Künstlerblut - Hedwig Schobert - E-Book

Künstlerblut E-Book

Hedwig Schobert

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Beschreibung

Hedwig Schobert war Ende des 19. Jahrhunderts eine viel gelesene Schriftstellerin in Deutschland. "Künstlerblut" gehört zu ihren erfolgreichsten Romanen.

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Seitenzahl: 568

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Ähnliche


Künstlerblut

Hedwig Schobert

Inhalt:

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

XXIX.

XXX.

XXXI.

XXXII.

Künstlerblut, H. Schobert

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849635602

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Biografie

Hedwig Schobert, als Tochter des Rittergutsbesitzers Harnisch auf Barnimš-Čunow in Pommern, am 19. April 1858 daselbst geboren, heiratete sie den Premierlieutenant Karl Schobert und lebte längere Zeit in Bayreuth, dann in München. Die Ehe war keine glückliche und wurde gelöst. H. Sch. siedelte nach Berlin über und begann hier ihre schriftstellerische Thätigkeit, zu der sie seit frühester Jugend Neigung hatte. Nachdem einzelne Novellen und Romane in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht waren, trat sie in dauernde litterarische Beziehungen zu Schorers Familienblatt und zu Jankes Romanzeitung.

‒ Art zu Art. Rom. 2 Bde. 8. (228, 242 u. 280) Berlin 1897, O. Janke. 12.–

‒ Aschenbrödel. Rom. 8. (358) Berlin 1889, Schorer. 4.–

‒ Dasselbe. Ebda. 1889. 2.–

‒ Auf der grossen Landstrasse. Rom. 3 Bde. 8. (727) Berlin 1893, O. Janke. 12.–

‒ Das Grösste auf Erden. Eine Geschichte vom Strande. 8. (132) Ebda. 1889. 1.–

‒ Das Kind der Strasse. Rom. 3. Aufl. 8. (261) Berlin 1894, Leipzig, P. List. 3.60; geb. 4.50

‒ Dasselbe. Berlin 1889, Schorer. 1.50

‒ Deklassiert. Rom. 3 Bde. 8. (712) Berlin 1896, O. Janke. 12.–

‒ Durch eigene Schuld. Rom. 8. (284) Ebda. 1889. 2.–

‒ Eine verrufene Frau. Rom. 3 Bde. 8. (712) Ebda. 1898. 12.–

‒ Einst. Eines Thoren Paradies. 2 Erzählgn. 8. (140) Ebda. 1889. 1.–

‒ Flecken auf der Ehre. Rom. 3 Bde. 8. (731) Ebda. 1889. 10.–

‒ Fürstlich Blut. Rom. 8. (287) Berlin 1888, Schorer. 3.60

‒ Dasselbe. Ebda. 1889. 1.50

‒ Kreuzdorn. Rom. 2 Bde. 2. Aufl. 8. (372) Dresden 1889, E. Pierson. 6.–

‒ Dasselbe. Berlin 1898, O. Janke.

‒ Künstlerblut. Rom. 3 Bde. 8. (758) Leipzig 1892, P. List. 9.–; geb. 13.–

‒ Künstlergewissen. Erzählg. 8. (135) Berlin 1889, Janke. 1.–

‒ Madame Diane. Erzählg. 8. (79) Ebda. 1889. –.50

‒ Marquise Rose. Rom. 8. (270) Ebda. 1889. 2.–

‒ Moderne Ehen. Rom. 3 Bde. 8. (717) Ebda. 1895. 12.–

‒ Ulanenliebe. Rom. 2. Aufl. 8. (314) Ebda. 1895. 2.–

‒ Dasselbe. 8. (255) Berlin 1887, R. Eckstein Nachfolger. 2.–

Künstlerblut

I.

Ein weiß getünchtes Mansardenzimmer, vor dessen niedrigen Fenstern die billigen Gardinen unter dem draußen heftig wehenden Novembersturm leise hin und her schwanken; abgetretene Dielen, in der Nähe des Ofens ein altes schwarzes Ledersofa, an der andern Wand eine schöne alte Rokokokommode mit einem Spiegel darüber; inmitten ein tannener Tisch mit Büchern und Papieren bedeckt und davor ein Mann eifrig arbeitend.

Nichts unterbricht die Stille im Zimmer, der Wind draußen läßt sie hervortreten, nichts stört den Arbeitenden.

Die weißen Bogen füllen sich rasch; er schiebt sie zur Seite und greift nach neuen. Sein hübsches junges, südlich gebräuntes Gesicht, edel in Form und Ausdruck, glüht, die dunklen tiefen Augen glühen ebenfalls – er ist mit Leib und Seele bei seiner Arbeit.

Über die weiße Stirn wirft der grüne Lampenschirm einen leichten Schatten, der bis auf die fein gezeichneten Augenbrauen fällt, aber die Partie, die das Licht hell bescheint, ist voll Frische und Leben.

Irgendwo im Nebenzimmer schlägt eine Uhr acht, aber Viktor Alten ist so vertieft in seine Arbeit, daß er nicht darauf achtet. Nun knarrt die Treppe draußen, nur durch wenige schmale Dielen von seinem Zimmer getrennt, so daß man drinnen jeden Laut vernimmt, ein kurzes Klopfen, auf das er nicht einmal antwortet, und der Kommende tritt ein.

»Laß dich nicht stören,« sagt er bei dem stummen, grüßenden Nicken, mit dem der andere ihn empfängt, ohne aufzusehen, »ich warte!«

Er setzt sich, auf das alte Ledersofa, legt seinen großen weichen Filzhut neben sich und öffnet den Paletot; so sitzt er unbeweglich, wohl eine Viertelstunde.

»Fertig!« ruft Viktor endlich, die Feder hinwerfend. Er springt auf und reckt die Arme in die Luft, während er sich noch ganz erhitzt von der Arbeit nach dem Freunde umsieht. »Ich kann mit meinem Tagewerk zufrieden sein, das letzte Kapitel geschrieben, den Schluß meines neuen Romans!«

»Ich gratuliere dir.«

»Ja, das kannst du auch!« Gregor trat vor ihn und sah ihm mit eigentümlichem Lächeln in das Gesicht, es lag ein leicht sarkastischer Ausdruck in der Art, wie er seinen häßlichen Mund verzog.

»Ich habe dir hier etwas mitgebracht!« sagte er.

Er zog einige Zeitungen aus der Brustasche und zeigte auf die blau angestrichenen Stellen unter »Literatur«. »Realitäten!, Roman von Viktor Alten« las man da.

Der junge Schriftsteller war ein wenig blaß geworden, als er sich wieder auf den eben verlassenen Stuhl zurücksetzte und die Blätter nahm. Der andere sah ihm über die Schulter.

Es waren glänzende Kritiken, Worte des Lobes und der Anerkennung von ernsten Männern an das junge aufstrebende, bisher noch ganz unbekannte Talent gerichtet. Für ihn! Für ihn allein! – Ihn schwindelte – er seufzte tief auf. –

Seine erste große Arbeit gewürdigt, anerkannt! In diesem Augenblick war er vollkommen glücklich, so glücklich, wie es nur wenigen Menschen vergönnt ist im Leben zu sein, und dann eben auch nur einmal.

Plötzlich sprang er auf. Der Jubel, der ihn erfüllte, war so mächtig, daß er ihm fast die Brust zersprengte. »Gregor!« rief er laut und schloß den Freund, der so viel älter an Jahren war wie er, der fleckige Röcke trug und stets ein skeptisches, kritisches Lächeln auf den dünnen Lippen hatte, stürmisch in seine Arme. »Hast du es gelesen? Alles?«

»Natürlich!« sagte Gregor grämlich und hielt in der Umarmung so still, wie etwa ein Delinquent, dem man die Schlinge um den Hals legt. »Die Folge dieser Weihrauchwolken wird sein, daß du nun eitel, mit einem Wort so unausstehlich wirst, daß man dir meilenweit aus dem Wege geht. – Hol der Teufel solche Lobhudelei!«

»Gönne es mir doch!« sagte Viktor leise nach einer kleinen Pause.

»Gott im Himmel, hältst du mich etwa für neidisch?«

Die langen Arme auf dem Rücken verschränkt, schlurfte Gregor mit gesenktem Kopf durch das Zimmer.

»Daß du ein Narr wärst und dich um Lob und Tadel anderer kümmertest,« fuhr er fort und schüttelte den Kopf. »Geh deinen Weg, wie er dir paßt, nimm vom Leben, was du begehrst, suche deinen Vorteil, so lange du es kannst, das ist mein Alpha und Omega für dich!«

»Ich weiß, Gregor, daß du dich mit mir freust, daß du stolz auf mich bist,« sagte Viktor mit hellem Auflachen. »Bei dir heißt es auch: ›richtet euch nach meinen Taten aber nicht nach meinen Worten!‹ Du großer Realist du!«

»Großes Kind!« sagte Gregor spöttisch.

Viktor nickte, während Gregor auf ein leises Klopfen ein lautes Herein rief.

Über die Schwelle trat ein junges Mädchen; sie schloß die Tür, deren Klinke sie festhielt nicht ganz hinter sich, so daß das rötliche Helldunkel sie von rückwärts umfloß.

