L(i)eben mit Borderline - Udo Rauchfleisch - E-Book

L(i)eben mit Borderline E-Book

Rauchfleisch Udo

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Beschreibung

Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leben ständig auf der Grenze: Sie schwanken zwischen Liebe und Hass, Angst und Wut, innerer Leere und Euphorie. Doch nicht nur sie selbst leiden am inneren Chaos. Ihr schnelles Wechseln zwischen Idealisierung und Entwertung, ihr aggressives und oft selbstschädigendes Verhalten sind vor allem auch eine Belastung für ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Udo Rauchfleisch hilft Angehörigen, Freundinnen und Freunden von Menschen mit einer Borderlinestörung, diese gravierende psychische Erkrankung zu verstehen. Der erfahrene Psychotherapeut gibt viele konkrete Hinweise, wie das Zusammenleben trotz aller Probleme gelingen kann.

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Haupttitel

Inhalt

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

HAUPTTITEL

Udo Rauchfleisch

L(i)eben mit Borderline

Ein Ratgeber für Angehörige

Patmos Verlag

Inhalt

Einleitung: Warum ein Ratgeber für Angehörige, Freundinnen und Freunde von Menschen mit einer Borderlinestörung?

1. Was ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?

2. »Die Welt ist für ihn nur schwarz oder weiß …«

3. »›Böse‹ sind immer nur die anderen – wo bleibt da die Selbstkritik?«

4. »Mal ist er total geknickt, dann wieder arrogant und hochtrabend …«

5. »Wenn sie nur endlich die Realität wahrnehmen würde!«

6. »Ich halte die Wutausbrüche und das impulsive Verhalten nicht mehr aus!«

7. »Und immer wieder diese Angst!«

8. »Ich fühle mich durch seine Erwartungen an unsere Beziehung total erdrückt!«

9. »Warum kann sie nicht akzeptieren, dass ich anders bin?«

10. »Hoffentlich tut sie sich nichts an!«

11. »Er bleibt mir einfach ein Rätsel …«

12. »Sie ist schon ziemlich ›schräg‹, aber irgendwie auch genial.«

Schluss: Das Wichtigste auf einen Blick

Anmerkungen

Literatur

Buch lesen

Für James Preston

Einleitung: Warum ein Ratgeber für Angehörige, Freundinnen und Freunde von Menschen mit einer Borderlinestörung?

Wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen, werden Sie schon von der Borderlinestörung, genauer: Borderline-Persönlichkeitsstörung, gehört haben. Vielleicht ist bei Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter, bei Ihrer Freundin oder Ihrem Freund oder bei einem Menschen aus Ihrem beruflichen Umfeld diese Diagnose gestellt worden. Oder Ihnen hat eine Fachperson mitgeteilt, dass Sie selbst unter einer solchen Störung leiden.

Die Reaktion auf diese Information über Sie selbst oder Ihnen nahestehende Menschen kann sehr unterschiedlich ausfallen: strikte Zurückweisung (»Ich nicht!« bzw. »Doch nicht meine Freundin!«) oder fassungsloses Entsetzen (»Das ist das Schrecklichste, was passieren konnte«), aber auch Zweifel an der Richtigkeit dieser Diagnose (»Das muss ein Irrtum sein«) oder der Wunsch, mehr darüber zu erfahren, um angemessen damit umgehen zu können.

Wie bei vielen anderen aktuellen Themen werden Sie beim Suchen im Internet auf eine Flut von Informationen treffen. Zum Stichwort »Menschen mit einer Borderlinestörung« wird sich vor Ihnen ein breites Spektrum ausbreiten, das von Horrorgeschichten à la Dr. Jekyll & Mr. Hyde über Adolf Hitler und andere grausame Diktatoren aus Vergangenheit und Gegenwart bis hin zur Nennung berühmter Persönlichkeiten aus Kunst, Wirtschaft und Politik reicht. Dabei bleiben Sie im Allgemeinen verwirrter und beunruhigter zurück, als Sie es vor Beginn der Suche waren. Allerdings haben Sie gewiss auch viele Hinweise auf die Behandlung von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gefunden und so erfahren, dass es heute durchaus psychotherapeutische Verfahren gibt, die bei Menschen mit diesen psychischen Schwierigkeiten mit Erfolg angewendet werden.

Warum bei dieser Fülle an bereits vorliegender populärer und wissenschaftlicher Literatur zum Thema Borderline noch ein weiteres Buch, werden Sie sich vielleicht fragen. Ist nicht schon alles Wichtige zu diesem Thema gesagt? Vielleicht ist Ihnen jedoch bei Ihrer Expedition in die virtuelle Welt des Internets bzw. beim Besuch der Ratgeberabteilung Ihrer Lieblingsbuchhandlung aufgefallen, dass Angehörige, Freundinnen und Freunde oder Mitarbeitende von Menschen mit einer Borderlinestörung eher selten Thema sind. Sie werden allenfalls in Autobiografien erwähnt und in Fachpublikationen hier und da genannt. Im Zentrum steht zumeist die Person, die unter einer Border­linestörung leidet.

