Küstenlinie - Yannic Aimé Harsdorf - E-Book

Küstenlinie E-Book

Yannic Aimé Harsdorf

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Beschreibung

Der Klimawandel hat die Menschheit fest im Griff. Die Erde leidet unter Dürren und Überflutungen, die Permafrostböden tauen, neue Wüsten entstehen. Savio Brückenstein, Ende 30 und Familienvater, hat als ehemaliger Diplomat schon viel von der Welt gesehen und will mit seiner Erfahrung einen Beitrag zur Erhaltung des Planeten leisten. Mit seiner Organisation "Germany and Europe against Greenwashing" (GAEAG) versucht er, einem beispiellosen Greenwashing-Skandal auf die Spur zu kommen. Was er nicht ahnt ist, dass im Hintergrund ein noch größeres Verbrechen vorbereitet wird, dessen Drahtzieher in allen Ebenen vernetzt sind - und das auch Savios eigene Lebensgeschichte noch einmal neu erzählt.

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Seitenzahl: 162

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-691-8

ISBN e-book: 978-3-99146-692-5

Lektorat: Susanne Schilp

Umschlagfoto: Eugenesergeev | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Das musikalische Werk des Autors

finden Sie unter anderem auf

folgenden Plattformen:

1

Manchmal, wenn ich meine abendliche Runde auf den stillgelegten Bahngleisen drehe, muss ich daran denken, wie ich damals, vor rund zwei Jahren, an diesem Ort angekommen bin. Ich sehe sie noch vor mir, die von kaputten Hochhäusern umgebene alte Bahnhofshalle, ein nur noch zur Hälfte existierendes gläsernes Bauwerk, dessen Fassade bereits nahezu vollständig von Wacholdersträuchern überwuchert war. Ich weiß noch, wie ich nach meinem vergilbten, ehemals weißen Rollkoffer griff, den Stopp-Button betätigte und den überfüllten Zug verließ, in dem ich seit einer knappen Stunde gesessen hatte. Ein flüchtiger Blick nach links und rechts, dann schritt ich auf den Eingangsbereich der Bahnhofshalle zu und verschwand im Inneren des Gebäudes.

Das Bild, das sich mir dort bot, stimmte mit dem überein, was ich bereits auf dem Flughafen und im Zug von diesem Land gesehen hatte: Es war ein Anblick, wie ich ihn aus anderen von Krisen heimgesuchten Staaten kannte. Die Wände schienen dem Einsturz nahe, der Boden war aufgerissen, und überall lag Müll herum. Die dicht drängelnden Menschen zwängten sich zwischen auf dem Boden sitzenden Bettlern hindurch, rempelten sich gegenseitig an und beschimpften einander. Händler mischten sich dazwischen und versuchten, mit ihren lauten Rufen die allgemeine Unruhe zu übertönen, bewaffnete Ordnungskräfte standen an den Seiten und beobachteten aufmerksam die Szenerie, die sich vor ihnen abspielte. Ich beeilte mich, die Halle auf schnellstem Weg durch den Hinterausgang zu verlassen, trat ins Freie und hielt den ersten Bus an, der vorbeifuhr. Der Busfahrer ließ mich mitfahren, obwohl sein Fahrzeug bereits aus allen Nähten zu platzen drohte. Im Vergleich dazu war es im Zug angenehm leer gewesen. Ich warf einen Blick auf die Fahrgäste, die dicht aneinander gedrängt im Gang standen und mit hängenden Schultern ins Leere starrten, während der Busfahrer das Gaspedal betätigte und die Fahrt in Richtung Innenstadt fortsetzte.

Die Viertel, die wir auf dem Weg dorthin passierten, änderten meinen Eindruck vom Zustand der Stadt keineswegs. Wohin ich auch blickte, überall fielen mir verfallene Bauten, aufgerissene Straßen und obdachlose Menschen ins Auge. Auch die Altstadt, die wir schließlich erreichten, fügte sich in dieses Bild ein, und ich musste schlucken, als ich mich an die Pracht zurückerinnerte, die diese Gegend früher einmal ausgestrahlt hatte. Wer zum ersten Mal hier entlangfuhr, konnte davon höchstens noch etwas erahnen, denn mittlerweile war die Altstadt ebenso heruntergekommen wie ein Großteil der anderen Bezirke dieser Stadt.

