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Mehr als dreißig Jahre nach dem ominösen Tod ihres Bruders im Kummersee kehrt Lena an den Ort ihrer Kindheit und ihres Traumas zurück. Als Polizistin ist sie für den Schutz eines hochumstrittenen Bauprojekts zuständig. Sie trifft auf militante Umweltaktivisten, eine verflossene Jugendliebe und düstere Familiengeheimnisse. Als plötzlich bizarre Morde geschehen, deutet alles darauf hin, dass in den Tiefen des Kummersees etwas erwacht ist. Doch wo enden die Gruselgeschichten, und wo beginnen die wirklichen Schrecken? Lena stürzt sich in die Ermittlungen und kommt einem ungeheuerlichen Geheimnis auf die Spur, das bis in die Zeit der Wende zurückreicht: Das Böse, das vor so vielen Jahren ihren Bruder das Leben gekostet hat, lauert immer noch unter der Wasseroberfläche – und es darf auf keinen Fall hinaus in die Welt gelangen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Kummersee
IVER NIKLAS SCHWARZ kam 1981 zur Welt und arbeitet unter anderem Namen als Archäologe und Historiker. Er lebt mit seiner Frau und zwei Katern im Herzen Deutschlands auf einem Bauernhof, der in den letzten einhundert Jahren unnatürliche Todesfälle, eine Epidemie und einen Großbrand erlebt hat. Kummersee ist sein Debüt.
Ein vergessenes DorfEin verbotener SeeDas Grauen in der TiefeDreißig Jahre nach dem ominösen Tod ihres Bruders im Kummersee kehrt Lena in das Dorf ihrer Kindheit zurück. Als Polizistin ist sie für den Schutz eines Vermesserteams zuständig, das den See als potenzielle Endlagerstätte prüft. Das ruft nicht nur Umweltaktivisten auf den Plan. Auch andere Kreise versuchen, die Arbeit zu sabotieren. Als plötzlich bizarre Morde geschehen, erstehen auch alte Schauergeschichten über den See wieder auf. Lena stürzt sich in die Ermittlungen und kommt einem ungeheuerlichen Geheimnis auf die Spur, das weit in die Vergangenheit zurückreicht: Das Böse, das vor so vielen Jahren ihren Bruder das Leben gekostet hat, lauert immer noch unter der Wasseroberfläche – und es darf auf keinen Fall hinaus in die Welt gelangen.
Iver Niklas Schwarz
Thriller
Ullstein
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ISBN978-3-8437-3294-9
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
Samstag, 4. August 1990
I.Sleepy Horlow
1
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4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
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Samstag, 25. April 1992
II.Kummersee
15
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19
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30
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Freitag, 4. August 1995
III.Böses Erwachen
32
33
34
35
36
37
38
39
40
41
42
43
Sonntag, 1. Juli 1990
IV.Unter den Wellen
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45
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47
48
49
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53
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Samstag, 11. November 1989
V.Wölfin
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Still ruht der See
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für mein Rudel:Evil, Slayer, Mirouund die Motte.
»Es ist ganz still da. Fast ein bisschen unheimlich.« Tom geht in die Knie, damit sein Gesicht auf Lenas Höhe ist. Er senkt die Stimme. »Sicher, dass du mitwillst?«
Lena reckt ihrem Bruder das Kinn entgegen und nickt.
Was für eine dumme Frage! Wir sind doch schon auf halbem Weg.
Tom pustet sich eine verschwitzte Locke aus der Stirn. »Wenn wir erwischt werden, gibt’s Ärger!« Er sieht sich um. Dann biegt er den Maschendraht auseinander. »Richtigen Ärger, meine ich. Für uns beide! Das weißt du, oder?«
Lena antwortet nicht. Sie teilt das Unkraut entlang des Zauns und späht zum Dorf zurück. Außer dem Flimmern der Luft über den Dächern ist keine Bewegung auszumachen, niemand, der ihnen nachsieht oder hinter ihnen herruft. Einzig die Grillen zirpen durch die Nachmittagsschwüle.
»Du hast keine Angst?«, bohrt Tom weiter.
»Nö.« Lena zieht die Oberlippe hoch und knurrt. »Ich bin eine Wölfin!«
»Mit Milchzähnchen und Zahnlücke! Du bist noch ein Welpe. Ein Wölfchen!«
Wölfchen … Lena hasst es, wenn Tom sie so nennt. Sie kriecht durch den Spalt im Maschendraht am Rand des Walds.
Nichtdorthinein-Wald, so bezeichnen sie ihn, aber so heißt er natürlich nicht wirklich, sondern Horlower Forst. Doch Mama und Papa haben so oft gesagt, dass Tom und Lena dort nicht hineingehen dürfen, dass sich der Name durchgesetzt hat. Etwas muss dran sein an diesem Verbot. Sogar die Erwachsenen halten es ein. Nicht wie sonst, wenn Lenas Eltern etwas verbieten, es aber heimlich selbst machen. Das hier ist ernster, als nach dem Zähneputzen zu naschen.
Seit Herbst hat sich in Horlow irgendetwas verändert. Die Leute im Dorf sind aufgeregt deswegen. Lena versteht es noch nicht ganz, doch es hat mit dem Zaun am Waldrand zu tun. Papa hat seine Arbeit verloren, da er nicht mehr darauf aufpassen muss. So als sei das Schlimme, was hinter dem Metallgitter eingesperrt war, verschwunden und die Warnschilder am Maschendraht nun überflüssig.
Letzte Woche haben Tom und Andi Kujau den Schlitz in der Umzäunung entdeckt. Lena weiß davon, weil sie beim Spielen auf dem Speicher über die Badehose ihres Bruders gestolpert ist, die dort zum Trocknen auslag.
Erst wollte Lena Tom kein Wort glauben. Doch dann hat Tom ihr in Opas Werkstatt die Landkarte gezeigt und darauf die wasserblau eingefärbte Fläche. Da war tatsächlich ein See.
Der Kummersee.
Komischer Name, aber so stand es auf dem Papier. Keines der Kinder aus Horlow ist je dort gewesen. Wenn Familie Wolff schwimmen gehen will, fahren sie mit Papas Golf bis nach Gartow. Doch diese Zeiten sind jetzt vorbei. Tom und Andi sind unbeschadet von ihren Ausflügen in den Nichtdorthinein-Wald zurückgekommen, und die Erwachsenen reden davon, dass der Zaun eh bald wegkommt. Das haben auch die Fremden gesagt, die bei den Kujaus zu Besuch waren. Andi hat sie belauscht.
Lena spürt jedenfalls keine Gefahr, als sie durch den Schnitt im Drahtgeflecht steigt. Sie passt auf, damit sie den Badeanzug nicht zerreißt oder – schlimmer noch – gar ihr Jugendschwimmabzeichen verliert. Das hat sie erst vor zwei Wochen gemacht, an ihrem Geburtstag. Da Mamas Nähmaschine streikt, hält den Aufnäher lediglich eine Sicherheitsnadel.