»Was wollen die Herren zum Abendbrot?« fragte sie, sich nachlässig gegen die Tür lehnend, »es ist Zeit!«

»Machen Sie erst einmal die Tür zu und kommen Sie näher, Martha!« sagte Gregor. »Gehen Sie, so sieht ein Mensch aus, den man einen Dichter nennt,« er legte seine Hand auf Viktors Schulter.

»Was soll das heißen?« fragte sie lachend von einem zum andern blickend.

Mit halb unbewußtem Stolz nahm Viktor die Zeitungen auf, die noch unordentlich auf seinem Schreibtisch lagen.

»Man hat mein Buch gelobt, sehr gelobt!« sagte er, und Glücksrausch stieg ihm aufs neue zu Kopf.

Ohne weiteres griff sie zu und begann zu lesen. Ihr blonder Kopf mit dem mattflimmernden, glänzenden Haar streifte fast die Lampe, das schöne Gesicht rötete sich, die Äugen leuchteten unter den langen Wimpern, die einen feinen Schatten auf die rundlichen glatten Wangen warfen.

Viktor sah Marthas Erregung, die seinige wuchs.

»O!« sagte sie endlich mit tiefem Aufatmen, stützte den Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand, während sie ihn mit dem großäugigen Kindergesicht bewundernd anblickte. »Darf ich das alles der Lene erzählen?«

»Der Lene und aller Welt, die es sonst noch hören will, Martha,« sagte Gregor, seinen Spaziergang wieder aufnehmend. »Nur die Masse macht den Ruhm; und wenn dabei auch manchmal wunderliche Dinge zutage kommen, sie ist stets im Recht, weil sie in der Mehrheit ist und deshalb die Macht hat. – Es ist ein schönes Ding um die Macht – leider!«

Viktor stand dem Mädchen gegenüber, ihre Augen hingen noch immer aneinander, die ihren bewundernd, fast respektvoll, die seinen leuchtend, durchglüht von Seligkeit. Auf einmal streckte er ihr die Hand entgegen.

»Sie freuen sich mit mir, Martha, nicht wahr?«

»Ja, das tue ich,« antwortete sie schnell und strich eine eigensinnige Locke hinter das Ohr, »aber gedacht hätte ich das nie von Ihnen.«

Er lachte laut auf.

»Ich auch nicht« gestand er ehrlich.

»Ein zweifelhaftes Talent, das sich selbst nichts zutraut,« fuhr Gregor dazwischen, »und was Sie anbelangt, Martha, so ist es das Vorrecht großer Geister von denen, die ihnen Tee kochen und Butterbrote streichen mit einer gewissen heimlichen Verneinung angesehen zu werden; das ist nicht anders in der Welt!«

»Himmel, das Abendbrot!« rief das Mädchen aufspringend. Sie eilte hinaus.

»Wie hübsch Martha geworden ist, hast du es bemerkt?« fragte Viktor, sich mit dem Rücken an den Tisch lehnend und Gregors fortgesetzter Promenade mit den Augen folgend.

»Gedenkst du mit dieser Bemerkung etwa deine Dankbarkeitsschuld für ihre Begeisterung abzutragen; sie hört es leider nicht!« meinte Gregor mit grimmigem Lächeln.

»Das fällt mir natürlich nicht ein. Ich sprach aus, was ich sah,« versetzte Viktor ärgerlich. »Übrigens hat mich ihre Teilnahme gefreut.«

»Die ungleich größer gewesen wäre, wenn es sich um einen neuen Hut oder solch ein Stück Möbel gehandelt hätte. Bah! –«

Alten schüttelte den Kopf:

»Laß mir die Frauen in Frieden! Und vor allen Dingen unsere kleine Martha, du Skeptiker!«

»Kleine Martha!« grinste Gregor. »Hast du nicht gesehen, wie sie dir fast an das Kinn reicht? Und das Kleid, das sie trägt, kaum mehr imstande ist, seine Dienste zu tun? Bist du denn blind gewesen?«

»Möglich!« sagte Viktor nachdenklich. »Ich hatte bisher genug mit meinen Phantasiegeschöpfen zu tun, weißt du!« »Bis du fast selber ein Phantasiegeschöpf geworden bist! Sei froh! Das ewig Weibliche zieht öfter hinab als hinauf.«

Mit einer mißmutigen Gebärde fuhr sich Viktor durch das Haar.

»Daß du es immer wieder versuchst, mich zu dem zu machen, was du einen ›Klugen‹ nennst! Gib die Mühe auf, Hugo, es lohnt nicht! Ich glaube an die Welt. Der Mensch ist von Hause aus gut; ein gutes Wort vermag mehr als Härte und Strenge.«

»Schwärmer!« spottete Gregor, das Haar über den kahlen Scheitel streichend. »Sieh mich an! So wie du dachte auch ich einst, aber das Leben lehrte mich bald etwas anderes. Ein nichtswürdiges Dasein, zu dem wir verdammt werden ohne unseren Willen, mit der einzigen Gnade nur, es in unserer Hand zu haben, wenn wie des Possenspiels satt sind.«

»Das Leben ist schön!«

Viktor breitete beide Arme gegen die Stubendecke. Ihm war das Herz so voll! Wo er auch hinsah, schien ihm das Glück zu winken, ein unnennbares, unfaßbares Glück.

»Gregor! Ich möchte keinen Tag, keine Stunde, die mir auf Erden geschenkt sein soll, missen.«

»Wohl dir, wenn du immer so denken wirst! Aber frage einmal bei Frau von Nordheim an.«

Dann ließ er ihn stehen und klopfte geschwind an die Verbindungstür.

»Wie geht's, Frau von Nordheim,« rief er durch die Spalte hinüber.

»Wie soll's gehen! Leisten Sie einer blinden, alten Frau etwas Gesellschaft,« klang es von drüben zurück. »Der Tag ist lang, lieber Gregor.«

»Ich komme gleich!«

»Also nachher,« sagte er, Viktor bei der Schulter fassend und ein wenig hin und her schüttelnd. »Ich hoffe, meine Aufforderung kam Ihnen nicht ungelegen,« sagte die alte Dame. »Sie debattierten drinnen so laut.« Ihr Gesicht war hart und streng, etwas von dem versteinten Schmerzenszug einer Niobe lag darin.

Gregor zuckte die Achseln.

»Das alte Lied! Viktor sieht in diesem Leben das Höchste, Vollkommenste und wird nicht eher ruhen, bis er sich den Kopf einrennt. Übrigens hat er heut seinen ersten Erfolg, er ist ein großes Talent!« Und nun erzählte er ausführlich.

Aus seiner scharfen, wenig modulationsfähigen Stimme klang dabei so viel Freude und Zärtlichkeit für seinen jungen Freund, so viel Stolz, daß über das vornehme alte Gesicht der Greisin ein seltenes Lächeln flog.

»Besser wäre es freilich, man hätte ihn verrissen,« schloß er. »Ich bitte Sie, ein Mensch wie er, jung, unerfahren, begeistert, voll reger Phantasie, dem sollte man Anerkennung nicht zu wohlfeil geben, das verwirrt nur den Sinn.«

Frau von Nordheim lächelte noch immer.

»lind wie oft haben Sie es mir zum Vorwurf gemacht, daß ich in bezug auf Martha ebenso denke wie Sie.«

»Das ist etwas anderes,« fuhr er auf, »Martha ist ein Mädchen...«

»Desto schlimmer!«

»Hm – ja!« meinte Gregor und strich über die grauen Haarsträhnen, »möglich! Jedenfalls ist Martha sehr hübsch geworden.«

»Leider, Gregor! Wäre sie das nicht, nicht auch sonst das echte Kind ihrer Mutter – ich könnte meine Augen in Frieden schließen. So aber bange ich vor der Stunde, obgleich sie mir Erlösung bringt,« sagte sie schroff.

Er trommelte mit den Fingern auf dem abgeschabten Knie seines Beinkleides einen Geschwindmarsch, während er die alte Frau beim Lampenlicht aufmerksam betrachtete; sie kam ihm verfallen vor, Sorge befiel ihn plötzlich. Was sollte dann werden! Aus Martha sowohl, als auch aus ihrem friedlichen, freundschaftlichen Zusammenleben, an das er sich so sehr gewöhnt hatte.

»Sie dürfen nicht sterben,« sagte er kurz und rauh. Wie kam auch die alte blinde Baronin, die noch dazu halb gelähmt war, seit er sie kannte und trotzdem niemals mit einem Wort den Tod erwähnt hatte, auf einmal zu dieser Idee? – »Sie sind noch nötig auf Erden!«

»Machen wir uns das nicht weis, lieber Freund,« sagte sie und faßte mit ihrer Hand seinen Arm. »Wir sind nie nötig! Können überhaupt nichts tun, als geduldig ausharren, damit ist unsere Macht erschöpft. Und wenn ich Martha einem Abgrund zutreiben sehen würde, glauben Sie, ich könnte selbst mit der eisernsten Strenge auch nur das Geringste ausrichten? Das Blut ihrer Mutter ist mächtiger als ich.«

»Das Blut ihrer Mutter?« fragte Gregor betroffen.

