La Commissarina und das Totengeläut - Anna Vigneto - E-Book

La Commissarina und das Totengeläut E-Book

Anna Vigneto

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Beschreibung

Sommer, Sonne, Serienmörder – italienische Urlaubsspannung der Extraklasse!  Franka hat sich gerade am wunderschönen Gardasee als Tourguide selbstständig gemacht, als sie mit ihrer Reisegruppe eine strangulierte Frauenleiche vor einer Kirche entdeckt. Es ist bereits das zweite weibliche Mordopfer binnen weniger Tage, das das idyllische Dorf Colà di Lazise in Atem hält. Der attraktive Commissario Antonio Acero spannt Franka kurzerhand in die Ermittlungen ein, denn ihre kunsthistorische Expertise ist genau das, was er für diesen kniffligen Fall braucht. Während die katholische Kirche sich ob des Fundorts der Leiche um schlechte Publicity sorgt und Antonio und Franka Steine in den Weg legt, zeichnen sich die Verbindungen zwischen den Leichen immer deutlicher ab. Und dann wird noch eine dritte Frau tot aufgefunden... 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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La Commissarina und das Totengeläut

Anna Vigneto, geboren in Freising, ist im schönen Oberbayern aufgewachsen. Sie studierte Lehramt für Deutsch und Religion und landete, nach einigen beruflichen Umwegen, schließlich an einem Hamburger Gymnasium. Im hohen Norden begann sie schließlich mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, die inzwischen in zahlreichen Anthologien veröffentlicht wurden. Seit 2021 lebt Anna Vigneto mit ihrer Familie wieder in Oberbayern, wo sie ihre Freizeit am liebsten in den Bergen beim Wandern oder Snowboarden verbringt.

Anna Vigneto

La Commissarina und das Totengeläut

Ein Gardaseekrimi

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Mai 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Titelabbildung: www.buerosued.deUmschlaggestaltung: bürosüd GmbH

Foto der Autorin: © Fotoprofile Katrin BernhardGesetzt aus der Scala powered by pepyrus

ISBN: 978-3-8437-3524-7

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

 

Prolog – Rom, 1955

Teil 1

Montag, 16.05.2022

Dienstag, 17.05.2022

Mittwoch, 18.05.2022

Teil 2

Samstag, 21.05.2022

Sonntag, 22.05.2022

Montag, 23.05.2022

Donnerstag, 26.05.2022

Teil 3

Freitag, 27.05.2022

Samstag, 28.05.2022

Epilog

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog – Rom, 1955

Widmung

Für meine Großmütter – in liebevoller Erinnerung

Motto

Segne du, Maria, unsre letzte Stund!Süße Trostesworte flüstre dann dein Mund!Deine Hand, die linde, drück das Aug uns zu,bleib im Tod und Leben unser Segen du!

(Cordula Wöhler, ca. 1870)

Prolog – Rom, 1955

Wie ein Geist schlich Barbarella Marchetti im Schatten der dunklen Häuserwände entlang und hoffte, dass sie zu dieser nachtschlafenden Zeit keine Bekannten auf der Straße treffen würde. Gerne wäre sie noch später aufgebrochen, doch die Gelegenheit war günstig – ihre Tochter hatte tief und fest geschlafen, und sie musste handeln, bevor sie wieder erwachte. Denn Giulia war nicht dumm, sie hatte längst Verdacht geschöpft. Barbarella blieb kurz stehen und überprüfte, ob das kleine Wesen, das sie unter ihrem Mantel versteckt hielt, noch atmete. Sie spürte die ruhigen Atemzüge und das warme Händchen, welches sich auf ihre Brust gelegt hatte. Vorsichtig huschte Barbarella weiter, bei jedem Schritt darauf bedacht, das Baby nicht aufzuwecken. Das Baby – Barbarella mochte es nicht beim Namen nennen. In ein paar Jahren hätte sie alles dafür gegeben, Großmutter zu werden, stattdessen schickte der Herr ihr nun eine solch schwere Prüfung. Giulia, ihre kreuzbrave sechzehnjährige Tochter, hatte ihr vor acht Monaten gebeichtet, dass sie ein Kind erwartete und vom Vater, mit dem sie sich bei einem Tanzabend flüchtig eingelassen hatte, nicht einmal den Namen wusste. Was folgte, waren Wochen voller Angst und Bangen. Barbarella hatte ihre Tochter bekniet, das Kind wegmachen zu lassen. Doch Giulia hatte sich geweigert. Wenigstens war sie bereit gewesen, die Schwangerschaft zu verheimlichen. Barbarella hatte argumentiert, dass es für sie leichter wäre, wenn sie behaupteten, das Kind von einer Cousine erhalten zu haben, die plötzlich schwer erkrankt sei. Giu­lia, zögernd, da sie sich so auf ihr Baby freute, willigte schließlich ein. Denn letzten Endes hatte auch sie Angst vor der Ausgrenzung, die sie erfahren könnte, und dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Doch durch die ewigen Streitereien und Diskussionen wurde Giulias Instinkt geweckt. Barbarella spürte, dass ihr ihre Tochter mehr und mehr misstraute. Sie unternahm ein paar Versuche, von zu Hause auszuziehen und sich von ihrer Mutter zu lösen, doch tatsächlich spielte Barbarella die Schwangerschaft ihrer Tochter in die Hände. Giulia ging es schlecht, über Wochen und Monate war sie bettlägerig und musste sich schonen. Und dann war das Kind zur Welt gekommen. Die Hebamme, die zu Barbarella ins Haus geschlichen kam, half bei der Geburt und ließ nach einigen Stunden Wehen eine erschöpfte Mutter und ein gesundes Baby im Wochenbett zurück. Zwei Tage war das nun her. Und Barbarella wurde immer nervöser. Bald würden die Nachbarn etwas bemerken. Babygeschrei. Windeln an der Wäscheleine. Oder die Hebamme, die jeden Abend kurz nach dem Rechten sah. Barbarella wusste, dass es höchste Zeit war zu handeln, bevor die Wahrheit ans Licht kam.