Sie als Mutter oder Vater, Freundin oder Freund, Kollege oder Vorgesetzte von Menschen mit Borderline finden sich in der Literatur häufig nicht gesondert berücksichtigt. Dabei sind Sie es, die intensiv mit den Kranken zusammenleben, und dies über Jahre, ja mitunter sogar über Jahrzehnte hinweg! Wie werden Sie mit den Belastungen, die Ihnen daraus erwachsen, fertig? Wie können Sie sich davor schützen, mit in den Strudel chaotischer Gefühle und destruktiver Beziehungsmuster gerissen zu werden? Was können Sie vielleicht tun, um Ihrer kranken Angehörigen oder Freundin zu helfen? Und was sollten Sie zu Ihrer beider Bestem, möglichst unterlassen?

Diesen selten behandelten Fragen möchte ich im vorliegenden Ratgeber nachgehen. Gewiss wird es auch hier um die Menschen selbst gehen, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden. Der Fokus der Betrachtungen liegt aber, im Gegensatz zu vielen anderen Ratgebern, auf Ihnen als Angehörigem, Freundin bzw. Mensch aus dem beruflichen Umfeld. Auch wenn es Ihnen sicher klar ist, sei hier aber doch noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es im Rahmen eines Buches wie dieses nicht möglich ist, Patentrezepte zu liefern. Das Etikett »Borderline-Persönlichkeitsstörung« sagt eigentlich nicht viel aus. Dahinter verbergen sich sehr verschiedene Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien und Verhaltensweisen.

Es ist das Ziel dieses Ratgebers, Sie mit dem Phänomen Borderline vertraut zu machen, ohne dass diese Diagnose Sie in Angst und Schrecken versetzt, aber auch ohne dass Sie die psychischen und sozialen Probleme, die sich daraus ergeben können, bagatellisierend beiseiteschieben. Es ist mir insbesondere wichtig, Ihre Wahrnehmung dessen zu schärfen, was eine Borderlinestörung für Ihre Beziehung zu einem Ihnen nahestehenden Menschen, der unter dieser Erkrankung leidet, bedeutet.

So geht es in diesem Ratgeber in erster Linie um Sie als Angehörigen oder Freundin und um Ihren Umgang mit einem Ihnen nahestehenden Menschen mit einer Borderlinestörung. Daneben spielen Sie aber auch für Ihren Angehörigen oder Freund zumindest aus vier Gründen eine wichtige Rolle in seinem Leben:

Zum einen fällt Ihnen vielleicht als erstemMenschen auf, dass Ihre Tochter, Ihr Sohn, Ihre Freundin, Ihr Freund oder Ihre Arbeitskollegin Anzeichen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkennen lässt. Dies wahrzunehmen, ist unter Umständen deshalb von großer Bedeutung, weil Außenstehende dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bemerken. Es kann für Ihren Angehörigen sehr wichtig sein, dass Sie ihn möglichst frühzeitig auf die Probleme aufmerksam machen, die Sie wahrnehmen. Dabei sollten Sie sich unbedingt zurückhalten, irgendeine Diagnose zu stellen. Das ist sicher nicht möglich und kommt im Allgemeinen auch nicht gut an. Es reicht, dass Sie auf die Merkmale im Verhalten und Erleben Ihres Angehörigen hinweisen, die Ihnen auffällig erscheinen.

Zweitens kommt Ihnen als Angehörigem oder Freundin auch insofern eine besondere Bedeutung zu, als Sie als Bezugsperson ein wichtiger gesundheitsfördernderFaktor im Leben des oder der Kranken sein können. Indem Sie eine emotional verlässliche Beziehung anbieten, die trotz der mitunter extremen Belastungen nicht abbricht, tragen Sie sehr viel zur Unterstützung und Förderung der Gesundheit Ihres Angehörigen bei. Hilfreich kann aber auch sein, dass Sie Ihrem Angehörigen oder Ihrer Freundin mit einer Borderlinestörung Grenzen setzen, die dem kranken Menschen in seinem Leben Struktur geben, welche er selbst nicht herbeizuführen vermag.