»Jetzt gibt es kein Zurück mehr!« Tom zieht den Maschendraht wieder in seine Ursprungsposition. »Weißt du, warum der See Kummersee heißt?«
Lena zuckt die Achseln. »Warum?«
»Ist ’ne Gruselgeschichte. Andi hat sie in einem Buch gefunden. Sagen aus dem Wendland. Willst du sie hören?«
»Klar will ich das!« Lena streckt die Brust raus. Der Wald beeindruckt sie wenig. Kiefern, Birken, hier und da eine Eiche. Es riecht nach Harz und Moder. Nichts, wovor man sich fürchten müsste. »Mach schon, raus damit!«
Tom lächelt. Aber es ist ein trauriges Lächeln, das ihn älter aussehen lässt als dreizehn. Ihr Bruder ist ein Erzähltalent. Lena kann kaum entscheiden, ob sein Gesichtsausdruck echt ist oder zur Show gehört.
»Es ist wirklich passiert. Kein Märchen. Sicher, dass du dir das anhören magst?«
Lena nickt. Aber zugleich läuft ein Schauder über ihren Rücken.
»Du hast es so gewollt!« Tom räuspert sich. »Also, bei uns in Horlow gab es einst einen Müller. Er hatte Geld, ein schönes Haus und eine noch schönere Frau, aber eines war ihm bislang nicht vergönnt gewesen: ein Kind. Nichts wünschte sich der Müller so sehr wie einen Sohn, der die Mühle und seinen Namen weiterführen würde. Seine Frau und er liebten sich über alle Maßen, doch sie wurde einfach nicht schwanger. Verstehst du, was ich meine?«
»Ich bin neun. Ich weiß, wie das geht.« Lena merkt, dass sie rot anläuft.
»Jedenfalls saß der Müller in seinem Unglück Stunde um Stunde am Seeufer, ließ Steine übers Wasser hüpfen und horchte auf das Flüstern der Wellen. Aber hauptsächlich betete er für einen Sohn. Er würde alles dafür geben, Vater zu werden. Wirklich alles, so flehte er.«
Eine Lichtreflexion trifft Lenas Gesicht. Ein Glitzern, zwischen den Bäumen. Ist das der Kummersee? Lena schweigt und konzentriert sich auf die Worte ihres Bruders. Die einzigen anderen Geräusche im Wald sind das Schlappen ihrer Sandalen auf dem Teppich aus Nadeln und Moos und das Surren der Insekten.
»Eines Tages ging der Wunsch des Müllers endlich in Erfüllung. Seine Frau erwartete ein Kind. Das Glück der Familie schien vollkommen.« Tom schluckt und sieht Lena an.
Jetzt kommt der unheimliche Teil der Geschichte.
»Ich glaube nicht, dass es der liebe Gott war, der den Müller erhört hatte, als er dort am Seeufer sein Leid klagte.« Tom zögert. »Früher gab es keine Krankenhäuser, weißt du? Kinder wurden zu Hause geboren. So kam der Sohn des Müllers in einer stürmischen Herbstnacht zur Welt. Doch während das Baby gesund und munter durch die Kate schrie, hörte die Mutter nicht auf zu bluten.«
Das Krächzen eines Eichelhähers stört die Stille des Waldes. Lena fährt zusammen. Tom blickt sich um, bevor er weiterspricht, doch es scheint nicht der Vogel zu sein, nach dem er Ausschau hält.
»Als die Sonne aufging, war in Horlow ein Kind geboren, aber die Müllerin hatte die Nacht nicht überlebt. Tropfen für Tropfen war das Leben aus ihr gesickert, bis sie bleich wie Schnee und die Laken rot von ihrem Blut waren.«
Plötzlich schmerzt es Lena hinten im Hals. »Das ist eine furchtbare Geschichte!« Für mehr Protest reicht es nicht, sonst wächst sich der Schimmer in ihrem Augenwinkel zu einer Träne aus.
»Das Schlimmste kommt erst noch.«
»Was soll denn bitte noch schlimmer sein?«
»Soll ich zu Ende erzählen?«
Lena nickt. Sie will den Rest nicht hören. Aber sie muss. Weil sie eine Wölfin ist. Und damit ihr Bruder sie nicht für einen Feigling hält.
Ist ja nur eine Geschichte.
»Als der Müller begriff, welchen Preis er für seinen Sohn gezahlt hatte, zerbrach etwas in ihm. Man hatte ihn betrogen.« Toms Stimme wackelt. »Der frischgebackene Vater nahm das namenlose, nach seiner Mutter weinende Kind aus der Krippe und stapfte los. In Wut und Kummer bemerkte er nicht, wie ihm Zweige ins Gesicht schlugen und Brombeerranken nach ihm griffen. Es war, als wollte der Wald ihn von dem Übel abhalten, das er zu begehen im Begriff war. Schließlich erreichte der Müller den Anleger am Seeufer. Jenen Platz, wo er gesessen und um einen Stammhalter gebeten hatte.«
Auf einmal hört Lena das Murmeln und Plätschern von Wasser. Nicht nur in ihrer Vorstellung, sondern wirklich und wahrhaftig. Das Glitzern zwischen den Bäumen steigert sich zu einem Feuerwerk aus Lichtpunkten. Eine Brise weht vom See herüber. Angesichts der Hitze müsste der Luftzug guttun, doch Lena fröstelt.
»Der Müller ruderte hinaus. Weder der Wind noch die spritzende Gischt vermochten die Wut auf das zitternde und schreiende Bündel vor ihm abzukühlen. Es hatte ihm seine Frau geraubt, seine wunderschöne Gefährtin. Das hatte der Müller nicht gemeint, als er die Wellen um einen Stammhalter angefleht und gesagt hatte, er würde alles für einen Sohn geben.«
Tom erkundigt sich mit einem Blick, ob er fortfahren soll. Ein Kopfschütteln, ein gehauchtes Stopp!, und er würde Lena verschonen. Doch statt um Gnade zu bitten, läuft sie weiter der Wasserfläche entgegen, die sich zwischen den Bäumen öffnet.
Der Kummersee.
Viel größer, als Lena ihn sich vorgestellt hat. Sie kann das Ruderboot mit Vater und Kind darauf fast vor sich über die Wogen schaukeln sehen. In ihrer Fantasie hallt das Echo der Babyschreie über den See. Lena bekommt eine Gänsehaut. »Er hat den Kleinen ins Wasser geworfen, oder?«
Tom stoppt an der Uferlinie und legt den Arm um seine Schwester.
»Ja, das hat er.« Toms Worte sind kaum zu hören, so leise spricht er jetzt. »Er hat das Kind ertränkt. Knotete einen Stein an das Tuch, in das sein Sohn gewickelt war, und übergab ihn den Wellen. Genau in der Mitte des Sees, an der tiefsten Stelle.«
Wie kann jemand so etwas nur tun? Mit einem Baby!
