Lagerfeuer - Julia Franck - E-Book

Lagerfeuer E-Book

Julia Franck

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Beschreibung

»Ein Glücksfall: ›Lagerfeuer‹ ist ein ganz bemerkenswerter Roman.« Thomas Brussig Ende der siebziger Jahre hat Nelly Senff endlich die Tortur der Ausreise hinter sich und kann mit ihren Kindern Ostberlin verlassen. Nun ist sie drüben, aber drüben heißt zunächst das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde. Julia Franck erzählt von vier Menschen an einem Ort der Ungewissheit und des Übergangs, dort, wo sich Lebensgeschichten entscheiden.

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Julia Franck

Lagerfeuer

Roman

Fischer e-books

für Oscar, Emilie und Uli

Nelly Senff fährt über eine Brücke

Die Kinder ließen müde ihre Arme sinken, ausdauernd hatten sie gewunken, zuerst voller Begeisterung und trotz fehlender Erwiderung, dann wohl aus Gewohnheit und kindlichem Ehrgeiz, bestimmt eine Stunde lang hatten sie gewunken, die Münder an die Scheiben gedrückt, wo sie feuchte Kussränder auf den beschlagenen Scheiben hinterließen, die Nasen an den Scheiben gerieben, sie hatten gewunken, bis Katja zu ihrem Bruder sagte: »Ich kann nicht mehr, komm, wir hören auf«, und Aleksej nickte, als sei es gut, endlich aufzugeben, gut, dem Abschied ein Ende zu setzen. Der Wagen brachte uns erneut ein Stück voran, die Bremslichter des kleinen Lieferwagens vor uns erloschen. Unter dem flachen Überbau stand im Zwielicht ein Mann in Uniform, der uns bedeutete, näher zu kommen, um sogleich beide Arme in die Luft zu reißen. Ruckartig hielten wir, der Motor stotterte und soff ab. Seit vier Stunden ging es so voran, vielleicht hatten wir drei Meter zurückgelegt in diesen vier Stunden, vielleicht zehn. Wenige Meter vor uns musste die Bornholmer Brücke liegen, das wusste ich, nur sehen konnten wir sie nicht, ein breites einfaches Gebäude, durch das die schmale Fahrbahn führte, verdeckte die Sicht auf alles Kommende. Der kleine Lieferwagen wurde zur Seite gewunken und in eine benachbarte Fahrbahn gelotst. Die Laternen flackerten und gingen eine nach der anderen an. In der rechten Reihe blieb eine dunkel. Ich fragte mich, wann an diesem Ort Zeit für Reparaturen wäre. Vielleicht nachts zwischen zwölf und zwei. Man konnte dem Schatten vor uns zusehen, wie er sich näherte, bis er unter der Motorhaube verschwand, kurz darauf die Motorhaube erklomm, über die Windschutzscheibe kroch, auf unsere Gesichter, und schließlich den Wagen verschluckte, rücksichtslos, wie er alles verschluckte, was vor ihm lag, der Schatten jenes breiten Daches, des Gebäudes, das die Fahrbahn überbrückte und uns die Sicht nahm. Ein Gebäude ganz aus Pappe und Wellblech. Bis die Sonne uns voran zwischen den Häusern versank und noch einmal in der Fensterscheibe des Wachturms hoch über uns aufleuchtete, als wolle sie uns locken und versprechen, dass wir sie schon morgen wiedersähen, im Westen, wenn wir ihr nur folgten, und weg war sie und ließ uns hier in der Dämmerung mit ein paar Feuerstreifen am Himmel stehen, und die Schatten schluckten nicht nur uns, sondern die ganze Stadt in unserem Rücken, als Gerd seine Zigarette ausdrückte, tief einatmete, die Luft anhielt und zu mir sagte, er habe sich schon vor zehn Jahren gefragt, wann ich endlich kommen würde, wie beiläufig pfiff er durch die Zähne, aber damals sei ich gerade erst auf diesen Menschen getroffen und heute könne er es mir sagen, jetzt, da ich in seinem Auto säße und mein Weg ja nur noch diese eine Richtung kenne, ich auch nicht mehr aussteigen könne, wobei er lachte, er habe sich immer vorgestellt, mich nackt in den Armen zu halten.

Gerd steckte sich eine neue Zigarette an, seine Zunge umfasste von unten den Filter, er zündete den Motor, stellte ihn ab, zündete ihn erneut, der Aschenbecher quoll über, ich sammelte die Stummel mit der bloßen Hand heraus und stopfte sie in eine kleine Plastiktüte, die ich vorsorglich mitgenommen hatte, falls den Kindern schlecht würde. Schlecht war jetzt mir. In Gerds Armen wollte ich nicht nackt sein. Gegen die Vorstellung hatte ich mich erfolgreich gewehrt, bis zu diesem Augenblick, in dem er meine Bemühung mit einem leichten Pfeifen durch die Zähne und ein paar harmlosen Worten lächerlich machte. Selbst der Umstand, dass ich mich in seinem Auto befand, meine Kinder auf seiner Rückbank saßen, die Scheiben küssten und wir im Begriff waren, über diese Brücke zu fahren, machte es nicht aufregend.

Katja hielt sich die Nase zu und fragte, ob sie das Fenster öffnen könne. Ich nickte und überhörte Gerds Stöhnen. Lange hatte ich gedacht, Gerd erspare mir das Anhören seiner Wünsche aus Rücksicht und mit dem Wissen, dass ich keine Berührung von ihm wollte. Dann wieder hoffte ich, er habe meinen Körper vergessen, so gut es ging. Also schlecht vielleicht, aber immerhin ein Versuch. Ein Versuch, für den ich ihn geschätzt hatte, ein Versuch nun, den er gar nicht unternahm, oder der in diesem Augenblick scheiterte. Dieser Mensch, dessen Namen er ganz sicher nicht vergessen hatte, den er aber nicht in den Mund nahm, war der Vater meiner Kinder geworden. Aber das war nicht der Grund, warum mich Gerd plötzlich ekelte. Es ekelte mich, dass er nicht bemerken wollte, warum wir in seinem Wagen saßen. Nur, um diese Brücke zu passieren, saßen wir in seinem Wagen, vielleicht gab es noch einen anderen Grund, aber keineswegs den, mal ungestört auf kleinstem Raum beisammenzusitzen. Von draußen zog kühle Luft herein, es roch nach Benzin und ein wenig nach Sommer, eher schon nach Nacht und bevorstehender Kälte. Dämmerung. Ein Mann in Polizeiuniform kam zum Wagen, er beugte sich an Gerds Seite herab, um besser ins Innere des Wagens schauen zu können. Seine Taschenlampe streute etwas Licht über unsere Gesichter, schwach glomm sie und flackerte, als wolle sie jeden Augenblick erlöschen. Der Reihe nach prüfte er Namen und Gesichter. Ich blickte zurück in ein fahles Gesicht mit einer niedrigen, breiten Stirn, die Augen saßen tief und wurden von den Wangenknochen ganz in ihre Höhlen gedrängt, ein pommersches Gesicht, das nicht mehr jugendlich aussah, obwohl es das noch war. Mit der Taschenlampe klopfte er an die hintere Tür und sagte, wir dürften hier nicht mit offenen Fenstern stehen. Die Fenster müssten aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben. Nachdem er auch die Dokumente von Katja und Aleksej überprüft hatte, sagte er: »Aussteigen.« Meine Tür klemmte, ich rüttelte an ihr, bis sie aufsprang, und stieg aus.