Mit dem frühen Erkennen, dass eine psychische Störung vorliegt, hängt ein dritter Grund zusammen, weshalb Sie als Angehörige oder Freund eine wichtige Rolle im Leben des Menschen spielen, der unter einer Borderlinestörung leidet. Als nahestehende Person können Sie Ihren Angehörigen oder Ihre Freundin auf die Möglichkeit fachlicher Hilfe hinweisen. Viele Menschen mit Borderline, die sich irgendwann einmal in Behandlung begeben haben, sagen, sie würden es bedauern, dass niemand sie früher darauf aufmerksam gemacht habe, dass etwas mit ihnen »nicht stimme« und dass es Fachleute gebe, an die man sich wenden kann. Wenn Eltern oder Freunde sie früher darauf hingewiesen hätten, wäre ihnen mitunter viel Leid erspart geblieben.

Schließlich kommt Ihnen als einer dem Menschen mit Borderline nahestehenden Person auch insofern eine wichtige Rolle zu, als Sie wesentlich zur EntwicklungvonMotivation für eine Behandlung beitragen können. Die Hemmschwelle, eine psychologische oder psychiatrische Therapie zu beginnen, ist leider immer noch recht hoch, und sich in therapeutische Behandlung zu begeben wird oft – fälschlicherweise! – als Eingeständnis von Schwäche empfunden. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt: Es ist klug und zeugt von einer kritischen Selbstwahrnehmung, wenn Menschen spüren, dass sie unter psychischen Problemen leiden und fachliche Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Bei diesem Prozess der Selbstwahrnehmung und der Achtsamkeit sich selbst gegenüber können Sie als Angehöriger oder Freundin einem Menschen mit einer Borderlinestörung eine große Hilfe sein.

Im vorliegenden Ratgeber werde ich in zwölf Kapiteln die wichtigsten Fragen und Probleme diskutieren, mit denen sich Menschen mit Borderline und ihre Bezugspersonen konfrontiert sehen. Zur Veranschaulichung werde ich in diesen Kapiteln kurze Beispiele schildern, die das Erleben und Verhalten realer Personen beschreiben, wobei ich aber jeweils Teile aus verschiedenen Lebensgeschichten zu einem Beispiel zusammengefügt habe, so dass die Anonymität der einzelnen Personen absolut gewährleistet ist. Die genannten Namen sind fiktiv.

Bevor ich auf einzelne Problembereiche von Menschen mit Borderline eingehe, soll im ersten Kapitel genauer geschildert werden, was eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist. Das Ziel ist dabei natürlich nicht, Sie zu einer Fachperson zu machen, die in der Lage wäre, mit hinreichender Sicherheit die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung zu stellen. Es geht vielmehr darum, Sie für all das zu sensibilisieren, was Sie als Angehöriger oder Freundin eines Menschen, der unter dieser Störung leidet, erleben können. Und ich möchte Ihnen dazu verhelfen, dass Sie konstruktiv, ohne selbst Schaden zu nehmen, mit solchen Situationen umzugehen lernen.

Die folgenden Kapitel orientieren sich an den Hauptsymptomen der Borderline-Persönlichkeitsstörung: die Tendenz dieser Menschen, die Welt in Schwarz und Weiß aufzuteilen und keine Kompromisse eingehen zu können (Kapitel 2) sowie alles »Böse« nach draußen, auf andere Menschen, zu projizieren (Kapitel 3); das für Außenstehende oft unvereinbar erscheinende Nebeneinander von Scheu und Arroganz (Kapitel 4); die Probleme mit der Realitätskontrolle (Kapitel 5); Impulsivität und Wutausbrüche (Kapitel 6); die oft alles dominierende Angst (Kapitel 7); das Erleben der Bezugspersonen, durch die Erwartungen erdrückt zu werden (Kapitel 8); das kompromisslose Bestehen auf Gleichheit (Kapitel 9); selbstschädigendes Verhalten (Kapitel 10), das Rätselhafte an Persönlichkeit und Verhalten eines Menschen mit Borderline, in das sich Außenstehende oft nicht einfühlen können (Kapitel 11). In einem abschließenden Kapitel (12), wird am Beispiel einer Frau mit einer Borderlinestörung gezeigt, dass neben aller Pathologie mitunter auch ein großes kreatives Potenzial in diesen Menschen steckt.

Am Ende jedes Kapitels werden die wichtigsten Aspekte noch einmal zusammengefasst und »auf den Punkt gebracht«. Den Abschluss dieses Ratgebers bildet schließlich eine thesenartige Zusammenfassung der Hauptthemen. Im Anhang finden Sie einige Angaben zu weiterführender Literatur.

