unendlichen Chaos. Aber dann fügt sich ein klares Klangbild zusammen und ich vernehme die Worte jetzt laut und deutlich: „Daniel, du musst aufwachen!“.
Schlagartig öffne ich meine Augen und stelle voller Genugtuung fest, dass ich nur in einem Albtraum gefangen war. Dieser kleine Höllenritt hat sich verdammt real angefühlt. Instinktiv sauge ich so viel Luft ein wie ich nur kann, um die Schönheit sauberen Sauerstoffes in mir aufzunehmen, doch mein genüsslicher Atemzug verwandelt sich in einen grässlichen Hustenanfall. Als wären noch Partikel der toxischen Luft aus dem Traum in den Poren meiner Lunge gefangen, die jetzt langsam aus ihrem Versteck gerissen werden. Aber das ist unmöglich, ich habe doch nur geträumt und doch scheint es, als würde mich der dämonische Griff noch nicht in Gänze losgelassen haben. Noch immer spüre ich den Griff an meiner Schulter, er lässt langsam locker, aber ich bin mir sicher dass er noch da ist. Nach ein paar Momenten des Röchelns, beruhigt sich meine Lunge und ich schaue erschöpft nach oben.
Sanft gleiten ein paar zarte Wolken im himmelblauen Ozean vorbei und verbreiten friedlich ihren ganz eigenen Scham. Ein gelungenes Kontrastprogramm, zu der grausamen Welt die sich mir noch vor ein paar Momenten offenbarte. Noch liegt der Schleier des Schlafes über meiner Iris und mein Sichtfeld wirkt noch etwas milchglasig. Meine liegende Haltung, vermittelt schon fast den Eindruck, als würde ich meine Freiheit genießen und mich etwas in den eindringenden Strahlen der Sonne verwöhnen lassen. Nur dass ich nicht freiwillig hier liege und mich auch nicht daran erinnern kann, mich jemals hier hin gelegt zu haben. Ich senke meinen Kopf etwas und überprüfe meine Umgebung.
Erst jetzt sehe ich über mich gebeugt, einen älteren Herrn, der mich mit besorgter Miene anblickt. Die Sorge in seinem Blick wird gedämpfter, seine greifende Hände senkt er vorsichtig in eine passive Haltung und er richtet sich langsam auf. „Da hast du uns ja einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“, sagt er, während er in einer Mischung aus Zufriedenheit und Hysterie lacht. Die Kinder, die in einem dichten Kreis um mich herumstehen, können diese Erleichterung scheinbar noch nicht teilen. Sie starren mich noch immer mit weit aufgerissenen Augen an, als wäre ich besessen oder ein Außerirdischer. Ich richte mich vorsichtig auf und begebe mich in eine sitzende Position. Mein Kopf dröhnt unerträglich und meine Umgebung kann ich immer noch nur sehr verschwommen wahrnehmen. Es fühlt sich an wie ein Anfall einer Migräne, der sägenartig mein Gehirn durchtrennen möchte. Zu allem Elend spüre ich, wie sich zusätzlich Magensäure meinen Hals herauf schlängelt und ich den soeben erlebten, düsteren Traum am liebsten mitsamt meines Mageninhalts erbrechen möchte. Doch eine Sache beunruhigt mich noch viel mehr: Mir will einfach keine Erinnerung kommen!