»Nein«, rief mir der Mann in Polizeiuniform über das Dach hinweg zu, »nicht Sie, nur die Kinder.«

Ich setzte mich wieder zurück ins Auto und drehte mich um: »Ihr sollt aussteigen«, wiederholte ich und fasste gleichzeitig nach Aleksejs Hand, hielt sie fest. Er machte sich los. Meine Hand rutschte ins Leere. Erst jetzt bemerkte ich mein Zittern. Die Türen schlugen zu. Der Mann sagte etwas zu meinen Kindern, was ich nicht verstand, er zeigte auf unser Auto, schüttelte den Kopf und klopfte Aleksej auf die schmale Schulter, dann sah ich, wie sie ihm folgten und in dem Flachbau verschwanden. Über dem dunklen Fenster brannte eine Neonlampe. Ich wartete, dass ein Licht anging, aber das Fenster blieb schwarz. Vielleicht gab es innen ein Rollo. Oder eine besondere Beschichtung verhinderte, dass man hineinsehen konnte. Nur von innen war es möglich, hinauszusehen – wie durch die kupfernen Scheiben im Palast der Republik. Der König sah hinaus und konnte sein Volk beobachten, während die Menschen draußen auf blinde Scheiben blickten und geblendet von deren Glanz nicht hindurchsehen konnten. Wären sie auf einer Höhe mit dem König und seinen Scheiben, auf Augenhöhe der Spiegelung, hätten sie zumindest sich selbst sehen können, ihrem unverhohlen neugierigen Blick begegnen dürfen. Nur standen sie unten, die kleinen Leute, auf dem Platz. Und oben in den Scheiben spiegelte sich nichts als Himmel. Es gab keine Erwiderung des Blickes. Aber die Scheiben dieses Fensters hier waren besonders schwarz, tiefschwarz, kohlschwarz, rabenschwarz, je länger ich hinübersah, desto unnatürlicher schien es mir. Kein Glanz, kein Orange. Alles Licht längst aufgesogen. Kein Rabe, keine Kohle, keine Tiefe. Nur noch schwarz. Das Fenster würde nichts als Attrappe sein. Gerd drückte die Zigarette aus und zündete sich eine neue an.

»Schön, so eine Stille.« Er genoss die Minuten mit mir allein. Sie werden Katja und Aleksej fragen, warum wir rüber wollten, sie werden mit jedem einzeln in einen fensterlosen Raum gehen, das Kind auf einen Stuhl setzen und sagen: Wir wollen etwas wissen, und du musst uns die Wahrheit sagen, hörst du? Und Katja wird nicken, und Aleksej auf seine Schuhe schauen. Sieh mich an, wird der Mann im Staatsdienst zu Aleksej sagen. Er wird ihm dabei auf den Rücken klopfen, wie einem Kumpel, einem Kollegen, einem Vertrauten. Und nicht wissen, dass Aleksej ihn, auch wenn er den Kopf hob, nur schemenhaft sehen konnte, weil seine Brille nicht mehr viel taugte. Er sah gerne auf seine Schuhe, sie waren dasjenige, das sich am weitesten von seinen Augen entfernt befand und dennoch zu ihm gehörte, von den Schuhen wusste er genau, wie sie aussahen. Vielleicht wird der Beamte ihm drohen, vielleicht an seinem Arm reißen, damit Aleksej nicht vergisst, um wie viel stärker einer wie er war. Vielleicht standen sie zu dritt vor Aleksej, zu fünft, der ganze Raum könnte voll sein von Staatsdienern in Uniform, Volkspolizisten, Angehörigen der Staatssicherheit, Grenzsoldaten, Oberen, Lehrlingen, Helfern – aber dann verlöre der Einzelne an Autorität. Was will eure Mutter drüben? Kennt sie den Mann schon lange? Liebt sie den Mann? Habt ihr gesehen, ob er sie küsst? Und sie ihn? Wie küssen sie sich? Wollt ihr so einen Vater aus dem Westen? Hat er euch Geschenke mitgebracht? Welche? Also ist er ein Kapitalist. Nicht wahr? Schweigen. Was konnte Aleksej darauf schon antworten? Es gab nur falsche Antworten. Etwas züngelte am Ende meines Rückgrats, ich könnte es Furcht nennen, aber es war nur ein Züngeln. Falsche Antworten. Nicht einmal das wusste Aleksej, vielleicht ahnte er es. Werden sie uns festhalten? Was zählte schon das Papier, die Genehmigung, wenn sie mich einfach verschwinden ließen, ganz und gar, und die Kinder in ein Heim steckten? Zwangsadoption. Darüber gab es Gerüchte. Insbesondere Feinde des Landes, aber auch Feinde der sozialistischen Demokratie und ganz besonders solche, die sich davonmachten, flohen, das waren diejenigen, deren Kinder in den Schutz des Staates geholt wurden. Unwiederbringlich und unauffindbar. Später könnten sie immer behaupten, ich sei an einer Lungenembolie verstorben. Sie können es behaupten, von wem sie wollen. Die Geschichten wichen kaum voneinander ab – nur trugen die Helden unterschiedliche Namen. Für wen sollte hier auch mit Phantasie etwas erfunden werden? Keiner wird es ihnen nachweisen, da Wahrheiten auch nur Erfindungen sind, konsensfähige, dass ich nicht randaliert habe und nicht krank war – einzig Gerd könnte es. Sofern er nicht zu ihnen gehörte, war es gut, dass er hier mit im Wagen saß, dass es sein Wagen war. Das Züngeln klein halten, bloß nicht brennen. Er könnte nicht ohne weiteres verschwinden, da bekäme der König Schwierigkeiten, große Schwierigkeiten, so wichtig waren wir ihnen nicht, auch Aleksej nicht, auch Katja nicht. Kleine Fische. Klitzekleine Fische. Zwar waren sie vom Schwarm abgekommen, schwammen nicht mehr recht im Strom, aber sie waren so winzig, dass man sie übersehen konnte. Was glaubt ihr, was euch im Kapitalismus erwartet? Das hatte Katjas Lehrerin schon vor wenigen Wochen gefragt, als sie Katja für ein Gespräch unter vier Augen nach dem Unterricht im Klassenzimmer behielt. Glaubt ihr denn nicht an den Frieden? Katja, du erinnerst dich doch noch? Wolltest du nicht auch den armen Kindern in Vietnam helfen? Hast Reis mitgebracht und Rohstoffe gesammelt? Wer ist denn schuld am Elend in Vietnam? Na, wer ist schuld? Wer lässt die Kinder der Erde verhungern? Hast du in der Schule denn gar nichts gelernt? Im Kindergarten? In der Krippe? Wisst ihr nicht, dass der Kapitalist euer Feind ist? Katja war mit verquollenen Augen nach Hause gekommen. Sie wollte nicht, dass andere Kinder hungern, wegen uns, sie wollte nicht mitkommen zu denen, die andere Kinder hungern ließen. Die halbe Nacht hatte sie geweint. Bestimmt wurden sie jetzt auch auf diese Weise verhört. Euer zukünftiger Vater, was war der noch gleich? Nein, Tischler, das trifft es nicht ganz. Er ist ein Kapitalist. Ja, ein Feind. Wie war das mit eurem richtigen Vater? Was geschah mit dem?

