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Susanne Fröhlich

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Beschreibung

Da geht noch was! Wie fühlt man sich, wenn die eigenen Kinder kaum noch mit einem reden, der Ehemann offensichtlich viel lieber auf dem Golfplatz als zu Hause ist, der Schwiegervater hingegen den ganzen Tag lang Ansprache erwartet und das Klimakterium einem schweißig im Nacken sitzt? Soll es das etwa gewesen sein? Ein Leben als Putzfrau, Köchin, Chauffeurin, Aufräumerin und Trösterin mit Nebenjob in einer Werbeagentur? Nein! beschließt Andrea Schnidt und merkt schon bald: Ja, da geht noch was! Abgrundtief ehrlich und schonungslos witzig erzählt Susanne Fröhlich vom Leben im Angesicht der Wechseljahre und dabei wird eines ganz klar: Der Spaß ist noch lange nicht vorbei! Andrea Schnidt in Höchstform! "Ich mutiere immer mehr zu einer frustrierten und missmutigen Frau. Wo um alles in der Welt ist mein lustiges Leben geblieben?" Andrea Schnidt merkt, wie die Wechseljahre unausweichlich auf sie zukriechen und sich an ihrem Körper zu schaffen machen. Auch der ewig Golf spielende Gatte und die pubertierenden Kinder, die keine Lust auf Schule haben, tragen nicht gerade zur guten Laune bei. Schwiegervater Rudi, der nach dem Tod seiner Frau bei ihnen eingezogen ist, hebt natürlich auch nicht die Stimmung. Soll es das etwas gewesen sein? Ein Leben als Putzfrau, Köchin, Chauffeurin, Aufräumerin und Trösterin mit Nebenjob in einer Werbeagentur? Nein! beschließt Andrea Schnidt und merkt schon bald: Ja, da geht noch was!

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Inhalt

Wie immer für Charlotte [...]1234567891011121314Ich habe Deine Nerven [...]

Wie immer für Charlotte und Robert und für Conny

1

»Isch will uff jeden Fall, des ihr mich verbrenne tut! Und isch will net, des so en Mordsgedöns bei maaner Beerdigung gemacht wärd!«

Der Mann, der mir das täglich morgens um sechs mit Trauermiene und ganz leiser Stimme mitteilt, ist mein Schwiegervater Rudi, der nunmehr seit vier Wochen bei uns wohnt. Genau vor einem Monat hat er, bei dem Versuch eigenständig ein Wannenbad zu nehmen, dummerweise seine eigene Wohnung geflutet und seither beehrt er uns mit seiner Anwesenheit.

Schon während ich den ersten Kaffee des Tages trinke, will er mit mir die Details seiner Beerdigung besprechen. Dabei ist Rudi keineswegs todkrank. Er ist aber ein Mann, der nichts gerne dem Zufall überlässt und außerdem, wie er immerzu betont, »aaner, der wo gerne die Züschel in der Hand hält!« Im Moment ist er allerdings nur in seiner Vorstellung ein Mann, der »wo die Züschel in der Hand hält«. Seit dem Tod meiner Schwiegermutter Inge ist Rudi von Tatkraft und Zügelhalten etwa so weit entfernt wie Heidi Klum von Waldorfpädagogik. Er ist traurig und verwirrt – und wenn er könnte, würde er direkt neben seine Frau (»Niemand hat Schweinebrate wie meine Inge gemacht!«) in die Grube springen.

Etwa zeitgleich höre ich jeden Morgen die Sätze: »Ich weiß einfach nicht, was ich da soll. Ich habe keine Lust mehr auf Schule. Das gibt mir nichts!«

Die junge Frau, die mir diese Information täglich in ähnlichen Varianten um die Ohren schleudert, ist meine Tochter Claudia, hormonell völlig verwirrt, kurz davor Ehrenmitglied bei den Messies zu werden und mittlerweile sechzehn Jahre alt.

»Wenn die hierbleiben darf, bleibe ich auch!«, bekundet ihr Bruder Mark dann gleichfalls täglich, fast so, als würde ich immer wieder dieselbe Schallplatte mit Sprung zum Frühstück hören.

Dann ist da noch der Kerl, der mir regelmäßig zu alldem nur sagt: »Darum kann ich mich nicht auch noch kümmern!« Dieser Mann ist mein Ehemann Christoph, der eigentlich kaum mehr zu Hause auftaucht. Wie auch – er verbringt fast seine gesamte Freizeit neuerdings auf dem Golfplatz, denn »ohne Golf, Andrea, geht auch geschäftlich nichts. Das ist kein Spaß, das ist Networking.«

 

All das erklärt vielleicht im Ansatz, warum es Momente gibt, in denen ich wirklich sehr gerne aufstehen und gehen würde. Egal wohin – einfach nur weg. Raus aus der Tür und alles hinter mir zurücklassen: Beerdigungen, Schulverweigerer und den Darum-Kann-Ich-Mich-Nicht-Auch-Noch-Kümmern-Kerl!

Schließlich hätte ich auch einiges zu jammern, nur fällt mir niemand ein, der das hören will. Ich merke, wie die Wechseljahre auf mich zukriechen, spüre den schweißigen Hauch des Klimakteriums im Nacken, habe seit fünf Monaten keinen Sex mehr gehabt (obwohl oder gerade weil ich verheiratet bin), zudem erste graue Schamhaare entdeckt und mein Östrogenspiegel fällt parallel zu meiner Laune. Und das Einzige, womit es kontinuierlich aufwärts geht, ist mein Gewicht.

»Das ist das Alter, Frau Schnidt. Der Körper klammert sich an sein Fett und die Hormone tun ihr Übriges!«, konstatiert mein Gynäkologe und schließt mit dem tröstlichen Satz: »So ist die Natur.«

Ich hätte ihm gerne eine geknallt. Und der Natur gleich eine mit. Das hat sie sich nicht wirklich fein ausgedacht. Ich bin in einem Alter, in dem ich ein Mehr an hormoneller Unterstützung ausgesprochen gut vertragen könnte. Und meiner Tochter würde ein Weniger auch sehr gut tun. Sehr, sehr gut sogar. Alle würden profitieren! Welcher Sadist hat das also so verkehrt herum angelegt? Ist das etwa ein schöner Einstieg ins Altern? Das Fleisch wird welk und die Hormone machen die Flatter, verlassen das sinkende Schiff.