Als ich jünger war, ist mir so etwas schon einmal passiert. Ich bin mit meinen Vater Zug gefahren. Es war ein extrem heißer Tag und die Sonne hat die Waggons unerbittlich aufgeheizt. Bei so einem Wetter wollen natürlich alle Leute irgendwo hin und ihre Freizeit genießen, dementsprechend voll war auch der Waggon. Eng gedrängt standen wir also in unserem Abteil und haben so vor uns hin geschwitzt. Mein Kreislauf war extrem angeschlagen und ich war sehr wackelig auf den Beinen. Plötzlich ist ein Mann in Uniform recht zügig durch unser Abteil gelaufen und hat mich angerempelt. Er muss mich bei den vielen Menschen einfach übersehen haben. Ich konnte den Stoß in meinem geschwächten Zustand nicht auffangen und bin rückwärts mit dem Kopf gegen die Zugwand geknallt. Für ein paar Minuten war ich komplett weggetreten, bis mir ein kalter Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet wurde. In den ersten Minuten wusste ich nicht einmal mehr wie ich heiße, ich war völlig frei von Erinnerungen. Im Laufe des Tages sind dann meine Erinnerungen langsam wieder zurückgekommen, als wären sie in Nebel gehüllt gewesen, der durch eine leichte Brise Stück für Stück weggeweht wurde. Doch jetzt fühlt es sich irgendwie anders an. Entweder weiß ich etwas sehr präzise oder es fehlt jegliche Erinnerung dazu. Meinen Namen, mein Alter kann ich so im Kopf runterbeten, doch die Vornamen meiner Eltern fehlen komplett. Das Gesicht meiner Mutter, könnte ich in feinsten Details aufzeichnen, doch wie mein Vater aussieht will mir nicht einfallen. Als wären manche Türen zu meinen Erinnerungen einfach abgeschlossen.
Ich reiße mich zusammen und frage den freundlich aussehenden Mann mit bebender Stimme: „Was ist passiert?“. Er lächelt mich zögerlich an und erklärt mir, dass ich ohnmächtig geworden sei. „Seit deinem Unfall passiert das leider immer wieder. Du weißt ja, dein Kreislauf ist seitdem etwas instabil“. Ehrlich gesagt weiß ich überhaupt nicht wovon er da redet! Ich weiß nicht, wo ich bin, ich weiß nicht wer der Mann ist und erst recht weiß ich nicht, von was für einem Unfall er spricht! Wie ein Schwarm Insekten unter der Haut, verbreitet sich Panik in meinem Körper. Verlorensein beschreibt nicht mal im Ansatz was ich gerade fühle. Er scheint mir meine Unruhe anzusehen und versichert, dass nach so einem Zusammenbruch eine gewisse Orientierungslosigkeit völlig normal sei. Verwundert schaue ich an dem Mann vorbei und starre in die Ferne. Mein Denken scheint blockiert, als würden sich immer mehr Türen in meinem Kopf schließen. Es geht nicht vor und nicht zurück und daher denke ich einfach an nichts. Wie meine Mutter, die früher auf dem Wohnzimmerteppich saß und mit dem erklärten Ziel, nichts zu denken, meditiert hat. Wenigstens kann ich mich an so etwas noch erinnern. Der Mann spürt mein Abschweifen und versucht mir einen Denkanstoß zu geben.
„Um deinem Gedächtnis etwas auf die Sprünge zu helfen: Willkommen im 19. Jahrhundert! Wir schreiben das Jahr 1899. Mein Name ist Max Fink, Bürgermeister unserer wundervollen Stadt Passau. Und du bist Daniel und besuchst die fünfte Klasse hier auf der". Die Sätze beruhigen mich nur bedingt und ich unterbreche ihn: „Es tut mir wirklich leid Herr Fink, aber bei mir klingelt es leider nicht. Ich habe weder Sie noch sonst jemanden hier jemals gesehen. Und von was für einem Unfall sprechen Sie immer?“. „Oh je, es ist wirklich schlimm heute. Ich denke es wäre besser, wenn du von einem deiner Schulfreunde nach Hause begleitet wirst. Das was du jetzt brauchst ist eine ordentliche Mütze Schlaf. Wo treibt sich denn unser Ernst herum?“, fragt er mich, ohne wirklich auf meine Fragen einzugehen und blickt suchend in der Menge umher. „Bleib sitzen mein lieber Daniel, ich werde eben Ernst suchen und er kann dich dann sicher nach Hause begleiten. Er ist eines der zuverlässigsten Kinder hier, gib mir zwei Minuten ich bin gleich mit ihm zurück!“. Mit diesen Worten verschwindet Herr Fink in der Menge. Im gleichen Augenblick packt mich eines der Kinder am Arm und hilft mir auf. Der kräftige Griff scheint gar nicht zu dem kleinen, schmächtigen Jungen mit dunklem Haar zu passen, der mir nun besorgt in die Augen schaut. Er sieht ein wenig so aus, wie eine jüngere Version meiner selbst. Er zieht mich zu sich ran und flüstert in mein Ohr: „Wir sollten hier verschwinden! Ich weiß du kannst dich nicht erinnern, aber mit Ernst solltest du definitiv nicht nach Hause gehen. Er wird dich bei der nächstbesten Gelegenheit verprügeln oder dir Schlimmeres antun. Vertrau mir einfach, ich weiß wovon ich rede. Lass uns gehen, ich helfe dir“. In völliger Überforderung mit der Situation beschließe ich dem fremden Jungen zu vertrauen. Er scheint ehrliche Absichten zu haben und in meiner aktuellen Lage sollte ich wohl nicht zu wählerisch sein. „Okay, lass uns gehen“, erwidere ich spontan.