Endlich hatte sie die Piazza del Popolo erreicht. Sie blieb am Rand des großen Platzes stehen, spähte vorsichtig nach links und nach rechts und atmete erleichtert auf, als sie die Kirche Santa Maria del Popolo einsam und verlassen vor sich sah. Nur noch wenige Meter, dann hatte sie es geschafft. Hoffentlich hatte Giulia den Verlust ihres Babys noch nicht bemerkt. Keine Sekunde lang hatte Barbarella vorgehabt, dieses Balg als Kind ihrer Nichte auszugeben, geschweige denn bei sich zu Hause großzuziehen. Und noch hatte Giulia eine Zukunft vor sich, mit Verlobung, Eheversprechen und katholischem Trauschein. Irgendwann würde sie verstehen, dass ihre Mutter nur zu ihrem Besten gehandelt hatte. Barbarella hatte das Kirchenportal erreicht. Schnell holte sie das Baby unter ihrem Mantel hervor und betrachtete das schlafende Gesichtchen ein letztes Mal. Sollte sie ihr eigenes Enkelkind wirklich hier auf diese Kirchenstufen legen? Wenn es erst einmal ausgesetzt war, gab es kein Zurück mehr. Dann würde sie schweigen müssen, für immer. Barbarella zitterte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr im entscheidenden Moment die Kraft fehlen würde. In diesem Moment öffnete das Baby seine Augen. Eine Sekunde lang sahen sie sich an, Großmutter und Enkelkind. Dann begann der Säugling, aus Leibeskräften zu brüllen. Barbarella wurde aus ihrer Schockstarre gerissen. Jetzt oder nie! Sie bekreuzigte das schreiende Baby auf der Stirn und flüsterte: »Gott möge mir meine Sünden vergeben! Ab heute bist du ein Kind der Madonna!« Und mit diesen Worten legte sie das Neugeborene vor das Portal, drehte sich um und rannte die Straße entlang, als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her. Das Brüllen ihres Enkelkindes verfolgte sie durch die Nacht.

  

Montag, 16.05.2022

Schwankend stolperte Martina Santoro aus der Kneipe Al Vulcano und landete unsanft auf der gepflasterten Via Arco. Sie rappelte sich auf, verlor jedoch sofort wieder das Gleichgewicht und stützte sich schnell an der gegenüberliegenden Häuserfassade ab. Die kalte Nachtluft erfrischte Martina, und sie atmete mehrmals tief durch. Bald würde die Sommersaison beginnen, und Lazise würde von Touristen überflutet werden, aber momentan waren die verwinkelten Gassen des kleinen Städtchens nachts noch menschenleer. Martina erbrach sich in den Rinnstein und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ihrer Jeansjacke ab. Wie viel hatte sie getrunken? Und was war auf der Damentoilette passiert? Mühsam versuchte sie, sich zu erinnern. Ein paar Gläser Bardolino Classico, dazwischen aber auch den ein oder anderen Ramazzotti. Wie immer hatte sie in der Kneipe die Zeit vergessen. Mit Blick auf die Uhr stellte sie erschrocken fest, dass es bereits nach Mitternacht war. Sie musste nach Hause, und zwar schnell! Hoffentlich war Emilio in der Zwischenzeit nicht aufgewacht. Mühsam löste sich Martina von der Hauswand und schlug den Weg in Richtung Altstadt ein. Stolpernd und schwankend bog sie auf den Corso Ospedale ein, um den Hauptplatz Lazises, die Piazza Vittorio Emanuele, zu erreichen. Obwohl die Einkaufsstraße zu dieser späten Uhrzeit noch hell erleuchtet war und Martina des Öfteren allein nach Hause ging, fühlte sie sich heute unwohl. Sie fragte sich, wie lang es wohl dauern würde, bis Daniele, der Besitzer des Al Vulcano, sie beim Jugendamt verpfeifen würde. Sie könnte es ihm nicht einmal verdenken. Wieder einmal hatte sie ihren fünfjährigen Sohn allein zu Hause gelassen. Der Ablauf solcher Abende war immer gleich: Zuerst erklang aus dem Computer das lang ersehnte »Ping«, das ihr signalisierte, dass sie in der Kneipe erwartet wurde. Dann musste Martina die qualvolle Zeit überbrücken, bis Emilio endlich eingeschlafen war. Anschließend schloss sie ihn in seinem Kinderzimmer ein, sodass er nicht unerwartet herauskommen oder in ihrer Abwesenheit gar die Wohnung verlassen konnte. Und dann begann langsam das Zittern, erst in Martinas Fingern, schließlich in ihren Händen, dann in ihrem ganzen Körper. Oft befriedigte sie ihre Sucht zu Hause, aber in letzter Zeit funktionierte das immer seltener. In Lazise gab es nicht viele Spelunken, aber das Al Vulcano blieb sich und seiner Kundschaft treu. »Nur ein Glas Wein«, dachte sie dann bei sich, während sie sich ein ehemals schickes Oberteil anzog und ihre Haare bürstete, »und meine Verabredung, dann komme ich wieder zurück.« Doch den Vorsatz konnte Martina nie einhalten. Und bisher war immer alles gut gegangen. Hörte sie nicht Schritte hinter sich? Bei dem Versuch, sich umzudrehen, hätte Martina beinahe schon wieder das Gleichgewicht verloren. Sie blieb kurz stehen, blickte die Straße hinab, sah aber niemanden. Endlich erreichte sie die Piazza, auf der sich tatsächlich noch einige verlorene Gestalten herumtrieben. Erleichtert stellte sie fest, dass die Nachtluft in Kombination mit der Bewegung ihren Rausch etwas dämpfte. »In drei Minuten bin ich zu Hause«, dachte sie. Sie bog in die Via Porta ein und war schlagartig wieder allein. So gut es in ihrem Zustand ging, versuchte Martina, ihre Schritte zu beschleunigen. Sie war sich inzwischen sicher, dass sie verfolgt wurde. War es nur ihr schlechtes Gewissen? Sie hatte das Kind nicht gewollt, sie hatte die Trennung von Flavio nicht gewollt, und sie hasste die Last der Verantwortung, die sie alleine trug. Und obwohl sie ihr Leben so satthatte, ihre Sucht, ihre Einsamkeit und ihr rücksichtsloses Verhalten Emilio gegenüber, konnte sie nicht anders – trotz ihrer Liebe zu ihrem Sohn, die sie zweifellos empfand. Bevor sie durch das Stadttor, die Porta San Zeno, hindurchschritt, blickte sie kurz zur Heiligen Madonna hoch, deren Statue auf der Rückseite eingelassen war. »Ab morgen«, schwor sie sich innerlich, »ab morgen bin ich eine gute Mutter. Ich höre mit dem Trinken auf, ich suche mir wieder einen Job, und ich bin rund um die Uhr für Emilio da. Du bist meine Zeugin, Madonna mia!« Hinter sich hörte Martina inzwischen deutlich Schritte, die näher kamen. Eilig verließ sie die Altstadt, überquerte die viel befahrene Strada Statale und lief, quer über den großen Busparkplatz, in Richtung ihres Apartments. Sie hoffte, dass sie Emilio gesund und zufrieden schlafend vorfinden würde.