Möge dieser Ratgeber Ihnen bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Borderline eine Hilfe sein, einen realistischen undkonstruktiven Zugang zu den Menschen, die unter dieser Störung leiden, zu finden. Und möge er Ihnen den Weg ebnen bei der Suche nach einem Dialog mit Ihrem Angehörigen, Ihrer Freundin oder Ihrem Mitarbeiter. Es wäre schließlich ein großer Gewinn, wenn es mir gelänge, mit meinen Ausführungen auch Leserinnen und Leser mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung aus der Einsamkeit zu befreien, in der sie oft ebenso leben wie ihre Angehörigen, Freundinnen und Freunde.

Im Sommer 2015

Udo Rauchfleisch

1. Was ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung?

Die Literatur, die uns heute über die Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt, ist unüberschaubar. Nicht nur haben die verschiedenen Psychotherapieschulen – etwa die psychoanalytische Therapie und die kognitive Verhaltenstherapie, um nur zwei der größten zu nennen – je eigene Konzepte entworfen, wie sich Menschen seelisch-geistig entwickeln, die im Laufe ihres Lebens an einer solchen Störung erkranken. Es sind auch zum Teil erheblich voneinander abweichende Behandlungsmethoden konzipiert worden, die in der Therapie dieser Patientinnen und Patienten angewendet werden. Neben diesen therapeutisch orientierten Konzepten liegen uns heute auch Untersuchungen aus den neurowissenschaftlichen Fächern vor; es gibt Studien zur Dynamik in Familien mit einem an einer Borderlinestörung erkrankten Mitglied sowie viele Veröffentlichungen, die sich mit der Diagnostik dieser Erkrankung beschäftigen.

Es wäre indes ein Irrtum anzunehmen, die Erkrankung, die wir heute als Borderlinestörung bezeichnen, habe es in früheren Zeiten nicht gegeben. Die psychiatrischen Publikationen und die Veröffentlichungen aus der Anfangszeit der Psychoanalyse lehren uns etwa, dass bereits in den 20er- und 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts – und auch noch früher – Menschen beschrieben worden sind, bei denen wir heute eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostizieren würden.

Nicht ganz klar ist allerdings, ob diese Erkrankung in den zurückliegenden Jahren, in denen sie genauer erforscht worden ist, zahlenmäßig zugenommen hat. Aus klinischer Erfahrung scheint manches für eine Zunahme der Zahl von Menschen, die an einer Borderlinestörung leiden, zu sprechen. Es liegen bisher allerdings keine verlässlichen epidemiologischen Studien vor, mit denen dies sicher nachzuweisen wäre. Sogar wenn wir davon ausgehen, dass die Zahl zugenommen hat, so stellt sich die Frage, ob die Erkrankung in der Gegenwart tatsächlich häufiger vorkommt als in früheren Zeiten oder ob wir heute lediglich in stärkerem Maße für dieses Störungsbild sensibilisiert sind und es deshalb eher erkennen und diagnostizieren.

Man darf in dieser Diskussion auch nicht vergessen, dass es für die Diagnostik von psychischen Störungen nicht unerheblich ist, welche therapeutischenKonsequenzen sich aus der Erkennung einer Erkrankung ziehen lassen und welches »Image« die betreffende Störung in der Öffentlichkeit hat. In einer Zeit wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als es noch keine therapeutischen Methoden zur Behandlung von Borderline gab, bedeutete es etwas völlig anderes, wenn bei einer Person die Merkmale diagnostiziert wurden, die wir heute einer Borderline-Persönlichkeitsstörung zuordnen.

In der Gegenwart liegen uns hingegen verschiedene Therapiemethoden vor, die sich in der Behandlung von Menschen mit Borderline als effizient erwiesen haben. Dementsprechend ist auch das »Image« dieser Erkrankung heute ein anderes als in der Vergangenheit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galten Störungen, die der heutigen Borderline-Persönlichkeitsstörung entsprechen, als mehr oder weniger unbehandelbar. Nur wenige Therapeutinnen und Therapeuten versuchten, mit diesen Menschen psychotherapeutisch zu arbeiten. Die Erfolge waren insgesamt eher bescheiden. Heute hingegen sind mit Hilfe verschiedener Konzepte Therapiemethoden entwickelt worden, die sich bewährt haben. Damit sind die Chancen, das Befinden von Menschen mit solchen Störungen wesentlich zu verbessern, sie unter Umständen sogar zu heilen, erheblich gestiegen.