Er greift nach einem Schulranzen und einer hölzernen Halskette mit einem kleinen goldenen Anhänger, in Form eines Kreuzes, die auf dem Boden liegt. Er packt mich an einer Hand und ehe ich mich versehe, bahnen wir uns unseren Weg durch die gaffende Kindermenge. Mit schnellem Schritt entfernen wir uns von dem Geschehen und verlassen den Schulhof durch ein kleines Tor. Nachdem wir ein paar Minuten gegangen sind, reduzieren wir die Geschwindigkeit etwas. In der Aufregung haben wir noch kein Wort gewechselt. Es wird Zeit etwas über meinen unbekannten Retter herauszufinden, der mir wirklich erschreckend ähnlich sieht. Langsam versuche ich ein Gespräch mit dem schweigsamen Jungen aufzubauen: „Vielen Dank für deine Hilfe. Wie heißt du denn überhaupt?“. „Unglaublich, du kannst dich ja wirklich an nichts mehr erinnern. Mein Name ist Kröte, wir gehen in die gleiche Klasse“. Ich schaue ihn verwundert an, so einen Namen habe ich ja noch nie gehört. Er nimmt meine Blicke und mein Schmunzeln wahr und erklärt: „Ahja entschuldige, wenn du dich nicht erinnern kannst, wird mein Name sicherlich seltsam auf dich wirken. Die anderen Kinder haben mir diesen Spitznamen gegeben. Ich hatte mal eine Kröte als Haustier. Sie war wirklich süß, doch die anderen haben nie verstanden, was mich an diesen Geschöpfen so fasziniert. Sie ziehen mich damit immer noch auf und irgendwann haben sie mir diesen Namen verpasst. Mittlerweile habe ich mich an den Namen gewöhnt. Ein deutscher Junge wie ich sollte zäh wie Leder sein und daher nehme ich diesen Namen als meinen an. So kann ich ihnen beweisen, dass sie mich damit nicht unterkriegen!“. Trotz seiner schüchternen Art strahlt er ein gewisses Charisma aus, er ist mir irgendwie sympathisch.
„Kröte, der Name ist eigentlich gar nicht so verkehrt. Ich bin Daniel, aber das weißt du ja bereits. Du kannst mich einfach Dan nennen“, in seinem Blick kann ich ein kleines Funkeln erkennen. Er scheint nicht viele Bekanntschaften zu machen, das merkt man ihm an. Im ersten Moment kam er mir schon etwas suspekt rüber, aber er strahlt eine Neugier aus, die mir hilft mich von meiner Orientierungslosigkeit abzulenken.
Angestrengt versuche ich bei jedem Schritt mein Gedächtnis zu aktivieren und einige Türen in meinem Kopf zu öffnen, aber an etwas hilfreiches aus den letzten Tagen kann ich mich einfach nicht erinnern. Meine Mutter, die auf ihrem Meditationsteppich im Wohnzimmer sitzt und nichts versucht zu denken, die kommt mir in den Sinn, aber das wird mir nicht weiter helfen. Kröte muss mir jetzt weiter auf die Sprünge helfen: „Warum wollte der Bürgermeister mich mit Ernst nach Hause schicken, wenn er so ein Schläger ist?“, frage ich Kröte. „Ernst ist ein feiger Heuchler! Vor den Erwachsenen gibt er sich als Unschuldslamm aus, aber sobald niemand hinsieht,“ er macht eine kurze Pause und Tränen treten ihm in die Augen. Dieser Ernst scheint ihm das Leben wirklich nicht leicht zu machen. „Naja, lass uns jetzt erst einmal schauen, dass es dir wieder besser geht Dan. Ich bringe dich nach Hause und morgen sieht die Welt wieder anders aus“.