Lena hält die Tränen nicht länger zurück. »Was ist dann passiert?«
»Der Müller ging nach Hause und begrub seine Frau. Im Dorf behauptete er, das Kind habe die Geburt nicht überlebt. Die Leute zweifelten nicht an seinen Worten. Zu tief hatte der Schrecken sich ins Gesicht des Mannes gegraben. Selbst diejenigen, die des Nachts die Schreie des Babys gehört hatten, glaubten ihm.« Tom macht eine Pause und seufzt. »Aber das war immer noch nicht alles. Willst du den Schluss der Geschichte hören?«
Lena schnieft. Sie nickt.
Jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an.
Tom tritt hinter sie und beugt sich herunter, sodass sein Gesicht direkt neben ihrem ist. Gemeinsam schauen sie auf den See hinaus, während er spricht. »Bei Wind und Wetter saß der Müller am Ufer und lauschte der Brandung. Nach und nach begriff er, was er getan hatte. Ja, er hatte seine geliebte Frau verloren. Er hätte ihr Andenken ehren und den Sohn großziehen können, für den sie ihr Leben gegeben hatte. Doch stattdessen hatte der Müller im Zorn alles in den Tiefen versenkt, was ihm von seiner Liebsten geblieben war. Von Trauer und Schuld gebeugt, starrte er hinab. Seine Tränen malten Kreise ins Wasser und speisten die Gier des Sees. Und wenn in mondlosen Nächten der Nebel übers Ufer wallte, glaubte der Müller im Murmeln der Wellen ein Stimmchen zu hören. Ganz zart und leise.«
»Was hat es gesagt? Was?« Lena krallt sich ins T-Shirt ihres Bruders. Er verschwindet hinter einem Tränenschleier. Der Augustnachmittag und die Geschichte sind längst zu einer neuen Realität verschmolzen.
Tom umfängt seine Schwester von hinten mit den Armen und streicht über ihr Haar. Sein Atem kitzelt Lenas Ohr. »Hörst du es nicht? Du musst ganz still sein.« Dann – mit einer Stimme wie aus den nassen Tiefen des Grabs in der Mitte des Sees – flüstert er:
»Papa? Bist du da? Warum hast du das getan, Papa? Es ist so kalt hier unten. Und so dunkel …«
Lena quiekt auf. Tom lacht.
Das reicht! Genug ist genug!
Sie boxt und tritt sich aus Toms Umarmung. Ihr Bruder hat sie drangekriegt.
»Na, ist dir die Lust aufs Schwimmen vergangen, Wölfchen?«
»Du Idiot! Das hast du dir bloß ausgedacht!«, ruft Lena und geht, ohne sich umzusehen, auf den See zu.
Tom folgt ihr. Vor ihnen erstreckt sich ein halbmondförmiger Uferstreifen, an dem kein Schilf wächst. Ein Postkartenbadestrand. Wellen plätschern über Kiesel und spülen Sand zwischen Lenas Zehen.
»Unglaublich, nicht?«, sagt Tom.
Lena nickt. Die Sonne brennt auf ihren Schultern. Bei ihrem Aufbruch hat das Thermometer im Garten vierunddreißig Grad gezeigt. Lena schwitzt, und sie will jetzt endlich ins Wasser.
Andererseits fühlt sich dieser Ort … nun … falsch an. Und das liegt nicht nur an der Gruselgeschichte.
So ein großer See, viel größer als der in Gartow. Es ist still, wie Tom gesagt hat. Kein Boot, keine Schwimmer. Auch der Strand ist leer. Nur am Ufer gegenüber steht ein Turm aus Beton. Aus der Ferne erinnert er an eine erloschene Fackel, die jemand in den Sand gesteckt hat. Ringsum wachsen keine Bäume. Nicht mal Büsche gibt es. Dafür ist der See dort eingefriedet, und zwar mit einem noch größeren Zaun als der, durch den sie vorhin gestiegen sind.
Das muss die Grenze sein. Dahinter liegt ein Land, das Drüben genannt wird. Bis nach Drüben sind es von Horlow nur ein paar Kilometer. Doch es könnte auch Taka-Tuka-Land sein, so wenig weiß Lena über die Leute, die auf der anderen Seite wohnen. Nur, dass sie die Kinder von Drüben ebenfalls mit einem Zaun am Schwimmengehen hindern.
Erwachsene sind seltsam.
»Tom?« Lena zeigt auf den Turm. »Meinst du, wir werden beobachtet?«
»Nee. Da ist keiner mehr.«
»Und wenn auf unserer Seite jemand kommt?«, fragt Lena weiter.
»Mama und Papa sind erst spät wieder da. Und außer Andi kennt sonst niemand das Loch im Zaun.« Tom spritzt ihr einen Wasserschwall in den Rücken. »Hat das Wölfchen Schiss, erwischt zu werden?«
»Ich hab keinen Schiss!« Lena revanchiert sich mit einem Schlag auf die Seeoberfläche und rennt los. Ihr Bruder setzt ihr nach. Sie toben und jagen einander. Die Einsamkeit um sie herum ist vergessen.
Schließlich wirft sich Tom mit einem Bauchklatscher in die Wellen und krault hinaus. Lena watet ihm nach, bis es zu tief zum Stehen ist. Sie greift sich an die Hüfte, wo die Sicherheitsnadel das Schwimmabzeichen hält.
Du kannst das. Du bist eine Wölfin!
Lena gleitet durchs Wasser. Sie macht ein paar Züge, schraubt sich um die eigene Achse und treibt auf dem Rücken. Herrlich!
Tom kommt zurückgepaddelt. Lena erkennt an seinem Grinsen, was er vorhat.
»Ohne Runterdrücken!«, kreischt sie. Aber zu spät.
Tom verlagert sein Gewicht auf ihre Schultern. Lena taucht ab. Ihre Sicht verschwimmt, das Plätschern der Wellen weicht einem Gluckern. Sie strampelt zurück an die Wasseroberfläche. Tom erwartet sie.
»Nicht!« Lena prustet. »Hier kann ich nicht stehen!«
Ihr Bruder hat ein Einsehen. Er hält sie an der Hüfte, damit sie nicht untergeht. Fast könnte man meinen, er sehe schuldbewusst aus. Sofort schämt sich Lena, gequietscht zu haben wie ein Baby im Nichtschwimmerbecken.
Oh Gott!, schießt es ihr durch den Kopf. Wenn das arme Würmchen immer noch im See ist … Nein! Besser nicht darüber nachdenken!
»Tom?«, fragt Lena. »War die Geschichte vorhin nur ausgedacht?«
Toms Lächeln verfliegt. »Na ja, irgendwer hat sie sich bestimmt irgendwann mal ausgedacht«, druckst er. »Das ist ein ganz normaler See. Wie der in Gartow. Nur, dass er einen albernen Namen hat und wir ihn allein für uns haben. Da unten ist kein Kind.«
»Wirklich nicht?«
»Wirklich nicht. Kein Kind, kein verrückter Müller, keine Monster. Versprochen! Nur ein stinknormaler –«
Ein Stoß durchzuckt Tom. Sein Kopf verschwindet unter Wasser. Eine Wolke aus Luftblasen steigt auf.