Irgendwann erreichten wir die Haltestelle, die ich auf meiner Karte rot eingekreist hatte – Zeit auszusteigen. Ich zwängte mich an den Fahrgästen vorbei und stolperte ins Freie. Direkt vor der Bushaltestelle konnte ich das Plusenergiehaus erkennen, das man mir beschrieben hatte und welches kaum hätte unpassender wirken können in dieser Gegend: moderne, weinrote Wände, helle Glasfenster mit getönten Scheiben, brandneue Solarpanele auf dem Dach und an den Wänden. Schnellen Schrittes passierte ich die Drehtür im Eingangsbereich und betrat einen riesigen Innenraum, dessen Design maßgeblich von den schwarzen und weißen Kacheln an der Decke, an der Wand und auf dem Boden geprägt war. Der Raum selbst wirkte groß und leer, was mir im Kontrast zu den engen und überfüllten Straßen und Verkehrsmitteln überall in der Stadt geradezu zynisch vorkam. An der hinteren Wandseite des ansonsten lediglich einige gläserne Vitrinen mit Prototypen verschiedener erneuerbarer Energiequellen enthaltenden Raumes befand sich ein weiß lackierter Rezeptionstresen, rechts daneben führte eine gläserne Tür aus dem Raum hinaus.

Ich ging auf den Tresen zu, hinter dem eine schlanke Frau in den Dreißigern vor einem großen Bildschirm saß. Sie hatte kurzes, weißblond gefärbtes Haar und trug eine große, gerundete Feingold-Brille. An ihrer schwarzen Halskette baumelte eine kleine Holzschnitzerei, die wohl eine Weltkarte darstellte. Als sie mich an die Rezeption treten sah, deutete sie ein Lächeln an:

„Mr. Brückenstein, schön, Sie wohlbehalten an diesem Ort begrüßen zu dürfen.“

Ich räusperte mich, um etwas zu erwidern, doch sie bedeutete mir mit einem Fingerzeig, auf längere Begrüßungsformeln zu verzichten und mich stattdessen direkt der Glastür neben der Rezeption zuzuwenden.

„Sie können gleich weitergehen, Ihr Büro befindet ganz am Ende des Ganges, in den Sie nach dem Durchschreiten dieser Tür gelangen werden, auf der linken Seite. Gehen Sie bitte auf direktem Weg hinein und setzen Sie sich mit dem Chef in Verbindung. Seine Kontaktdaten habe ich Ihnen zugemailt. Wir sehen uns dann später auf der Konferenz.“

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder ihrem Bildschirm zu, während ich der Anweisung Folge leistete und auf die Glastür zusteuerte, die sich mit einem surrenden Geräusch öffnete und den Blick auf den von der Frau beschriebenen Gang freigab. Ich ging hindurch und fand mich in einem langen, weißen Flur wieder. Aus den Deckenlautsprechern drang leise progressive Trance-Musik, und LED-Lampen an den Wänden beleuchteten den fensterlosen Gang. Die in regelmäßigen Abständen angeordneten, sich zu beiden Seiten befindenden schmalen Glastüren waren geschlossen, bis auf eine einzige, die letzte auf der linken Seite. Vor dieser blieb ich schließlich stehen, um einen ersten Blick in mein neues Büro zu werfen.

„Hey, Sie da, da vorne.“

Die Stimme, die mich aus meinen Erinnerungen reißt und zurück in die Gegenwart befördert, ist hoch und schrill. Ich fahre herum und sehe eine sich aus der abendlichen Dunkelheit lösende Gestalt auf mich zukommen. Sie ist noch etwa 50 Meter hinter mir und fuchtelt wild gestikulierend mit den Armen. Ich gehe der Gestalt entgegen und erkenne einen mittelgroßen, hageren Mann um die 60 mit kurzem grau meliertem Haar und einem Vollbart. Er ist in einen langen schwarzen Umhang gehüllt und hat sich einen roten Schal elegant um den Hals geworfen.

„Mr. Brückenstein“, ruft der Mann, als er mich erkennt. „Was treibt Sie denn so spät noch an diesen gottverlassenen Ort?“

Inzwischen stehe ich meinem Chef direkt gegenüber.