Ich klopfte gegen die Scheibe.

»Warum klopfst du gegen die Scheibe? Hör auf, gegen die Scheibe zu klopfen.« Gerd lehnte sich zurück und mied meinen Blick, so sehr fürchtete er wohl, die Nerven zu verlieren.

Ich klopfte gegen die Scheibe.

»Hör auf.«

Ich klopfte zweimal, klopfte seinen Befehl nach.

Er stöhnte, und ich wischte mit der flachen Hand über die Scheibe.

»Wie lang sind die schon da drinnen?«, fragte ich und starrte auf das schwarze Fenster der Baracke.

»Weiß nicht, ich hab nicht auf die Uhr gesehen, zwanzig Minuten vielleicht.«

»Länger.«

Gerd antwortete mir nicht, er rauchte. Seit der Mann in Polizeiuniform mit meinen Kindern verschwunden war, hatte sich die Tür kein einziges Mal geöffnet. Niemand war reingegangen, keiner kam heraus. Die Tür blieb so verschlossen, dass ich überlegte, ob ich mich getäuscht hatte und meine Kinder in einer ganz anderen Baracke verschwunden wären, eine, deren Tür ich die ganze Zeit außer Acht gelassen hätte. Oder aber, sie wären zwar in die beobachtete Baracke hinein, längst aber unbemerkt an anderer Stelle wieder hinaus gelangt. Durch eine Hintertür. Vielleicht führte ein unterirdischer Gang in ein entlegenes Polizeilager, direkt ins Zentralkomitee, in die dunklen blaugrünen Gewölbe der Staatssicherheit. Von dort aus gäbe es nur noch einen möglichen Weg – den ins Verlies des kupfernen Palastes. Womöglich befand sich unter dem Schlossplatz ein weitverzweigtes Labyrinth mit speziellen Verliesen, in denen die Kinder der Flüchtlinge und Flüchtigen eingesperrt und zur Besserung genötigt wurden. Bis sie bereit waren, von staatstreuen Bürgern in sozialistische Familien aufgenommen zu werden. In Familien womöglich, die es gar nicht geben konnte. Und ich wartete hier vergeblich auf meine Kinder.

»Hast du auch gesehen, wie sie reingegangen sind? Da. Siehst du die Baracke? Da sind sie drin.« Eine Unsicherheit lag in meiner Stimme, aber ich zeigte hinüber auf die Baracke mit der Fensterattrappe.

Gerd folgte meinem Finger. Er lachte, indem er nur einmal kurz und heftig Luft ausstieß, und zuckte müde mit den Achseln. »Weiß ich nicht«, er blickte sich um, »die sehen doch alle gleich aus.«

Die Hütten standen in einer geraden Reihe, alle hatten links eine schmale Tür, rechts eine Fensterattrappe und darüber Neonlicht. Bis auf die äußeren. Soweit ich erkennen konnte, handelte es sich bei ihnen nicht um Fensterattrappen, aus ihren Fenstern leuchtete Licht herüber. Gerd schnaufte, als er ausatmete. »Glaubst du etwa, die wollen deine Kinder dabehalten?«

Dabehalten. Nicht hier. Gerd war in Gedanken schon drüben, auf der anderen Seite der Brücke. Ich nicht. Gerd lachte. »Du bist ja lustig, du glaubst wirklich, die haben nichts Besseres zu tun, als kleine Kinder festzuhalten.«

»Nicht nur kleine Kinder«, ich versuchte mit ihm zu lachen, es gelang nicht wirklich, »bei uns weiß man nie.«

»Bei uns?« Gerd lachte wieder, und plötzlich stiegen mir Tränen in die Augen, ich drehte mich weg, damit er sie nicht sähe.

»Bei uns lad ich euch erst mal zum Essen ein, große Portion Pommes. Hab ich ’nen Hunger.«

Ich wischte mir gerade mit dem Ärmel Tränen aus dem Gesicht, hatte mich zum Fenster gedreht, damit Gerd nicht auch noch über meine Tränen lachte, als ein teigiges Gesicht dicht vor meinem auftauchte. Ein anderer Mann in Uniform klopfte von außen gegen die Scheibe.

»Fenster«, hörte ich ihn sagen, sein Daumen zeigte beharrlich nach unten. Ich drehte an der Kurbel. Die Scheibe quietschte in der Fensterscheide.

»Kofferraum öffnen.«

Ich sah zu Gerd, der nur noch grinste und den Schlüssel vom Zündschloss abzog. »Hier, bitte schön.« Er streckte den Arm vor mir entlang und dem Mann entgegen. Der griff den Schlüssel aus der offenen Hand und verschwand. Obwohl die Luft angenehm und leicht und lau war, kurbelte ich das Fenster wieder hoch. Man hörte, wie der Kofferraum geöffnet wurde. Gegenstände wurden angehoben, von unten klopfte es gegen das Auto. Kurz darauf sah ich zwei Beamte mit unseren Koffern in einer der Baracken verschwinden.

Eine Fliege surrte in der unteren Ecke der Windschutzscheibe, wieder und wieder flog sie gegen das Glas, dumpf und schwer schien ihr kleiner Körper aufzuschlagen, aber sie ließ nicht ab, surrte, hielt einen Augenblick inne, surrte, rammte die Scheibe, blieb stumm. Und surrte von Neuem. Ich tastete mit der Hand über die Armatur und fühlte bald den erschöpften surrenden Fliegenleib unter der hohlen Hand. Langsam ließ ich die Hand flach auf die Armatur hinab, bis die Fliege mich zwischen dem Zeige- und dem Ringfinger kitzelte, unaufhörlich die zarten Flügelchen in Bewegung hielt, surrte, mich dermaßen kitzelte, dass ich die beiden Finger zusammendrückte und so fest wie möglich auf das Armaturenbrett presste. Sie krabbelte eifrig, ohne sich befreien zu können. Der Zwischenraum von Fingern und Kunststoff schien zu groß, noch immer spürte ich in großen Abständen ihren Flügelkampf. Ich musste an die weißliche Flüssigkeit denken, die austrat, wenn man zudrückte. Plötzlich klopfte etwas laut an die Scheibe, ich konnte nur die Faust sehen, kein Gesicht, eine Uniform, die Tür wurde geöffnet. Fast fiel ich dem Mann entgegen. Er fing mich auf.

»Muss man Sie bitten?«

»Wie?«

»Mitkommen.« Unsanft griff der Beamte meinen nackten Oberarm und zog mich neben sich her. Ich stolperte über die flache Stufe. Innen erstreckte sich ein Flur vor mir, der viel zu lang für die Baracke schien, vielleicht streckte er sich durch das Innere zweier oder dreier Baracken. Nach links wurde ich in einen Raum gestoßen, wo man bereits auf uns zu warten schien. Hinter dem schmalen Tisch saßen zwei fast identische Männer. Auch sie trugen Uniformen, allerdings keine Uniformen der Volkspolizei. Es war nicht der Mühe wert, darüber nachzudenken, welchem Staatsdienst sie zugeordnet waren. Versteckspiel und Täuschung gehörten unmittelbar zur Kostümierung mit Uniformen. Sie mussten Zwillinge sein, so groß war ihre Ähnlichkeit miteinander, mindestens Brüder.