»Sie war eine Schauspielerin,« sagte sie kurz nach einigem Zögern – »und wenn ich Ihnen heute von meinen Lebensbeziehungen sprechen möchte, Gregor, so halten Sie es nicht für geschwätzig, sondern aus dem Bewußtsein entspringend, daß mir nicht mehr lange Zeit zum Sprechen bleibt. Sterben müssen wir alle!«

»Ich höre!« sagte er fast respektvoll.

»Sie war also eine Schauspielerin,« begann die alte Frau tief aufseufzend in der kurzen, barocken Art, die ihr eigen, und die jedes Wort zu einer Härte machte. »Schön! – sehr schön –! Mein Sohn hielt sie für eine große Künstlerin und nannte mich – ›voreingenommen‹, weil ich an ihrem Talent zweifelte. – Eberhard liebte sie – mehr, viel mehr als mich! – Es war eine blinde Leidenschaft, die ihn ganz unterjochte! Und ihr lag doch die Liederlichkeit im Blut; sie schändete unsern alten ehrenhaften Namen – durch Jahrhunderte hindurch ehrenhaft – täglich – stündlich – und mein Sohn merkte es nicht! Wer sollte es ihm anders sagen als ich? – Die Antwort war, daß beide heimlich flohen! – Begreifen Sie nur, Gregor – er verließ seine Mutter, die für ihn gesorgt hatte auf Kosten des eigenen Lebensglücks – heimlich – um dieser Dirne willen! – Den Rest meines kleinen Vermögens nahmen sie mit und ließen mir statt dessen das Kind, die Martha –.«

In Gedanken verloren hatte Frau von Nordheim das Kinn auf die Brust sinken lassen. Aus ihren verfallenen Zügen sprachen Kummer und Sorgen, aber es lag trotzdem ein Zug von Reinheit und Seelenfrieden in dem welken Gesicht, der deutlich zeigte, daß sie die Leidenschaft niemals kennengelernt hatte.

»Ich erzog Martha«, fuhr sie endlich leiser fort, »so gut ich konnte, freilich, zur Liebe kann man sein Herz nicht zwingen, und ich liebe die Tochter meiner bittersten Feindin nicht – ich konnte es nicht!«

Nun rang sie plötzlich angstvoll die Hände.

»Was soll aus ihr werden, wenn ich tot bin?« fragte sie gebrochenen Tones. »Sie ist eine Nordheim, den Namen kann ich ihr nicht nehmen. Wie aber darf ich in Frieden ruhen, wenn durch sie noch mehr Schande auf ihn gehäuft wird. Wie soll ich es verantworten, daß ich die unseligen Keime ihres Charakters nicht besser ausgerottet habe? Und doch, Gregor – all unsere Erziehung ist fruchtlos der Natur gegenüber! Was im Menschen liegt, tritt zutage, sobald der gegebene Augenblick da ist. Ich habe mit all meiner Strenge bei Martha kein Jota ausgerichtet. Führen Sie sie in Versuchung, und sie wird unterliegen, um genau das zu werden, was ihre Mutter war.«

»Seien Sie nicht ungerecht,« mahnte Gregor betroffen, »Martha ist jung, Jugend will ihr Recht. Sie ist hübsch, ein braver Mann wird sie an sein Herz nehmen und sie sorglich hüten, so daß Ihre Angst unbegründet ist.«

Sie wandte ihm rasch das Gesicht mit den erloschenen Augen zu. »Wäre das der Fall, auf meine Knie wollte ich fallen und ihm und Gott danken! Jeder Bettler wäre mir willkommen, wenn nur einmal der verfluchte Name ›Nordheim‹ aus der Welt geschafft wird!«

Sie sah in dem schwachen Lampenlicht, mit dem gelblichen hageren Gesicht, wie eine Fanatikerin aus, die bereit ist, für ihren Glauben in den Tod zu stürzen.

»Wenn ich tot sein werde,« fuhr sie fort, »ist Martha frei, und dann wird es sich zeigen, ob ich recht habe mit dem, was ich fürchte! Ihre Neigungen ziehen sie nach unten, keine einzige empor! Lene Dallmann und ihre Mutter, die Aufwärterin, sind ihre liebste Gesellschaft, sie verstehen einander in ihren Wünschen und Interessen, wir hingegen so wenig, als sprächen wir verschiedene Sprachen!«

»Warum dulden Sie denn diesen Verkehr?« fragte Gregor.

»Warum?« wiederholte sie leise, den Kopf schüttelnd. »Lieber Freund, Armut nivelliert, das ist nicht anders. Der Geldbeutel allein hat das Wort bei Leuten, die auf der Bildungsstufe der Dallmanns stehen. Bin ich reich, so beknixen sie mich, und käme ich aus dem Sumpf; bin ich arm, heiße ich ihresgleichen. Außerdem sind es ja ganz brave Leute, diese Dallmanns, und die Kinder gingen zusammen zur Schule.«

In diesem Augenblick öffnete Martha die Tür.

»Das Abendessen ist da, Herr Gregor!«

Er stand auf.

»Gute Nacht, verehrte Frau, und keine trüben Gedanken mehr, hören Sie?«

Sie reichte ihm die Hand.

»Gute Nacht, lieber Freund, Dank für Ihren Besuch!« Hugo Gregor zog die welken Finger an seine Lippen. Er hatte es noch nie getan und errötete fast selber darüber, aber über Frau von Nordheim lag heute abend eine solche Würde.

»Und was Martha anbelangt – ich bin auch noch da!« sagte er leichthin, während er der Tür zuging.

Es hatte ihm schon den ganzen Abend auf der Seele gelegen, ihr diese Versicherung zu geben, von der er wußte, daß sie ihr Herz erleichtern würde, aber sobald es sich darum handelte, hilfsbereit zu sein, war er schüchtern wie ein Knabe.

»Nur keinen Dank!« schrie er grimmig, wenn es aufkam, daß er wieder einmal im stillen etwas Gutes getan hatte. »Nur keine Redensarten!« – Und deshalb konnte auch Frau von Nordheim getrost ihr Haupt zur Ruhe legen; so lange Gregor lebte, war Martha nicht schutzlos.

Das Mädchen stand dicht an der Verbindungstür, die Arme auf dem Rücken verschränkt und sah dem Näherkommenden halb lachend, halb schmollend entgegen.

»Großmutter hat mich wieder schlechtgemacht?« flüsterte sie fragend. »Glauben Sie denn alles, Herr Gregor?«

Er sah sie prüfend an – unwillkürlich prüfend. Ihr reizendes, rosiges Kindergesicht sprach ihm nur von Anmut und Jugend, von keinem einzigen Fehler. Gewiß war Frau von Nordheim nicht ganz gerecht gegen ihre Enkelin!

»Denn sehen Sie, lieber Herr Gregor,« fuhr sie ganz rot im Gesicht fort, »Großmutter möchte am liebsten, daß ich nicht einmal freies Atmen hätte! Sie mißgönnt mir alles – sie haßt mich – und doch muß ich die ganzen Tage hindurch arbeiten, damit wir nur leben können. Das ist unrecht! Lenes Mutter ist mit allem zufrieden, was ihre Tochter tut, ich aber höre nie ein freundliches Wort. Nicht einmal das Nötigste gibt sie mir!« Er strich über den schönen blonden Kopf, die tiefblauen, kindlichen Augen standen voller Tränen.

»Seien Sie deshalb nicht verzagt, kleine Seele,« versuchte er sie zu trösten, während sie durch die kalte Küche über den Flur zu Alten zurückwanderten. »Ihre Großmutter ist eine schwergeprüfte Frau, man muß nachsichtig sein.«

Ungeduldig hob sie die Schultern, dann zog ein Ausdruck von Resignation über das bildschöne Gesicht.

»Was soll ich auch machen!«

Ein Weilchen starrte sie auf die mißfarbenen, ausgetretenen Dielen, über die sie gingen, plötzlich hob sie den Kopf.

»Wird Herr Alten nun reich werden?« fragte sie.

»Reich?« wiederholte er verwundert. »Wie kommen Sie darauf, Martha?«

»Weil Geld die Hauptsache im Leben ist,« sagte sie bestimmt. »Ohne Geld ist es ein ganz armseliges, erbärmliches Dasein.«

»Und Geld wünschen Sie Viktor Alten?« fragte er mit einem Lächeln. »Wie uneigennützig Sie sind, Kleine.«

Martha sah an ihm vorbei, während die Zähne an den roten Lippen nagten.

»Warum nicht auch für ihn,« bestätigte sie endlich etwas kleinlaut. »Freilich noch lieber für mich. Ach! ich möchte reich sein, Herr Gregor!«

»So! so!« neckte er sie, durch ihren inbrünstigen Ton amüsiert. »Nun, Martha, was nicht ist, kann ja noch werden! Viktor wird zweifellos soviel Geld verdienen, daß er Ihnen einmal Ihre ganze Wohnung mit Goldstücken auspflastern kann, ich gewinne das große Los für Sie – wenn es dann nicht reicht, dann weiß ich nicht!«

»Ach!« sagte sie, »Sie behandeln mich immer noch wie ein Kind! Ich bin kein Kind mehr!«

Sie ließ seinen Arm los, trat an den Herd und stieß in die Asche, daß die Funken noch einmal aufloderten; sie war so zornig, daß ihr wieder die Tränen in die Augen traten. Jeder sah in ihr das Kind, und sie fühlte doch deutlich, daß jene Zeit längst hinter ihr lag. In ihrem Herzen wuchsen Wünsche, Hoffnungen und Träume, die nichts mehr mit der Kindheit gemein hatten. Wenn Gregor nur wüßte, wie die Leute auf der Straße ihr nachsahen, mit welchen Komplimenten man sie in den Läden fütterte, in denen sie ihren geringen Bedarf entnahm!