„Keine Sorge, Mr. Brava“, antworte ich und versuche, einen gefestigten Eindruck zu machen. „Ich wollte nur noch ein wenig Luft schnappen, und da ich kein bestimmtes Ziel hatte, bin ich einfach ein bisschen die Gleise entlangspaziert und habe mich an den Tag zurückerinnert, an dem ich damals hier eingetroffen bin.“

„Ich brauche Ihnen aber nicht zu erklären, dass das alte Bahnhofsviertel von der Öffentlichkeit nicht mehr betreten werden darf, oder?“, erwidert Mr. Brava scharf.

„Das brauchen Sie sicher nicht“, gebe ich zurück und versuche dabei, so beschwichtigend zu klingen wie möglich. „Ich bin die ganze Zeit auf den Gleisen geblieben. Demnächst werde ich mich dann wohl auch auf den Rückweg begeben.“

„Das tun Sie am besten sofort“, kommt es humorlos zurück. „Und wie ich bereits sagte: Hüten Sie sich davor, die Gleise zu verlassen.“

Das ist eine unmissverständliche Aussage. Ich drehe mich um und trete, ohne noch länger mit Mr. Brava zu diskutieren, den Rückweg an. Dabei betrachte ich ein weiteres Mal das Bahnhofsviertel, das wie ausgestorben zu meiner Linken liegt und im Licht der untergehenden Sonne rötlich schimmert. Menschen sind nicht zu sehen. Nur die grünen Bagger, die hier unter der Woche von morgens bis abends den Beton aufreißen, am heutigen Sonntag jedoch außer Betrieb sind, stehen ungleichmäßig verteilt zwischen Bergen aus Schutt und Resten ehemaliger Gebäude. In der Ferne sind die Türme der Innenstadt zu sehen, die davon zeugen, dass die Gegend tatsächlich noch nicht ausgestorben ist. Im Gegensatz dazu ist der Blick auf die von den Gleisen aus rechte Seite. Hier erstreckt sich eine kilometerweite Wüstenlandschaft, von der untergehenden Sonne in einer zynischen Romantik angestrahlt. Die Sträucher, die dort im Zuge der Desertifikationspräventionsmaßnahmen bereits angepflanzt wurden, sind immer noch nicht richtig angewachsen und wirken inmitten der Sandmassen eher lächerlich.

Als ich mich außer Sicht- und Hörweite meines Chefs befinde, greife ich in die Jackentasche und hole mein Handy hervor. „Anruf in Abwesenheit“, lese ich auf dem Display und betätige sogleich die Rückruftaste.

„Savio!“ Die Stimme von Laelia dringt an mein Ohr, und ich erhöhe die Gesprächslautstärke. „Gut, dass du zurückrufst. Wie geht es dir? Hast du gute Nachrichten?“

„Auch dir einen schönen Abend“, antworte ich und möchte dabei möglichst locker herüberkommen, was mir aber wie gewohnt nicht gelingt.

„Wenn du schon so anfängst, dann kann das gar nichts Gutes verheißen“, kommt es vom anderen Ende der Leitung zurück. „Mein Freund, wie lange willst du denn nun noch in diesem Land bleiben? Glaubst du wirklich immer noch daran, dass ihr dort etwas erreichen werdet?“

„Es sieht jetzt wirklich gut aus“, ist das Beste, was mir auf die Schnelle einfällt. „Ich bin überzeugt davon, dass wir die Herren Igre und Brava spätestens in zwei Monaten zur Strecke gebracht haben werden. Also, bitte, nur noch ein wenig Geduld.“

Ich kann förmlich sehen, wie Laelia eine wegwerfende Handbewegung macht.

„Ich weiß ehrlich nicht, wie lange ich das hier noch alles alleine durchhalte. So sehr ich mich auch gefreut habe über die Beförderung, aber der Job verlangt mir mittlerweile wirklich alles ab. Und Numana ist im Moment auch nicht gerade einfach.“

„Das weiß ich doch“, sage ich schuldbewusst. „Wie geht es ihr denn, was macht die Schule?“

„Es geht“, erwidert Laelia. „Sie wird dich morgen Abend um 20 Uhr deiner Zeit anrufen, und ich möchte, dass du mindestens eine Stunde mit deiner Tochter telefonierst. Ist das verstanden worden?“

Ich schlucke. „Ist es“, bringe ich stotternd hervor.