»Tom?« Lena rudert hin und her, unter ihr nichts als Wirbel und Zwielicht. Soll sie ihm nachtauchen?
Etwas streicht über ihren Oberschenkel. Lena kreischt.
Ein Zupfen am Fuß. Sie tritt aus und trifft etwas Hartes.
Tom stößt durch die Wellen. Er japst und lacht und hält sich das Ohr.
Ihr Bruder hat sie zum zweiten Mal drangekriegt.
»Nicht witzig!« Lena lässt einen Hagel aus Schlägen auf ihn niederprasseln.
Tom ergibt sich seiner verdienten Strafe und lässt sich zurück unter Wasser drücken. Als er wieder hochkommt, spuckt er eine Fontäne. Lenas Wut fällt in sich zusammen. Sie kichert.
»Du solltest Karate machen, so wie du zutrittst.« Tom reibt sich den Kopf.
»Geschieht dir recht! Beim nächsten Mal treff ich deine Nase. Schwimmst du jetzt eine Runde mit mir? Bis zur Mitte!«
»So weit?« Tom mustert sie. »Packst du das?«
Statt zu antworten, wendet sich Lena ab. Vom Wassertreten geht sie ins Brustschwimmen über, wie sie es bei Frau Scheele im Sportunterricht gelernt hat.
Arme strecken. Wasser fassen. Nach hinten schieben. Beine wie der Frosch. Ausatmen. Arme strecken …
Ein Fisch flitzt zwischen Lenas Händen hindurch. Unter ihr weicht das Blaugrün des Ufersaums Dunkelheit.
Arme strecken. Wasser fassen. Nach hinten schieben. Beine wie der Frosch. Ausatmen. Und von vorn.
Lena blickt über die Schulter. Ihr Badetuch ist zu einem Farbklecks am Ufer geschrumpft. Hinter ihr reckt Tom einen Daumen in die Höhe. Die Anerkennung ihres Bruders spornt Lena an. Ein paar Meter traut sie sich noch zu.
Arme strecken. Wasser fassen. Nach hinten …
War da etwas? Ein Schatten? Unter ihr?
Arme strecken … Da! Wieder!
»Tom?«, fragt Lena über die Schulter. »Gibt es hier –«
Weiter kommt sie nicht. Etwas schnappt ihren Knöchel und reißt sie hinab. Die Wellen schlagen über ihr zusammen.
Lena strampelt und tritt. Der Griff um ihren Fuß wird nur noch fester. Was immer sie in die Tiefe zerrt, ist groß. Und unglaublich stark.
Der Druck auf ihre Ohren steigt. Kälte und Dunkelheit umhüllen sie.
Sie bekommt Panik.
Panik, weil das nicht Tom ist.
Panik, weil ihr Atem nur noch Sekunden reicht.
Panik –
Etwas packt ihr Handgelenk. Ein Ruck geht durch Lenas Körper. Wasser schießt in ihren Mund.
Ein Schemen taucht vorbei. Ein Schemen mit knallroter Badehose.
Tom!
Er stürzt sich auf das Ding, das sie angegriffen hat.
Ein Orkan aus Luftblasen umfängt Lena. Daraus starrt sie etwas an.
Mein Gott, das ist ein Auge!
Ein Auge, riesig und rund wie ein Unterteller.
Panik weicht Terror. Lena schreit ins Wasser. Sie windet sich und tritt abermals aus.
Ich werde ertrinken! Ich –
Plötzlich ist sie frei.
Tom! Ich muss Tom helfen!
Aber Lenas Bewusstsein zieht sich zurück, fällt durch einen Tunnel.
Keine Luft mehr.
Sie strampelt. Schluckt Wasser. Dann –
Sonnenlicht.
Lena bricht mit einem Keuchen durch die Wellen. Ihr Atem pfeift. Es tut höllisch weh in der Brust. Ihr Geist macht einen Satz. Raus aus der Schwärze, hinein in eine erschreckende Klarheit.
Ich wäre fast gestorben!
Das ist kein Spiel mehr.
Wo ist Tom?
Rings um sie: Luftblasen. Als koche das Wasser. Doch Lena friert.
Wo ist TOM?
Unter ihr ist nichts zu sehen. Keine rote Badehose. Kein braun gebrannter, schmächtiger Rücken.
WO IST TOM?
Soll sie fliehen? Oder wieder abtauchen? Doch was kann sie schon ausrichten? Das Ding da unten hat mehr Kraft als sie beide zusammen.
Was würde Tom tun?
Lena schreit um Hilfe, aber es ist niemand da, der sie hören könnte.
Lena schwimmt. So schnell, wie sie in ihrem Leben nicht geschwommen ist. Angst treibt sie vorwärts. Ihr Puls rast in den Ohren, dass die Herzschläge ineinanderfließen.
Was ist das für ein Ding? Verfolgt es mich?
Und WO IST TOM?
Er hat gesagt, hier gibt es keine Monster!
Er hat es VERSPROCHEN!
Lenas Arme schmerzen. Doch sie schwimmt weiter. Schwimmt und schwimmt und schwimmt. Sie bekommt kaum Luft. Die Beine sind schwer wie Anker, gemacht, um zu versinken. Gleich schließt sich der Griff abermals um ihren Fuß und –
Lena pflügt durch ein Büschel Seegras. Es fühlt sich an, als streiften Haare ihre Haut. Sie kreischt und tritt aus. Plötzlich findet sie Halt.
Oh Gott, Sand! Da ist Sand unter meinen Zehen!
Noch zwei Brustzüge, und sie kann stehen. Sie kämpft sich vorwärts. Ignoriert die spitzen Steine unter ihren Fußsohlen.
Raus! Nur raus aus dem See!
Sie wirbelt herum. Keine Verfolger zu sehen! Das Wasser reicht nur noch bis an ihre Knöchel. Aber selbst das ist zu viel. Sie rennt den Strand hinauf. Dann bricht sie zusammen. Sie hustet und schluchzt. Ihr Fuß ist geschwollen. Wo das Ding sie gepackt hat, läuft die Haut lila an. Der Badeanzug hat auch etwas abbekommen. Da klafft ein Riss über Lenas Hüfte. Das Schwimmabzeichen ist weg. Ein geringer Verlust in Anbetracht dessen, dass sie fast gestorben wäre. Doch das Fehlen des Aufnähers macht die Situation erst so richtig real.
Lena gestattet sich nur einen Augenblick der Schwäche. Ihr Bruder ist noch da draußen. Sie rappelt sich auf, wischt Rotz und Tränen aus dem Gesicht und holt Luft.
»TOM, WO BIST DU? TOM!«
Aus dem Schilf bricht unter Krakeelen ein Vogelschwarm hervor. Lena schreit auf. Doch sofort wendet sie sich wieder der Wasserfläche zu.