Das einzig, im Ansatz, Tröstliche: Ich bin nicht allein. Wenn ich mich mit Freundinnen treffe, ist die allgemeine Stimmung nicht gerade dopingverdächtig. Wir sind alle wie kleine Hamster in unseren jeweiligen Rädern. Was ist aus uns geworden? Ich jedenfalls mutiere immer mehr zu einer frustrierten und missmutigen Frau.

Wo um alles in der Welt ist mein lustiges Leben geblieben? Ich arbeite und den Rest der Zeit versuche ich meine Umgebung bei Laune zu halten und nicht im Chaos zu versinken. Ich bin Vollzeit-Dienstleisterin: Putzfrau, Köchin, Chauffeurin, Aufräumerin, Trösterin und dann sitze ich auch noch halbtags in einer kleinen Agentur und schreibe Werbetexte. Soll das etwa alles sein? Für den Rest meines Lebens? Wer interessiert sich für meine Befindlichkeiten?

Ich kann mich noch nicht mal richtig in Selbstmitleid ergehen, denn während ich noch nach weiteren Minuspunkten in meinem Leben suche, nähert sich auch schon mein Schwiegervater.

»Derf ich disch emal was frache?«, haucht er mit seiner, neuerdings ganz leisen, Stimme.

»Natürlich, Rudi«, antworte ich, wissend, dass diese Frage sowieso rein rhetorischer Natur ist.

»Also«, beginnt er, »ich hab mir überlescht, es wär mir en Herzenswunsch, wenn du uff meiner Beerdigung die Trauerred halte könntest, Andrea.«

Ich hoffe, ich habe mich verhört.

»Rudi«, versuche ich mit aller Vorsicht, eine Antwort zu formulieren, komme aber nicht weit, weil es da auch schon aus dem ersten Stock plärrt: »Wo sind meine Turnschuhe?«

Rudi dreht sich beleidigt weg, ich überlege sofort, wo sie sein könnten, obwohl es ja, weiß Gott, nicht meine Schuhe sind und die Trauerredenfrage ist somit erst mal abgewendet. Die Turnschuhe sind mal wieder verschwunden, Mark mein Sohn guckt vorwurfsvoll, als hätte ich sie versteckt, gefressen oder sonst was. Rudi hat sich mittlerweile in sein Zimmer verkrümelt. Immerhin ein kleiner Teilerfolg. Mark schnappt sich meine Joggingschuhe.

»Barfuß kann ich ja wohl keinen Sport machen!«, entscheidet er und fügt leicht spöttisch hinzu: »Du benutzt die ja eh nicht!« Er stopft die Schuhe, ohne eine Reaktion von mir abzuwarten, in seinen Ranzen.

Ich finde sehr wohl, dass man barfuß Sport machen kann, vor allem wenn man zu doof ist, seine eigenen Turnschuhe zu finden. Aber obwohl ich in der Theorie konsequentes Handeln phantastisch finde, sogar oft flammende Reden darüber halte, habe ich in der Praxis keine Lust auf noch mehr Gezacker. Dabei hätte ich gerade heute vielleicht Sport gemacht. Aber ohne Schuhe wird das schwierig. Perfekte Ausrede für einen weiteren Tag ohne sportliches Engagement.

Mark hastet zur Tür und knallt sie zu. Claudia muss auch los, steckt aber noch in ihrem Zimmer. Styling braucht Zeit.

»Claudia, du musst los!«, brülle ich rauf in den ersten Stock und fühle mich bereits eine dreiviertel Stunde nach dem Aufstehen schon völlig erschöpft.

Nach dem dritten Rufen erscheint meine Tochter dann gelangweilt in der Küche. Ich reiche der Gnädigsten ein Schulbrot, und sie guckt, als hätte ich ihr einen brennenden Molotowcocktail in die Hand gegeben.

»Igitt, da ist ja Wurst drauf!«, schnaubt sie verächtlich.

»Ja und?«, antworte ich. Seit Jahren ist entweder Wurst oder Käse auf dem Schulbrot, an guten Tagen noch Kresse, Gurke oder Schnittlauch, also hält sich die Sensation ja wohl in Grenzen.

»Ich bin jetzt Veganerin!«, erklärt sie und donnert die Brotdose auf die Küchentheke. Veganerin – das ist ja mal was ganz Neues. Auch das noch.

Die Neu-Veganerin hat sich ihre Augen so schwarz umrandet, dass man denken könnte, sie gehe als Waschbär in die Schule. Sollte ich ihr mitteilen, dass heute kein Fasching ist? Sollte ich darauf bestehen, dass sie das entfernt? Ich sollte, weiß aber, dass ich damit einen herrlichen Streit entfachen würde. Also lass ich es bleiben. Stattdessen sage ich nur: »Interessantes Augenmake-up!«

Sie antwortet nicht mal, guckt nur kurz auf und ihr Blick sagt alles. Ich soll sie in Ruhe lassen, ich hab eh keine Ahnung, ich bin eine altmodische Kuh, von mir lässt sie sich doch nichts sagen und außerdem zieht sie sowieso bald aus … Immerhin beehrt sie mich beim Gehen noch mit einem gezischten: »Tschüss.« Man muss für kleine Gesten dankbar sein.

»Ich wünsche dir einen schönen Tag, viel Spaß in der Schule!«, verabschiede ich mein Kind, gerade so, als wäre es ein wunderbar harmonischer Morgen gewesen, und als sie endlich das Haus verlassen hat, mache ich mich über ihr Schulbrot her. Ich brauche dringend Kohlenhydrate, und am Morgen sind sie ja noch gestattet.

Veganerin! Die tickt ja nicht mehr richtig. Was soll ich der denn demnächst kochen? Tofu? Da wird sich der Rest der Familie sicherlich sehr freuen. Das einzig Gute an der Altersklasse meiner Tochter: Heute Veganerin und morgen zu McDonalds. Was ich damit sagen will: Grundsätze sind in diesem Alter noch ausgesprochen variabel. Wer weiß also, was heute Mittag bei ihr los ist. Mittlerweile bin ich ja schon froh, wenn sie ab und an überhaupt mit mir spricht. Soll sie essen, was sie will. Solange sie keine extra Kocheinlagen erwartet, ist es mir egal.

 

Ich habe heute frei und bin zum Frühstück eingeladen. Bei einer meiner Nachbarinnen. Netter kleiner Frauenbrunch! Schöne Gelegenheit, uns gegenseitig was vorzulügen: Über unsere wunderbaren Kinder, unser herrliches Leben und unsere phantastischen Ehemänner.