Quer über die Via Madonna war von den Kollegen der Carabinieri bereits ein rot-weißes Absperrband gezogen worden, um die Straße für Verkehrsteilnehmer und Gaffer zu blockieren. Commissario Antonio Acero parkte den lindgrünen Fiat 500, den er sich in aller Eile von seiner Freundin Alessia geborgt hatte, genau davor, stieg aus und schlüpfte unter dem Absperrband hindurch. Auf der anderen Seite stand Matteo Tolosino, Praktikant in der Mordkommission und Sohn seines direkten Vorgesetzten, des Polizeipräsidenten Leonardo Tolosino. Der junge Mann wippte nervös auf den Zehenspitzen hin und her und fing sofort an zu sprechen, als sich Antonio ihm näherte. »Buongiorno, Commissario! Mein Vater hat gesagt, ich soll hier auf Sie warten und Sie schnellstmöglich zum Tatort bringen. Bitte, folgen Sie mir!«

Antonio runzelte die Stirn. »Ihr Vater ist schon vor Ort?«

Matteo nickte eifrig. »Sì! Immerhin ist es bereits die zweite Leiche innerhalb weniger Tage! Papa will wissen, ob wir es mit demselben Täter wie vorgestern zu tun haben.«

Mit diesen Worten spurtete er die Stufen nach oben, die zur Kirche Madonna della Neve führten. Antonio folgte ihm und hoffte inständig, dass es keinen Zusammenhang zwischen den beiden Leichen geben würde. Erst am Samstag war eine Frau erdrosselt in ihrem Auto an der Via Fossalta gefunden worden. Daraufhin wurde die Soko Madonna mortale gegründet, denn das Auto parkte direkt neben einer kleinen Marienkapelle. Wenn es einen Zusammenhang zu dieser Leiche gab, hatten sie es mit einem Serienmörder zu tun. Antonio hatte die oberste Stufe erreicht und betrat den Kirchenvorplatz. Kurz wandte er sich um und genoss den fantastischen Ausblick über die Weinberge. Der Gardasee war zwar von diesem Standpunkt aus nicht zu erkennen, aber Antonio glaubte, ihn hinter der sattgrünen Landschaft erahnen zu können. Auf dem Kirchenvorplatz herrschte reges Treiben. Eine Wandergruppe saß auf dem Mauervorsprung am äußersten Rand des Platzes und wurde von einem Kriseninterventionsteam betreut. Aus den leisen Wortfetzen, die zu ihm herüberwehten, schloss Antonio, dass es sich um deutsche Touristen handelte. Vor dem Eingangsportal der Kirche knieten die Rettungssanitäter, neben ihnen standen Antonios Chef, Leonardo Tolosino, der Rechtsmediziner Dottor Lorenzo Aragosta und ein ihm unbekannter Mann, den er allerdings aufgrund des Kollars als Priester identifizierte. Antonio klopfte dem Praktikanten dankend auf die Schulter, und dieser wandte sich sofort wieder zum Gehen. Offenbar war er nicht besonders scharf auf den Anblick der Leiche. Mit einem gemurmelten »Buongiorno« begrüßte er seine Kollegen und richtete seinen Blick auf den Boden. Der Anblick der jungen Frau ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ihre leblosen Augen starrten gen Himmel. An ihrem sonnengebräunten Hals sah man deutlich die Strangulationsabdrücke. Der Körper lag vollkommen verkrampft auf dem Vorplatz und zeugte von dem Todeskampf, den die junge Frau geführt haben musste. Dottor Aragosta blickte schon zum wiederholten Male auf sein Smartphone und herrschte schließlich die Sanitäter an: »Könnten Sie jetzt bitte zur Seite gehen, damit ich meinen Job machen kann? Das sieht doch ein Blinder, dass Sie der jungen Dame nicht mehr helfen können.«

»Hey, Vorschrift ist Vorschrift! Wenn wir angerufen werden, müssen wir die verletzte Person auch überprüfen.« Einer der beiden Ersthelfer hatte sich bereits erhoben, der andere kniete nach wie vor neben der Leiche. Anscheinend wollte er dem Pathologen das Feld nicht kampflos überlassen.

»Wer hat Sie eigentlich angerufen?«, fragte der Kommissar die Sanitäter.

»Die Leiterin der Wandergruppe. Sie sitzt dort drüben.« Der zweite Rettungsassistent stand nun ebenfalls auf und deutete mit seinem Zeigefinger auf eine Frau, die am Boden kauerte und sich gegen den Mauervorsprung am Rand des Platzes lehnte. »Sie hat die Leiche gefunden. Anscheinend wollte sie mit ihrer Tour hier beginnen.«

»Tour? Es ist gerade mal halb neun!« Antonio kratzte sich verwirrt den Kopf. Er musste nachher sowieso mit der Tourguide sprechen, dann konnte er vielleicht auch in Erfahrung bringen, wieso sich deutsche Touristen zu dieser absurden Uhrzeit in Colà di Lazise zum Wandern verabredeten. Aber vorerst widmete er seine volle Aufmerksamkeit wieder der Leiche, die inzwischen von Dottor Aragosta untersucht wurde. »Weiß man eigentlich, um wen es sich handelt?«, fragte Antonio seinen Vorgesetzten.