Jetzt wo er es anspricht: Ich habe keine Ahnung, wo ich überhaupt wohne. Kröte geht so zielstrebig, er scheint genau zu wissen welchen Weg wir einschlagen müssen, also verlasse ich mich einfach auf ihn. Er soll mich nicht für völlig verrückt halten, daher versuche ich mir nicht anmerken zu lassen, dass ich nicht einmal weiß wo ich wohne. Ich frage mich, ob mein Erinnerungsvermögen zurückkehren wird. Jetzt gerade ist in meiner Erinnerung nur noch Wissen über mich und meine Eltern übrig geblieben. Ich weiß was für ein Typ ich bin und was mich ausmacht. Meinen Namen weiß ich auch noch. Wo ich wohne, in welche Schule ich gehe, wo ich im letzten Sommerurlaub war, alles Dinge an die ich mich nicht erinnern kann. Ich weiß wie meine Eltern sind, habe aber leider nur von meiner Mutter ein konkretes Bild vor Augen. Wie mein Vater aussieht, will mir komischerweise nicht einfallen. Ich kann fühlen, dass sie mich sehr lieben und warmherzig erzogen haben. Ein wohliges Gefühl ummantelt mein angeschlagenes Herz, wenn ich an meine Eltern denke. Würde mein Vater vor mir stehen, so würde ich ihn auch erkennen, versichere ich mir oder zumindest rede ich mir das ein. Es frustriert mich, dass ich mich nicht an konkrete Ereignisse erinnern kann. „Ob ich wohl Geschwister habe?“, ich vermute nicht, aber sicher bin ich mir nicht.
Kröte bleibt stehen: „Brauchst du mich noch oder kommst du jetzt alleine klar?“, sein Blick geht in Richtung eines kleinen Hauses, das eingebettet von Feldern am Waldrand steht. Da scheine ich also zu wohnen! Sieht eigentlich ganz gemütlich aus, aber Erinnerungen werden da leider nicht wach. „Danke für deine Hilfe Kröte, ich denke ab jetzt sollte ich alleine zurechtkommen“, versichere ich ihm selbstbewusst genug, sodass er mich guten Gewissens alleine lassen kann. Er hat jetzt wirklich genug getan und ich möchte ihm nicht weiter zur Last fallen. Kröte nickt mir zu: „Ich hole dich dann morgen zur Schule ab. Ist wahrscheinlich besser, wenn du in deinem Zustand nicht alleine gehst“.
Da hat er wohl recht! Aktuell bin ich wirklich dankbar für jede Hilfe, die ich kriegen kann. Mit einer aufgesetzten Leichtigkeit nicke ich ihm zu. Er reicht mir den Schulranzen und die Kette, die er auf dem Schulhof für mich aufgehoben hat. „Hier, das sind deine Sachen!“, ich nehme die Kette und lege sie mir um den Hals, eine Bewegung die sich vertraut und richtig anfühlt. Der goldene Anhänger legt sich kühlend auf meine verschwitzte Haut und überträgt mir ein wenig Kraft. Ich fühle mich wie eine Waschschale, die bis auf den Grund ausgetrocknet ist und jetzt endlich wieder etwas Wasser bekommt. Unglaublich was dieses kleine Stück Metall durch seine Symbolik an Energie beherbergt und auf mich überträgt. Den Ranzen schmeiße ich mir locker über meine linke Schulter, um meine noch massig vorhandene Unsicherheit zu überspielen.
„Vielen Dank für deine Hilfe Kröte. Ich weiß wirklich nicht was mit mir aktuell los ist. Ich hoffe in den nächsten Tagen finde ich wieder etwas zu mir zurück“. „Das wird schon, aufgeben ist für Feiglinge!“, muntert mich Kröte auf, während er sich umdreht und den Heimweg einschlägt. Langsam schlendere ich in Richtung des Hauses und bewege mich möglichst normal, um in einen Ablauf zu kommen, den ich möglicherweise schon hunderte Male durchlebt habe. Die Hoffnung, dass die Erinnerung wieder einsetzt, trage ich fest in mir, aber nichts passiert. Stattdessen flammen langsam Frustration und Verzweiflung über die Situation erneut in mir auf. Obwohl ich schon fast vor dem Haus stehe, will es sich einfach nicht wie mein zu Hause anfühlen. Es ist erschreckend, wie lange meine Amnesie anhält.