»Wie lange du geblieben bist!« rief Viktor dem Eintretenden entgegen. »Oder hatte dir Frau von Nordheim etwas Besonderes zu sagen?«

»Wir sprachen über Martha.«

»Über Martha?« Viktors Züge nahmen einen interessierten Ausdruck an. »Was denn, wenn es kein Geheimnis ist?«

»Verlangst du etwa, daß ich dir alles wiederhole?« fuhr Gregor auf. »Kümmere du dich um deine Ideale und laß uns andern armseligen Menschen die Sorge für die Alltäglichkeit.« –

In dieser Nacht träumte Viktor Alten zum erstenmal von Martha von Nordheim. Sie erschien in ihrer Jugendschöne bald da, bald dort, ihn neckend, haschend, bis er endlich den Weg verloren hatte und mit einem lauten Aufschrei in eine bodenlose Tiefe stürzte. –

In der kurzen Mußezeit, die er sich zwischen dem Abschluß seiner letzten Arbeit und dem Beginn einer neuen gönnte, beschäftigte sich seine Phantasie mehr als sonst mit Martha. Martha war plötzlich ein Mittelpunkt geworden, um den sich sein Denken, sein Empfinden drehte. Aber nicht jene Martha, die er in ihrer äußeren Schönheit täglich vor Augen hatte, die Enkelin seiner Zimmerwirtin, sondern das Wesen, das er in ihr zu sehen glaubte.

Viktor errötete, sobald er Martha begegnete, sein Herz schlug, wenn der Zeitpunkt kam, an dem sie ihre täglichen Obliegenheiten für ihn besorgte, er war wie im Fieber, wenn er sie nah wußte und trübselig gestimmt, hörte er ihr Lachen und Flüstern mit Lene Dallmann.

Gregor natürlich wußte schon nach vierundzwanzig Stunden, wie es um seinen jungen Freund stand. Er erschrak nicht wenig. Zwei Jahre lang hatten sie friedlich und fröhlich zusammen gelebt, keinem war es eingefallen die Dinge und ihre Beziehungen zueinander anders als mit den nüchternen Augen der Gewohnheit anzusehen, und nun plötzlich kam dieser Unglücksmensch darauf, sich wie ein Blödsinniger in Martha zu verlieben!

Gregor war trotz seiner fleckigen Röcke viel zu sehr Lebemann – wenigstens in der Theorie – um nicht selbst der erste zu sein, der seinem jungen Freunde eine rechtschaffene Jugendeselei gönnte, aber daß es gerade Martha war, verstimmte ihn. Erstens betrachtete er das Mädchen als unter ihrem gemeinsamen Schutz stehend, also zu gut zum Scherz, und an Ernst durfte doch Viktor mit seinen fünfundzwanzig Jahren und dem ersten knospenden Lorberblatt auf der Stirn nicht denken; zweitens aber dachte er an Frau von Nordheims Worte und fand es gewagt, Viktor ungewarnt neben Martha weiter leben zu lassen.

Je länger Gregor beobachtete, je unwirscher wurde er gegen Alten, und nur Marthas gänzliche Ahnungslosigkeit gab ihm eine schwache Beruhigung. Aber wie lange würde das dauern?

II.

»Marthchen! Pst, Marthchen!«

Frau Dallmann, ein rotes gestricktes Umschlagetuch um die Schultern, stieß leise die Küchentür auf und winkte der am Herd Beschäftigten. »Haben Sie ein bißchen Zeit? Kommen Sie einen Augenblick zu uns herüber.« »Das Wasser kocht gleich, ich muß Tee machen,« sagte Martha mit einem Blick auf die Zimmertür ihrer Großmutter. »Aber meinetwegen, Frau Dallmann! Mehr als zanken kann keiner.«

Die Aufwärterin lachte und schüttelte den Kopf.

»Wer's gewöhnt ist, fragt nicht mehr danach!« meinte sie und öffnete die Tür zu ihrer Wohnung, in der ihre Tochter, eine hübsche Brünette in Marthas Alter, auf dem altmodischen Sofa lag und in einem Heft des neuesten Kolportageromans studierte. –

Mochte Frau von Nordheim im allgemeinen recht mit ihrem Urteil über ihre Flurnachbaren haben, eines blieb wahr, sie legten ihrer Enkelin gegenüber eine seltsame Gutmütigkeit an den Tag. Nie machte Frau Dallmann irgend einen Unterschied zwischen ihrer eigenen Tochter und dem schönen Aristokratenkind, dessen Umgang ihr um so lieber zu sein schien, je unnahbarer trotz aller Freundlichkeit die alte Dame war.

»Na, Mutter,« sagte Lene sich aufrichtend und das wirre Haar zur Seite streichend. »Mach zu, was ist's?«

Aus ihrem schmächtigen Geldbeutel zog Frau Dallmann zwei farbige Papierstreifen und legte sie triumphierend auf den Tisch.

»Das hat mir mein Fräulein gegeben!« Sie war augenscheinlich sehr stolz auf die Billetts. »Morgen ist ein großes Kostümfest, und da sollt ihr hingehen und zuschauen.«

Einen Augenblick sahen sich die beiden Mädchen mit glänzenden Augen an, dann kamen Martha die Tränen.

»Darf ich denn? Darf ich denn?!« jammerte sie, »Großmutter bände mich eher an ihren Stuhl, ehe sie das erlaubte.«

»Ja, sie gönnt Ihnen rein nichts, Marthchen,« meinte die Dallmann mitleidig. »Gerade so, als wenn Sie gar nicht ihr eigenes Fleisch und Blut wären! Aber ich hab's mir schon ausspekuliert, wie wir es machen, daß Sie doch hinkommen. Wenn die Alte schläft, kommen Sie auf Strümpfen zu uns herüber, und dann geht es heidi!«

»Und wenn sie ruft?« warf Martha zweifelnd ein. Die respektwidrige Art, in der man hier von ihrer Großmutter sprach, berührte sie nicht, sie hatten gar keine Gemeinsamkeit im Fühlen und Denken.

»Ach was! Jugend hat festen Schlaf! Was will sie denn machen, wenn Sie nicht hören? Kommen Sie nur mit, Marthchen, so gut wird es Ihnen nicht wieder geboten.« Sie brachte die Billetts in Sicherheit. »Es soll ja ganz großartig werden – und mein Fräulein geht als Türkin. Na, hin müßt ihr, Kinder!«

Sie saßen zusammen und besprachen ihren Plan. Martha hatte noch Skrupel, aber Frau Dallmann wußte sie willfährig zu machen.

»Das ist kein Unrecht, wenn Sie der Alten heimlich ausrücken, wer's zu streng machen will, macht es zuletzt nur schlecht, so sage ich, und zu wissen braucht es auch niemand, keine Menschenseele, hören Sie, Kind?«

»Ich sage es gewiß nicht!« lachte Martha. »Ach, liebste Frau Dallmann, wenn Sie doch meine Mutter wären!«

Die Aufwärterin lachte geschmeichelt. »Ich wollt's schon anders machen!« sagte sie gutmütig und gab Martha einen kleinen Stoß in die Seite.

»Martha! Martha!« rief die Blinde inzwischen wiederholt. Der Teekessel in der Küche brodelte über, Frau von Nordheim hörte das Zischen, aber sie war machtlos mit ihren gelähmten Gliedern, ihrem verlorenen Augenlicht.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich das Mädchen ihrer Pflichten erinnerte. Mit beunruhigtem Gewissen schlich sie zurück, aber so erhoben bei der Aussicht auf das kommende Vergnügen, daß sie schweigend, wenn auch verstockten Sinnes, die Vorwürfe der Großmutter mit anhörte.

»Von allen Schrecken der Erde ist das schrecklichste, hilflos zu sein,« sagte die Blinde bitter, »besonders, wenn diejenige, die uns verpflichtet ist, keine Pflichten anerkennt. Ich verbiete dir von heut ab, zu Dallmanns zu gehen.«

»Das kannst du nicht, Großmutter!« brach es da zornig aus dieser hervor, »Lene ist meine Freundin, ich gehe doch!«

Zum erstenmal fand Frau von Nordheim offene Widersetzlichkeit bei ihrer Enkelin.

»Das Blut deiner Mutter – es regt sich!« warf sie ihr verächtlich entgegen. »Geh denn! gehe zu denen, zu denen du dich hingezogen fühlst; ich habe keinen Teil an dir!« – Und Martha ging. Sie hatte denselben Abend noch ihren Sieg triumphierend bei Dallmanns gemeldet, und kein einziger Gedanke galt der hilflos zurückgebliebenen alten Frau, als sie am nächsten Abend mit den Schuhen in der Hand über den kalten Flur schlich.