„Gut“, kommt es als Antwort zurück. „Gut.“

„Laelia, ich …“

„Du musst dich nicht rechtfertigen, wirklich nicht. Ich stehe, wir beide stehen wirklich voll hinter dir. Ich weiß doch, was dir dieses Projekt bedeutet, und ich weiß auch, was es für die Öffentlichkeit bedeuten würde, wenn du und deine Leute, wenn ihr tatsächlich Erfolg haben würdet. Doch ich muss dich nicht mehr daran erinnern, dass du diese Mission eigentlich in zwölf Monaten abgeschlossen haben und den Ort anschließend wieder verlassen wolltest. Nun bist du seit mittlerweile zwei Jahren wegen dieser geheimen Sache dort unterwegs, und wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich nicht mehr wirklich daran, dass ihr in diesem Land noch etwas erreichen werdet. Was ich hingegen sehr wohl weiß, ist, dass du dich dort Tag für Tag in Lebensgefahr begibst. Für nichts, wie es mittlerweile scheint. Und was ich natürlich ebenfalls weiß, ist, wie sehr du hier, bei uns zu Hause, gebraucht wirst.“

Ich möchte etwas erwidern, bekomme aber keinen Ton heraus. So verharren wir kurzzeitig in Stille, ehe Laelia noch einmal das Wort ergreift:

„Ich gehe jetzt schlafen, muss morgen schon ein wenig früher in der Klinik sein. Also, wir hören uns. Pass auf dich auf, bitte.“

„Pass auch du auf dich auf. Und auf Numana. Sag ihr, dass ich für sie da bin.“

Deprimiert lege ich auf. Ich schaue auf die Uhr: schon kurz nach neun. Ich sollte meinen Schritt beschleunigen und mich auf den direkten Heimweg begeben. Auch ich habe morgen einen langen und anstrengenden Tag vor mir.

2

Der nächste Tag beginnt für mich in etwa so, wie der letzte aufgehört hat: mit einem Gefühl der inneren Zerrissenheit, der Rast- und Ratlosigkeit. Ich habe gestern Abend noch lange wachgelegen und über das Telefonat mit Laelia nachdenken müssen.

„Wenn ich ehrlich bin, dann glaube ich nicht mehr wirklich daran, dass ihr in diesem Land noch etwas erreichen werdet.“

Das hat sie gesagt. Hat sie es wirklich so gemeint? Sicher, sie ist bereits seit einiger Zeit nicht mehr gut auf meinen Einsatz zu sprechen. Geduld und Verständnis für mein Fernbleiben von daheim nehmen von Woche zu Woche ab, angesichts der enormen Doppelbelastung, der sie mit einer Führungsposition im Job und der Alleinerziehung eines pubertierenden Kindes ausgesetzt ist, natürlich mehr als nachvollziehbar. Doch diesmal klang noch etwas mit, das ich mir gegenüber in ihrer Stimme bislang noch nicht bemerkt habe: Mitleid. Mitleid, mit mir, meiner Erfolglosigkeit und der scheinbaren Aussichtslosigkeit meines Handelns. Muss ich mir womöglich tatsächlich eingestehen, dass ich hier gescheitert bin? Sollte ich mich ins nächste Flugzeug setzen, um das Projekt und das Land hinter mir zu lassen? Was wird Numana wohl bei unserem nächsten Telefonat erzählen, wird sie überhaupt mit mir sprechen wollen? Ist es für sie noch von Belang, ihren Vater an ihrem Leben teilhaben zu lassen?