»Setzen. Sie reisen aus, um Herrn Gerd Becker zu heiraten?«

»Ja.«

»Sie beziehen eine gemeinsame Wohnung in West-Berlin, was?«

»Natürlich.«

»Und Ihr künftiger Mann hat schon alles eingerichtet, was? Wohnt schon länger in der Wohnung, was?«

Ich nickte zuversichtlich. »Natürlich, ja.«

Während der rechte der beiden die Vernehmung führte, blätterte sein Bruder in Akten, er schien etwas zu suchen.

»Sagen Sie, das alles wurde doch schon in den Anträgen aufgenommen. Letzte Woche erst war ich bei der Staatssicherheit, da ging es ausschließlich um Herrn Becker.«

»So? Welche Vernehmung, Fräulein – Frau Senff. Nelly Senff. Sie waren schon verheiratet?«

»Nein, das wissen Sie doch.«

»Auch nicht mit dem Vater Ihrer Kinder?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was?«

»Nein.«

»Aber ausgerechnet jetzt versuchen Sie es mal, was?«

Ausgerechnet jetzt? Geduld, sagte ich zu mir, Geduld, nur nicht die Nerven verlieren, und ich antwortete: »Ja, das will ich.«

»Und der Vater Ihrer Kinder?«

Ich sah den rechten Bruder unverwandt an. »Das wissen Sie.«

»Was? Was wissen wir? Wollen Sie nicht antworten?«

Sie wollen dich ärgern, dachte ich, nichts Böses, sie wollen dich nur ärgern. Welche Genugtuung für diesen kleinen großen Beamten wohl in solchen Fragen und Antworten steckte?

»Eignet sich besser, ein West-Mann, was?«

Ich nickte, zuckte mit einer Schulter. Was wusste ich schon über West-Männer und den West-Mann als solchen, was über deren Eignung für welche Zwecke? Gerd half mir bei der Täuschung, darin war er ganz gut.

»Ihre Mutter hat auch schon nicht geheiratet. Das scheint in Ihrer Familie üblich zu sein, was? Wilde Ehe. Uneheliche Kinder. Wir sollen wirklich glauben, was, dass Sie drüben heiraten?«

»Das war nicht ohne weiteres möglich.«

»Bitte was?«

»Bei meiner Mutter. Das war nicht ohne weiteres möglich. Andere Gesetze, andere Sitten. Zuerst durften sie nicht, dann wollten sie nicht mehr.«

Die Zwillinge sahen mich verständnislos an. Bis der Rechte, ohne den Kopf zu wenden, zum Linken sagte: »Juden.« Der Linke blätterte in den Unterlagen, klopfte mit einem Zeigefinger auf eine Seite und murmelte etwas, das klang wie »Gibt’s doch gar nicht … gar nicht mehr«.

»Ihre Mutter war Jüdin?« Der Rechte starrte mich mit offenem Mund an.

»Ist sie noch immer. Ja. Nein. Sie ist nicht gläubig. Nicht mehr. Zumindest nicht an Gott. Sie glaubt an den Kommunismus, aber das wissen Sie.«

»Wusstest du das? War die berühmt?« Sobald ein Deutscher von einem lebendigen Juden hört, glaubt er, der müsse berühmt sein. Die zugesprochene Berühmtheit erschien als einzige Möglichkeit, den eigenen Tötungsstrategien zu entrinnen. Wer entkam, musste berühmt sein, nicht zuletzt, weil er entkam. Der Linke blätterte in der Akte und zeigte mit dem Finger auf verschiedene Seiten. »Ihre Mutter ist vierundzwanzig geboren, der Vater zweiundzwanzig, er ist aber 1950 noch in Frankreich gestorben. Was steht hier? Während der Rückkehr aus dem Exil?« Der Linke blätterte die Seite um, der Rechte sah mich unverwandt an: »Ihre Großmutter ist dann mit Ihrer schwangeren Mutter nach Berlin zurückgekehrt? Und hier wurden Sie geboren.«

Ich antwortete nicht, schließlich mussten diese Dinge in den Akten stehen.

»Warum nach Berlin?«

»Das habe ich doch gesagt, sie glaubt jetzt an den Kommunismus.«

»Der Kommunismus ist keine Glaubensfrage«, stellte der Rechte fest.

»Nicht?«

»Nein, das ist eine Frage der Überzeugung, der richtigen Gesinnung. Sie haben keine sozialistische Schule besucht? Auf welche Schule sind Sie dann gegangen?«

Auf welche Schule hätte ich gehen sollen? Glaubte er, es gab noch immer Schulen für Juden, oder glaubte er, Juden besuchten keine Schulen?

»Marschall I. S. Konew«, sagte der Linke, lachte und boxte seinen Bruder in die Seite.

Der Bruder vergewisserte sich mit einem Blick in die Akte, wollte es offenbar nicht glauben.

»Fünf Jahre vor uns«, flüsterte der Linke dem Rechten zu.

Urkunde für gutes Lernen in der sozialistischen Schule. Vielleicht gab es die zu meiner Zeit noch nicht. Katja besaß jede Menge solcher Urkunden, für gutes Lernen und vorbildliche gesellschaftliche und außerunterrichtliche Arbeit und hatte darauf bestanden, die Urkunden mit in den Westen zu nehmen. Auch wenn sie dort wohl kaum mehr kindliche Meilensteine in der möglichen Karriere einer Heldin waren. Schließlich hatte sie das Altpapier nicht für nichts gesammelt, erklärte sie mir, konnte aber auf mein Nachfragen nicht sagen, wofür sonst. Nicht einmal die Schulzeugnisse durften sie im Original mitnehmen, Abschriften wurden ihnen ausgehändigt, damit im Staat blieb, was dem Staat gehörte.

Ich schlug die Beine übereinander und antwortete nicht.

»Wie eine Jüdin sehen Sie aber nicht aus.«

»Wie bitte?«

»Sie sehen nicht wie eine Jüdin aus. Oder, na, sagen wir, nicht typisch. Sie müssen ja auch Jüdin sein, wenn Ihre Mutter Jüdin ist.«

»Wie sieht denn eine typische Jüdin aus?«

»Das müssten Sie doch am besten wissen, Fräulein Senff. Senff – das ist jüdisch, ja?«

Ein Stöhnen konnte ich nicht unterdrücken. »Das ist der Name meiner Mutter.«

»Klingt irgendwie deutsch«, murmelte der Linke und vertiefte sich weiter in ein rotes Blatt der vor ihm liegenden Akte.

Ich biss mir auf die Lippen und atmete so lang wie möglich aus. Wenn man keine Luft einatmete, versuchte ich mir glauben zu machen, sich gewissermaßen luftleer zusammenfaltete, wäre eine Explosion nahezu ausgeschlossen, zumindest entschieden erschwert. Der Linke stand mit der Akte auf und verließ den Raum, zurück blieb der Rechte, der nun nicht länger der Rechte, sondern der Einzige war, der Einzige mir am Tisch Gegenübersitzende, während drei von Rang und Funktion vermutlich Unbedeutende an der Seite standen und Wache hielten. Ohne den Kopf zu wenden und ohne die kleinste Rührung verfolgten sie aus den Augenwinkeln jede Bewegung. Wenigstens meine. Der Einzige schlug die Akten zusammen, machte eine bedeutungsvolle Pause, genoss das von ihm diktierte Schweigen, lächelte schließlich mit seinen rotgeäderten Augen, die nun gänzlich verschwanden, und sah mich an.