Anita hat eingeladen. Das Gute ist, Anita ist immer eins a informiert und kennt den neusten Klatsch und Tratsch. Anita ist so was wie die personifizierte Vorstadtbunte. Schon deshalb freue ich mich auf unser kleines Frühstück.

Bevor ich gehe, kommt Rudi auf mich zu, immer noch im Bademantel.

»Wesche der Trauerred, Andrea, isch hab hier schon emal was notiert, was dir helfe könnt!«

Er drückt mir einen kleinen Zettel in die Hand. Der arme Rudi. Seit Inge tot ist, ist er fast nicht mehr aus dem Bademantel herausgekommen und schon das tägliche Aufstehen bereitet ihm Mühe. Er tut mir einerseits unendlich leid, aber andererseits ist er auch wie ein weiteres Kind im Haus und nervt mich so doch schon ein wenig. Ich reiße mich zusammen, nehme den Zettel, sage ihm, dass ich für die nächsten zwei Stunden nicht da sein werde.

»Lass mich ruhisch allein, des bin ich tief drinne sowieso«, antwortet er nur.

Jetzt tatsächlich das Haus zu verlassen, ist ziemlich herzlos, aber es heitert ihn auch nicht wirklich auf, wenn ich mich zu ihm setze. Ich nehme ihn in den Arm, tröste ihn und mich selbst mit den Worten: »Ich bin nicht lange weg! Nur nebenan bei Anita. Wenn was ist, kannst du mich jederzeit erreichen!« Man verlässt nicht gerne das Haus und lässt ein Häufchen Elend darin zurück.

Meine Schwiegermutter ist vor acht Wochen plötzlich verstorben, aber Rudi kann es bis heute nicht fassen. Wie auch? Die beiden waren eine Ewigkeit verheiratet und Rudi fühlt sich wie amputiert. Inge ist auf dem Weg in die Stadt an einer Straßenbahnhaltestelle umgefallen und war tot. Einfach so. Ohne Vorwarnung. Manche finden, das sei der perfekte Tod. Ich weiß nicht so recht. Für die, die zurückbleiben, ist er alles andere als perfekt. Wenn jemand schwer krank ist, bleibt Zeit sich vorzubereiten. Sich zu verabschieden. Die Trauer mag genauso groß sein, verteilt sich aber auf einen längeren Zeitraum.

Ich bin selbst auch sehr traurig über Inges Tod. Ich habe sie wirklich geliebt. Inge war das, was man einen guten Menschen nennt. Das klingt vielleicht ein wenig pathetisch, aber entspricht der Wahrheit. Inge war eine liebenswerte und freundliche Frau. Nie zynisch, gehässig oder boshaft. Seit Rudi bei uns wohnt, traue ich mich kaum mehr zu trauern. Schon, weil ich das Gefühl habe, dass es mir nicht wirklich zusteht. Immerhin hat Rudi seine Frau verloren, mein Mann seine Mutter – ich ja bloß die Schwiegermutter. Trotzdem könnte ich, schon während ich darüber nachdenke, weinen.

Christoph, meinen Mann, habe ich, seit dem Tod seiner Mama, noch kein Mal weinen sehen. Warum nicht? Hat er das Gefühl, stark sein zu müssen, weil er sieht, wie gebrochen sein Vater ist? Anders kann ich mir sein Verhalten kaum erklären. Natürlich habe ich ihn dazu befragt. Er hat irgend so was Ähnliches wie »Manche heulen eher nach innen« dazu gesagt. Seit seine Mutter tot ist, geht er noch häufiger zum Golfen als vorher. Mit anderen Worten, er ist kaum mehr zu Hause. »Das zieht mich alles so runter!«, hat er mal gesagt, als ich ihm deswegen ein paar winzig kleine Vorwürfe gemacht habe. Der Satz hat mir gerade noch gefehlt: »Das zieht mich alles so runter!« Unverschämt. Was denkt der denn, wie mich das alles so runter zieht. Glaubt der vielleicht, ich wäre heiß auf das Pubertätsgemuffel, seinen verzweifelten Vater und den gesamten, auch nicht gerade erheiternden, Rest?

»Und was ist mit mir?«, habe ich ihn gefragt.

»Du kannst ja mitkommen zum Golfen!«, hat er lapidar geantwortet, wohl wissend, dass ich überhaupt kein Golf spiele und auch nicht zu dem Typ Frau gehöre, der stundenlang nebenher läuft und Schläge bewundert. Soweit kommt es noch! Außerdem finde ich, dass es kaum etwas Langweiligeres als Golf gibt. Wenn ich mit alten Leuten spazieren gehen will, findet sich mit Sicherheit auch eine andere Möglichkeit. Davon abgesehen, darf man nicht mal einfach so Golf spielen, man muss dafür eine Art Führerschein machen. Etikette büffeln, Regeln lernen und das Ganze nennt sich dann hochtrabend Platzreife. Christoph war stolz wie ein Erstklässler über einen Smiley im Hausaufgabenheft, als er seine Platzreife bestanden hat. »Null Fehler in der Theorie!«, hat er überall ungefragt rumerzählt. Seitdem dreht sich alles um sein Handicap. Detailliert bekommen wir bei den wenigen Mahlzeiten, die wir gemeinsam verbringen, jeden einzelnen Schlag auf seinen Runden geschildert.

»Als ich an der sieben diesen Wahnsinnsabschlag hatte, war ich mit dem zweiten fast schon am Grün, mit dem dritten habe ich den Ball draufgechippt, richtig nah an die Fahne, besser ging’s gar nicht und dann habe ich leider drei Putts gebraucht, sonst hätte ich Par gespielt. Also, das wäre der Hammer gewesen.«

Diese Erzählungen sind an Langeweile kaum zu übertreffen. Wir haben alle schon versucht, ihm das klarzumachen. Solche Geschichten interessieren, wenn überhaupt – und auch das ist kaum vorstellbar – andere Golfer. Aber bei jemandem, der diesen »Sport« nicht betreibt, ist das bestimmt die sicherste Möglichkeit, ihn ins Koma zu reden.

Neben den ausschweifenden Erzählungen hat Golf noch weitere Nachteile. Der Golfplatz liegt etwa 35 Minuten Fahrtzeit von unserem Zuhause entfernt. Eine Runde Golf dauert – je nachdem, mit wem man spielt und wie voll es ist – ungefähr vier Stunden. Ich sage nur: Auf Wiedersehen Wochenende! Zu all den Nachteilen kommen noch die Kosten. Golf ist nicht gerade das, was man ein Schnäppchen nennt. Da war mir Christophs exzessives Joggen um Klassen lieber, aber leider wird mir kein Mitsprachrecht bei der Wahl seines Sportprogramms gewährt.