Von diesen Fragen überwältigt, kam ich gestern erst spät am Abend zur Ruhe, um Stunden später mit denselben Gedanken wieder aufzuwachen. Auch jetzt, auf dem Weg zur Arbeit, kann ich mich von den Gefühlen noch nicht wirklich losreißen. Auf halber Strecke fällt mir auf, dass ich den Schlüssel für unseren Transporter in meiner Wohnung liegen gelassen habe. Fluchend mache ich kehrt und jogge zurück zum Appartement, wo ich mir den Schlüssel greife und mit einem kurzen Blick auf meine Armbanduhr feststelle, dass ich mich bereits in 15 Minuten am Treffpunkt einzufinden habe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als den erneuten Weg zur Arbeit im Sprint zurückzulegen. Schweißüberströmt treffe ich schließlich um 6.59 Uhr, eine Minute vor der abgemachten Zeit, am Treffpunkt ein, dem Parkplatz hinter unserem Firmensitz im größten und modernsten Plusenergiehaus der Innenstadt. Alle anderen sind natürlich schon da, und Frederik, Leiter unserer Einsatzgruppe und gleichzeitig mein bester Freund, kann ein schelmisches Grinsen nicht unterdrücken, als er mich begrüßt.

„Sorry, war wieder etwas stressig heute Morgen“, presse ich gehetzt hervor, während ich den Transporter aufschließe und auf dem Fahrersitz Platz nehme. Frederik steigt neben mir ein, die anderen sechs machen es sich auf den Hinterbänken bequem. Ich starte den Motor, drücke aufs Gas und werde sogleich von Frederik in die erste längere Unterhaltung der neuen Woche verwickelt. Wie üblich übernehme ich dabei die Rolle des Zuhörers, während er beginnt, ein Thema nach dem anderen mit mir durchzugehen. Zunächst geht es um das Fußballspiel, das er sich am vergangenen Abend im Fernsehen angeschaut hat, später um die aktuellen Mietpreise und die wirtschaftliche Situation in Südostasien. Irgendwann sind wir dann schließlich bei seiner großen Leidenschaft angelangt: Wasserstoffautos. Nicht zum ersten Mal verweist er auf die Vorzüge des neuen Wasserstofftransporters unseres Arbeitgebers, dessen Anschaffung „schon seit langem überfällig“ gewesen sei.

„Die alte Elektrokiste, mit der wir hier bis vorletzte Woche noch rumgefahren sind, konnte man doch wirklich niemandem mehr zumuten“, ist seine unumstößliche Meinung dazu.

Ich brumme etwas Zustimmendes, während ich das von ihm gepriesene Objekt durch den morgendlichen Stadtverkehr lenke und dabei gleichzeitig das Geschehen auf den Straßen beobachte. Die Autos, die uns entgegenkommen, sehen aus, als würden sie jeden Moment in sich zusammenfallen, was genau den Eindruck widerspiegelt, den auch ihre Insassen erwecken. Sie sitzen gebückt und emotionslos über dem Steuer oder schauen mit leerem Blick aus dem Fenster, auf kaputte Straßen, notdürftig renovierte Ziegelsteinbauten und heimatlose, herumlungernde Menschen.

Die Projektgruppenmitglieder, die sich bei uns auf den hinteren Plätzen eingefunden haben, sind im Gegensatz zu Frederik noch ziemlich wortkarg am frühen Montagmorgen. Sie lauschen kommentarlos unserem Gespräch, bedienen ihr Smartphone oder machen noch einmal die Augen zu.

Nach einer etwa halbstündigen Fahrt erreichen wir schließlich unser Ziel, das weiße Parkhaus am Anfang des Bahnhofsviertels. Dreizehngeschossig und mit einer Grundfläche von etwa einem Hektar ragt es wie ein Koloss aus dem ansonsten bereits zur Hälfte dem Erdboden gleichgemachten Viertel heraus. Wie gewöhnlich ist im Inneren des Parkhauses nur wenig Betrieb, da außer unseren Leuten und den Mitarbeitenden des Abrissunternehmens niemand mehr die Erlaubnis besitzt, sich im Bahnhofsviertel aufzuhalten. Ich parke den Transporter im ersten Stock des Parkhauses und peile anschließend den südlichen Ausgang an, von wo aus man auf eine schmale Brücke gelangt, auf der sich die Gleise überqueren lassen, um in die gegenübergelegene Wüste zu gelangen. Die Temperaturen haben bereits jetzt die 30 Grad Celsius überschritten, und ich höre das Stöhnen einiger meiner Begleiter, als sie feststellen, dass sich für heute ein nahezu windstiller Tag ankündigt.

„Dann wollen wir mal“, sagt Frederik, als wir die Brücke passiert und unsere Arbeitsfläche erreicht haben.