Tolosino nickte. »Die junge Frau heißt Rosa Gallo, ist neunundzwanzig Jahre alt und wohnt nur ein paar Straßen weiter. Sie hatte einen Autoschlüssel bei sich, der dazugehörige Wagen steht unten auf dem Parkplatz. Darin haben wir die Handtasche der Ermordeten gefunden. Anscheinend hatte es der Täter nicht auf ihre Wertsachen abgesehen, denn sowohl das Bargeld als auch das Smartphone lagen unberührt im Auto.« Während die drei nervös auf eine erste Einschätzung des Pathologen warteten, betrachtete Antonio ehrfürchtig das Gesicht der Leiche. Dieser Teil ihres Körpers war von der Gewalt verschont geblieben und hatte nichts von seiner Schönheit eingebüßt. Schließlich erhob sich der Pathologe und sagte: »Der Tod muss heute in den frühen Morgenstunden eingetreten sein, ich vermute, gegen sechs Uhr. Der Mörder hat sie stranguliert, vermutlich mit einem Lederband. Da sie noch komplett bekleidet ist, schätze ich, dass wir ein Sexualdelikt ausschließen können, aber alles Weitere wie immer erst, nachdem ich sie bei mir auf dem Tisch hatte.«

»Gibt es Hinweise darauf, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben? Sind die Verletzungen identisch mit denen der toten Frau, die wir am Samstag gefunden haben?« Der Polizeipräsident hatte bereits sein Smartphone gezückt und die Nummer seines Assistenten eingetippt. Sicher wollte er versuchen, die Presse so lange wie möglich in Schach zu halten.

»Ja«, antwortete der Pathologe. »Die Strangulationsmerkmale weisen auf einen Serientäter hin. Allerdings sollten wir abwarten, ob die Spurensicherung dieselben Fasern sicherstellen kann wie am vorherigen Tatort.«

»Scheiße!«, fluchte Tolosino.

Der Pfarrer bekreuzigte sich, kniete sich neben das Opfer und begann zu beten. »Der Herr gebe ihr die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihr. Herr, lass sie ruhen in Frieden. Amen.«

Franka Köhler hatte ihre Beine angezogen und umschlang sie fest mit ihren Armen. Sie kauerte auf dem Boden, angelehnt an eine Steinmauer, und starrte in Richtung Tatort. Als sie sah, dass sich die Männer, die die Leiche umringt hatten, voneinander verabschiedeten, wandte sie den Blick ab und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Wandergruppe. Die meisten ihrer Kunden wirkten verstört, viele weinten oder ließen sich von den Psychologen betreuen. Franka vermutete, dass von der Gruppe bisher noch niemand mit einer solchen Form von Gewalt konfrontiert worden war. Auch bei ihr hatte sich der Anblick der toten Frau tief ins Gedächtnis gebrannt. Um acht Uhr hatte sie die Teilnehmer der Reisegruppe am Fuß­ende der Stufen der Kirche Madonna della Neve begrüßt und war mit ihnen zum Kirchenvorplatz emporgestiegen. Und da lag sie … Der starre Blick, der verdrehte Unterleib und der Schmerz, der sich in ihrem unversehrten Gesicht abzeichnete … Franka schlang die Arme noch fester um ihre Beine und vergrub das Gesicht zwischen ihren Knien. Sie sehnte sich nach einem Glas Wein und der Abgeschiedenheit ihres Apartments. Seit zwei Monaten lebte sie am Gardasee und versuchte seitdem, sich als selbstständiger Tourguide für deutsche und englische Touristen einen Namen zu machen. Da sie promovierte Kunsthistorikerin und dazu – zumindest früher einmal – recht sportlich war, konnte sie die kulturellen Besonderheiten der Region mit den landschaftlichen Schönheiten einer kleinen Wanderung perfekt miteinander verknüpfen. Heute hätte die Tour »Marienkult zwischen den Weinbergen« stattfinden sollen. Sieben Touristen hatten sich dafür angemeldet. Franka musste sich eingestehen, dass es mit ihrer Selbstständigkeit noch nicht besonders gut lief. Sie würde sich intensiver um Kunden bemühen müssen, gezielt in den Hotels und auf den Campingplätzen Werbung machen und endlich ihre Homepage online bringen. Aber Selbstvermarktung fiel ihr einfach schwer. Und nun auch noch das! Franka schüttelte sich, stand auf und wollte sich ihrer Reisegruppe zuwenden. Vielleicht konnte sie durch etwas Aufmerksamkeit negative Google-Bewertungen vermeiden. In diesem Moment sah sie, wie einer der Männer, die bei der Leiche gestanden hatten, auf sie zukam. Im Bruchteil einer Sekunde registrierte sie, dass es ein sehr gut aussehender Mann war: Ende dreißig, sportlich, groß gewachsen, mit schwarzen Locken und einem samtigen olivfarbenen Teint. Aufgeregt klopfte sich Franka den Staub von den Jeansshorts und zupfte ihr T-Shirt zurecht. Innerlich verfluchte sie sich für ihre nachlässige Aufmachung, das ungeschminkte Gesicht und die paar Kilos, die einfach nicht von der Hüfte runterwollten. Aber sie war an diesem Morgen dermaßen verkatert gewesen, dass sie es gerade so pünktlich zum Tourenstart nach Colà di Lazise geschafft hatte. Je näher er kam, desto schneller spürte sie ihr Herz schlagen.

Nachdenklich legte Bischof Vito Occhipinti den Hörer auf die Gabel und betrachtete eingehend das Gemälde, das ihm gegenüber an der Wand hing. Seit einem Jahr gab es ihm Rätsel auf. Der Kirchenvorstand hatte es ihm im Namen der Pfarrgemeinde Santa Maria degli Angeli zum Dank für sein sechsjähriges Wirken als Priester geschenkt, nachdem er die Berufung als Bischof der Diözese Verona erhalten hatte. Das Gemälde des lokalen Künstlers Umberto Di Mauro trug den hochtrabenden Titel »Sonnengesang«, in Bezug auf den großen Franz von Assisi. Notgedrungen musste Vito das Bild, das in einen quadratischen, drei Meter langen und drei Meter breiten Rahmen eingefasst war, irgendwo aufhängen. Nun starrte er bereits seit dreizehn Monaten auf die grellen Farbkleckse, die sich um einen großen orangefarbenen Kreis scharten, und spürte jedes Mal eine leichte Migräne aufziehen.