»TOOOM!«
Gleich taucht sein Kopf zwischen den Wellen auf. Alles nur ein Streich. Toms Meisterstück! Wir werden heimgehen und Cornetto essen. Später schieben wir eine Salamipizza in den Ofen und lachen darüber, wie Tom mich dreimal an einem Tag drangekriegt hat. Wir werden –
»TOOOOOOOM!!!«
Und noch einmal. Und wieder.
Der See liegt totenstill da.
Keine Luftblasen mehr. Keine rote Badehose.
Nur Stille und Einsamkeit.
Lenas Hals ist wund geschrien. Sie lauscht. Vielleicht ruft Tom um Hilfe. Irgendwo in den Wassermassen, von denen sie bis vor ein paar Tagen keine Ahnung hatte.
Wie lange kniet sie schon so am Strand?
Was, wenn das Ding im See mich holen kommt?
Sie nimmt allen Mut zusammen, den sie noch aufbringen kann, und rappelt sich auf. Die Hände auf die Schenkel gestützt lehnt sie sich übers Wasser, bis sie fürchten muss, vornüberzukippen. Ein letztes Mal ruft sie mit brechender Stimme den Namen ihres Bruders über die Wellen.
»TOOOOOOOOOOM!!!«
Keine Antwort.
Tom bleibt verschwunden.
Angst und Verzweiflung werden übermächtig. Die Welt verschwimmt. Tränen strömen über Lenas Wangen. Von ihrer Nasenspitze fallen sie hinab in den Kummersee, wo sie auf dem Wasser Kreise malen.
»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
Lena schreckt hoch. Die Heizungsluft und das Schaukeln des VW-Busses haben sie eingelullt.
»Was soll das heißen? Wir haben angezahlt!«, grollt Detlev Kosinski auf dem Rücksitz ins Telefon.
Lena schickt einen Fluch zum Wagenhimmel und dreht den Kopf. Der Projektleiter der Firma Alphaplus Sonderbauplanung beantwortet ihre wortlose Frage mit einem Augenrollen. Sein Gesicht ist bis hoch zur Halbglatze rot angelaufen.
Lenas Blick wandert auf die andere Seite der Rückbank zu ihrem Kollegen Malik Nasiri.
»Ich hab’s dir ja gesagt!«, formt er nur mit den Lippen. Alles zwischen Maliks grau meliertem Fassonhaarschnitt und den gezupften Brauen kräuselt sich zu einer einzigen Sorgenfalte.
»Nein, nein, nein!« Kosinski umklammert das Handy, dass seine Knöchel weiß anlaufen. »Hören Sie, Ihr Ruf ist mir egal! Wir haben eine gültige Buchung!«
Lena breitet die Hände aus. Was ist los?
Kosinski veranschaulicht den Gesprächsverlauf mit einer Scheibenwischerbewegung. Sein Schnauzer bebt. »Nein, dafür habe ich kein Verständnis.« Erneutes Augenrollen. »Ja, Sie mich auch. Wiederhören!« Der Ingenieur schleudert das iPhone auf den Papierstapel neben sich, nur um es gleich wieder zur Hand zu nehmen.
»Soll ich mal raten?«, fragt Björn Thoms am Steuer des Bullis. Der Vermesser spielt mit dem Zöpfchen, zu dem sein Bart geflochten ist. »Die Pension?«
»Storniert.« Kosinski wischt über das Telefondisplay. »So wie die Eingeborenen auf unseren Firmennamen reagieren, hätte ich uns auch als Hannibal Lecter und Kim Jong-un anmelden können. Damit hätten wir bessere Chancen gehabt als mit einer Reservierung auf Alphaplus Sonderbauplanung.« Er blickt auf und sieht Lena an. »Eure Zimmer sind natürlich auch futsch. Tut mir leid.«
Malik gibt einen Seufzer von sich.
»Könnt ihr da nicht was machen? Ganz offiziell, meine ich?«, erkundigt sich Björn Thoms. Er schielt auf die Ausbeulung der Jacke an Lenas Hüfte.
»Was zum Beispiel? Mit vorgehaltener Waffe reinstürmen?« Sie schmunzelt. Aber zugleich zupft sie an der Nagelhaut ihres Zeigefingers. Wie immer, wenn sie angespannt ist.
»Könnt ihr die gebuchten Zimmer nicht beschlagnahmen? Polizeibedarf oder so etwas?«, fragt Thoms. »Oder ihr ruft euren Chef an und lasst den Druck machen.«
»Bloß nicht«, wehrt Malik ab. »Petersen ist eh schon genervt, weil meine geschätzte Partnerin ihm über Wochen in den Ohren gelegen hat, dass unbedingt wir die Glücklichen sein dürfen, die euch eskortieren. Und das, obwohl die Kollegen vom LKA zuständig gewesen wären. Tja, ich schätze mal, die sitzen jetzt am warmen Schreibtisch, während wir im Nirgendwo umherirren.« Malik zwinkert Lena zu. »Danke dafür noch mal!«
»Und nun? Zurück? Ins Büro? Nach Hause?«, will Björn Thoms wissen.
»Ich hätte nichts dagegen«, grummelt Malik.
»Nichts da!«, widerspricht Lena. »Petersen killt uns, wenn wir einfach abbrechen. Uns wird schon was einfallen.«
»Vielleicht in ein Hotel?«, schlägt Thoms vor.
Kosinski winkt ab. »Ich habe alles im Umkreis von fünfzig Kilometern abgeklappert. Hat sich rumgesprochen, dass wir kommen. Spätestens, seit das Gericht am Montag die letzte Klage abgewiesen hat, war klar, dass es losgeht.«
»Es ist ja auch nicht so, dass ihr den Wilden die Zivilisation bringen würdet«, wirft Malik ein. »Wie würdet ihr reagieren, wenn es um euren Vorgarten ginge?«
»Es ist doch gar nicht gesagt, dass sich die Kommission für diesen Standort ausspricht.« Kosinski massiert seine Schläfen. »Wir sind eins von mehreren Teams im Bundesgebiet. Und ob wir die Plangrundlage erstellen oder jemand anderes, ändert nichts an der Sache.«
»Aber …«, setzt Björn Thoms an und überholt einen Linienbus, der so leer ist wie die Straße selbst. »Was, wenn es niemand macht?«
»Verschwindet das Zeug trotzdem nicht«, kontert sein Kollege den Einwand. »Irgendwo muss man damit hin.«
»Schon«, erwidert der Vermesser. »Aber Gorleben hat man doch nur von der Liste der möglichen Endlagerstandorte genommen, um die Antiatombewegung ruhigzustellen. Und dann quasi nebenan zu erkunden, riecht nach ’nem abgekarteten Spiel.«
»Ich glaube, dass Wissenschaft und Fakten am Ende mehr zählen als Politik«, sagt Malik.