Wieder einmal sind wir stundenlang in der prallen Sonne aktiv, arbeiten hart und machen nur wenige Pausen. Gesprochen wird kaum ein Wort, schließlich benötigen wir die Kraft an anderer Stelle. Ich blicke auf den feinen Sand hinunter, der mir beim Arbeiten zwischen den Fingern zerrinnt, und muss an meine Zeit in Ägypten zurückdenken. Mrs. Osman, die Haushälterin, tritt in meine Erinnerung, eine kleine, etwas untersetzte Frau um die 60 mit olivfarbener Haut und langem, kräftigem, mittlerweile etwas ergrautem Haar. Am Tag meines Abschieds vor knapp zehn Jahren trug sie wie immer ihre lange, weiße Schürze, auf der eine große Weltkarte abgebildet war. Als ich ihr die Hand reichte, um auf Wiedersehen zu sagen, zwinkerte sie mir freundlich zu.

„Es war mir immer wieder ein Vergnügen, mit Ihnen über die großen Fragen des Weltgeschehens zu diskutieren, Mr. Brückenstein. Das wird mir fehlen.“

„Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben, Mrs. Osman“, antwortete ich. „Ich werde Sie und Ihre Ratschläge stets im Gedächtnis behalten.“

„Wissen Sie, Mr. Brückenstein, Sie erinnern mich an jemanden“, erwiderte sie. „Sie erinnern mich an meine Tochter. Ihre Weltanschauungen, Ihre Argumentationsweise, das Poltern und Sichüberschlagen Ihrer Stimme, wenn man erst einmal einen Nerv bei Ihnen getroffen hat. Meine Tochter redete, diskutierte und gestikulierte ganz genauso, hatte man sie auf das richtige Thema angesprochen.“

„Sie haben mir nie erzählt, dass Sie eine Tochter haben“, stellte ich verwundert fest.

Als ich bemerkte, wie Mrs. Osmans Pupillen sich bei diesen Worten weiteten, wurde mir klar, dass sie dafür ihre Gründe gehabt haben musste. Nun schien sie umso entsetzter darüber, dass sie zum Ende hin nun doch noch etwas aus ihrem Privatleben preisgegeben hatte. Während der gesamten vier Jahre, die ich mit meiner Familie in Ägypten lebte, war Mrs. Osman unsere Haushälterin gewesen, vier Jahre, in denen ich mich oft und lange mit ihr unterhalten hatte. Sie verfügte über ein erstaunliches Allgemeinwissen und konnte zu eigentlich jedem Thema fundierte Äußerungen treffen. Ab und an fragte sie mich auch persönliche Dinge, nichts Peinliches oder streng Geheimes, sie wollte einfach wissen, wie es mir und meiner Familie in ihrem Land erging, wie wir miteinander klarkamen, was unsere Pläne waren. Ich erzählte ihr, wie es um unser Wohlergehen stand und erkundigte mich anfangs auch stets nach ihrem Leben außerhalb der Arbeitszeiten. Schnell wurde mir allerdings bewusst, dass ich mir letzteren Teil sparen konnte. Denn sobald sich das Gespräch auf ihre Person richtete, auf ihre familiären Verhältnisse und Hintergründe, wechselte sie rasch das Thema oder beendete die Unterhaltung auf dem schnellstmöglichen Weg, meist unter Zuhilfenahme eines naheliegenden Vorwands wie etwa dem Ruf der Arbeit. Auch an diesem Tag war nichts weiter aus Mrs. Osman herauszubekommen als das bereits Gesagte, und ich beließ es auch dabei. Die getätigten Aussagen schienen ihr Gemüt ohnehin schon sehr belastet zu haben, denn als Laelia mit Numana auf dem Arm die Treppe hinunterkam und sich liebevoll von ihr verabschiedete, blieb die Haushälterin emotionslos und stumm, hob nur kurz zum Abschied die Hand.

Nach diesem Vorkommnis bin ich ihr bis heute nicht mehr begegnet, doch in Momenten wie dem jetzigen, in denen ich meinen Gedanken freien Lauf lassen kann und mich durch irgendetwas, in diesem Fall den feinen Wüstensand, an mein Dasein in Ägypten erinnert fühle, muss ich manchmal an sie denken. An sie und ihre Tochter, von der sie mir nie etwas erzählen wollte.