Bei der Frage, welches »Image« eine Erkrankung hat, ist es interessant, dass die Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung selbst sehr unterschiedlich mit der Diagnose umgehen. Sehen die einen darin ein vernichtendes Urteil, das mit der Diagnosestellung über sie gefällt wird, so empfinden andere die Tatsache, unter Borderline zu leiden, beinahe wie eine Auszeichnung und tragen die Diagnose mitunter geradezu vor sich her. Dementsprechend verhalten sich diese beiden Gruppen auch unterschiedlich: Diejenigen, welche die Dia­gnose Borderline-Persönlichkeitsstörung als Makel empfinden, sind bestrebt, sie möglichst zu verheimlichen. Sie wehren sich im Allgemeinen auch dagegen, dass ihnen diese Diagnose zugeschrieben wird. Anders hingegen diejenigen, die darin einen Beweis ihrer Außergewöhnlichkeit sehen: Sie äußern sich gerne zum Thema Borderline und betonen im Freundeskreis und in der Öffentlichkeit stolz, sie seien »Borderliner«.

In der Fachliteratur werden zwar je nach theoretischer Sicht von­einander abweichende Beschreibungen von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung gegeben. In wesentlichen Punkten stimmen diese Darstellungen jedoch überein, zumal die beiden international gebräuchlichen Diagnosesysteme für die Erfassung von psychischen Erkrankungen, die Internationale Klassifikation der Diagnosen (ICD) und das Diagnostische Statistische Manual (DSM) im Hinblick auf die Hauptmerkmale dieser psychischen Störung einander weitgehend entsprechen. Auch die psychoanalytische Forschung sieht die Merkmale der Borderline-Persönlichkeitsstörung ähnlich wie die ICD und das DSM.

Im Folgenden seien die wichtigsten Merkmale genannt und kurz kommentiert. Dabei müssen Sie als Leserin oder Leser bei Ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Borderline bedenken, dass Sie aufgrund dieser Übersicht keine Diagnose stellen können. Sie können aber auf die Möglichkeit aufmerksam werden, dass bei Ihrem Angehörigen, Ihrer Freundin oder Ihrem Freund eine Borderline-Persönlichkeitsstörung vorliegt. Was Sie in einem solchen Fall tun können, werde ich weiter unten und in den verschiedenen Kapiteln dieses Ratgebers noch ausführlicher darstellen.

Die Borderlinestörung gehört zur Gruppe der Persönlichkeitsstörungen. Bei diesen handelt es sich um länger anhaltende Zustandsbilder und Verhaltensmuster, die sich im Lebensstil und im Verhältnis zur eigenen Person und zu anderen Menschen manifestieren. Die Abweichungen gegenüber anderen Menschen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen sind so ausgeprägt, dass das daraus resultierende Verhalten in vielen persönlichen und sozialen Situationen deutlich wird. Dabei ist für die Persönlichkeitsstörungen bezeichnend, dass sie zumeist in der Kindheit oder Adoleszenz beginnen und sich in ihrem Verlauf starre Reaktionsmuster entwickeln, welche die betreffenden Menschen unflexibel machen und zu einem sozial unangepassten oder auf andere Art unzweckmäßigen Verhalten führen. Häufig gehen diese Erkrankungen mit persönlichem Leiden und einer gestörten sozialen Funktionsfähigkeit einher.

Unter den Persönlichkeitsstörungen stellt die Borderline-Persönlichkeitsstörung die bekannteste und am weitesten verbreitete Erkrankung dar. Die Hauptsymptome sind die folgenden:

stark wechselhafte Stimmung (emotionale Instabilität),impulsives Verhalten ohne Berücksichtigung von Konsequenzen,Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und Unfähigkeit, impulsives Verhalten zu kontrollieren,ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung,ausgeprägte Selbstwertzweifel,chronisches Gefühl der Leere,intensive, aber unbeständige Beziehungen,Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit Selbstverletzungen und suizidalen Impulsen.

Das Gemeinsame der hier genannten Symptome ist zum einen die Instabilität, welche Menschen mit Borderline auszeichnet. Diese betrifft sowohl ihre Stimmungen – so fehlt ihnen die Fähigkeit, Affekte zu regulieren – als auch ihre sozialen Beziehungen, die im Allgemeinen mit Erwartungen überladen sind und jeweils schnell wieder abbrechen. Zum anderen liegt den angeführten Symptomen eine Unfähigkeit zur Steuerung von Impulsen zugrunde. Dies zeigt sich vor allem im impulsiven Verhalten dieser Menschen, das immer wieder zu sozialen Konflikten führt. Eine drittes grundlegendes Merkmal einer Borderline-Persönlichkeitsstörung betrifft die Identitätsunsicherheit. Menschen mit Borderline haben keine klaren, ganzheitlichen Bilder von sich selbst und anderen Menschen. Sie nehmen sich und andere stets nur bruchstückhaft wahr, zumeist abhängig davon, was bzw. wer für sie gerade wichtig ist. Dies führt zu einer inneren und äußeren Orientierungslosigkeit und zu Problemen in den sozialen Beziehungen.