Dabei bereitete ihm das eben geführte Telefonat genügend Kopfzerbrechen. Einer der Priester aus der Pfarrei Peschiera-Lazise hatte ihn darüber informiert, dass vor wenigen Stunden eine junge Frau vor der Kirche Madonna della Neve in Colà di Lazise gelegen hatte, die offenkundig ermordet worden war. Der Bischof stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und blieb vor dem riesigen Gemälde stehen. Viele seiner Gemeindemitglieder nahmen an, dass er, aufgrund seines noch recht jungen Alters von fünfundvierzig Jahren, ein moderner Mann der Kirche war. Doch es war seine zutiefst konservative Einstellung, die ihm den Posten in Verona eingebracht hatte, und Vito hätte in diesem Moment tausendmal lieber auf eine Replik von Michelangelo oder Raffael geblickt, Bilder, die von christlicher Symbolik nur so strotzten und deren Bedeutung der Betrachter auf Anhieb verstand. Er hatte das Gefühl, seitdem er das Chaos auf der Leinwand in sein Büro gelassen hatte, herrschte in seinem Leben ein heilloses Durcheinander. Schon wieder ein Mord in Lazise, diesmal in unmittelbarer Nähe einer Kirche! Er sah die Schlagzeilen schon vor sich: MADONNEN-MÖRDER SCHLÄGT ERNEUT ZU, TATORT KIRCHE oder SANTA SERIENMÖRDER waren nur einige Beispiele, die ihm in den Sinn kamen. Vito Occhipinti tupfte sich mit einem seidenen Taschentuch den Schweiß von der Stirn, drehte sich zu seinem Schreibtisch um und drückte den roten Knopf der Gegensprechanlage. »Monsignore?«, ertönte sofort die Stimme seiner Sekretärin.

»Signora Scimia, schicken Sie mir bitte sofort Vicario Bernardo in mein Büro! Es ist dringend!«

»Sofort, Monsignore.«

Während der Bischof auf seinen engsten Mitarbeiter wartete, durchblätterte er fahrig den Terminkalender, in dem er alle wichtigen Ereignisse notierte. Als er zwei Tage zuvor, am Samstag, den 14. Mai 2022 über das Ereignis an der Via Fossalta informiert worden war, hatte er bereits ein ungutes Gefühl gehabt. Eine Frau wurde tot neben einer Marienkapelle in ihrem Auto gefunden. Eindeutig ermordet. Gut, das hätte man noch als Zufall durchgehen lassen können, immerhin bot die Marienkapelle an der Einfahrt zu einem etwas abgelegenen Weingut eine der wenigen einsamen Parkmöglichkeiten auf der Strecke. Aber nun kam ein zweiter Mord hinzu! Der Bischof raufte sich die Haare. Irgendein Verrückter mordete in unmittelbarer Nähe heiliger Orte und schadete dem Ruf der Kirche. Es klopfte energisch an der Tür. »Herein!«, murmelte Vito gedankenverloren.

Vicario Bernardo, ein Mann so groß wie ein Baum und seit mehr als dreißig Jahren im Dienst der Diözese, betrat das Büro. »Sie wollten mich sprechen, Monsignore?«

Der Bischof nickte. »Ich habe soeben den Anruf erhalten, dass in der Gegend um Lazise erneut eine ermordete Frau aufgefunden wurde. Es ist der zweite Mord innerhalb weniger Tage in Verbindung mit einer Kirche oder einem Marienbildnis. Was die Presse daraus macht und was das für unsere Institution bedeutet, brauche ich Ihnen kaum zu erklären. Es ist ein Desaster!«

Vicario Bernardo nickte. »Für die Presse ist das natürlich ein gefundenes Fressen. Aber wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte, dass Sie sofort nach Lazise fahren und den Priester, der mich vorhin angerufen hat, aufsuchen. Informieren Sie sich über die Lage, die Stimmung unter den Gläubigen, und erstatten Sie mir anschließend sofort Bericht. Bevor wir eine öffentliche Stellungnahme rausgeben und weitere Schritte planen, müssen wir wissen, woran wir sind. Und ich will einen Mann vor Ort haben, dem ich absolut vertraue.« Nervös griff der Bischof nach seinem Notizbuch und schlug die tagesaktuelle Seite auf. »Frater Bartolomeo, so heißt der Geistliche, der mich angerufen hat. Setzen Sie sich mit ihm in Verbindung! Hier sind Adresse und Telefonnummer.«

Während sich Vicario Bernardo die Daten notierte, fragte er beiläufig: »Und was werden Sie tun, Monsignore?«

Zögerlich griff Vito zum Telefon, scheute sich aber davor zu wählen. Schließlich antwortete er: »Ich fürchte, ich werde mit der Presseabteilung eine Strategie erarbeiten müssen.«

Die Frau, die bis vor wenigen Minuten an der Steinmauer gekauert hatte, war aufgesprungen und zupfte nervös an ihrer Kleidung herum. Antonio registrierte ihre hektischen Bewegungen. Je näher er kam, desto mehr musste er sich um einen professionellen Gesichtsausdruck bemühen. Die Wanderführerin trug ein unförmiges T-Shirt und kurze Jeansshorts, die ihrer Figur nicht gerade schmeichelten. »Una donna tedesca«, dachte Antonio abschätzig, doch im selben Moment ermahnte er sich, sich nicht von Äußerlichkeiten ablenken zu lassen. Er stand jetzt genau vor der Frau, die ihm die Hand reichte und stockend sagte: »Buongiorno. Mi chiamo Franka Köhler. Sono la guida turistica di questo gruppo.«

Antonio schüttelte der Reisegruppenleiterin die Hand und versuchte, nicht zu verblüfft zu wirken. Aus der Ferne hatte er Franka Köhler aufgrund ihrer nachlässigen Erscheinung auf mindestens fünfzig Jahre geschätzt, doch nun musste er feststellen, dass sie höchstens Mitte dreißig war. Ihr Gesicht wirkte aufgedunsen, und unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, was auf zu wenig Schlaf und zu viel Alkohol hindeutete. Doch sie hatte einen klugen Blick und wunderschöne, braun-gold gesprenkelte Augen. Schnell sagte er: »Guten Tag, ich bin Commissario Acero. Wir können ruhig deutsch miteinander sprechen, ich stamme aus Südtirol und bin zweisprachig aufgewachsen.« Sein Gegenüber nickte dankbar. »Frau Köhler, Sie haben die Leiche vor knapp neunzig Minuten gefunden. Können Sie mir den Ablauf kurz schildern?«