»Richtig«, bestätigt Kosinski. »Und es heißt abgekartet.«
Björn Thoms antwortet mit ausgefahrenem Mittelfinger.
Lena schweigt. Sie kennt solche Diskussionen, von klein auf. Auch mit Malik hat sie dieses Gespräch schon geführt. So fair ist sie gewesen, bevor sie in der Polizeidirektion Lüneburg alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um den Personenschutz für das Vorauskommando des umstrittenen Bauvorhabens übernehmen zu dürfen. Notfalls wäre Lena sogar mit jemand anderem losgezogen. Aber dazu ist es zum Glück nicht gekommen.
»Eigentlich ganz schön hier.« Detlev Kosinski schirmt die Augen gegen die Herbstsonne ab. »Nicht gerade der Ort, den man als Lagerstätte des schlimmsten Mülls erwarten würde, den die Menschheit je hervorgebracht hat.«
»Als Tourist mag das ja für eine oder zwei Wochen ganz nett sein. Aber stell dir mal vor, du lebst hier.« Björn Thoms schüttelt den Kopf. »Ich meine, hier ist doch nichts los. Nada, niente.«
»Vielleicht hat man die Gegend genau deshalb ausgesucht«, gibt Malik zu bedenken.
»Also, wohin in all diesem Nichts soll ich nun fahren?«, erkundigt sich Björn Thoms.
Lena kramt nach einem Taschentuch. Sie hat die Nagelhaut ihres Zeigefingers stärker als gedacht malträtiert. Ein Blutstropfen quillt hervor.
»Die Pensionsbuchung ist geplatzt, und wir können nicht pendeln. Dafür ist es zu weit«, erklärt der Vermesser am Steuer. »Wenn also niemand eine rettende Idee hat, kehre ich jetzt um. Oder was sagst du, Dede?«
Kosinski signalisiert mit erhobenen Händen, dass er mit seinem Latein am Ende ist.
Lena wendet sich ihrem Partner zu.
»Sieh mich nicht an«, wehrt Malik ab. »Ich sorge hier nur für Sicherheit.«
»Es wird mir bestimmt noch leidtun.« Lena lässt den Kopf in den Nacken fallen und fährt sich übers Gesicht. »Ich weiß, wo wir unterkommen können. Zumindest für eine Nacht.«
Sie dirigiert Björn Thoms über die B 493 durch Lüchow und weiter nach Nordosten. Beidseits der Straße ziehen die Stämme der Bäume vorbei wie ein niemals enden wollender Strichcode. Andere Autos begegnen ihnen nur im Viertelstundentakt. Niemand ist da, der sich beschweren könnte, als Thoms den Bulli auf halbem Weg zwischen Trebel und Gartow auf einer Kreuzung stoppt.
»Enklave Rondel. Kunst und Kräuter«, entziffert Malik die verblichene Werbetafel vor dem Fachwerkhäuschen am Straßenrand. »Ob sich viele Kunden hierherverirren?«
»Wenn die mal nicht Dope anbauen«, vermutet Thoms. »Wohin jetzt?«
»Nach Süden.« Lena zeigt die Richtung an. »Da lang.«
»Sicher? Da steht nichts.«
Thoms hat recht. Straßenschilder weisen den Weg nach Meetschow, Schnackenburg und zurück nach Lüchow. Doch rechter Hand, wo eine vom Dreck der Holztransporter verkrustete einspurige Straße abgeht, fehlt jeder Hinweis, was jenseits der Wälder liegt.
»Das ist gemeindefreies Gebiet, größtenteils unbewohnt«, erläutert Lena. »Für die paar Häuschen dort lohnt sich kein Schild.«
»Und da gibt es eine Unterkunft?« Björn Thoms runzelt die Stirn.
Die Abfahrt schwenkt nach Osten – auf die einstige innerdeutsche Grenze zu. Bald endet die Asphaltdecke, und der Bulli rumpelt mit einer Staubfahne im Schlepptau durch die Dämmerung. Lena glaubt, jedes einzelne Schlagloch wiederzuerkennen, das Forstfahrzeuge und Traktoren hinterlassen haben.
»Das ist ja wie in einem dieser B-Movies über irgendwelche menschenfressenden Hinterwäldler!« Thoms manövriert durch die Kraterlandschaft im Schotter. »Was zahlt Leatherface, damit du uns herlockst?«
»Ich wünschte, es wären bloß Kannibalen«, murmelt Lena. Je näher sie ihrem Ziel kommen, desto mehr krampfen ihre Eingeweide.
»Du führst uns nicht zu einem dieser hippen Waldhotels aus dem Lonely Planet, oder?«, fragt Malik.
»Da ist Licht zwischen den Bäumen.« Björn Thoms deutet in die aufziehende Dunkelheit. »Immerhin scheint sie zu wissen, wo sie hinwill.«
Der Kiefernforst öffnet sich zu einer Insel aus Wiesen und Feldern, die keinen Kilometer durchmisst. Die Schotterpiste endet in einer Wendeschleife auf einem ovalen Platz. Darum drängt sich in einem Dreiviertelkreis ein Dutzend Häuser und Höfe wie eine Pfadfindergruppe ums Lagerfeuer.
Dorf kann man das kaum nennen. Ein grünes Schildchen mit gelber Schrift weist die Ansiedlung als Weiler aus:
HORLOW
Und daneben auf einer Holztafel mit einem Lötkolben eingebrannt:
Wenn Sie das lesen können,haben Sie sich verfahren.
Thoms sieht Kosinski an, dann schauen sie beide zu Lena.
»Und nun?«, will der Ingenieur wissen.
Lena konzentriert sich auf den Schmerz, der vom frisch zugefügten Riss am Ansatz ihres Fingernagels ausgeht. Sie begegnet den Blicken ihrer Schutzbefohlenen, dann wendet sie sich an Malik. »Ich muss dir ein kleines Geständnis machen.«
»Wegen der Hinterwäldlerkannibalen?«
Malik bringt Thoms mit einer Geste zum Schweigen.
»Ich …« Lena stockt. »Ich wollte den Auftrag, weil ich hier herkomme. Aus Horlow.«
Am Rand der fächerförmig gruppierten Gebäude steht ein wuchtiges Hallenhaus aus Fachwerkbalken und Backstein. Dorthin, zu Horlow Nr. 10 – Straßennamen gibt es in diesem Nest nicht –, führt Lena Malik und das Team der Alphaplus Sonderbauplanung jetzt. Das Gepäck haben sie im Wagen gelassen. Noch ist die Unterkunft für die Nacht keineswegs gesichert.
»Das ist mein Elternhaus. Ich hoffe, dass wir bleiben dürfen. Es ist eine Weile her, seit ich zuletzt mit meiner Mutter geredet habe«, erklärt Lena. Nicht, weil es die anderen etwas anginge, sondern, um sich Mut zu machen. Gespräche mit Sylvia Wolff sind wie ein Imbiss an einer Autobahnraststätte in der Provinz. Eigentlich ist alles okay, aber die Vorahnung, dass einem der Stopp später leidtun wird, sitzt von Anfang an mit am Tisch.