Diese Störungen in verschiedenen Persönlichkeitsbereichen verfestigen sich im Laufe der Jahre und werden zu dem, was wir gemeinhin als »Charakter« bezeichnen. Es ist die je typische Art des betreffenden Menschen zu denken, wahrzunehmen, zu fühlen und zu handeln. Charakteristisch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist dabei, dass es zu dysfunktionalen, d. h. den inneren und äußeren Bedingungen nicht angepassten Bewältigungsstrategien in nahezu allen Lebens- und Erlebensbereichen kommt. Daraus resultiert, dass Menschen mit Borderline in den verschiedensten Bereichen ihres Lebens Probleme haben.

Was die Ursachen betrifft, die zur Ausbildung einer Borderlinestörung führen, müssen wir davon ausgehen, dass es zum einen biologische Determinanten gibt (z. B. eine gewisse Impulsivität und affektive Instabilität sowie eine erhöhte Verletzlichkeit) und zum anderen psychosoziale Stressoren, die eine Wirkung ausüben. Dabei ist zu bedenken, dass nicht jeder Mensch, bei dem biologische Risikofaktoren bestehen, auch an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkranken muss. Einen wesentlichen Einfluss haben in jedem Fall die Umweltfaktoren, d. h. vor allem etwaige (meist in der Kindheit erlittene) Traumatisierungen, emotionale Vernachlässigung und instabile Beziehungserfahrungen. Auch von psychoanalytischer Seite (etwa bei Kernberg1) wird ein solches Zusammenspiel von hereditären und psychosozialen Faktoren postuliert (interessierte Leserinnen und Leser finden eine detaillierte Darstellung der aktuellen Forschung bei Kernberg, Dulz und Sachsse2).

Bezüglich der Häufigkeit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung liegen, wie oben bereits erwähnt, bisher keine verlässlichen epidemiologischen Studien vor. Die in der Literatur genannten Zahlen beruhen auf Schätzwerten, die von 1 bis 2 % von Borderline in der Allgemeinbevölkerung ausgehen. In klinischen Stichproben, d. h. unter Menschen, die stationäre oder ambulante fachliche Hilfe in Anspruch nehmen, ist die Zahl verständlicherweise wesentlich höher. Dort liegt sie bei 14 bis 20 %. Auch wenn dies nur Schätzwerte sind, zeigen sie doch, dass wir in unserer Gesellschaft mit einer recht großen Zahl von Menschen rechnen müssen, die unter einer Borderlinestörung leiden.

Bei der Auflistung der Symptome, wie ich sie oben gemäß den international gebräuchlichen Diagnosesystemen zitiert habe, ist zu berücksichtigen, dass hier nur die Störungsmerkmale genannt werden, nicht aber die kompensatorisch wirkenden Kräfte in den betreffenden Menschen. Genauso verhält es sich mit den psychosozialen Faktoren, welche, wie oben dargestellt, Stressoren darstellen und die Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung begünstigen. Ihnen gegenüber stehen jene psychosozialen Faktoren, die sich gesundheitserhaltendund -fördernd auswirken. Diese müssen bei der Diskussion von Borderline ebenfalls berücksichtigt werden.

Um eine Person in ihrer Ganzheit beschreiben zu können, sind ihre positiven Persönlichkeitsanteile, z. B. ihre Begabungen und ihre sozialen Kompetenzen, wichtig, mitunter sogar noch wichtiger als die Störungsanteile. Außerdem dürfen die stützenden sozialen Faktoren nicht außer Acht gelassen werden. Dazu gehören etwa die berufliche Situation und die Einbettung in tragende soziale Netzwerke. Eine große, die Gesundheit Ihres Angehörigen fördernde Bedeutung kann aber auch Ihnen als Angehörigem oder Freund zukommen, der dem oder der Kranken eine emotional tragfähige Beziehung anbietet und ihm oder ihr in anderer Weise hilfreich zur Seite steht.

Nie können wir einen Menschen allein durch seine Defizite charakterisieren. Deshalb ist es unzureichend und würde ein verzerrtes Bild von einem Menschen mit Borderline vermitteln, wenn Sie sich in Ihrer Sicht allein von der oben zitierten Symptomliste leiten ließen. Gerade bei Menschen, bei denen zum Teil schwerwiegende Störungen ins Auge stechen, müssen wir besonders vorsichtig sein und dürfen unser Augenmerk nicht nur auf die Defizite richten. Ebenso wichtig sind die positiven Seiten, die auch Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen besitzen. Damit über den vielen Problemen, mit denen Menschen mit einer Borderlinestörung uns konfrontieren und die ich in den folgenden Kapiteln darstellen werde, diese positiven Seiten nicht übersehen werden, werde ich im letzten Kapitel dieses Ratgebers eine Frau schildern, die trotz ihrer Borderline-Persönlichkeitsstörung zu kreativen Leistungen fähig ist und weithin soziale Anerkennung genießt.