»Selbstverständlich. Ich selbst bin heute gegen sieben Uhr fünfundvierzig am Fuß der Treppe eingetroffen und habe auf die Personen gewartet, die sich für die heutige Tour angemeldet hatten. Um acht Uhr waren alle Teilnehmer da, und wir gingen gemeinsam die Stufen zum Vorplatz der Kirche hinauf, wo ich mit meiner Führung beginnen wollte. Ich kam als Erste oben an und bemerkte sofort, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte. Sie lag rücklings auf dem Kirchenvorplatz, ganz komisch verdreht, und bewegte sich nicht. Ich habe die Gruppenmitglieder angewiesen, sich der Frau nicht zu nähern. Ich selbst wollte mich vergewissern, ob ich der jungen Frau noch helfen kann. Daher bin ich zu ihr hingegangen, habe sie angesprochen und ihren Puls gefühlt. Da ich nichts gespürt habe, habe ich zunächst einen Notruf abgesetzt und anschließend mit einer Herzmassage begonnen in der Hoffnung, sie wiederzubeleben, was jedoch aussichtslos war. Und dann ging alles ganz schnell. Ihre Kollegen kamen, Sanitäter, das Kriseninterventionsteam. Ach ja, und der Pfarrer ist auch noch zwischendurch aufgetaucht. Mehr kann ich dazu nicht sagen.« Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte etwas verloren in Richtung Leichenfundort. Dort schoss ein Kollege gerade zahlreiche Tatortfotos, während Mitarbeiter der Spurensicherung den Platz akribisch nach Hinweisen absuchten. Antonio war von der sachlichen Aussage Franka Köhlers beeindruckt. Während die anderen Touristen sichtlich geschockt waren, hatte sie die Ereignisse kurz und präzise formuliert. Trotzdem kam ihm an der Aussage etwas widersprüchlich vor. »Frau Köhler, wie oft haben Sie diese Tour bereits durchgeführt?«

Franka errötete leicht. »Es wäre heute die erste Führung in Colà di Lazise gewesen. Wieso fragen Sie?«

»Was mich wundert, ist, dass Sie nicht früher am vereinbarten Treffpunkt gewesen sind. Sie hätten sich doch zumindest versichern müssen, ob die Kirche bereits aufgeschlossen ist.«

Franka Köhler wirkte unsicher. »Was wollen Sie damit andeuten? Dass ich etwas mit dem Tod der jungen Frau zu tun habe?«

Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Keine Angst, Sie stehen hier nicht unter Mordverdacht. Ihr Verhalten wirkt nur etwas ungewöhnlich auf mich.«

Die Reiseleiterin zuckte mit ihren Schultern. »Was soll ich sagen? Ich habe heute Morgen verschlafen. Eigentlich wäre ich gerne etwas früher vor Ort gewesen, aber als ich in die Via Madonna einbog, standen die ersten beiden Gruppenmitglieder bereits am Treffpunkt und verwickelten mich in ein Gespräch. Ich hoffte einfach, dass meine schlechte Vorbereitung nicht auffallen würde.« Antonio ahnte, dass sie ihm etwas verschwieg. Sie hatte mit Sicherheit nicht einfach nur verschlafen. Ihr verquollenes Gesicht verriet, dass sie letzte Nacht zu viel Alkohol getrunken hatte. Oder hatte sie geweint? Der Kommissar versuchte, objektiv zu bleiben. Neben ihnen begannen seine Kollegen von den Carabinieri, die Daten der Gruppenmitglieder aufzunehmen.

»Frau Köhler, ich möchte Ihnen heute nicht zu viel zumuten, aber eine wichtige Frage habe ich noch an Sie: Ist Ihnen irgendjemand rund um die Kirche aufgefallen, der sich seltsam verhalten hat? Ein schnell wegfahrendes Auto, eine vermummte Person, irgendetwas?«

Franka Köhler schüttelte den Kopf. »Aber vielleicht kann Ihnen das Ehepaar Schmidt-Högerle weiterhelfen, die beiden älteren Herrschaften dort drüben.« Sie wies mit ihrem Finger auf ein Rentnerpaar, das sich für die Tour mit gleichfarbigen Wanderhemden und Walkingstöcken ausgestattet hatte. Antonio fragte sich, warum deutsche Touristen eigentlich immer so geschmacklos angezogen waren. »Die beiden waren bereits um sieben Uhr in Colà di Lazise, haben im Dorf einen Espresso getrunken und sind dann langsam zum Treffpunkt spaziert. Vielleicht ist ihnen etwas aufgefallen.«

»Danke, das ist ein wichtiger Hinweis. Dann werde ich mit den beiden ebenfalls noch sprechen. Von meiner Seite aus habe ich zunächst keine Fragen mehr an Sie. Aber ich möchte Sie bitten, sich noch zur Verfügung zu halten. Sie wohnen hier in der Gegend?«

Franka Köhler nickte. »Meine Schwester Nina hat den Besitzer des Agriturismo La dolce Collina geheiratet, das etwa zwei Minuten außerhalb von Colà di Lazise liegt. Sie kennen es vielleicht. Ich bewohne momentan eines der Ferienapartments.« Antonio pfiff durch seine Zähne. Da hatte Franka Köhlers Schwester aber einen guten Fang gemacht! Er notierte sich die Adresse, verabschiedete sich und wollte bereits losgehen, um das Rentnerehepaar zu befragen, als ihm noch ein Gedanke durch den Kopf schoss. Es fiel ihm jedoch schwer, die richtigen Worte zu finden. Vorsichtig fragte er: »Frau Köhler, alle Teilnehmer der Tour wirken tief schockiert im Angesicht dieses Verbrechens, sie weinen, liegen sich in den Armen und sprechen mit den Psychologen. Sie hingegen sitzen abseits der Gruppe, vergießen nicht eine Träne und sprechen mit mir sichtlich gefasst. Können Sie mir erklären, wieso?« Für eine Sekunde schien es so, als ob Franka Köhler ihre Fassung verlieren würde. Eine Ader an ihrem Hals pochte, und ihre Augenlider zuckten. Doch dann erwiderte sie in ihrem ruhigen, nüchternen Ton, den sie während der gesamten Befragung beibehalten hatte: »Weil das nicht die erste Leiche war, die ich gesehen habe. Und auch nicht die am schlimmsten zugerichtete.«