Eine halbe Stunde später gingen sie zu dreien der innern Stadt zu, denn wenn auch nur die beiden Mädchen Einlaß bekamen, Frau Dallmann begleitete sie bis an die Pforten des großen Hotels, in dem das Fest stattfand.

»War das nicht Martha?« rief Viktor plötzlich, auf der Straße stehen bleibend und Gregor hart am Arm fassend.

»Du siehst Martha wohl im Traum und im Wachen. Wie soll sie um diese Zeit hierherkommen?« fragte dieser spöttisch.

»Darin hast du recht, Hugo, ich sehe sie im Wachen und im Traum,« gab Viktor seufzend zu, »aber woher weißt du das?«

»Weil ich nicht blind bin.«

»Dann laß mich dir noch mehr anvertrauen, ich ...«

»Zum Beichtvater habe ich nie getaugt,« sagte er bedauernd, »es ist sehr schade! Man bekommt da den ausgesuchtesten Unsinn zu hören, eine wahre Blütenlese der Narrheit und des Aberwitzes, aber die Leute hatten kein rechtes Vertrauen zu mir.«

»Wohl möglich – doch ich – ich habe es, Gregor. Darum verhehle ich dir nicht, daß ich Martha liebe –« »Auf einmal?«

»Ja! siehst du, das ist das Wunderbare dabei, ich kenne sie so lange schon, und doch ist mir alles neu an ihr und mir! Wie konnte ich nur so lange blind sein, und welcher Blitz hat mir die Augen geöffnet?«

»Blitze sind meist schädliche Blender,« sagte Gregor, zu einem Café hinüberlenkend. »Übrigens hast du in einem Dinge recht! Ein Dichter braucht Liebe zu seinem Schaffen. In der Jugend die Liebe der Weiber, im Alter die Liebe seiner Leser. Einstweilen bist du noch jung!«

»Du tust,« fuhr Viktor empört auf, »als handle es sich um eine leichtfertige Liebelei; daran denke ich aber nicht. Ich liebe Martha und diese Liebe ist mir heilig.«

»Betrachte sie, wie du willst, ich störe dich nicht darin. Mir hat es immer geschienen, sie steht mit den Füßen im Schmutz, wenn auch ihre Stirn die Sterne berühren mag.« – –

Dicht aneinander gedrückt, saßen die beiden Mädchen oben in der kleinen Loge und schauten mit weit aufgerissenen Augen in die Wunder hinab, die sich unten im Saale boten.

Die gewaltigen Kronleuchter, fast in gleicher Höhe mit ihnen, beleuchteten ein lebhaftes, farbenreiches Bild, einen orientalischen Bazar, mit seinem Gewimmel von Türken, Persern, Armeniern und Chinesen. Auf den wundersamsten Trachten blitzende Steine, funkelnde Goldmünzen um dunkle Locken und entblößte Arme.

»Dort! – Dort unten möchte ich sein – mitten darunter!« flüsterte Martha mit erstickter Stimme und preßte Lenes Hand. Die Tochter aus dem Volk nahm die Suche ruhiger.

»Das wäre ganz schön!« meinte sie, aber ohne die Begehrlichkeit, die aus Marthas Augen leuchtete. »Ach, wie es hier warm ist!«

Hinter ihnen klangen Schritte, Stimmen ... »Nun wollen wir uns das Ding einmal aus der Vogelperspektive ansehen,« sagte jemand noch jenseits der Logentür, »ich wette, Breskow, es macht sich schöner, als mitten darin.«

Zwei Herren traten ein, in Pilgerkutten, die sie geöffnet hatten, um sich unter ihnen im tadellosen Ballanzug zu präsentieren.

»Herrgott, die Hitze!«

Derjenige, der es ausrief, kniff gleichzeitig sein Monokel ein und betrachtete die jungen Mädchen, die verlegen die Köpfe gesenkt hatten. Auf französisch machte er seinem Begleiter eine Bemerkung.

Es war eine hagere, elegante Erscheinung aus der Gesellschaft, über die Mitte des Lebens hinaus, sein Benehmen jenes undefinierbare Gehaben des Weltmannes. Ohne weiteres zog er einen Stuhl heran, setzte sich neben Martha und begann ein Gespräch. Blutrot und schüchtern antwortete sie.

»O, wie das schön ist!« seufzte sie endlich. »Wie glücklich müssen alle diese Menschen sein!«

»Glücklich?« Er lachte über ihre naive Bewunderung äußeren Scheines. »Vielleicht denkt jeder dasselbe von Ihnen, wenn er Ihre Meinung hört.«

»Ich sollte glücklich sein?« fragte sie verwundert, und das großäugige Kindergesicht sah ihn zum erstenmal voll an. »Wie ist das möglich? Wer bin ich denn?«

»Ja, wer sind Sie?« fragte er, sich zu ihr herabbeugend. »Ich weiß es nicht – ich weiß nur, daß Sie – sehr – sehr schön sind!«

Ein neues, fremdes Gefühl durchrieselte Martha, zum erstenmal sagte ein Mann ihr eine Schmeichelei. Stolz ließ ihr Herz klopfen, das Weib in ihr erwachte. –

»Sie sind schön – sehr schön!« Das Wort nahm sie mit sich, als sie mit Lene aus der heißen Luft des Ballsaales in die kalte, klare Winternacht hinaustrat. Schön! – Ja, mit vollem Bewußtsein wollte sie es von jetzt ab sein. Ihr Sinn hatte schon immer nach Putz und Tand gestanden, und nur die knappen Mittel der Großmutter ihren heimlichen Wünschen Zwang angetan. Jetzt wollte sie das Doppelte arbeiten, aber für sich, sie wollte nähen und sticheln Nächte lang, aber für ihren Putz. Sie schämte sich jetzt, daß sie kein besseres Kleid angehabt, und doch war ihr, als trüge sie ein köstliches Geschenk heute abend mit nach Hause.

»Warum sprichst du gar nicht?« fragte Lene, als sie durch die menschenleeren Straßen über den knisternden Schnee gingen. »Bist du müde?«

»Nein! ach nein!« seufzte Martha.

Sie und müde! Der Kopf brannte ihr, die Gedanken jagten sich wie aufgescheuchte Bienenschwärme in ihrem Gehirn, aber sie hätte nicht sagen können, welch' rauschartiges Gefühl sich ihrer so plötzlich bemächtigt hatte.

Da blieb Martha plötzlich stehen, ihre Brust arbeitete heftig, ein wilder bacchantischer Zug lag über der noch völlig weltfremden Mädchengestalt.

»Lene!« rief sie und packte den Arm ihrer Gefährtin fest, »weißt du, was ich will? Eine von denen werden, die da unten im Saal tanzten und sich freuten. Ich will – ich will!«

»Dann mußt du zum Theater gehn,« riet Lene, denn seitdem Frau Dallmann, bei einer Schauspielerin bedienstet, dort den Luxus und das Wohlleben sah, erschien ihr das Theater das einzig erstrebenswerte auf Erden. Daß dazu etwas mehr gehöre als schöne Kleider und langes Schlafen, ahnte sie kaum. »Mutter will, daß ich auch Schauspieler lerne!«

Zum Theater! – Martha seufzte, was würde die Großmutter sagen, wenn sie ihr mit solchen Ideen käme? Vielleicht half ihr Gregor! – Jedenfalls wollte sie ihn für ihre Pläne zu gewinnen suchen. – Unhörbar wie Diebe schlichen sie die Treppe hinauf, mit klopfendem Herzen berührte Martha die nur angelehnte Küchentür. Unter dem leichten Druck öffnete sie sich geräuschlos; eine Entdeckung hatte also nicht stattgefunden. Befreiten Herzens schlüpfte sie hinein. Da stand alles noch wie sie es verlassen, alles wie sonst! Nur kam es ihr so eigentümlich still vor, als hielten alle Gegenstände ringsum den Atem an, um sie nicht zu stören, oder als zürnten sie ihr wegen der nächtlichen Flucht.

Sie nahm den Spiegel und betrachtete sich genau. Also schön war sie! Die blonden Löckchen zog sie tiefer in die Stirn, während sie vor Frost und der ungewohnten Erregung zu zittern begann.

Sie löschte die Lampe und kroch in das Bett, die Uhr schlug gerade drei. Aber anstatt einzuschlafen begann nun die Phantasie erst recht ein tolles Spiel. Die Tanzmusik klang ihr in den Ohren, das erregte Blut, der Wein, den ihnen schließlich die Herren aufgenötigt, klopfte in ihren Pulsen.

Ihr wurde heiß und kalt, als sie plötzlich mit dem Kopf in die Höhe fuhr. Die Großmutter hatte gerufen! Oder war es doch nur Täuschung? Atemraubend legte sich ihr wieder die nächtliche Stille auf das Herz, es kam ihr vor, als läge sie lebendig im Grabe. Frostschauernd schlüpfte sie aus dem Bett und lief bloßfüßig über die kalten Fliesen bis zur Tür der Großmutter; nur ihr altes, schwarzes Tuch raffte sie auf und hüllte sich ganz darin ein. Leise drückte sie die Klinke nieder und trat ein.