Prinzipiell müssen Sie bedenken, dass die von uns Fachleuten gestellten Diagnosen keineswegs in Stein gemeißelte letzte Wahrheiten sind. Wie oben ausgeführt, werden in den international gebräuchlichen Diagnosesystemen bestimmte Symptome vorgegeben, und wir haben anhand dieser Symptomlisten zu entscheiden, ob eine Person zu der einen oder der anderen diagnostischen Kategorie gehört. So exakt ein solches Vorgehen auch erscheinen mag, sind die diagnostischen Prozesse doch immer auch mit einer gewissen Unsicherheit und Unschärfe sowie mit einem persönlichen Ermessensspielraum – oder sollten wir unverblümt sagen: mit größerer Willkür? – verbunden. Vertrauen Sie deshalb im Hinblick auf die Diagnose Borderline-Persönlichkeitsstörung bei einem Ihnen nahestehenden Menschen oder Sie selbst betreffend nicht »blind« dem Urteil Dritter, auch wenn dies Fachleute der Psychiatrie und Psychologie sind. Gerade Sie als Angehörige kennen Facetten der Persönlichkeit Ihrer Tochter oder Ihres Sohnes, welche die Professionellen vielleicht nicht wahrnehmen.

Hinzu kommt, dass sich Diagnosen psychischer Störungen mit größerer Sicherheit oft erst stellen lassen, wenn wir einen gewissen zeitlichen Verlauf überschauen. Dies gilt insbesondere auch für die Dia­gnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. In Kindheit und Jugend finden sich vielleicht schon erste Anzeichen, die auf diese Störung hinweisen können. Die Sicherheit, mit der wir diese Diagnose zu stellen vermögen, nimmt aber deutlich zu, wenn wir die Entwicklung der zu beurteilenden Person über mehrere Jahre hin verfolgen können. Was bei einer »Momentaufnahme« vielleicht völlig klar erscheint, zeigt sich bei einer Langzeitbetrachtung unter Umständen in einem ganz anderen Licht und führt dementsprechend zu einer anderen diagnostischen Beurteilung.

Im Allgemeinen richtet sich das Interesse der Fachleute auf die Menschen mit einer Borderlinestörung selbst, auf ihre Lebensgeschichte, ihre Befindlichkeit und die Möglichkeiten, mit den verschiedenen Behandlungsmethoden zu ihrer Heilung beizutragen. Daneben wird in der Fachliteratur auch diskutiert, wie sich die Therapeutinnen und Therapeuten fühlen, die solche Patientinnen und Patienten behandeln, und welche Probleme in der Interaktion zwischen ihnen auftreten können. Soweit sich die Aufmerksamkeit der Professionellen auf die Angehörigen richtet, geschieht dies im Allgemeinen vor allem bei der Diskussion, welche positive oder negative Rolle Angehörige im therapeutischen Prozess spielen.

Als eigenständige Gruppe werden die Angehörigen, aber auch die Freundinnen und Freunde sowie die Mitarbeitenden und Vorgesetzten von Menschen mit Bordeline hingegen von den Professionellen selten wahrgenommen. Dabei spielen Sie als nahe Bezugsperson, wie in der Einleitung ausgeführt, vielfach eine außerordentlich wichtige Rolle, verbringen Sie doch die meiste Zeit mit den Kranken und sind von ihren Störungen oft am stärksten betroffen. Dies ist der Grund dafür, dass ich mich mit diesem Ratgeber in erster Linie an Sie, die zu diesen nächsten Bezugspersonen gehören, wende.

Auf den Punkt gebracht

Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist ein länger andauerndes Zustandsbild, das Einfluss auf die verschiedenen Lebens- und Erlebensbereiche der betreffenden Person hat.Die charakteristischen Symptome sind stark wechselnde Stimmungen (emotionale Instabilität), eine Unfähigkeit zur Steuerung von Impulsen, eine Identitätsunsicherheit, selbstdestruktive Verhaltensweisen und intensive, aber unbeständige Beziehungen.Neben diesen Störungsmerkmalen ist besonderes Augenmerk aber auch auf die kompensatorisch wirksamen Persönlichkeitsfaktoren und Umweltbedingungen zu richten, um den betreffenden Menschen ganzheitlich wahrzunehmen.Diagnosen, so auch der einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, haftet immer eine gewisse Unschärfe an. Sie sollten deshalb nicht kritiklos übernommen werden. Letztlich lässt sich die Borderline-Persönlichkeitsstörung mit hinreichender Sicherheit erst diagnostizieren, wenn wir einen längeren zeitlichen Verlauf überschauen.Als Ursachen der Borderline-Persönlichkeitsstörung lassen sich neben biologischen Determinanten vor allem psychosoziale Stressoren in Kindheit und Jugend (Gewalterfahrungen, emotionale Vernachlässigung und instabile Beziehungserfahrungen) identifizieren.Die Häufigkeit der Borderline-Persönlichkeitsstörung liegt laut Schätzungen bei ca. 1 bis 2 % in der Allgemeinbevölkerung, in klinischen Stichproben bei 14 bis 20 %. Sie stellt damit ein relativ häufig anzutreffendes Störungsbild dar.