 

Es klingelt. Anne steht vor der Tür. Sie wohnt erst seit einigen Monaten hier in der Gegend und ist heute auch bei Anita eingeladen.

»Hallo, Andrea, ich wollte dich gerade schnell abholen!«, strahlt sie mich an. Anne strahlt immer. Gerade so, als hätte man ihr was ins Trinkwasser gemischt oder als hätte sie in der Sekunde erfahren, dass sie den Lotto-Jackpot geknackt hat. So viel gute Laune macht mich immer ein wenig skeptisch. Ich kann mir einfach kaum vorstellen, dass ihr Leben so unglaublich erheiternd sein kann. Ich kenne Anne nicht wirklich gut, habe aber ihren Mann schon mal getroffen. Der kann wohl kaum der Grund für dieses permanente Grinsen sein. Ich weiß natürlich, dass man nicht vorschnell urteilen soll. Und nur weil jemand muffig aussieht, muss er das noch lange nicht sein. Aber dass dieser Kerl der Grund für diese grandiose Stimmung sein soll, erscheint mir doch unvorstellbar.

»Ich bin fertig, wir können sofort los. Ich muss nur gerade noch meinem Schwiegervater Tschüss sagen!«, begrüße ich Miss Sonnenschein.

»Rudi, mach’s gut. Ich bin nebenan bei Anita! Wenn was ist, komm einfach vorbei«, rufe ich ins Haus und ziehe die Tür hinter mir zu. Irgendwie schließt die nicht richtig, aber was soll’s. Hauptsache mal endlich raus hier.

»Wer kommt denn noch?«, will Anne auf den fünf Metern bis zu Anita wissen. Ich habe keine Ahnung und gehöre auch nicht zu den Leuten, die vorher genau nachfragen. Ich habe keine Befindlichkeiten. Ich mag natürlich manche lieber als andere, bin aber mit keiner der eingeladenen Frauen so zerstritten, dass ich nicht kommen würde.

Wir sind zu acht und Anita hat mal wieder ordentlich aufgefahren. Gekocht, gebraten und angerichtet als gelte es, einem Catering-Unternehmen Konkurrenz zu machen. Fingerfood, klassisches Frühstück mit Brötchen, jeder Art von Ei und dazu ein bombastisches Süßspeisenbüfett. Selbstverständlich frisch gepresster O-Saft und frisch aufgebrühter Kaffee – wahlweise Latte macchiato, Cappuccino mit oder ohne Koffein und Grüner Tee.

Diese Mengen an Lebensmitteln machen mir sofort Druck. So etwas setzt einfach Maßstäbe. Wer hier bestehen will, muss vor seiner Einladung tagelang werkeln. Schon deshalb kann ich mich an diesen Ladungen Lebensmitteln nicht nur erfreuen. Keiner von uns ist so abgemagert, dass er diese Berge bräuchte. Hier geht es mal wieder nur darum, aufzutrumpfen, den anderen zu zeigen, wie man eben mal, einfach so nebenbei Wagenladungen von herrlichen, kleinen Leckereien zaubert. Und natürlich gibt es direkt die entsprechenden Kommentare. Grinse-Anne kriegt sich gar nicht mehr ein.

»Oh, Anita, das ist ja großartig. Wie du das immer nur machst! Waaaahnsinn!«

Ein einfaches Danke von Anita als Reaktion auf die Lobeshymne wäre ausreichend, aber natürlich geht es jetzt los mit dem Tiefstapeln, um gleich darauf noch mehr Komplimente zu bekommen.

»Das war doch gar nichts, habe ich schnell heute Morgen gemacht!«, lautet deshalb die Antwort von Anita. Wann bitte schön fängt bei Anita der Morgen an? Nachts um eins? Eine Welle von Ahs und Ohs schwappt durch den Raum. Wir stehen andächtig vor den Häppchen, so als hätte Anita gerade Wasser in Wein verwandelt. Bis auf eine Frau, kenne ich alle. Kein Wunder. Es sind alles Siedlungsfrauen. Frauen, die hier in einem der Reihenhäuser wohnen. Anita übernimmt, nachdem sie noch mal eben erwähnt hat, dass das doch alles null Mühe gemacht hat (pah!), die gegenseitige Vorstellung.

»Das hier ist die Jacky. Die kennen die meisten von euch wahrscheinlich noch nicht. Jacky und ich sind zusammen beim Yoga«, sie kichert, »also das ist nicht ganz richtig, Jacky ist die Lehrerin, und ich gehe in ihren Kurs.«

Jacky ist ungefähr 1,80 groß und sieht ein bisschen aus wie ein menschlicher Stangensellerie. Groß, sehr schlank und garantiert unglaublich biegsam. Ich bin direkt neidisch. Ich habe mehr Fett an einem einzelnen Unterarm als diese Frau an ihrem gesamten Körper. Gut, rede ich mir selbst zu, ich habe schließlich zwei Kinder, so was geht an keinem Körper spurlos vorbei.

»Jacky hat vier Kinder und näht ihre komplette Garderobe selbst, und sie macht die tollsten Dinkel-Muffins aller Zeiten«, redet Anita weiter, mit einem Stolz in der Stimme, als hätte sie Jacky höchstpersönlich selbst erschaffen.

Ich glaube, diese Jacky macht mir, obwohl sie, ehrlich gesagt, nett aussieht, ziemlich schlechte Laune. Ich werfe Tamara, die auch nicht direkt als Gazelle durchgeht, einen Blick zu – und verdrehe leicht die Augen. Dinkel-Muffins!

Dann werden wir der Wunder-Muffin-Gazelle vorgestellt.

»Das sind die Andrea, meine Nachbarin, die Tamara, die wohnt vorne an der Ecke, die Kati aus der Sackgasse hinten, die Leonie aus der Achtundneunzig, die Franzi aus der Elf und zu guter Letzt die Paula, unsere gute Seele.«

Immerhin eine hat es geschafft, nicht nur als Nachbarin oder Hausnummer vorgestellt zu werden. Endlich dürfen wir uns hinsetzen und essen. Kaum haben wir den ersten Bissen im Mund (verdammt lecker!) beginnt Anita mit einer kleinen Ansprache.