Während ich weiterlaufe, schwinge ich die Tasche vor meinen Bauch und fange an sie zu durchsuchen. Vielleicht finde ich ja etwas, das mir weiter hilft. Ein paar Zettel, Stifte und ein Englischbuch, nichts was mir gerade etwas bringt. Der Schlüssel, der mir zwischen zwei Heften entgegen glänzt und förmlich nach Benutzung schreit, könnte aber noch nützlich werden. Den Gefallen werde ich ihm gerne erweisen!
Am Haus angekommen, gehe ich die sechs massiven Steinstufen zur Haustür hoch und schiebe den Schlüssel sanft ins Schloss. Er passt! Vorsichtig öffne ich die schwere Holztür. Ein undefinierbarer und befremdlicher Geruch kommt mir entgegen, riecht ein bisschen wie faule Eier. „Hallo? Ist jemand zu Hause? Mama? Papa?“, rufe ich in den dunklen Flur hinein. Es kommt keine Antwort. Mit meiner rechten Hand taste ich an der Wand entlang auf der Suche nach dem Lichtschalter. Ein kühler Luftzug kommt mir entgegen, fast so als würde mich jemand anhauchen. Am ganzen Körper bekomme ich Gänsehaut und kalter Schweiß läuft meinen Nacken entlang: ich bin nicht alleine, das kann ich deutlich spüren. Aus der Dunkelheit kommen wieder diese Geräusche: Erst ein Rauschen, das dann von einem beängstigendem Klopfen und Zischen abgelöst wird. Die Luft um mich herum wird immer dicker und ich kann kaum atmen.
Klick! Ich habe den Lichtschalter gefunden und mit ihm verschwinden auch die merkwürdigen Laute und die Luft ist wieder besser. Eine kleine Glühbirne fängt an zu leuchten und ich kann endlich mehr vom Flur erkennen. Niemand ist zu sehen, ich bin wohl doch alleine. Der Flur ist recht einfach eingerichtet. Die Wände sind etwas eigenwilligen tapeziert und rechts und links sind jeweils in einem dunklen Rot lackierte, geschlossene Türen. Geradeaus führt eine kleine Holztreppe nach oben. Es fühlt sich immer noch befremdlich an, in diesem Haus zu stehen. Zweifel keimen in mir auf und hastig gehe ich zum Eingang zurück und schaue auf das Klingelschild. Doch tatsächlich steht dort mein Nachname!
Ich gehe zurück ins Haus, schließe die Tür hinter mir und lehne meine Tasche vorsichtig an die Wand mit der Tapete. Erst jetzt erkenne ich, dass sich auf der Tapete verwunderliche Zeichen wiederholen. Sieht aus als wäre überall der kleine Buchstabe h, der am langen Strich durchgestrichen ist. Was auch immer das Zeichen zu bedeuten hat, geschmackvoll ist es nicht. „Ist jemand zu Hause?“, schreie ich in den Flur. Ein paar Sekunden stehe ich da und warte, doch nur beklemmende Stille bekomme ich als Antwort. Wo sind denn nur meine Eltern? Naja, das werde ich schon noch herausfinden. Jetzt gilt es das Alte neu zu erkunden. Ich nehme mir vor jeden Raum anzuschauen, um mögliche Erinnerungen zurück zu erlangen. Im Erdgeschoss fällt mir nichts Besonderes auf, wir haben eine kleine Küche mit Holzdielen und grünen Küchenmöbeln, von denen der Lack teilweise etwas abblättert. Auf einem kleinen Küchentisch liegt eine braune Lesebrille, auf einem fein säuberlich sortiertem Stapel Zeitungen. Neben der Küche befindet sich das Wohnzimmer, in dem eine braune Sitzgarnitur steht, die kleinere Gebrauchspuren aufweist. Alles wirkt gepflegt und ordentlich, aber mich beschleicht das Gefühl des Verlorenseins. Das Haus wirkt wenig belebt. Ich begebe mich zurück in den Flur, in der Hoffnung mein Schlafzimmer zu finden, das mir hoffentlich mehr über mich verrät.