Das Zimmer war ganz angefüllt mit bläulich hellem Mondlicht; es kroch an den alten Möbeln entlang bis in die fernsten Ecken; von den Rändern des blinden Spiegels gingen weiße Lichter aus und fielen über das Bett der alten Frau von Nordheim, die friedlich darin schlummerte. Sie lag ganz still, beide Hände auf der Decke gefaltet, den Kopf etwas zur Seite, so daß gerade der Schatten des Nachttischchens über ihr Gesicht fiel; nur das Kinn lag schon im Hellen. Martha ging näher. Ihr war so unheimlich zumut, allein in der silbern schimmernden Mondnacht, daß sie fast wünschte, die Großmutter möchte erwachen.

Frau von Nordheim regte sich nicht.

Nun rückte das Licht weiter, über dem Gesicht lag es nicht mehr wie ein schwarzer Schatten, sondern wie lichte Dämmerung, man unterschied die einzelnen Züge deutlich, und in der bläulichen Mondhelle sahen sie fahl und eingefallen aus. Martha beugte sich über die Schläferin.

Wie Eiseskälte drang es ihr aus dem bewegungslosen Körper entgegen, ein plötzliches Entsetzen, namenlos wie ihr ganzes Empfinden heut abend, ließ ihr Blut erstarren; zwischen den Lidern der alten Frau schien sich ein Blick hervorzudrängen, so unheimlich und gläsern, daß ihre Zähne zusammen schlugen. Sie konnte es nicht länger ertragen! Lieber Entdeckung, lieber körperliche Züchtigung als dieses starre Schweigen ringsum.

»Großmutter!« flüsterte sie und wunderte sich, daß ihre Stimme so erstickt und tonlos klang.

Nichts regte sich, kalte Schauer fuhren über sie hin.

»Großmutter!« Sie berührte, außer sich vor Angst, die gefalteten Hände auf der Bettdecke und fuhr mit einem Schrei zurück. Über den Mond zog eine Wolke. Und nun schien es dem entsetzten Mädchen, als rege es sich gespenstisch überall, als hebe die Tote die Arme, um nach ihr zu greifen, als wehe ein Grabesschauer über ihre Glieder.

Außer sich, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, stürzte Martha vorwärts auf die Tür zu, hinter der Viktors Zimmer lag, sie schlug mit den Fäusten gegen das Holz, das Schreien, das ihr der erste Augenblick des Schreckens eingegeben, wurde zu einem angstvollen Wimmern, und als Alten, aus tiefem Schlaf aufgeschreckt, endlich den Riegel geöffnet hatte, fand er Martha bewußtlos an der Schwelle hingestreckt, eingewickelt in das schwarze Tuch, umflutet von den gelösten goldnen Haaren.

Als er sie aufhob, schlang sie, ihrer Sinne noch nicht ganz mächtig, beide Arme wie Klammern um seinen Hals und preßte sich fest an ihn.

»Sie ist tot!« ächzte sie. »Tot!«

»Mein armes Kind, meine arme kleine Martha! Wie Sie erschrocken sind!« sagte er, der Zitternden das Haar streichelnd. »Setzen Sie sich hier her, ich werde einmal nachsehn!« Er drückte sie in die Sofaecke, zog das Tuch fester um sie und machte Miene ihr eine Decke von seinem Bett her zu holen. Aber mit eiserner Kraft hielt sie ihn fest.

»Gehen Sie nicht fort! – Gehen Sie nicht fort, – ich sterbe vor Angst!« murmelte sie zähneklappernd.

Ein leidenschaftliches Mitleid mit der Entsetzten überfiel ihn. Wenn Frau von Nordheim wirklich tot war, konnte er ihr doch nichts mehr nützen, dachte er, während Marthas fiebernde Angst Schonung verlangte.

Er setzte sich zu ihr auf das Sofa. Sie drückte sich fest an seinen Arm, er hörte den Schlag ihres Herzens, spürte das Leben, das unausgesetzt durch ihren Körper rann. Ihm wurde beklommen.

»Ich bitte Sie, Martha, werden Sie doch nur ruhig!« begann er nach einer Pause und fühlte selbst, daß ihm allmählich die Ruhe abhanden kam. »Und lassen Sie mich doch gehen, daß ich Ihnen etwas Wärmendes hole.«

»Ich will nicht! – Ich will nicht! – Ich fürchte mich!« wiederholte sie und hielt ihn nur fester.

Nach einer kleinen Weile machte er sich mit einem jähen Ruck frei.

»Es ist nötig, daß ich nach Ihrer Großmutter sehe!« sagte er fast rauh, »ich gehe ja nicht weiter!«

Stumm stand sie auch auf, und ihn festhaltend ging sie mit, das schwarze Tuch schleppte hinter ihr her, die nackten Füße leuchteten auf der dunklen Diele. Der Mondschein war fort, aber noch füllte dämmerige Helle das Sterbezimmer. Viktor blickte nur nach dem Bett hin, in dem die Tote lag, er fürchtete sich wie vor einer tödlichen Gefahr auf Martha zu blicken, deren körperliche Nähe er unausgesetzt fühlte. Es schien fast, als lächle Frau von Nordheim ihnen entgegen.

»Wie friedlich Ihre Großmutter zur Ruhe eingegangen ist,« sagte er ergriffen. »Wollte Gott, es ginge uns einst ebenso.«

»Ich will nicht sterben, ich will leben – leben!« murmelte Martha und drückte ihren gesenkten Kopf gegen seinen Arm; eine schwerfällige Mattigkeit hatte sie plötzlich überwältigt.

Er blickte zu ihr nieder, endlich mußte er es doch. Wie ein goldner Schleier schien ihm ihr Haar, die nackten Füße standen noch immer auf dem kalten Boden.

Da hob er sie ohne weiteres auf und trug sie in sein Zimmer zurück, weil es ihm dort am wärmsten dünkte.

»Seien Sie vernünftig, Martha,« begann er, als er sie in die Sofaecke gleiten ließ, »überwinden Sie diesen Schrecken und versuchen Sie zu schlafen, Ihrer Großmutter kann keiner mehr helfen. – Bleiben Sie hier auf dem Sofa – ich werde die Nacht bei Frau von Nordheim wachen!«

Trotz der bleiernen Ermattung, die sie befallen, hob sie doch die schweren Lider und packte aufs neue seine Hand.

»Gehen Sie nicht« – murmelte sie schlaftrunken – »bleiben Sie bei mir!« – Und dann sank ihr Kopf auf die Seitenlehne, und tiefe, ruhige Atemzüge zeigten ihm bald, daß sie den besten Tröster der Jugend – den Schlaf – gefunden hatte.

Seine Hand hielt sie noch immer umklammert; er fürchtete sie zu wecken, wenn er sie jetzt schon aus ihren Fingern befreite, und so kniete er vor dem Sofa und sah auf das schöne Gesicht, das er mit jeder Fiber seines Seins zu lieben glaubte.

Ihre Hilflosigkeit, die Angst, die sie drängte, sich an ihn zu klammern, hatte sie ihm auf einmal so nahe gebracht; es gab nichts mehr, was trennend zwischen ihnen stand. Sie mußte sein werden mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sie sich vorhin um seinen Hals gehängt hatte.

Sein! – Seine Geliebte! – Seine Frau! – Die Mutter seiner Kinder, wie er es einst von der Zukunft erträumt hatte. Sein Glück, alles – verlangte er von diesem süßen, kindlichen Geschöpf, das da in tiefem Schlaf vor ihm lag.

Sein Empfinden war rein, noch nicht angefressen durch das leichte Leben der Großstadt und deshalb war seine Liebe für Martha, durchsetzt mit lebhafter Phantasie, genährt durch ihre Schönheit, ebenso heiß und leidenschaftlich wie groß und edel, aber – auch gefährlich für diejenige, der sie galt. Er gab viel, aber er verlangte auch für sich dasselbe Maß.

Auf ihren sonst so rosigen Wangen lag noch die Blässe des Schreckens, über die halbgeöffneten Lippen glitt ein zitternder Seufzer. Da beugte er sich nieder und küßte sie leise auf den Mund.

Ihre Lippen waren kühl und blaß, aber wie ein Feuerstrom rann es ihm durch die Adern; er sprang auf, stellte sich an das Fenster und beobachtete den Himmel und die schwarze Masse des gegenüberliegenden Hauses.

Aber wohin er auch sah, überall war Marthas Gesicht vor ihm, Zug um Zug, immer aufs neue empfand er den wonnigen Gedanken: wie schön ist sie! Er hatte schließlich für alles andere das Bewußtsein verloren, vor ihm lag sie ruhig und bewegungslos, das weiße Kinn auf dem schwarzen Tuch, die langen Wimpern auf den Wangen und atmete friedlich.

Er hatte gewiß nicht im Stehen geschlafen, aber er fuhr doch erschrocken zusammen, als die Uhr in Frau von Nordheims Zimmer sieben schlug. Um ihn wurde es Tag. Ein bleicher Schein drang durch die Fenster, in undeutlichem Licht schienen die Möbel ringsum zu schwimmen, dann wurde es Heller, und deutlicher tauchten alle Umrisse auf.