»Frau Senff, was ich hier nicht verstehe, ist, warum packen Sie Zahnpasta und Seife ein, wenn Sie doch heute Abend in der Wohnung Ihres Zukünftigen ankommen – Ihrer beider gemeinsamen Wohnung. Wir verplaudern hier noch unsere Zeit, wenn Sie uns weiter mit diesen Geschichten aufhalten. Hat er keine Seife? Ihr Verlobter Becker?«

Ich sah den Mann mit seiner nicht identifizierbaren Uniform an, spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, und schloss meinen Mund. Die Zunge klebte am Gaumen.

»Verschlägt Ihnen das die Sprache, Senff? Jetzt kommen Sie mal mit.«

Ich stand auf und folgte dem Einzigen durch einen schmalen Gang in einen anderen Raum. Die Räume hatten keine Fenster. Spitz und entfernt süßlich roch es nach dem Plasteboden, auf dem die Sohlen quietschten. Ein Geruch, der mich an die Schulmappen von Aleksej und Katja erinnerte. Lederimitat. Geprägter Kunststoff. Seit Jahren dieselben drei Modelle, meist gab es nur zwei. Braun und Blattgrün, die Kombination von Gelb und Orange war selten. Vor Jahren musste es mal Rot gegeben haben.

Ich hörte meine Absätze auf dem Plasteboden, spürte, wie ich, völlig unerwartet und wenig passend zur Situation, plötzlich mit einem gewissen Schwung einen Fuß vor den anderen setzte, einem Schwung, dem man eine fröhliche Regung hätte unterstellen können, der Rock spannte um meine Schenkel, fast tänzelte ich, ganz so, als sei ich auf dem Weg zu einem Ball und freute mich auf das bevorstehende Ereignis. Ein Uniformierter öffnete die Tür, ich nickte ihm höflich und beschwingt zu, ein anderer schloss sie hinter mir.

Drinnen fand ich mich mit ungefähr zehn Beamten wieder, der Rauch stand dicht, einer der Beamten musterte mich von oben bis unten, der Rock kam zur Ruhe. Ich verschränkte die Arme.

»Setzen Sie sich.«

»Danke, ist nicht gerade gemütlich bei Ihnen.«

»Setzen«, bekräftigte der vielleicht Dienstälteste. Ich lächelte ihn vertraulich an. Im Raum gab es außer mir keine einzige Frau. Ich dachte daran, dass ich meinen Onkel Leonard in Paris besuchen würde. Er lebte mit seiner dritten Frau am Rande des Marais. Mit der zweiten hatte er in Amerika gewohnt, nördlich von San Francisco, auf einem kleinen Hügel, mitten im Wald. Morgens kamen Kolibris zu seinem großen Terrassenfenster geflogen und tranken das Zuckerwasser, das er in kleinen Behältern unters Dach gehängt hatte. Ihr Flügelschlag ginge so schnell, dass einem die Kurzweiligkeit der Zeit deutlich wurde. Das empfand er als beruhigend. Wenn er aus dem Fenster sah, war da nur Wald, und etwas weiter unten konnten sie im Winter hinter den Zedern das östliche Ufer des kleinen Sees erkennen, im Sommer stand häufig Nebel im Tal. Das letzte Mal, als ich meinen Onkel vor drei Jahren gesehen hatte, erzählte er, mit der dritten Frau zurück in Paris könne er alles noch besser vergessen, in günstigen Augenblicken auch seine Vergangenheit und manchmal sich selbst. Vielleicht würde sich Onkel Leonard freuen, mich zu treffen. Er würde mir von Paris zeigen, was auf keiner Postkarte zu finden war, die Fleischerei Panzer und die Gerüste, die nicht wie bei uns vor den Häusern standen, sondern in Seilen von den Dächern hingen. Frische Muscheln wollte er mit mir essen. Seine beiden amerikanischen Söhne würde ich kennenlernen, die mehrere Berufe hatten, von allem etwas und nichts zu genau verstanden, wie er sagte. Was Freiheit so mit einem Menschen macht, sagte er immer wieder und sah mich halb mitleidig, halb neidisch an, wo ich doch gar keine Freiheit zu haben schien und mir nichts anderes übriggeblieben war, als eine wissenschaftliche Karriere zu beginnen. So kurz vor dem Ziel verspürte ich nicht die geringste Lust, noch Befehle entgegenzunehmen. Aber ich wollte nicht dumm sein. Ich setzte mich.

»Sie sind Chemikerin?«

»Das wissen Sie.«

»Sie waren vier Jahre für die Akademie der Wissenschaften tätig?«

»Nach dem Studium habe ich dort angefangen, ja. Aber ich arbeite seit zwei Jahren nicht mehr dort. Ich arbeite auf dem Friedhof.«

»Auf dem Friedhof?«

»Zuletzt, ja. Wegen der Ausreise«, ich wunderte mich, wie wenig diese Grenzbeamten zu wissen schienen. Diese Fragen hatte man mir in den letzten Monaten mehrfach gestellt – und auch andere Menschen in meiner Umgebung waren dazu befragt worden, von manchen wusste ich es, von anderen konnte ich es nur ahnen.

Der Uniformierte blätterte.

»Stehen Sie wieder auf.«

»Ich soll wieder aufstehen?«

»Das haben wir gerade gesagt, ja. Und stellen Sie keine Fragen. Die Fragen stellen wir.«

Ich stand auf. Der Rock klebte an meinem Hintern.

»Die Ausreise wurde im April vorletzten Jahres beantragt. Ab Mai hätte eine Kontakteinschränkung für Sie gegolten. Sie waren Geheimnisträgerin?«

»Nein. Ich meine, doch, ein weiteres Verbot sollte gelten, aber Geheimnisträgerin war ich noch nicht.«

»Wir haben da andere Informationen. Wollen Sie uns belügen?«

»Nein.«

»Woran haben Sie in der Akademie der Wissenschaften gearbeitet?«

Meine Schuhe drückten, ich stellte mich von einem Bein auf das andere und sah in die Runde.

»Wird’s bald?«

»Was soll ich Ihnen dazu sagen? Ich habe es vergessen. Und was ich nicht vergessen habe, darüber muss ich schweigen, und worüber ich nicht schweigen muss, das würden Sie ohnehin nicht verstehen, Sie sind nicht vom Fach, meine Herren.«

»O je, ’ne ganz Schlaue«, der Beamte klappte die vor ihm liegende Akte zu und flüsterte mit dem Dienstältesten, der schräg hinter ihm saß.

»Abführen.« Der Dienstälteste nickte einem großgewachsenen Mann mit unverhältnismäßig kleinem Kopf zu. Der Mann war so groß, dass man offensichtlich seine Hosen hatte auslassen müssen, die dunkelgrüne Farbe am Saum der Hosen wirkte wie eine Borte. Der Große packte mich am Oberarm und brachte mich in einen benachbarten Raum. Auch dieser ohne Fenster.

»Wo sind meine Kinder?«

»Haben Sie nicht gehört, wir stellen hier die Fragen.«

Hier hätte ich mich gerne gesetzt, aber in dem Raum gab es keinen Stuhl und keinen Tisch, und vor dem Staatsdiener wollte ich mich nicht im Rock auf den Boden setzen. Ich sah auf meine Uhr. Es war kurz nach sechs. Aleksej und Katja würden langsam Hunger bekommen. Warten, ohne zu wissen, worauf.