2. »Die Welt ist für ihn nur schwarz oder weiß …«

Herr Meister, ein 35-jähriger Installateur, hat nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit eine Anstellung in einem kleinen Installationsbetrieb gefunden. Außer dem Chef gibt es noch einen älteren, erfahrenen Mitarbeiter. Mit ihm hat Herr Meister relativ wenig zu tun, da der andere Mitarbeiter weitgehend selbstständig an verschiedenen Orten arbeitet. Mit seinem Chef hingegen besteht ein wesentlich engerer Kontakt, da Herr Meister und er zum Teil an der gleichen Baustelle tätig sind und der Chef die Arbeit von Herrn Meister, der weniger Erfahrung als der ältere Mitarbeiter mitbringt, in stärkerem Maße kontrollieren muss.

Als Herr Meister vor einem halben Jahr nach dem Bewerbungsgespräch vom Chef die Zusage erhalten hatte, in seiner Firma arbeiten zu können, war er überglücklich gewesen und hatte im Freundeskreis begeistert von seinem »tollen Chef« erzählt: »Das ist endlich mal ein richtiger Chef, den man auch respektieren kann. Er hat nicht nur fachlich etwas drauf, sondern ist auch wahnsinnig freundlich und verständnisvoll.« Schon nach wenigen Wochen empfand Herr Meister den Chef wie einen Freund und war hoch motiviert bei der Arbeit, weil er dem Chef gefallen und dessen Anerkennung finden wollte. Tatsächlich war der Chef mit den Leistungen seines neuen Mitarbeiters sehr zufrieden und drückte seine Anerkennung ihm gegenüber auch deutlich aus.

An einem Montag, als der Chef und Herr Meister sich frühmorgens im Büro trafen, um den Arbeitsplan der Woche zu besprechen, war der Chef auffallend kurz angebunden. Er erwiderte Herrn Meisters Gruß nicht und begann das Gespräch mit dem Hinweis, Herr Meister hätte am vergangenen Freitag die begonnene Arbeit noch abschließen sollen. »Jetzt müssen wir deinetwegen noch einmal zur Baustelle, um den Rest fertig zu machen. Das hättest du eigentlich am Freitag tun sollen!«, sagte er unwirsch. Herrn Meisters Versuch, sich zu rechtfertigen, unterbrach er mit den Worten: »Hör auf mit der Diskutiererei! Dafür haben wir jetzt keine Zeit.«

Herr Meister war durch die unerwartete – und nach seiner Ansicht auch völlig unberechtigte – Kritik seines Chefs total irritiert. Vor allem fühlte er sich dadurch gekränkt, dass der Chef ihm so abrupt das Wort abgeschnitten und ihm nicht die Möglichkeit gelassen hatte zu erklären, warum er am Freitag die Arbeit nicht mehr hatte abschließen können. Schweigend und sichtlich verstimmt folgte er dem Chef zum Auto und sprach während der Fahrt zur Baustelle kein Wort. Der Chef seinerseits blieb auch stumm und ärgerte sich über das Schmollen seines Ange­stellten.

Auf der Baustelle angekommen, gab er Herrn Meister mit knappen Worten die Anweisungen für die Arbeiten, die zu erledigen waren, und ging zu einer Besprechung, die für den heutigen Vormittag mit dem Architekten angesetzt war. Als er nach einer Stunde zurückkam, konnte er Herrn Meister nirgends finden. Die anderen Arbeiter auf der Baustelle berichteten ihm, Herr Meister habe vor einer halben Stunde, laut vor sich hinschimpfend, die Baustelle verlassen. Die Versuche des Chefs, seinen Angestellten per Handy zu erreichen, blieben erfolglos. Als er abends in sein Büro zurückkam, fand er auf seinem Anrufbeantworter eine Mitteilung von Herrn Meister: Er lasse sich »so etwas nicht bieten«, der Chef solle »seinen Dreck doch allein machen«. Wenn er mit Herrn Meister nicht zufrieden sei, werde er nicht mehr »in dieser Saufirma arbeiten«.