Martha hatte eine Bewegung gemacht, mit klopfenden, Herzen sah er sich um. Sie saß aufrecht und betrachtete mit erschrockenen Augen ihre Lage und die warmen Hüllen, in denen sie eingebettet lag; augenscheinlich war sie noch nicht Herr ihrer Erinnerungen. Als sie Viktor auf sich zukommen sah, fiel ihr erst das Geschehene ein.

»Herr Alten – – mein Gott!« – sagte sie, und eine Blutwelle stieg ihr plötzlich in das Gesicht.

»Martha! – Martha!« er nahm ihre Hände, zog sie leidenschaftlich an seine Lippen, »sag' mir das Eine – das Eine... hast du mich lieb – willst du meine Frau werden?«

Sie sah ihn fassungslos an, im ersten Augenblick begriff sie nicht. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie sich die Augen reiben, ob sie auch nicht träume, ob das wirklich Herr Alten war – der berühmte Mann – wie ihn Herr Gregor nannte, der da vor ihr auf den Knien lag und sie ansah. – So hatte sie noch niemand angesehen, so voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit und Verehrung. – Seine Frau! – Das Wort schlug wohl an ihr Ohr, sie verstand auch seinen Sinn, aber wie konnte das sechzehnjährige Kind die Tragweite ermessen, die es für sie hatte.

»Martha!« flehte er, »sprich doch ein Wort – willst du mich glücklich machen, dann sage Ja!«

Ihr kurzes Zögern hatte ihm den Maßstab für die Macht seines Empfindens gegeben, es überlief ihn eiseskalt während des kaum sekundenlangen Schweigens. Und ihr fiel ein, daß die Großmutter tot war, daß sie nun allein und arm in der Welt stand, daß Viktor viel Geld verdienen, und sie niemals mehr Mangel leiden würde, – das alles nicht in kaltblütiger Überlegung, sondern impulsiv, mehr geahnt wie bewußt, – daß es jemand gab, der nun wieder zu ihr gehörte; und endlich lag etwas in seinen Augen, sprach aus dem Ton seiner Stimme, das sie warm und weich berührte, wie noch nichts im Leben. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, und sagte: »Ja!« wie er verlangte.

III.

Gregor hatte bei der Nachricht von Frau von Nordheims Tode eine tiefere Bewegung empfunden, als ihr nur sehr oberflächlicher Verkehr rechtfertigte, und er machte sich sogleich auf den Weg, um mit Viktor über Marthas Zukunft zu beraten. Was die ersten Schritte anbelangte, darüber war er sich schon einig.

Das strahlende Gesicht seines jungen Freundes verblüffte ihn nicht wenig.

»Ich denke, ich komme in ein Trauerhaus,« schalt er grämlich, »und du machst ein Gesicht, als gingest du zur Hochzeit.«

»Geh ich auch – geh ich auch!« rief Viktor, ihm um den Hals fallend. »Ach, Gregor, ich bin der Glücklichste der Menschen! Martha hat eingewilligt, mein zu werden!«

Mit einem Ruck machte der andere sich frei.

»Was sagst du da?«

»Martha ist seit heute morgen meine Braut! – In der Nacht – komm, laß dir erzählen!« –

»Du bildest dir wohl ein, wunder wie klug gehandelt zu haben, und daß ich mit Tränen der Rührung im Auge nun segnend die Hände über euch ausstrecken werde!« rief Gregor zornig und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Dumm hast du gehandelt! Niederträchtig dumm – zum Prügeln dumm! Ja, noch mehr – pflichtwidrig!«

»Ich verstehe dich nicht!« unterbrach Viktor. »Du scheinst von dem Gedanken auszugehen, ich habe Marthas Schicksal an das meine gefesselt, ohne genug realen Boden für uns beide unter den Füßen zu haben, da sie arm ist wie ich. Aber dem ist nicht so! Ich habe gestern meinen neuen Roman verkauft und dafür viertausend Mark bekommen, Geld genug, um glücklich und zufrieden zu leben. Wenn ich jedes Jahr nur einen arbeite, kann ich ihr ein genügendes Auskommen bieten, meinst du nicht auch?«

Gregor lachte ingrimmig auf.

»Hänge dir nur eine Kugel an das Bein, mein Sohn, wenn du fürchtest, einen zu hohen Flug zu tun; mich soll's wahrlich nicht kümmern! Aber bedenke – eine Ehe ist leicht eingegangen, schwer gelöst. Sie bringt in ihrem Verlauf Verpflichtungen mit sich, von denen sich dein Knabengehirn noch nichts träumen läßt. Und wenn sie dich endlich umgarnt haben, und du unter ihnen erstickst, dann balle die Faust über deine Dummheit, und schlage dir selbst den Schädel ein, oder werde zum Schuft an deiner Frau!«

Viktor lachte, laut und herzlich, indem er die Haare in den Nacken schüttelte.

»Du sprichst doch wie ein Blinder von der Farbe,« sagte er nachsichtig. »Was weiß solch ein verknöcherter, alter Junggeselle, wie du, von Liebe und Ehe!«

»Meinst du?« nickte Gregor höhnisch, »du kannst nicht unrecht haben! Aber Liebe, mein Sohn, ist eine Illusion.«

»Wir sprechen von Martha!« rief Viktor mit blitzenden Augen, »du kennst sie eben nicht, sie ist ein Engel, kindlich, zärtlich, voll der besten Anlagen, und meine Sorge laß es sein, das alles zu pflegen und an das Licht zu ziehen. Der Mann ist das Schicksal der Frau.«

Gregor zog eine Grimasse.

»Du bist wahrlich noch sehr jung, Viktor – sehr jung!« sagte er endlich ruhiger. »So jung, daß du in jedem Nähmädchen eine Aphrodite zu sehen berechtigt bist. Mit der Zeit gibt sich das, der Nimbus geht zum Teufel. Ernüchterung bleibt einmal die sicherste Mitgabe der Mutter Natur. Was nun deine Ehe anbelangt, so sind, glaube ich, viertausend Mark nicht ausreichend, daraufhin Hütten zu bauen.«

»Ich sagte dir schon einmal, Martha ist bescheiden! Und wäre sie es auch nicht, Gregor...« Wieder sprangen die Sonnenfunken aus seinen Augen, spannten sich die Muskeln, und jener Zug von Kraftbewußtsein und Energie trat in sein Gesicht, den Gregor an ihm liebte; »Ich habe Mut für uns beide und die Kraft dazu! Jeder Stein, auf den ich trete, erzählt mir eine Geschichte, jeder Lufthauch weht mir Gedanken entgegen. Ich brauche nur festzuhalten, was sich mir bietet, dann verwandelt es sich zu Geld unter meinen Händen, und ich kann Martha geben, was sie verlangt, ohne mehr zu tun, als wohin mich meine eigene Neigung treibt. Ich liebe sie, und ich will glücklich sein, ich und sie! – Ich will – ich will! –«

»Man mag wollen, hundertmal wollen, und alles kommt doch, wie es einmal kommen soll. Mit dem Willen allein erreicht man nichts,« sagte Gregor seufzend. »Und nun kann ich ja wohl Martha beglückwünschen!«

Sie saß im Zimmer der Verstorbenen auf dem Fußboden vor einer Kommode, deren Fächer halb herausgezogen waren, und deren Inhalt zum Teil auf dem Boden lag. Die Schreckgespenster der Nacht hatte der helle Tag verjagt. Sie hörte auch nicht, daß Gregor eintrat. Mit gesenktem Kopf und glühenden Wangen schaute sie starr in einen ziemlich großen, flachen, eckigen Kasten hinein, der auf ihren Knien stand. Erst, als er ihren Namen rief, fuhr sie erschrocken zusammen, der Kasten verlor das Gleichgewicht und stürzte polternd zur Erde.

»Martha!« sagte er vorwurfsvoll und streifte mit den Augen den verstreuten Kram und dann die zugedeckte Tote, »hätte das nicht Zeit gehabt bis später?«

Sie biß mit den Zähnen in die schwellende Unterlippe, etwas Dunkles, Feindseliges lag in dem Ausdruck ihrer Augen, als sie den seinigen folgten. Sie schwieg.

Er sah ihr an, daß sie nicht geweint hatte und ihre Herzlosigkeit dem Andenken der Toten gegenüber, die doch für sie gesorgt hatte, als sie schwach und hilflos gewesen, erzürnte ihn.

Mit seiner schmalen blassen Hand ergriff er die ihrige und zog die nicht Widerstrebende an das einfache Totenbett.

»Sie hat es gut mit Ihnen gemeint, Martha!« sagte er, mit einem Gemisch von Rührung und Hochachtung auf die Tote blickend, »Sie müssen ihr ein gutes Andenken bewahren.«

»Nein!« rief das sechzehnjährige Kind hart und drehte den Kopf zur Seite.

Gregor sah sie an, war das das Kind, das er bisher mitsamt seinen kleinen Schwächen und Fehlern so gut zu kennen glaubte? Diesen Ton hatte er ihr gewiß nicht zugetraut.

»Warum nicht?« fragte er kurz. »Hat Ihre Großmutter nicht alles getan, was sie Ihnen nur schuldig war? Ist das nicht ein gutes Andenken wert?«

Sie zuckte die Achseln und sah halb zweifelnd, halb überlegend zu ihm auf, dann aber schwoll all das plötzlich empor, was sie so lange mit sich herum getragen, und brach sich gewaltsam Bahn im Angesicht der Toten.