»Also, ich habe für heute was tolles Neues vorbereitet. Sonst geht es ja immer nur um Kinder und so. Ich wollte mal ein bisschen Abwechslung in unsere Runde bringen, und da hat mich die Jacky auf eine Idee gebracht. Wir wählen ein Thema für den Vormittag und über das wird dann geredet.«

Muss auch noch jemand ein Referat halten? Bevor ich aufmucke, stopfe ich mir schnell ein kleines Croissant in den Mund, fein gefüllt mit winzigen Shrimps und einer phantastischen Kräutersauce. Ich bin tief beeindruckt. Ob sie die echt selbst gemacht hat? Die anderen schnattern wild durcheinander. »Was für ein Thema denn?« »Und wer bestimmt das Thema?« Fragen prasseln auf Anita ein.

»Halt«, ruft sie entschlossen und hebt den Arm, »ich habe alles geplant. Hier in dieser Schale sind fünf Zettel. Auf jedem steht ein Thema. Eine zieht einen Zettel – und das Thema kommt heute dran. Wir reden dann ausschließlich über das, was auf dem Zettel steht.«

Die ersten fangen an zu kichern. Ich komme mir ein bisschen vor wie in der Schule. Müssen wir uns auch noch melden? Aber bitte, ich bin ja flexibel und habe eigentlich zu allem was zu sagen.

Anita holt eine kleine silberne Schale (sehr stilvoll), stellt sie auf die Tischmitte und sagt: »Wer zieht?«

Tamara schnappt sich die Schale und sagt schlicht: »Ich.«

»Na dann, walte deines Amtes!«, lacht Anita.

Tamara wühlt demonstrativ durch die paar Zettelchen, alle ordentlich gefaltet und holt einen aus der Schale.

»Mach auf! Lies vor!«, wird sie gleich aufgefordert.

Tamara holt ihre Lesebrille aus der Handtasche, entfaltet das Stückchen Papier und lacht. »Letzter Sex? Hier steht einfach nur letzter Sex, mit einem kleinen Fragezeichen.«

Soll das jetzt ein Thema sein? Letzter Sex?

Das könnte in eine Art Gedächtnistraining ausarten, jedenfalls bei mir. Ich brauche sofort Alkohol, geht mir durch den Kopf. Anita kann anscheinend Gedanken lesen.

»Jemand Prosecco auf den Schreck?«, fragt sie in die erstarrte Runde. Bis auf Jacky sind alle dabei. Ich bin nicht wild auf Prosecco, aber besser als gar kein Alkohol.

»Also« unterbricht Anita das immer noch andauernde Schweigen, »es geht darum, wann man mit wem den letzten Sex hatte!«

Sackgassenkati ist die Erste die etwas sagt: »Na ja, Anita, ein bisschen indiskret ist diese Frage aber schon!«

»Ein bisschen?«, fügt Paula hinzu.

Ich bin unsicher. Wir haben schon gemeinsam über Hämorrhoiden, Beckenbodenschwäche und Ähnliches gesprochen. Sicherlich auch nicht gerade Themen, über die man sonst öffentlich spricht.

Tamara zieht nur die Schultern hoch und guckt in die Runde: »Mann, seid ihr prüde. Wo ist das Problem? Sex gehört zum Leben, ich bitte euch, wir kennen uns doch alle gut.«

Immer noch Schweigen am Tisch.

Tamara kommt in Fahrt: »Bei mir war es vorgestern. Nach dem Tatort. Da machen wir es meistens. Emil ist dann im Bett, und dann legen wir los. War diesmal nichts Besonderes. Standard. Bisschen rein – raus. Ihr wisst schon. Aber trotzdem nicht schlecht, eine Sieben etwa. Wir haben da so eine Skala. Zehn ist Wow-Sex mit allem und dann geht es runter auf der Skala bis Null. Hatten wir aber noch nie!«

Franzi unterbricht sie: »Keine Details bitte.«

Dabei wäre es genau jetzt erst spannend geworden. Obwohl ich auch ein wenig zurückhaltend bin, wenn es um solche Schilderungen geht. Sex kann interessant sein, vor allem wenn man ihn hat, aber Sexschilderungen von Bekannten sind mir irgendwie peinlich. Aus welchem Grund auch immer – vielleicht auch aus der Angst heraus, dass sie wesentlich aufregendere Dinge treiben als man selbst. Oder dass man ihnen nach den Sexberichten nicht mehr in die Augen gucken kann, weil man sie sich immer in Action vorstellt.

»Die Nächste bitte!«, fordert uns Anita auf.

Dass Anita ab und an Sex hat, weiß ich ziemlich genau. Schließlich ist sie meine direkte Nachbarin. Und ihr Mann Friedhelm hört nicht mehr so gut, dementsprechend spricht er etwas lauter. Er ist überhaupt etwas lauter. Eben nicht nur beim Sprechen. Deshalb sind Christoph und ich oft unfreiwillig Zeugen, wenn es bei unseren Nachbarn in die alles entscheidende Runde geht.

»Ich kann mich nicht erinnern!«, sage ich auf einmal spontan, und es ist mir nicht mal wirklich peinlich. »In diesem Jahr war es jedenfalls nicht«, setze ich noch einen drauf.

Ein Raunen am Tisch. Aber ich bekomme Unterstützung.

»Geht mir genauso«, stöhnt Paula, »nach der Geburt von Celine hatten wir nur zweimal Sex und Celine wird in diesem Sommer eingeschult.«

Uff, ich bin schon mal nicht Letzte auf der Wann-War-Dein-Letzter-Sex-Liste.

»Zählt jeder Sex?«, will Kati nun wissen. »Oder muss es mit dem eigenen Mann gewesen sein?«

Ich bin kurz vor der Schnappatmung. Hier tun sich ja Abgründe auf. Ich will nicht despektierlich sein, aber dass Kati sich aushäusig vergnügt, ist schwer vorstellbar. Sie ist mit Sicherheit die größte Spießerin von uns allen. Ich bin garantiert auch nicht frei von Spießertum, aber für Kati wurde dieser Begriff quasi erfunden. Anita versucht sichtlich cool zu bleiben.

»Jeder Sex, egal mit wem!«, antwortet sie lapidar ohne irgendeine Gemütsregung zu zeigen.