Das Haus ist für sein Baujahr in gutem Zustand. Das Reet auf dem Walmdach ist frisch gedeckt. Eine Buchsbaumhecke mit Astern und Sonnenblumen dahinter säumt die Auffahrt, an deren Ende ein silberner Mercedes SLK steht. Es ist nicht das Spitzenmodell, dürfte aber ein Vielfaches von dem gekostet haben, was Lenas Mutter pro Jahr mit ihrer Kunst einnimmt. Zumindest, wenn die scheußlichen Skulpturen aus blasig glasierter Keramik im Vorgarten das Hauptbetätigungsfeld von Sylvia Wolff darstellen.
Detlev Kosinski betrachtet die Versammlung von Chimären und Fabelwesen. »Die sind wirklich …« Er kramt nach einem Wort.
»Schräg? Creepy?«, bietet Björn Thoms Adjektive an.
»Die Dinger sehen aus, als wären sie in bloßer Erwartung des Atommülls mutiert.« Malik flüstert, als könne das Bestiarium der Töpferwaren ihn hören.
»Wartet hier.« Lena zeigt auf den Kiesweg zur Haustür. Zwei Hasenskulpturen flankieren den Eingang. Statt ihrer Löffel tragen sie Hirschgeweihe auf den deformierten Schädeln.
Über der Klingel fällt Lena ein Fleck an der Fassade ins Auge. Früher hing dort ein Schildchen aus bemaltem Salzteig. Lena hatte es in der zweiten Klasse gebastelt.
Hier wohnt Familie WOLFF
ERIK SYLVIA TOM LENA
Vermutlich hat es ihre Mutter weggeworfen, weil sie den Anblick leid war. Lena stellt sich vor, wie Sylvia Wolff nach und nach die Namen der Familienmitglieder weggekratzt hat, die sie verlassen haben. Erst Tom, dann – keine vier Jahre später – ihr Mann, Erik. Und schließlich Lena selbst, kaum dass sie das Abi in der Tasche hatte.
Lena drückt auf den Klingelknopf. Der Westminsterschlag ertönt. Jede Sekunde vor der speckig glänzenden Eichenholztür lässt Lena gefühlt eines ihrer zweiundvierzig Lebensjahre verlieren. Bis sie wieder neun ist und darauf wartet, dass ihre Eltern über sie richten.
Ein Schlüssel wird gedreht. Dann öffnet sich die Tür.
»Hallo, Mama.«
»Kind! Ich habe gehört, dass du kommst, aber ich wollte es nicht glauben.« Sylvia Wolff fällt über Lena her, drückt sie, herzt sie.
Lena lässt die Umarmung über sich ergehen. Sie bringt sogar die Hände hoch, um die Schultern ihrer Mutter zu umfassen.
Sylvia Wolff schiebt ihre Tochter auf Armeslänge von sich. »Du bist dünn geworden. Richtig dürr.«
Lena verkneift sich, daran zu erinnern, dass ihr letztes Treffen acht Jahre her ist. Zu Weihnachten war das, auf neutralem Grund beim Italiener in Hannover.
Ihre Mutter trägt jetzt einen Pixie-Cut in Hennarot. Krähenfüße an den Augen sowie Marionettenlinien entlang der Mundwinkel sind dem Alter geschuldet, und ihr Hals liegt – typisch für die Familie mütterlicherseits – in Falten. Aber sonst strotzt Sylvia Wolff vor Kraft und Vitalität.
»Mama, das ist Malik Nasiri.« Lena macht eine Pause, um Malik Gelegenheit für ein paar höfliche Worte und einen Händedruck zu geben. Dann winkt sie die anderen heran. »Und das sind Detlev Kosinski und Björn Thoms vom Planbüro Alphaplus. Malik und ich sind für ihren Personenschutz zuständig.«
Kosinski und Thoms murmeln »Hallo« und »Freut mich, Sie kennenzulernen«.
Sylvia Wolff versteift sich. »Ich weiß, was Sie tun« ist alles, was sie zur Begrüßung erwidert.
»Wir könnten einen Platz für die Nacht brauchen«, schiebt Lena nach. »Die Pension hat in letzter Sekunde abgesagt, und wir wissen nicht, wo wir sonst hinsollen.«
»Wie das nur kommen mag.«
»Ich werde nicht betteln, Mama. Hilfst du uns?«
»Niemand von hier bis Hamburg wird euch ein Zimmer geben. Nicht bei dem, was ihr vorhabt.« Lenas Mutter atmet geräuschvoll durch die Nase ein und wieder aus. Dann tritt sie zur Seite. »Eine Nacht. Morgen früh seid ihr wieder verschwunden.«
»Danke. Aber wir –«
»Wir reden später. Bringt eure Sachen hinein. Ich mache Spaghetti aglio e olio. Wenn ihr hungrig seid, dürft ihr mitessen. Nur wunder dich nicht, Kind, ich habe ein wenig umbauen lassen, nachdem du weg warst. Hier hat sich einiges verändert.«
Während Lena ihre Nudeln hin und her schiebt, essen Malik, Detlev Kosinski und Sylvia Wolff mit der Steife eines Diplomatenempfangs. Björn Thoms genehmigt sich als Einziger eine zweite Portion Spaghetti.
Das Tischgespräch ergeht sich in Banalitäten. »Hat was, so ein Leben im Grünen«, sagt Malik gerade.
»Vor allem in solch einem Haus«, ergänzt Kosinski.
»Graf Andreas Gottlieb von Bernstorff hat es 1768 als Jagdsitz gebaut«, nimmt Lenas Mutter die Vorlage auf. »Mein Vater hat das Haus in den Siebzigern gemietet. Nach der Wende haben wir es dann gekauft. Aber Geschichte will gepflegt werden. Zuletzt musste ich einiges machen lassen.«
»Arbeiten Sie hauptberuflich als Künstlerin?«, fragt Thoms zwischen zwei Gabeln Spaghetti.
»Ob ich mit meinen Werken genug verdiene, um mir all das leisten zu können, fragen Sie? Ob die Leute für Art brut bezahlen? Für Outsiderkunst?«
»Mama, ich glaube nicht, dass er das …«
Ein Blick ihrer Mutter bringt Lena zum Schweigen.
»Nein, ich wollte nichts dergleichen andeuten!«, beeilt sich Thoms zu versichern. »Ich habe keine Ahnung von Kunst!«
Sylvia Wolff schnaubt, trinkt und füllt Rotwein in ihr Glas, kaum dass sie es geleert hat.
Gegen Ende des Abendessens ist die Unterhaltung zum Erliegen gekommen.