Ich öffne die Tür rechts neben der Treppe und entdecke das Zimmer welches vermutlich das Schlafzimmer meiner Eltern ist. Das Bett füllt fast den gesamten Raum aus und ist mit einer vergilbten Tagesdecke abgedeckt. Ich horche in mich hinein, aber trotz aller Anstrengung will sich in mir keine Erinnerung auftun. Weder der Geruch noch die Einrichtung kommen mir bekannt vor. Vorsichtig schließe ich die Tür beim Verlassen des Zimmers. Unter der Treppe befindet sich ein Badezimmer mit grünen Fliesen und einem kleinen, schmutzigen Fenster, das nur einen verschwommenen Blick in den Garten erlaubt. Im Erdgeschoss befindet sich nur noch ein weiteres Zimmer links neben dem Eingang. Langsam gehe ich zu der Tür und öffne sie behutsam. Ich bewege mich noch immer, als wäre ich zu Gast bei jemandem. In meinem Kopf ist noch nicht angekommen, dass das mein Zuhause ist. Die Tür öffnet mit einem lauten Knarren. Helles Tageslicht trifft auf aufgewirbelte Staubkörner, die in langsamen, tanzenden Bewegungen zu Boden gleiten und etwas Beruhigendes ausstrahlen. Ich bemerke erst jetzt, dass ich zuvor hektisch geatmet habe und erst jetzt etwas zur Ruhe komme, als ich in das Schlafzimmer blicke das vermutlich mir gehört. Auch hier ist das Bett ordentlich gemacht und die Einrichtung ist wie in den anderen Räumen sparsam und wenig persönlich. An den Wänden hängen keine Sachen, die meine Erinnerung anregen könnte. Wir scheinen also einen sehr schlichten Geschmack zu haben, wenn ich mir hier alles so anschaue.
Ich werde von einem Klirren aus meinen Gedanken gerissen. Ich vermute das Geräusch im Garten hinter dem Haus und renne hastig zum Küchenfenster und schaue neugierig in den Garten. Ein Mädchen, mit blauem Kleid und blonden struppigen Haaren, ungefähr in meinem Alter, versucht geschwächt aufzustehen. Ihre Knie sind verkrustet von Blut und Erde. Neben ihr liegt ein zerbrochener Tonkrug, sie muss ihn wohl beim Aufstehen umgeschmissen haben. Ich öffne das Fenster und rufe ihr zu: „Hey, ist alles in Ordnung? Was ist passiert?“. Sie schaut mich nur entgeistert an. Ihr Blick verrät mir, dass sie angestrengt versucht herauszufinden, wer ich bin. Je länger wir uns anschauen, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass ich sie kenne. Sie kommt mir auf eine Art sehr vertraut vor, doch gleichzeitig habe ich das widersprüchliche Gefühl sie noch nie gesehen zu haben.