»Na ja«, beginnt Kati und der Rest lauscht gebannt, »wir sind da eher offen in unserer Ehe, wenn es einen packt, darf man auch mal mit jemand anderem. Wir fragen nicht nach. Jeder, wie er Lust hat.«

Kati und Siegmar führen also eine offene Beziehung. Das hätte ich im Leben nicht für möglich gehalten. Da hätte ich alles dagegen gewettet. Siegmar, seit Ewigkeiten mit Kati verheiratet, ist ungefähr 170 cm groß, hat schütteres Haar, ein fliehendes Kinn und helle, wässerige Augen. Seine Figur ist, mit viel gutem Willen, als mittelmäßig zu bezeichnen. Leider hat er eher breite Hüften und dafür schmale Schultern. Gut – er ist schlank, wirkt aber untrainiert. Insgesamt ein blasser Mann, der immer irgendwie schwammig aussieht. Im Paarvergleich ist Kati eindeutig die Attraktivere von beiden. Sie ist ungefähr genauso groß wie ihr Mann, aber schmal und mit reichlich Busen. Sie hat ein nettes Gesicht, große Augen (die Augenbrauen müssten dringend mal gezupft werden!) längeres, welliges Haar in dunkelblond (könnten ein paar Strähnchen gut vertragen) und eine etwas schiefe, aber niedliche Stupsnase. Kati ist die typische Jeans-Und-T-Shirt-Vorstadt-Frau: natürlich und sympathisch. Ihre Jeans sitzen eher in der Taille, sie trägt gerne bequeme Schuhe und cremt sich konsequent nur mit Nivea ein. Geschminkt habe ich sie noch nie gesehen. Keiner der beiden, weder Kati noch Siegmar, ist optisch wirklich auffällig, allerdings ist Kati bei näherem Hinsehen durchaus hübsch. So eine Auf-Den-Zweiten-Blick-Hübsche. Aber wo und vor allem mit wem hat Siegmar bloß aushäusigen Sex?

»Tja, also ich hatte meinen letzten Sex vor etwa einem Monat. Mit wem kann ich euch nicht sagen, aber der Sex war gut. Richtig gut. Heiß. Sehr heiß. Und ziemlich versaut. Ich war extra vorher beim Brazilian Waxing!«, lacht Kati.

Drei Knüller in einem Satz. Nummer eins: Mit wem kann ich euch nicht sagen! Das kann ja nur bedeuten, dass wir denjenigen kennen. Ansonsten würde es ja keine Rolle spielen. Ist es etwa der Mann, von einer, die hier mit am Tisch sitzt? Meiner jedenfalls nicht, da bin ich mir sicher. Christoph steht auf einen anderen Typ Frau. Mehr so Upperclass-Tussi. Er mag Statussymbole, teure Klamotten, Schmuck und, wenn möglich, Platzreife! Auch die anderen am Tisch haben geschluckt, als Kati »mit wem kann ich euch nicht sagen« gesagt hat. Nummer zwei: Brazilian Waxing. Für mich mindestens genauso interessant. Eine Frau, die wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben einen Lipgloss benutzt hat, die Nagellack albern findet, eine solche Frau geht zum Waxing? Ich muss fast lachen. Und dann hat sie frisch gewachst auch noch – Nummer drei – versauten Sex. Die Frau, deren Kinder für »böse Wörter« Strafe in ein kleines Sparschwein zahlen müssen. »Fluchzoll« nennt Kati das. Böse Wörter sind bei Kati schon Ausdrücke wie »Scheiße« oder »Arschloch«. Ich will hier jetzt nicht behaupten, dass diese Worte zum gepflegten Sprachschatz gehören, aber ehrlich gesagt, benutze ich beide Ausdrücke auch ab und an. Das Scheiße-Sagen bestrafen, und selbst versauten Sex haben. Interessante Kombi.

Anita fängt sich als Erste wieder. »Jetzt sag halt Kati!«, bettelt sie um Details, »Los, wir sagen es auch nicht weiter, wir wollen Namen!«

Kati schüttelt nur den Kopf: »Keine Chance, das geht halt einfach nicht. Glaubt es mir. Das wollt ihr gar nicht wirklich wissen!«

Jetzt werde ich doch ein wenig unsicher. Stimmt meine Logik? Ist es Männern nicht letztlich relativ egal, mit wem sie was haben? Bin ich mir über Christophs Vorlieben wirklich so im Klaren? Ich hätte ja auch nie gedacht, dass der mal Golf spielen würde. Und spricht nicht mein brachliegendes Sexleben dafür, dass er sich anderweitig austobt? Sind Männer, was ihr Sexleben angeht, nicht ziemlich flexibel? Paula scheint ähnliche Gedanken zu haben.

»Ist es einer von unseren Männern?«, fragt sie direkt. Sie klingt ein bisschen aggressiv.

»Keine weiteren Informationen«, antwortet Kati bestimmt, »aber regt euch nicht auf. Kein Grund zur Sorge.«

Was soll denn das nun wieder heißen? Ein eindeutiges Nein war das jedenfalls nicht. Ich bin am Grübeln. Aus vielerlei Gründen. Betrügen Männer ihre Frauen, weil sie zu Hause keinen Sex haben, oder weil sie nicht genug bekommen können und sowohl zu Hause als auch sonst wo jede Menge Sex haben wollen? Wie wäre es für mich, wenn Christoph der Mann wäre, mit dem Kati »versauten Sex« hat? Ich wäre wütend, keine Frage, gedemütigt, es wäre mir peinlich. Aber würde es mich unglücklich machen, mich verzweifeln lassen? Komischerweise eher nicht. Das jedenfalls ist mein erstes Gefühl. Und was sagt das jetzt über unsere Beziehung aus?

Anita unterbricht meine Gedanken.

»Die Nächste bitte!«, ermuntert sie die Runde. Anita, Anna, Leonie, Franzi und Jacky fehlen noch.

Ich bin unsicher, ob ich noch mehr hören will. Irgendwie zieht mich das hier mental runter.

Anita, die immerhin für alles verantwortlich ist, ergreift das Wort: »Bei uns ist zwei Mal die Woche normal. Die ganz große Leidenschaft ist weg, aber wir tun es einfach. Weil es dazugehört und manchmal ja auch eine nette Sache ist.«

Sex – eine nette Sache? Ist das nicht ein bisschen profan? Oder liegt hier einer meiner entscheidenden Denkfehler? Erwarte ich zu viel? Habe ich wenig Sex, weil ich ihm zu viel Bedeutung beimesse? Ist das die Krux? Sollte man es einfach tun, so wie man sich die Zähne putzt (vielleicht nur nicht ganz so oft!)?