Die Caffetteria San Nicola in Verona war bereits bis auf den letzten Platz besetzt. Alessia Brenzano, die sich mühsam zwischen den ersten Touristengruppen, die sich vor der Arena eingefunden hatten, hindurchschob, entdeckte ihre beiden Freundinnen Chiara und Li unter einem großen Sonnenschirm mit jeweils einem Aperol Spritz in der Hand. Vor sich hatten die beiden zudem ein Schälchen mit Oliven stehen sowie einen Antipasti-Teller mit Käse, Parmaschinken, getrockneten Tomaten und Bruschetta. Alessia stöckelte zielstrebig auf das Café zu und registrierte zufrieden, wie mehrere der umstehenden Touristen die Hälse nach ihr reckten. Sie wusste, wie gut sie aussah – ihre langen, schlanken Beine steckten in schmalen Jeans, das eng anliegende Spaghettiträger-Top betonte ihre perfekten Kurven, und die teuren High Heels mit der roten Sohle unterstrichen die Wertigkeit ihres Outfits. Als sie am Tisch ihrer Freundinnen ankam, umarmte sie die beiden kurz und deutete auf jeder Wange ein Küsschen an. »Ciao, ihr Süßen!«

»Ciao, Alessia!«, sagte Chiara. »Schön, dass du es so spontan einrichten konntest! Li und ich haben uns zufällig getroffen, unsere Kinder sind heute mit den Au-pair-Mädchen unterwegs, und wir haben uns gedacht, dass der Vormittag einfach perfekt für ein zweites Frühstück ist.« Alessia ließ sich auf den freien Stuhl zwischen Chiara und Li fallen, schob sich ihre große Sonnenbrille in die Haare und griff nach der Getränkekarte. »Ja, mein Morgen lief sowieso anders als geplant. Antonio wurde in aller Herrgottsfrühe zu einem Tatort beordert, also hatte ich keinen Grund, noch länger im Bett zu bleiben.« Mit einem vielsagenden Lächeln legte Alessia die Karte beiseite und winkte nach einem Kellner. Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, wollte Li neugierig wissen: »Und, hat er dich schon gefragt?« Alessia hasste diese Frage, die ihr in letzter Zeit immer öfter gestellt wurde. Trotzdem tat sie so, als ob sie keine Ahnung hatte, was Li von ihr wissen wollte. »Was meinst du?«

Li und Chiara wechselten einen vielsagenden Blick, bevor Li antwortete: »Na, was wohl! Hat er dir jetzt endlich einen Heiratsantrag gemacht?«

Alessia schüttelte ihren Kopf und versuchte, möglichst cool zu wirken. »Nein, aber wieso sollte er auch? Wir sind doch erst seit einem Jahr zusammen. Es eilt doch nicht.«

Chiara schnaubte verächtlich. »Dein Freund wird bald vierzig, und du bist auch schon zweiunddreißig. Auf was wartet ihr denn? Hat er sich wenigstens dazu durchgerungen, bei dir einzuziehen?«

Noch ein Thema, das Alessia ungern besprach. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Streit, den sie erst letzte Woche miteinander geführt hatten. Antonio arbeitete bei der Kriminalpolizei in Verona, insofern wäre es für ihn nur vernünftig gewesen, bei Alessia einzuziehen. Doch Antonio wollte an seiner Wohnsituation in Pacengo am Gardasee festhalten. Sie konnte seine Gründe sogar nachvollziehen: Seiner Familie, die aus Sankt Ulrich in Südtirol stammte, gehörte dort seit ewigen Zeiten ein Ferienhaus mit eigenem Anlegesteg im Gardasee. Antonio konnte dort jeden Tag segeln oder surfen. Zudem hatte man von der Terrasse einen atemberaubenden Blick über das Wasser. Die Terrasse war sowieso das Herzstück des Ferienhauses – ein großer Pizzasteinofen für ausgelassene Familienfeiern, ein Swimmingpool mit Liegen und Sonnenschirmen sowie ein gigantischer Holztisch luden zum Verweilen ein. Zudem schätzte Antonio die Ruhe und Abgeschiedenheit dieses Ortes. Er betonte stets, dass ihm Verona zu trubelig und städtisch sei. Natürlich hätte Alessia ihren Freund fragen können, ob sie bei ihm einziehen könne, aber das wollte sie um jeden Preis vermeiden, denn Antonios Traumhaus hatte einen riesigen Haken: Antonios gesamte Familie durfte das Ferienhaus benutzen, wann immer sie wollte. Für Alessia bedeutete das im Klartext, dass zwischen Mai und September ununterbrochen Verwandte ein und aus gingen. Und während Antonio es liebte, seine Eltern, Geschwister, Onkel, Tanten, die Nonna und all seine Cousinen und Cousins zu bewirten, löste allein der Gedanke an die fehlende Privatsphäre bei Alessia ein dumpfes Ziehen in der Magengrube aus. Wie sie es drehte und wendete – Antonio und sie traten auf der Stelle. Aber das wollte sie vor ihren Freundinnen auf gar keinen Fall zugeben. Daher antwortete sie: »Wenn Antonio das Bedürfnis hat, sein Leben mit mir Tag und Nacht teilen zu wollen, dann wird er mir das schon sagen. Und bis dahin tue ich das, was viele Frauen in meinem Alter tun: Geld verdienen und das Leben genießen.« Mit diesen Worten trank sie ihren Espresso in einem Zug leer, legte ein paar Münzen auf den Tisch und sagte: »So, und jetzt entschuldigt mich, in der Agentur wartet heute jede Menge Arbeit! War schön, euch zu treffen.« Und ohne auf ein Abschiedswort von ihren verdutzten Freundinnen zu warten, drehte sich Alessia um und verschwand in den Touristenmengen rund um die Arena.