»Frau Wolff, es hat vorzüglich geschmeckt.« Detlev Kosinski faltet seine Serviette und erhebt sich. »Wir danken Ihnen für die Gastfreundschaft, besonders unter diesen Umständen. Es ist am besten, wir ziehen uns jetzt zurück.«
»Richtig.« Björn Thoms schützt ein Gähnen vor. »War ein Hammertag. Zeit fürs Bettchen.«
»Ich schließe mich an.« Malik sucht Augenkontakt zu Lena, in seinem Blick ein schlechtes Gewissen. Irgendwann ist auch die größte Loyalität erschöpft. »Gute Nacht, allerseits.«
Lena kann ihn verstehen. »Ja, gute Nacht«, wünscht sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit.
Kosinski und Thoms teilen sich das Gästezimmer im ersten Stock. Bevor Lena nach Toms Tod ins Erdgeschoss gezogen ist, war dort ihr Refugium. Malik muss sich mit einem Matratzenlager im Abstellraum nebenan begnügen.
Sie tuscheln da oben bestimmt über mich wie Teenager auf einer Pyjamaparty. Nicht, dass ich es nicht verdient hätte …
Nichts wäre Lena jetzt lieber, als wie Malik nach oben gehen zu können und ein Buch zu lesen. Gerade verschlingt er den neuen Wulf-Dorn-Roman. Sie würde sogar mit Björn Thoms tauschen. Soweit Lena mitbekommen hat, ist er Deathmetalfan. Sie kann sich gut vorstellen, wie er über Kopfhörer dem Gegrunze und Geballer von Kapellen lauscht, deren Logos Lena nicht einmal entziffern könnte. Alles wäre ihr genehmer, als reden zu müssen. Doch diese Wahl hat sie nicht.
Lena ist allein mit ihrer Mutter. Zum ersten Mal seit Jahren.
Ihre Mutter nimmt Lena mit auf Sightseeingtour durchs Haus. »Wie ist die neue Dienststelle, Kind?«, fragt Sylvia Wolff. »Hast du den Fehlschlag beim BKA weggesteckt?«
»Ich bin jetzt seit fast sechs Jahren in Lüneburg, Mama.« Lena ignoriert die Spitze. Aus Erfahrung weiß sie, dass Gespräche mit ihrer Mutter umso erträglicher verlaufen, je mehr sie die Initiative behält. »Ist bei dir denn alles im Lot?«, startet sie eine Frageoffensive. »Gehst du noch zum Yoga? Oder hast du wieder Probleme mit dem Knie?«
Sylvia Wolff winkt ab. »Könnte schlimmer sein.«
»Was macht die Verwandtschaft?«
»Jürgen hat wieder geheiratet.«
»Und Nadine?«
»Die Zwillinge deiner Cousine sind seit Sommer in der Schule.«
Ihre Mutter hat untertrieben, als sie sagte, sie habe ein wenig umgebaut. Kaum ein Stein ist auf dem anderen geblieben.
»Toms Zimmer …«, entweicht es Lena im Anbau des Erdgeschosses.
»Toms Zimmer«, bestätigt Sylvia Wolff. »Dann deines, und jetzt meine Keramikwerkstatt.«
Wo einst Lenas Schreibtisch gestanden hat, hockt eine Gruppe Katzenskulpturen mit geschmolzenen Gesichtern. Den Platz des Betts neben dem Fenster hat ein Brennofen eingenommen. Der Untergang ihres kleinen Reichs versetzt Lena trotz der Distanz vieler Jahre einen Stich.
Auch den Rest des Hauses erkennt sie kaum wieder. Die Wand zum Esszimmer besteht jetzt aus Glasplatten, die sich per Knopfdruck tönen lassen. Die Landhausküche dahinter ist Marmor und Metall gewichen.
»Wie findest du es? Die hier habe ich letztes Jahr einbauen lassen.« Sylvia Wolff fährt mit den Fingerspitzen über die Edelstahloberfläche der Kücheninsel.
»Vielleicht ein bisschen unpersönlich«, weicht Lena aus.
Sieht aus wie ein verdammter Seziertisch!
»Warte, bis du siehst, was ich aus unserer Stube gemacht habe!« Sylvia Wolff schiebt ihre Tochter vorwärts. Lenas Unbehagen perlt an ihr ab.
Das Wohnzimmer – einst die Stube – strahlt jetzt die Behaglichkeit einer Arztpraxis aus. Ein LED-Fernseher, der die Kinos aus Lenas Kindheit in den Schatten stellt, beherrscht das Ambiente. Die Sofagarnitur: Leder, schwarz. An den Wänden: Kunstdrucke. Klimt? Kandinsky? Malerei ist nicht Lenas Ding. Sie weiß nur, dass das Geschäft laufen muss für ihre Mutter. Oder Sylvia Wolff hat sich in Schulden gestürzt, damit nichts an die Zeiten erinnert, zu denen sie das Haus mit einer Familie geteilt hat. Keine Fotos mehr, nur eine einzige Porträtaufnahme in einem Silberaufsteller auf dem Eckregal ist verblieben, daneben eine Stoffrose und eine Stumpenkerze.
»Und, was meinst du?« Lenas Mutter öffnet die Glastüren des Barfaches. Sie zieht den Stöpsel einer Kristallkaraffe, lässt die Flüssigkeit darin kreisen und streckt das Gefäß ihrer Tochter entgegen.
Lena verzieht den Mund und schüttelt den Kopf. Ihre Ablehnung hält Sylvia Wolff nicht davon ab, sich selbst großzügig einzuschenken. Grappa, dem Geruch nach.
»Komm, Kind, sag schon. Die frische Farbe und das Umräumen haben dem alten Kasten gutgetan, oder nicht?«
Statt mit einer Antwort in die Falle zu tappen, greift Lena nach dem Bilderrahmen in der Ecke. Sie legt die Fingerspitzen auf die Gesichter ihrer Eltern und ihres Bruders. »Da waren wir im Harz, zu Nadines Konfirmation. Im Mai, kurz bevor Tom …« Lena stockt. »Ich habe das gleiche Bild bei mir in der Wohnung.«
Sylvia Wolff leert ihr Glas und hüstelt. »Ich richte dir die Couch her.«
Lena nickt nur. Ihre Mutter verlässt das Zimmer und kehrt mit Bettzeug unter dem Arm zurück. Der Alkohol macht ihre Bewegungen fahrig.
Sie ist bald bettreif. Vielleicht komme ich um das Schlimmste herum.
Lena erwidert das Lächeln der Familie auf dem Foto und stellt es zurück an seinen Platz. Ihre Mutter mag die Erinnerungen wegsperren und mit Farbe übertünchen, doch das Haus bleibt ein Schrein voller Geister.
Als habe sie Lenas Gedanken aufgefangen, hält Sylvia Wolff beim Kissenbeziehen plötzlich inne. Ihr Kopf ruckt zur Seite. »Weshalb bist du zurückgekommen, Kind?« So viel Bitterkeit, so viel Vorwurf stecken in dieser Frage. »Von allen Aufgaben auf der Welt, warum suchst du dir ausgerechnet diese aus?«
Lena hebt die Hände. »Ich bin nicht hier, um zu streiten.«