»Wir haben feste Termine, damit wir dran denken«, unterbricht Leonie meine Gedanken.

»Termine für Sex?«, kommt prompt die erste erstaunte Nachfrage. »Ja«, bestätigt Leonie, »ich weiß, das hört sich schräg an, aber wenn wir keine Termine machen, dann kommen wir irgendwie nicht dazu. Es ist immer was anderes und mal ehrlich – wenn man weiß, man könnte jederzeit, dann tut man es oft nicht. Gerade weil man immer könnte. Rein theoretisch jedenfalls.«

Das, finde ich, ist eine interessante These.

»Ihr verabredet euch für Sex?«, will ich es genau wissen.

»Ja, so machen wir es. Anfang des Monats checken wir unsere Termine und so, wie wir ausmachen, wer zum Beispiel Kirsten zum Kieferorthopäden fährt, oder wer zum Elternabend geht, so klären wir auch, wann wir Sex haben. Drei Mal im Monat ist Pflicht – mehr ist aber immer erlaubt. Quasi als Kür. An den verabredeten Terminen muss was gehen. Alles, was darüber geht, basiert auf Freiwilligkeit«, erklärt uns Leonie ihre seltsame Sexplanung.

»Man kann sich Sex doch nicht vornehmen und terminieren, so wie eine Yogastunde?«, schnaubt Anita.

»Doch, klar, kann man das. Und vor allem bleibt man in Übung. Wenn man lange keinen Sex hat, wächst da so ein Unbehagen und man wird immer klemmiger. Es baut sich da so was auf und das wollen wir erst gar nicht entstehen lassen!«, erklärt Leonie ihre spezielle Vorgehensweise.

Ich kann durchaus verstehen, was Leonie meint. Je länger man keinen Sex hat, umso komischer wird die Vorstellung, welchen zu haben. Das geht mir ähnlich. Wenn monatelang nichts läuft, wächst der Anspruch. Einfach mal so eine entspannte kleine Nummer zu schieben, erscheint unvorstellbar. Da will man dann, schon weil man ja so ewig lange abstinent war, das ganz große Programm. Volle Leidenschaft, voller Einsatz. Und schon der Gedanke an all die Ansprüche lässt es einen nicht tun, weil man ahnt, dass das nicht klappen wird. Es gab doch mal ein Ehepaar, das – ähnlich wie Leonie – ein Sexexperiment gemacht hat. Hundert Tage lang – täglich Sex.

»Erinnert ihr euch«, frage ich die anderen Frauen, »an dieses Paar, wo die Frau ihrem Mann zum Geburtstag hundert Tage lang täglich Sex geschenkt hat?«

»Abartig!«, urteilt Anita sofort, »wo bleibt da die Spontaneität? Das ist ja völlig ritualisiert. Zwang, Druck – was soll das? Das hat doch bei dem Thema nichts zu suchen! Sex auf Knopfdruck!«

Sie regt sich richtig auf. Als hätte man sie persönlich angegriffen. Ich bin mir da gar nicht so sicher.

Jacky mischt sich ein: »Das habe ich gelesen, da gibt’s ein Buch. Mir hat das damals eingeleuchtet. Einfach mal wieder in Übung kommen, das macht doch Sinn.«

Ich finde, das klingt wirklich ganz einleuchtend, aber hundert Tage lang täglich Sex? Das macht mir auch Angst. Wann, um alles in der Welt, soll der denn in meinem vollgepackten Tag noch stattfinden? Was, wenn man müde oder erschöpft ist, oder schlicht keine Lust auf Sex hat? Ich denke kurz darüber nach, ob das ein nettes Geschenk zu Christophs Geburtstag sein könnte, bin mir aber insgeheim sicher, dass er lieber einen neuen Eisensatz für sein geliebtes Golf hätte.

Es klingelt. Ich höre es schon aus dem Esszimmer. An der Tür ist eindeutig mein Schwiegervater Rudi.

»Andrea, ist für dich!«, ruft da auch schon Anita.

Ich eile zur Tür.

»Des wird dir net gefalle, was ich jetzt sach!«, beginnt er. »Isch hab misch ema um unser Haustür gekümmert. Des Schloss war irschendwie net rischtig drin. Isch habs ausgebaut. Jetzt is es drausse, aber irschendwie kriesch ich es net mer enei.« Er schüttelt bedauernd den Kopf.

Der hat was? Unser Haustürschloss ausgebaut? Meine Güte, muss ich jetzt schon einen Opasitter beauftragen. Ich bin genervt, aber nach einem Blick in Rudis zerknirschtes Gesicht tut es mir direkt leid. Wie immer hat er es ja nur gut gemeint!

»Rudi, was heißt das jetzt genau für unsere Tür?«, frage ich vorsichtig und versuche, freundlich zu klingen.

»Gebt ihr misch jetzt ins Heim?«, umgeht er meine Frage mit einer Gegenfrage. Meine Güte! Was für eine Taktik, mir direkt ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich habe eine richtige Beißhemmung.

»Ich mach’s ja eh net mer lang, da lohnt so en Heim gar net mer. Bis ich drin bin, bin ich eh hin.«

Jetzt sind wir mal wieder beim alles entscheidenden Thema. Wie soll ich da mit so etwas Belanglosem wie einem Türschloss kommen? Tod gegen Türschloss – da hat ein Türschloss natürlich keinerlei Chancen.

»Du bist lebendig und musst auch nicht ins Heim. Aber es wäre natürlich toll, wenn wir unsere Haustür schließen könnten!«, gebe ich eine möglichst verbindliche Antwort. Steht unsere Tür jetzt etwa offen? Werden wir gerade ausgeraubt? Eigentlich hätte ich große Lust, Rudi anzuschreien, aber so wie er guckt, fängt der glatt an zu heulen. Innerlich tadele ich mich selbst. Andrea, reiß dich zusammen, er hat seine Frau verloren, er denkt, er stirbt bald und ist einfach zutiefst unglücklich. Du wirst doch einen solch armen Mann nicht hauen wollen! Ich will aber trotzdem. Bei aller Traurigkeit – er muss sich doch nicht an unserem Haustürschloss vergreifen.

»Ich krieg des wiedä hin, Andrea. Ich brauch nur en paar Schräubscher. Dann klappt des. Resch disch net uff.«

Ich hätte hier noch irrsinnige Sexanregungen bekommen können, aber jetzt ist mein Vormittag gelaufen und ich kann mich der Haustür widmen.