Als ich wieder auf die Uhr blickte, war es zehn nach sechs, und ich sah ungefähr alle drei Minuten auf die Uhr, zum letzten Mal um fünf vor sieben, bevor ein Beamter mit einer Frau in Uniform hereinkam.

»Vorkommnisse?« Der Beamte sah den Großwüchsigen fragend an.

»Keine Vorkommnisse«, kam es von oben. Zum Gruß hielt der Großwüchsige die Hand an den kleinen Kopf.

»Ausziehen.« Wohlgefällig nickte mir der ältere Beamte zu.

»Wie bitte?«

»Die Anziehsachen können Sie der Kollegin hier geben.« Die Kollegin blickte mich stumpf an. Namen fielen keine. Einen Augenblick dachte ich darüber nach, wie so ein junger, zwar großer, aber doch kleinköpfiger Beamter heißen konnte, welcher Abteilung er angehören und welchen Dienstgrad er besitzen mochte. Vielleicht hieß er Hauptmann, trotz kleinem Haupt und niedrigem Dienstgrad. Aber ein solcher Zufall des Namens müsste vermeidbar sein, gesetzlich angreifbar und auflösbar, da dem kleinköpfigen Beamten mit Namen Hauptmann eindeutig ein beruflicher Nachteil aus diesem Zufall erwüchse, ein Nachteil, der ihn lächerlich erscheinen ließe, ein Nachteil, der in einer Welt von Rang und Ordnung einfach untragbar war. Der ältere Beamte herrschte mich an:

»Wird’s bald?«

»Warum soll ich mich jetzt ausziehen?«

»Wir stellen hier die Fragen, nicht Sie«, wiederholte der Großwüchsige und grinste mir aufmunternd entgegen.

»Vor Ihnen?« Wahrscheinlich lernten die Grenzbeamten hier nur vier, fünf Sätze, die sie je nach Gelegenheit anbrachten. Sätze, die ihre Identität verschwiegen, aber für die notwendigen Anweisungen genügten. Fast musste ich lachen.

»Sehen Sie vielleicht noch andere?« Der kleinköpfige Große strich über die feine schwarze Pistole, die fest an seinem Körper klebte. Das Lachen, das jetzt aus mir herausplatzte, war nicht zu unterdrücken. »Sie wollen, dass …?«

»Los, los, wir sind auch nur Menschen.« Der ältere Beamte tat gelangweilt.

»Menschen?« Ich lachte nervös.

Die Tür ging auf, ein weiterer Mann in Uniform kam herein.

»Was jetzt? Wo sind die Sachen?« Seine Stimme klang heiser.

»Die ziert sich.«

»Sollen wir Verstärkung holen?«

»Nein«, ich zog zuerst die Schuhe aus, »nein«, dann das Kleid. Die Beamtin hielt die Hand auf, und ich musste ihr die Sachen bringen.

»Alles.«

Noch ein wird’s bald wollte ich nicht hören. Ich beschloss, für einen Augenblick nicht zu denken, zog die Strümpfe und die Unterwäsche aus und brachte auch die der Beamtin. Die Strümpfe legte ich zusammen, bevor ich sie ihr über den Arm legte.

»Den Schmuck auch.«

Ich nahm die Kette vom Hals und reichte sie der Beamtin, sie blieb völlig teilnahmslos. Und woran hätte sie teilnehmen sollen?

»Die Uhr.« Der Großwüchsige mit dem kleinen Kopf streichelte inzwischen seine Pistole, »und die Brille«.

Ich sah noch einmal auf die Uhr, es war zehn nach sieben. Viel Zeit hatten sie nicht mehr. Plötzlich war ich mir sicher, dass sie die Auflage hatten, uns vor Mitternacht über die Grenze zu lassen. Sonst verstießen sie gegen ihre eigenen Regeln. Sicherlich gab es Abkommen zwischen beiden Staaten, die diese Verfahren festschrieben.

»Der Ring.«

Als hätte ich ihn nicht verstanden, sah ich den Uniformierten an, er zeigte auf meine Hand. Ich besah meine Hand und schüttelte den Kopf.

»Der Ring.«

»Das geht nicht, der geht nicht ab.«

»Jeder Ring geht ab. Seife!«

Ich schüttelte noch heftiger den Kopf. Ein Beamter verließ den Raum, wohl um Seife zu holen.

»Wenn keine Seife hilft, gibt es hier noch andere Methoden«, flüsterte der Mann in Uniform mir zu. Ich tat, als hörte ich ihn nicht. Ich hatte den Ring seit Wassilijs Tod nicht abgenommen, nicht beim Schlafen, nicht beim Schwimmen, nicht beim Abwaschen, nicht, wenn ich auf dem Friedhof in der Erde wühlte und das Unkraut zupfte, nicht beim Händewaschen danach. Nie.

Der andere Beamte kam mit einem Stück Kernseife zurück.

»Wird’s bald?«

»Bitte nicht.«

Der Beamte griff nach meiner Hand und rupfte an dem Ring.

»Bitte nicht.« Meine Stimme blieb seltsam ruhig, als gehörte sie nicht zu mir. Ich ballte die Hand zu einer Faust. Der Beamte versuchte, die Faust aufzubrechen, klemmte jeden Finger einzeln auf.

»Bitte. Nicht.«

In Zeitlupe sah ich zu, wie der Ring Stück für Stück den Finger emporgedrückt, gepresst, geschoben wurde und in der Hand des Beamten verschwand. Die Seife wurde nicht verwendet. Ich spürte weder den Ring noch meine Hand. Etwas weiter weg hörte ich eine Stimme: »Bitte nicht. Bitte nicht. Bitte nicht.« Der ältere Beamte, der noch an der Tür stand und sonst Befehle gab, äffte mich wohl nach.

»Sie bleiben hier«, ordnete er an, damit der Junge auf mich achtgäbe. Dann winkte er der Kollegin, die ihm mit meinen Sachen folgte. Nicht einmal einen Abdruck hatte der Ring am Mittelfinger hinterlassen. Der Junge lehnte neben der Tür und sah aus, als freue er sich. Unvermittelt musste ich an meinen Bruder denken, der sich in den Jahren der Vorpubertät nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Uniform, am liebsten waren ihm die der Polizisten und der Soldaten, aber auch Feuerwehrleute, Piloten und Matrosen faszinierten ihn. Er mochte goldene Sterne lieber als silberne und rote. Seine Berufswünsche waren ausschließlich in diese Richtung gegangen. Ich bin mir sicher, er wäre ein schlechter Polizist geworden. Nicht, weil er keine Befehle erteilen und nicht spontan in eine Situation hätte eingreifen können, diese Dinge fielen ihm leicht, nur unterordnen konnte er sich schwer, außer von meiner Mutter duldete er von niemandem einen Befehl. So musste er ein ungeschickter Fräser werden. Dieser Junge hier erfüllte nur zu gerne Befehle, und sei es, eine unbekleidete Frau zu beaufsichtigen. Seine Augen flackerten unruhig über meinen Körper und dessen Umgebung, sie waren so angestrengt wachsam, dass ich nicht einmal unbemerkt vor Scham hätte im Boden versinken können. Mit den Blicken nahm ich Maß. Kleinköpfig. Jung. Großwüchsig. Mehr Details wollten mir nicht auffallen, nichts Eigenes, Individuelles. Vielleicht war seine Haut blass, aber in diesem Licht mochte jedermanns Haut blass wirken. Nicht einmal seinen Namen durfte ich kennen, ich würde ihn verraten können. Der Dienstgrad blieb geheim, die Kenntnis hätte mir Orientierung verschafft. Allein sein Äußeres, dem ich seit geraumer Zeit ausgesetzt war, schuf eine gewiss nicht beabsichtigte Vertrautheit. Ihm schien meine Nacktheit peinlicher als mir. Plötzlich wurde es stockfinster, dann ging das Licht wieder an.