Unschlüssig stand Franka Köhler vor der Kirche und überlegte, was sie als Nächstes tun sollte. Die sieben Urlauber, die heute an ihrer Tour teilnehmen wollten, hatten sich inzwischen verabschiedet. Franka hatte mit allen ein kurzes Gespräch geführt, ihnen versprochen, das bereits bezahlte Geld zurückzuüberweisen, und ihnen angeboten, die Tour zu einem anderen Zeitpunkt nachzuholen. Wie befürchtet hatten fast alle dankend abgelehnt, nur das Ehepaar Schmidt-Högerle, das mit seinem Wohnwagen einen Dauerstellplatz gemietet hatte, wollte es sich überlegen. Auch die meisten der Polizisten waren inzwischen verschwunden. Franka hatte beobachtet, wie Kommissar Acero in einem lindgrünen Fiat 500 weggefahren war. Es hatte Franka einen Stich versetzt, dass er sich nicht persönlich verabschiedet hatte, aber was erwartete sie eigentlich? Sie war eine Zeugin, sie hatte ihre Aussage gemacht und ihre Adressdaten hinterlassen. Sie würden einander vermutlich nie mehr wiedersehen. Die Leiche der jungen Frau war inzwischen abtransportiert worden. Ein paar verstreute Beamte in weißen Ganzkörperanzügen suchten den Tatort noch nach Spuren ab. Franka war die letzte Zivilistin auf dem Platz. Auf was wartete sie noch? Franka blickte ein letztes Mal auf die imposante Kirche, die der Ausgangspunkt ihrer heutigen Tour hätte sein sollen. Wehmut stieg in ihr auf. Es schien, als ob ihr Plan, in Italien als Reiseleiterin Fuß zu fassen, zum Scheitern verurteilt war. Franka spürte, dass sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Schnell wischte sie sich über die Augen, wandte sich ab und huschte mit gesenktem Kopf die Treppen zur Via Madonna hinunter. Sie bemerkte den jungen Mann gar nicht, der hilfsbereit das rot-weiße Absperrband nach oben hob, sodass sie bequem darunter hindurchschlüpfen konnte. Erst als sie laut und deutlich ein »Arrivederci, Signora« hörte, fuhr sie erschrocken herum.

»Arrivederci«, murmelte sie leise, ohne aufzublicken, und ging ein paar Schritte zur Plakatstellwand, an der sie Ninas Fahrrad abgestellt hatte. Eilig zog sie das klapprige alte Damenrad zu sich, bis sie feststellte, dass sie es abgesperrt hatte. Verärgert kramte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüsselbund und bemerkte gleichzeitig, dass sie von Sekunde zu Sekunde nervöser wurde. Sie wollte einfach nur noch weg! Gerade als sie den Schlüssel mit ihren Fingern in einem Seitenfach ertastete, spürte sie, wie ihr jemand auf die Schultern tippte. Mit einem leisen Schrei fuhr sie herum und sah, dass es der junge Polizist war, der sie eben verabschiedet hatte. Auch er hatte sich durch Frankas Schrei erschrocken, denn er stammelte: »Entschuldigen Sie, Signora, dass ich Sie noch einmal behellige, aber Sie sahen etwas mitgenommen aus, und ich wollte mich vergewissern, dass es Ihnen gut geht!« Franka starrte den Mann an, den sie auf höchstens zwanzig Jahre schätzte. Er wirkte unsicher auf sie, aber völlig aufrichtig. Er sprach betont langsam, sodass Franka ihn problemlos verstehen konnte. Und diese strahlenden grünen Augen … »Wie Luca«, dachte Franka, und allein bei dem Gedanken schossen ihr Tränen in die Augen. Unbeholfen legte der Beamte eine Hand auf ihre Schulter. »Soll ich jemanden für Sie anrufen, der Sie abholen kann? Oder soll Sie einer der Carabinieri nach Hause fahren?« Franka schüttelte den Kopf und schniefte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Signor …«

»Tolosino! Matteo Tolosino.«

»Danke, Signor Tolosino, aber mit dem Fahrrad sind es nur fünf Minuten bis zu meinem Apartment. Ich glaube, ich stehe noch unter Schock. Immerhin habe ich die Leiche gefunden.« Matteo Tolosino nickte mitleidig. »So eine Erfahrung kann einen ganz schön mitnehmen. Ich bin Praktikant bei der Mordkommission und habe es heute nicht über mich gebracht, mir die Leiche näher anzusehen. Das ist wieder ein gefundenes Fressen für meinen Vater. Er meint sowieso, ich tauge nicht zum Kommissar. Na ja, aber das ist ein anderes Thema.« Er verstummte, und Franka hätte ihm gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber ihr fehlten die passenden Worte. Also standen sie sich mehrere Momente schweigend und etwas betreten gegenüber, bevor Matteo wieder in seine Polizistenrolle fand. »Möchten Sie vielleicht die Telefonnummer unserer Psychologin haben? Falls Sie noch das Bedürfnis verspüren, über das Erlebte zu sprechen.«

Franka schüttelte den Kopf. »Danke, aber ich schaffe das schon. Vielleicht komme ich heute Abend noch einmal zurück, wenn der Tatort wieder freigegeben ist, und zünde eine Kerze für die Verstorbene an. Das hatte ich eigentlich als Beginn für die heutige Tour geplant. Immerhin gehen an diesem Ort Wünsche in Erfüllung.« Franka wandte sich wieder ihrem Fahrrad zu. Endlich drehte sich der Schlüssel, und das Schloss sprang auf. Erleichtert schwang sie sich auf den Sattel und wollte sich gerade verabschieden, als der junge Praktikant sie aufhielt. »Was meinen Sie damit, dass hier Wünsche in Erfüllung gehen?«

Obwohl Franka am liebsten einfach losgefahren wäre, siegte ihre Höflichkeit. »Die wenigsten Menschen wissen, dass diese Kirche ursprünglich dem heiligen Georg geweiht war. Im sechzehnten Jahrhundert wurde sie dann der Maria gewidmet. Das Besondere ist jedoch ihr Name: Madonna della Neve, das bedeutet Jungfrau des Schnees. Der Schnee als Symbol der Reinheit steht dafür, dass die Mutter Gottes Jungfrau war, als sie das Jesuskind empfangen hat. Viele Marienkirchen sind im Laufe der Zeit zu Wallfahrtsstätten geworden, weil die Katholiken glauben, dass Maria ihre Gebete versteht und sie bei der Heiligen Dreifaltigkeit vorträgt. Diese Kirche hat keine Berühmtheit erlangt. Und trotzdem ist der Name so selten, dass immer wieder Menschen mit einer speziellen Bitte hierherkommen.« Franka merkte, wie Matteo Tolosino gebannt an ihren Lippen hing. In ihren Vorlesungen hatte sie an solch einer Stelle immer eine Kunstpause eingelegt, um die Spannung im Hörsaal zu steigern. Doch diese Zeiten waren längst vorbei. »Paare oder speziell Frauen mit Kinderwunsch erhoffen sich bei der heiligen Maria Zuspruch und Hilfe für ihre eigene Familienplanung. Sehr oft werden diese Gebete erhört.« Und bevor Franka erneut in Tränen ausbrach, trat sie in die Pedale, schoss den Berg hinunter und ließ den Praktikanten mit fragendem Blick zurück.