»Ich komme mit dir rüber, Rudi. Ich reg mich nicht auf, du hast es ja gut gemeint«, behaupte ich schnell. »Geh schon mal vor, ich komme gleich nach!«

Natürlich rege ich mich auf. Und sobald ich das Elend sehe, wahrscheinlich noch mehr. Aber ich habe mich unter Kontrolle.

»Bleib ruhisch, isch versuch des zu rescheln, isch wollt disch net störn.«

Das liebe ich ja ganz besonders. Erst stören und dann sagen, dass man ja nicht stören will! So was geht mir auch bei meinen Kindern auf den Wecker. Zum Beispiel, wenn sie mich erst absichtlich nerven und sich dann dafür in einem Ton entschuldigen, als würden sie mich eine blöde Kuh nennen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich bin ich eine große Freundin von Entschuldigungen – aber dieses schnell dahingesagte, berechnende und nicht ernst gemeinte »Entschuldigung«, das mag ich nicht besonders.

Am liebsten würde ich Christoph anrufen und ihm sagen, dass er herkommen soll. Ist es mein oder sein Vater!?

»Soll isch hier uff disch warte?«, fragt Rudi noch mal nach.

»Ich komme sofort! Bewach lieber unser Zuhause!« Mit diesen Worten schicke ich Rudi heim. Seit Rudi bei uns wohnt, habe ich wirklich das Gefühl, noch ein Kind mehr zu haben. Ein Kind, das ganz besondere Aufmerksamkeit erfordert. Ein liebes Kind, das aber reichlich Zeit kostet.

»Isch geh ja schon!«, trollt sich Rudi.

»Ich muss leider gehen!«, teile ich meinen Freundinnen mit. Jetzt wissen alle über mein Sexleben Bescheid – über mein nicht existentes Sexleben. Ich hingegen bin mit meinem verfrühten Abgang auf Sekundärinformationen angewiesen. Von Jacky, Anna und Franzi weiß ich nämlich noch nichts. Ärgerlich. Hätte ich mit meiner Sexbeichte doch lieber noch ein bisschen gewartet. Die Peinlichkeit hätte ich mir ersparen können. Einerseits. Andererseits: Ist es wirklich peinlich keinen Sex zu haben? Oder sagen wir mal, sehr selten Sex zu haben? Geht es nicht Millionen von Paaren genauso? Erstaunlicherweise sind es mittlerweile oft die Männer, die nicht so recht wollen. Nicht jeder ist eben ein Tiger Woods.

»Pack dir doch noch ein bisschen Essen ein!«, fordert mich Anita auf. »Deine Familie freut sich doch, wenn sie mal was Leckeres bekommt!«

Wie so ein klitzekleines Wort einen ganzen Satz ruinieren kann. »Mal« was Leckeres. Was soll das denn bitte heißen? Meine Tochter würde sofort ihren neuen Lieblingssatz »Das geht ja gar nicht!« sagen. Mal was Leckeres. Ich bin keine Gourmetköchin, aber es ist auch nicht so, dass bei mir zu Hause alle darben. Was rege ich mich auf?! Kann mir doch komplett wurscht sein, was Anita von meinen Kochkünsten hält. Schließlich ist Kochen weder mein Beruf noch meine Passion. Trotzdem wurmt es mich, weil tief in mir drin auch eine Miss Perfekt steckt. Man will im Frauenwettbewerb, egal wie albern man ihn findet, doch gerne bestehen. Ich versuche seit Jahren, mich davon frei zu machen. Ich muss nicht die schlausten und begabtesten Kinder haben, die herrlichsten und kompliziertesten Essen zaubern können und auch nicht die Schlankste und Schönste sein. Aber wenigstens in einem Bereich ganz vorne zu sein, wäre insgeheim natürlich schon schön. Noch schöner wäre es allerdings, einfach drüber zu stehen. Stattdessen packe ich mir von Anitas Delikatessen ordentlich was ein. Man muss manchmal auch praktisch denken. Einmal Abendessen gespart. Ist doch auch was.

»Nimm dir einfach ein bisschen Alufolie und ein paar Tupperschälchen. Du weißt ja, wo alles steht!«, ruft mir Anita aus dem Esszimmer zu.

Während ich einpacke, fällt mir das silberne Schälchen mit den Themenzettelchen ins Auge. Die anderen sind beschäftigt, und ich bin neugierig. Also entfalte ich jeden einzelnen und staune. Es steht überall das Gleiche drauf. Da guck mal einer. Wieso nur wollte Anita unbedingt darüber reden? Letzter Sex? Letzter Sex? … Immer wieder: Letzter Sex? Seltsam. Aber wenn ich jetzt nachfrage, verrate ich mich selbst. Eine Patt-Situation. Also lasse ich das erst mal und verabschiede mich.

»Danke für den aufregenden Vormittag, danke fürs Essen. Macht’s gut.«

 

Ich wäre besser bei Anita geblieben. Bei mir zu Hause sieht es grauenvoll aus. Rudi hat den gesamten Werkzeugkasten ausgeleert und alles im Eingangsbereich verteilt.

»Isch musst mer erst ema en Überblick verschaffe, mir fehle Schraube«, klärt er mich auf.

»Aber da waren doch Schrauben drin. Wo sind die denn?«, frage ich, möglicherweise etwas naiv, nach.

»Des passt alles net gut, des war von der Konstruktion her irschendwie falsch. Was die heut en Zeusch mache!«, entrüstet sich mein Schwiegervater.

Unsere Tür kann man leider nicht mehr schließen. Da, wo mal ein Sicherheitsschloss war, ist jetzt einfach nichts, ein Loch sozusagen.

»So kann das aber nicht bleiben, Rudi!«, stelle ich klar.

»Isch hab alles durchdacht«, antwortet er, und es hört sich fast schon ein wenig ärgerlich an. »Falls ich heut net fertisch werd, hol isch mir ne Matratze hier runner in en Flur und schlaf hier. Damit kaaner rein kann.«

Welch großartige Idee. Ich würde mich mit Sicherheit sofort irrsinnig gut bewacht fühlen. Mein Schwiegervater als lebendes Türschloss! Wäre das alles nicht so lästig, müsste ich lachen. Früher konnte ich das gut: Über widrige Situationen lachen. Das fällt mir inzwischen sehr viel schwerer. Ich bin eben nicht so lässig, wie ich es gerne wäre.