»’tschuldigung«, der große Junge konnte seine Belustigung kaum verbergen, offenbar war er mit dem Rücken gegen den Lichtschalter gekommen. Ich verschränkte wieder die Arme.

Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und der ältere Beamte sagte: »Mitkommen.« Im Türrahmen erschien die Beamtin, vermutlich begleitete sie uns aus Anstand. Damit Zucht und Ordnung gewahrt würden. Sie hatte ein Handtuch für mich mitgebracht, das zu klein war, um alles zu bedecken, Brust und Scham, und am liebsten noch den großen Leberfleck, der sich dicht über meiner Kniekehle ausbreitete, den ich hasste und der mir peinlich war und den sie noch weniger sehen sollten als Brust und Scham. Über den Gang führte der Weg in einen weiteren Raum, wo uns ein Mann mit einer taubenblauen Schürze und einer Brille empfing. Er legte das Knie eines Rohrs auf ein Regal, er war wohl Handwerker, vielleicht kümmerte er sich um die Instandhaltung und führte Reparaturen aus. Über mich sagte der Ältere: »Das ist sie.«

Der Mann in der taubenblauen Schürze sah mich nicht an, er deutete nur müde mit dem Kopf zu dem Stuhl und befahl mir, mich dort hinaufzusetzen.

»Warum das?«

»Routine.«

Der Stuhl erinnerte an einen Thron, breite Armlehnen hatte er, einen festen und hohen Sockel.

»Rauf da.«

»Ich muss mal pinkeln.«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Die Toiletten sind am anderen Ende, da können Sie jetzt nicht hin«, der Beamte sah gedankenverloren auf meine Brust, die sich vom Handtuch nicht bedecken ließ.

»In der Ecke steht ein Eimer«, sagte der Mann in der taubenblauen Schürze und zeigte auf einen weißen Wischeimer aus Emaille.

Ich hockte mich über den Eimer, das Handtuch rutschte zu Boden, mit einer Hand umklammerte ich den nächsten Zipfel, als ändere diese Verbindung etwas an meiner Nacktheit.

Mein Blick fiel auf den Einzigen, der für mich unbemerkt in den Raum getreten war. Ich konnte nicht entscheiden, ob es der ursprünglich Rechte oder Linke war. Das machte es leichter, seine Anwesenheit nicht persönlich zu nehmen. Die Beamtin reichte mir Zellstoff.

»Und jetzt rauf da.«

Das Polster des Throns war an mehreren Stellen aufgerissen, Schaumstoff quoll aus seinem Inneren. Es verlor seinen Zusammenhalt, löste sich an der Oberfläche und nahm Kontakt zu Luft und Flüssigkeiten auf, Reibung förderte die Ablösung kleiner Schaumflocken. Das Denken wollte nicht aufhören. Also dachte ich mir, es gibt Frauen, die haben ganz anderes erlebt. Im Krieg. Ich sah mich in dem Raum um, gegenüber befand sich eine der schwarzen Scheiben, deren Rahmen so flach in der Wand saß, dass es sich kaum um ein Außenfenster handeln konnte. Auch befand es sich im rechten Winkel zur Tür und dem Gang, den wir entlanggekommen waren, so dass es wohl eher in einen Nebenraum zeigen musste.

Wie schwarz sollte die Nacht auch geworden sein? Andere Fenster hatte der Raum nicht. Keine Uhr konnte ich entdecken, kein noch so kleines und grobes Instrument für die Messung von Zeit, geschweige denn zur Ortung des Raumes. Auf der Ablage neben mir, mehr als eine Armlänge entfernt, lagen unterschiedliche Instrumente angeordnet, sie sahen aus wie Spritzen, leere Spritzen in verschiedenen Größen, Spritzen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, Spritzen mit einer bläulich schimmernden Flüssigkeit, eine kleine Zange, eine Art Messer, das an ein Rasiermesser erinnerte, zwei Scheren, von denen eine vorne stumpfe Enden hatte, schließlich etwas, das aussah wie eine Eiskelle, wohl ein wenig kleiner, Nadeln. Nur hatten wir keinen Krieg. Zumindest hatte ich das Wort Krieg bislang nicht so ganz geglaubt. Auch mit dem Zusatz kalt nicht. Was hieß das schon, kalt? Gänsehaut hatte ich. Aber kalt? Mir war nicht kalt. Ich spürte nichts. Selbst die Füße, die in die Luft ragten, waren taub. Unter Krieg stellte ich mir das andere vor, das, was ich nicht erfahren hatte und dessen Worte nur seltsam zerstückelte Bilder entstehen ließen. Mein Blick ruhte auf der schwarzen Scheibe. Dahinter konnte nichts sein. So wie der kupferne Palast eine Kulisse sein konnte, die Hülle eines Traums, der das große Nichts barg, einen großen leeren Raum, gefüllt nur mit Luft und einigen eisernen Verstrebungen, die der Aufrechterhaltung dieser Kulisse dienten. Sand am Boden. Wenn rote Teppiche ins Innere führten und Staatsminister darauf aus der sichtbaren Welt verschwanden, so gelangten sie über unterirdische Gänge an keinen besseren Ort als den der blaugrünen Gewölbe der Staatssicherheit. Dort blieben ihre Gesichter fahl, und der Schreck saß ihnen so tief, dass sie auch bei der Rückkehr in ihr eigenes fernes Land nicht über das Innere des Palastes sprechen wollten. Die Erinnerung versagte. Hier funktionierte der Verband noch im Gegensatz zu dem des Schaumstoffes, der an meinem Schenkel klebte.

Dass wir im Krieg lebten, hatte ich bislang nicht so recht bemerkt. Ich schämte mich dafür. Aber es war sicher nicht die Scham, nach der da in mir gesucht wurde. Instrumente wurden vor und zurück geschoben. Sollte es einen heißen Krieg geben? Ich musste an meine Großmutter denken, die man mit siebenundachtzig Jahren und nach etlichen Grenzübergängen ohne Zwischenfall, plötzlich, vor drei Jahren, einen Tag vor Chanukkah, an der Grenze in einer kleinen Kammer sich ausziehen hieß und den Mund öffnen, um ihr unter einem ähnlichen Vorwand, den man nun für mich gebrauchte, sämtliche Kronen und Brücken zu entnehmen. Nur hofften sie bei ihr wohl, Material eines westlichen Geheimdienstes zu entdecken, das sie mutmaßlich einschleusen wollte, während sie bei mir gewiss fürchteten, ich könnte ihre lächerlichen Forschungsergebnisse für die westliche Wissenschaft ausspioniert haben. Das Kunstwerk von Prof. Dr. dent. Schumann wurde in weniger als zwei Stunden Stück für Stück zerstört, anschließend ließ man meine Großmutter mehrere Stunden warten, um sie schließlich ohne Prothesen und mit einer Schachtel voller Kronentrümmer nach Hause zu schicken. Das andere hatte mir meine Großmutter vielleicht verschwiegen. Ein brennender Schmerz musste es sein, zumindest meldete mein Gehirn etwas in der Art. Brennend, ohne dass ich das Brennen spürte. Warum sollte dieser Mann in der taubenblauen Schürze auch vorsichtig sein? Er war ein Handwerker, kein Liebhaber. Und da er offenbar sicher war, wonach er suchte, es aber nicht fand, brauchte er eine ganze Weile für seine Untersuchung. Das Brennen erlosch, aber so, wie man meinen Kopf in eine metallene Zange gelegt hatte, war es mir unmöglich, einen Blick auf irgendetwas unterhalb meines Nabels zu werfen. Es war keine Suche, die der Handwerker hier verfolgte. Er bastelte etwas in mir, er fügte etwas ein und machte mich zur Hülle seiner Bastelei. Nicht gehen ließen sie mich. Als Trojanisches Pferd wollten sie mich schicken.