»Wie kann ich trauern,« rief sie ungestüm, »da ich doch nichts weiter von ihr erfahren habe als Strenge und harte Worte! Nicht eine Liebkosung, nicht ein Zeichen der Zärtlichkeit, so weit ich auch zurückdenke! Was war ich ihr denn! Die Tochter meiner Mutter; nichts anderes! Glauben Sie, ich hätte die Ungerechtigkeit nicht gefühlt, die sie mir damit antat? Was konnte ich dafür, daß sie meine Mutter haßte, wie war denn ich dafür verantwortlich, daß ihr meine Mutter nicht gefiel? – Ich kann nicht weinen um die Großmutter, vor der ich nur immer in Schrecken lebte, ich müßte sonst heucheln, aber um meine Mutter will ich weinen, die ich niemals gekannt habe, von der ich nicht einmal weiß, ob sie tot ist, – die mich lieber verließ, ehe sie es ertragen konnte, mit der Großmutter zusammenzuleben – um meine Mutter weine ich jetzt!«

Tränen stürzten aus ihren Augen, und sie preßte die flachen Hände vor das Gesicht.

»Wie kommen Sie in diesem Augenblick auf Ihre Mutter, Martha?« fragte Gregor verwirrt.

Sie zog die Hände herab und deutete auf den Kasten. »Dort –« schluchzte sie – »ich fand etwas von ihr dort drinnen.« Sie ging hin, hob den Kasten auf, zog einen welken Lorbeerkranz darunter hervor und eine zerrissene Photographie, der der Kopf fehlte, und hielt ihm beides stumm entgegen.

Gregor blickte auf diese Zeugen einer bewegten Vergangenheit und dann auf die Tote. – »Martha! Was wissen Sie von der Schwere und Grausamkeit eines menschlichen Lebens! Seien Sie nicht ungerecht, Kind!«

Sie wischte mit der umgekehrten Hand die Tränen von den Wangen. »Großmutter war ungerecht gegen mich,« widersprach sie, »ich habe sie nicht lieb gehabt und sie mich auch nicht – aber –«

Sie blickte auf Alten, der eben eintrat, da er Gregors Sprechen und Marthas Schluchzen drinnen gehört hatte. »Dich habe ich lieb!« schrie sie plötzlich auf und flog ihm an den Hals. »Ja, dich habe ich lieb, Viktor – sehr lieb!«

Eng schmiegte sie sich an seine Brust, und über ihren blonden Kopf hinweg flog sein triumphierender Blick zu Gregor.

»Mein Lieb, – mein süßes Lieb,« flüsterte er beschwichtigend, »sei nicht so traurig, ich bin immer da – immer und ewig!«

Er hatte noch kaum ausgesprochen, da streifte sie schon seine Arme von sich ab und trat etwas von ihm fort.

»Lene kommt,« sagte sie, nach der Türe hinhorchend, »wir wollen mein Bett hinübertragen zu Dallmanns, denn ich muß vorläufig da wohnen. Ich freue mich darauf!« Sie verschwand hinter der Küchentür, und wenige Augenblicke hörte man sie auflachen, mit dem silberhellen Ton, der ihr eigen.

Gregor schüttelte den Kopf.

»Sie ist ein Kind, ein liebes, reizendes Kind,« sagte Viktor mit Begeisterung. »Alles an ihr wird durch das Herz bestimmt! Ich hätte nicht gedacht, daß sie um die alte Frau weinen würde. Sie war doch recht hart und unfreundlich zu ihr.«

Wieder schüttelte Gregor sein graues Haupt.

»Weißt du, weshalb Frau von Nordheim so strenge mit ihrer Enkelin verfuhr?« fragte er leichthin.

»Vermutlich weil sie eine nörgelnde alte Frau war, die die Tage der eigenen Jugend vergessen hatte.«

»Nein. – Weil sie in Marthas Charakter die Keime zu ersticken suchte, die nach ihrer Ansicht die schlechte Rasse der Mutter dort hinterlassen hatte. – Ganz folgerichtig, mein Sohn!«

»Eine furchtbare Ungerechtigkeit,« brauste Viktor auf. »Sollen unschuldige Geschöpfe unter den Fehlern ihrer Vorfahren leiden? – Was war Marthas Mutter?«

»Schauspielerin!«

»Nun, ich werde dir zeigen, daß die Tochter der Schauspielerin die beste, edelste, geliebteste Frau der Erde sein wird. – In der Ehe ist der Mann der überlegenere Teil, von ihm allein hängt es ab, was aus einer Frau werden soll.«

Gregor schwieg. Was sollte er auch sagen? –

Am Abend desselben Tages saß Martha in Frau Dallmanns Stube am Tisch und hatte den Kasten vor sich stehen. Neugierig blickte ihr Lene über die Schulter und auch die Aufwärterin nahm in ihrer Weise regen Anteil an allem.

»Das glaube ich ja wohl, daß es Ihre Mutter nicht ausgehalten hat bei der Alten,« sagte sie jetzt in weisem Ton, die Hand nach dem kopflosen Bild ausstreckend. »Eine Schauspielerin ist eben ein anderes Leben gewöhnt! Mein Fräulein – na, ich sage bloß – mein Fräulein hätte sich mit der Alten gekratzt.«

Sie blickte auf das Bild, dem mit scharfem Ruck das Stück, das den Kopf enthielt, abgerissen schien. Das Papier war im Zickzack ausgefranst, aber ein schwellender Hals, prächtige Arme und eine jetzt unmoderne, aber damals gewiß hochelegante Toilette waren als Rest zurückgeblieben.

»Schade, daß der Kopf fehlt,« meinte Lene und wühlte in dem Kasten herum, »ob er nicht noch irgendwo steckt? Vielleicht sah sie so aus wie du, Martha!«

Die antwortete nicht; sie hatte ein vergilbtes, in seinen Falten brüchiges Zeitungsblatt gefunden und entfaltet. Auch dieses war halb durchgerissen, wie in heftigem Kampf, der Name des Blattes und der Stadt, in der es erschienen, fehlte, aber die unruhigen Augen derjenigen, die es jetzt lasen, fanden trotzdem genug.

Es war eine Theaterkritik. In schwülstigem Stil, Gott weiß, welchem Krähwinkel entstammend, pries es die Leistungen der »gottbegnadeten« Schauspielerin Martha Coralin, als Lorle in Dorf und Stadt. Und hinterher folgte ein Passus, der ihre Schönheit rühmte.

»Wenn Fortuna die Gaben aus ihrem Füllhorn schüttet,« hieß es, »so geschieht es wohl, daß einer mitten darunter steht und alles erhält, während andere darben müssen ihr lebenlang. Zu diesen Glücklichen, die kaum selber wissen, was sie alles besitzen und deshalb verschwenderisch mit ihren Gaben umgehen dürfen, gehört Frau Martha Coralin. Ihre Augen sind wie zwei Sonnen, ihr Haar flüssiges Gold« – wieder ein Riß – und dann zum Schluß: »Glücklich preisen wir denjenigen, dem dieses Kleinod, diese berühmte, begabte Schönheit zuteil geworden ist – den Träger eines vornehmen Namens.«

»Das war meine Mutter!« sagte Martha, mit tiefem Aufseufzen das Blatt beiseite legend, aus dem sie laut vorgelesen. »Meine Mutter!«

Frau Dallmann wischte sich die Augen.

»Ich sag es ja immer, das Theater! – Lene, daß du mir zum Theater gehst, oder du kriegst es mit mir zu tun!«

»Na freilich, Mutter, darüber sind wir doch einig, Und wenn die Martha nicht heiraten wollte, dann wäre sie mitgegangen, nicht Martha? Die Alte ist ja jetzt tot, du könntest nun tun, was du wolltest!«

Mit verlorenen Augen hatte diese in die Lampe gestarrt, sie beschäftigte nur die Erinnerung an die Mutter; bei Lenes Worten fuhr sie auf:

»Ja!« rief sie aus. »Ja!« und dann setzte sie kleinlaut hinzu: »Aber nun wird es Viktor nicht leiden.«

»Ach, Gott bewahre!« meinte Frau Dallmann kopfschüttelnd, »die Männer, daß Gott erbarm – die sind ein eigenes Volk! Und wenn Sie klug sind, dann sagen Sie ihm gar nichts davon. Ja, wissen Sie, Marthchen, es ist ja auch eine ganz gute Versorgung für Sie, wenn er soviel Geld verdient, wie Ihnen Herr Gregor gesagt hat. Heiraten wollen wir am Ende alle!«

Sie klopfte Martha auf die Wange. »Gut wird er schon zu Ihnen sein. Sie sind ja hübsch genug, um noch zehn für einen zu kriegen.«

»Natürlich ist er gut zu mir,« sagte Martha etwas ungeduldig. »Er hat mich schrecklich lieb, Frau Dallmann.«

»Und Sie, Marthchen?«

Sie hatten keine Hochzeitsreise an die italienischen Seen gemacht, wie Viktor zuerst geträumt, wenn er auf die in seinen Augen gewaltige Geldsumme sah, die ihm sein letzter Roman gebracht. Es wollte nicht recht reichen.