Die Situation wird durch ein lautes „QUUAAAK!“ aufgelöst. Eine fette Kröte hüpft genüsslich vor dem Mädchen her. Sie erschrickt und rennt los. „Warte!“, aber mein Ruf ist zu spät, sie lässt sich nicht mehr stoppen. Die Kröte sitzt nur da und schaut sich das Ganze in aller Seelenruhe an. Was für ein merkwürdiges Tier. Verwundert schließe ich das Fenster und lasse das Geschehene auf mich wirken. Je länger ich nachdenke, desto verwirrter bin ich. Es sah fast so aus, als wäre ihr dasselbe passiert wie mir. Die Verzweiflung in ihrem Blick kann ich nur zu gut nachempfinden. Aber warum sollten wir beide zu einer ähnlichen Zeit ohnmächtig werden? Und was hat sie in meinem Garten verloren? Ist sie eine Freundin von mir und wir erkennen uns einfach nicht wieder? Ein lautes Magenknurren reißt mich aus meinen Gedanken und ich stelle fest, dass ich dringend etwas essen sollte. Ich begebe mich in die kleine Küche und reiße alle Küchenschränke auf, doch das einzige das ich finde sind ein paar tote Fliegen. So verzweifelt bin ich noch nicht, dass ich die esse. Kröte wird mir morgen schon helfen etwas zu Essen zu bekommen, jetzt sollte meine oberste Priorität sein, meinen Verstand zurückzugewinnen. Auf dem Weg zur Treppe, um die nächste Etage des Hauses zu erforschen, wird mir plötzlich schwindelig. Je näher ich der Treppe komme, desto schwächer werden meine Beine und ich sacke immer weiter in mich zusammen. Meine Hände fangen mich am Boden auf und mein plötzlicher, unbändiger Bedarf an Schlaf, zwingt mich auf allen Vieren in mein vermeintliches Schlafzimmer und ich ziehe mich mit letzter Kraft auf das Bett. Ich kann meine Augen vor Schwäche kaum noch offenhalten und muss dringend ein paar Stunden schlafen. Selbst fürs Umziehen habe ich keine Kraft mehr. Erst jetzt bemerke ich, wie schmutzig meine Kleidung ist. Meine Augen starren an die kahle Decke und ich merke wie nach wenigen Sekunden meine Augen zufallen.
„Daniel! Du darfst ihm nicht glauben! Er ist ein Lügner!“, höre ich meine Mutter sagen. Vor mir ist nichts als Dunkelheit. Ich schaue runter und sehe wie langsam meine Hände erscheinen. Sie halten irgendetwas fest, irgendetwas Warmes und Vertrautes. Langsam bilden sich aus der Dunkelheit verschwommene Umrisse die sich immer weiter zu einem klarerem Bild schärfen. Ich erkenne, dass ich eine Hand halte. Es ist die Hand meiner Mutter! Ihr Arm hängt geschwächt aus dem Bett in dem sie liegt. Eine weiße Decke überdeckt den Großteil ihres Körpers. Sie schaut mich mit ihren müden Augen an, die in ihren dunklen Augenhöhlen sitzen und umgeben sind von ihrer aschgrauen Haut. Nichts ist mehr von ihren glühenden roten Wangen und den einst so aufgeweckten Augen übrig. Ich weiß, dass sie eigentlich ganz anders aussieht, eigentlich ist sie das blühende Leben. Sie lacht gerne und hat immer leicht rote Wangen, die einem direkt ihre unendliche Herzlichkeit präsentieren. Doch aktuell scheint sie dem Tod näher als dem Leben zu sein. Sie wiederholt mit geschwächter Stimme ihre Worte: „Du darfst ihm nicht glauben!“. „Was redest du da Mama? Wem soll ich nicht glauben? Ich verstehe nicht wen oder was du meinst. Mama was ist hier los? Warum bist du so krank? Kann ich dir irgendwie helfen?“, löchere ich sie. Doch sie antwortet nicht und dreht ihren Kopf langsam von mir weg in Richtung Tür.
Im gleichen Moment fängt die Tür an zu knarzen und füllt den Raum mit einem furchtbaren Geräusch! Es öffnet sich ein dunkler Spalt. Die Umrisse einer männlichen Person zeichnen sich ab. Sie steht nur da und ich spüre wie sie mich anstarrt. Ich bin steif vor Angst und blicke gebannt in die Dunkelheit. Ich kann kaum etwas sehen, doch der Mann hält irgendetwas verkrampft in der rechten Hand. Er zittert, weil er es so fest zudrückt. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wer ist der Mann? Was ist, wenn er eine Waffe bei sich trägt? Langsam setzt er einen Fuß in den Raum. Das Licht wandert seinen Körper hinauf. Die Schatten verschwinden und es zeichnet sich ein genaueres Bild für mich ab. Sein Gesicht kann ich zwar nicht erkennen, aber die Umrisse der kräftigen Statur mit den langen Armen und den etwas o-förmigen Beinen verraten mir: Es ist mein Vater! Ich habe keinen Zweifel, da niemand sonst seine typische leicht gebeugte Körperhaltung einnimmt. Aber was will er von uns? Will er uns etwas antun?