Onkel Leonard hatte seiner Mutter nach jenem Vorfall einen kurzen Brief geschrieben. Er drückte darin im ersten Satz sein Entsetzen über den Vorfall aus. Die folgenden wenigen Sätze widmete er seiner Ratlosigkeit darüber, warum sie nach Deutschland zurückgekehrt und ausgerechnet in den russischen Sektor gezogen sei. Hier könne sie, die im Bayerischen Viertel aufgewachsen war, nicht einmal mit einer Suche nach den Orten der Kindheit argumentieren, obwohl sie es immer wieder versuche. Nein, er könne ihren Schritt nicht verstehen. So lasse man sich nicht behandeln. Und er biete ihr erneut an, zu ihm nach Paris zu kommen, er werde ihr ein kleines Appartement kaufen. Er freue sich, wenn sie ihn anrufe und die Ankunftszeit durchgebe, damit er sie vom Flughafen abholen könne.

Aber meine Großmutter rief nicht an. Sie zeigte uns den Brief und lächelte müde. Er verlernt das Schreiben. Sagte sie erschöpft. Seht ihr, nicht mal mehr das große Du beherrscht er. Seine Muttersprache, einfach weg. Hmm. Was soll ich in Paris? Fragte sie uns. Wir wussten darauf keine Antwort und suchten keine, insofern war es einfach für sie, jedes Gespräch über ihr Dasein hier und dort mit diesem Satz zu beenden. Seit jenem Brief hatte ich Onkel Leonard nicht mehr gesehen. Und wenn ich es mir so richtig überlegte, glaubte ich kaum, dass er noch einmal nach Berlin kommen würde. Der Abstand zu seinem letzten Besuch war groß geworden, größer als alle vorherigen. Mag sein, er hatte Angst, dass man auch ihm körperlich naherücken könnte. Obwohl meine Großmutter noch am Leben war, würde sie nie wieder den Weg zu ihrem Sohn zurücklegen. In den ersten Monaten nach dem Vorfall nutzte sie jede Gelegenheit, um nach Wilmersdorf in den Westen zu fahren, wo Dr. Schumann junior unter Anweisung seines greisen Vaters versuchte, das nachzubauen, was sein Vater über Jahrzehnte als sein Kunstwerk begriffen hatte, bis er aufgab und meiner Großmutter ein Gebiss anfertigen ließ. Ich dachte über den Satz nach, den Onkel Leonard an meine Großmutter geschrieben hatte: dass man sich so nicht behandeln lasse.

»Locker«, herrschte mich der Mensch an, dessen Kopf zwischen meinen Beinen auftauchte, »machen Sie mal locker hier, sonst wird das nie was.«

Ich wollte nicht herausfinden, was hier etwas werden sollte. Vielleicht hatte der Herr, der in mir auf der Suche war, nur das Züngeln gesucht und gefunden und herausgerissen, daher das Brennen, das ich nicht mehr fühlen konnte. Ich hörte ein Schaben und ein Ratschen, dumpf klang es zu mir herauf. Zwischen meinen Beinen sah ich die kahle Stelle vom Hinterhaupt des Mannes, bis er sich erhob, ein Lächeln stand in seinem Gesicht, kein diebisches, nein, geklaut hatte er nichts, eher schien er etwas vollbracht zu haben, er klappte meine Beine zusammen und wandte sich ab, um sein Besteck zu ordnen, versunken wirkte er, vielleicht war es Zufriedenheit, die ich in seinem Gesicht entdeckte, vielleicht Enttäuschung, schweigend und mit langsamen Bewegungen legte er Bestecke in Behälter, ordnete neue an, ganz so, als warte er auf den nächsten Menschen, an dem er seine Routine erproben konnte, zupfte drei Wattebausche aus dem Packen mit hellem Einschlagpapier, der sich unten im Regal befand, legte die Wattebäusche in eine gerade Reihe unter die Zangen, ordnete zwei kleine Behälter mit Flüssigkeiten und zwei geschlossene Dosen in größerem Abstand dazu, rückte sie wieder und wieder zurecht, bis ich ihm einfiel, mit einem Blick gegen meine Knie, die ich noch immer auf dem Stuhl saß, nackt, mit zusammengeklappten Beinen, und offensichtlich auf einen Befehl wartete, den er mir somit erteilte: »Abtreten.« Vielleicht meinte er die Beamten, die mit mir abtreten sollten. Meine Arme und Beine, selbst ein Teil des Gesäßes und der Schamlippen waren eingeschlafen. Ein Beamter half mir aus der zangenförmigen Schale, die meinen Kopf nach hinten gehalten hatte.

Zurück in dem Raum ohne Fenster, Tisch und Stuhl, stand ich wieder mit dem grinsenden Jungen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sich mir vorgestellt: Hauptmann, mein Name, hätte sich dabei leicht nach vorn geneigt, nicht, ohne seinen Kopf noch kleiner erscheinen zu lassen, und ich hätte seine Annäherung mit Schweigen belohnt. Eher noch mit Taubheit. Aber für ihn wäre es ein Schweigen gewesen. Ich sorgte mich nicht mehr um die Ordnung und die Nachteile, mit denen er kämpfen konnte. Der junge Beamte hatte Spaß an seinem Beruf. Nicht ganz unschuldig an diesem Spaß schien die Pistole zu sein, deren Griff er tätschelte, mit gewiss feuchten Händen. Nach einer Weile brachte man mir meine Sachen. Ein Kleid mit großen Blüten, helle Sandalen, deren kleine Absätze sich schon nach außen bogen, einen BH mit Spitze, den mir meine Großmutter vor einigen Jahren aus dem Westen mitgebracht hatte, ein einfaches Höschen, eine Strumpfhose aus Nylon, die ich von Onkel Leonard geschickt bekommen hatte, aus Paris, und die ich aus Angst, sie könnte kaputtgehen, bis zum großen Einpacken in der Schublade mit den Strümpfen aufbewahrte, um sie schließlich heute Morgen zum ersten Mal überzustreifen, vorsichtig, entgegen der Eile, mit der ich aufgestanden war. Die Beamtin hielt mir eine weißliche Plasteschüssel entgegen, in der sich eine Uhr, eine Kette, Ohrringe und Ringe befanden. Ich zog alles an. Den Ring spürte ich nicht. Die Uhr nicht. Die Strümpfe nicht. Mich nicht. Ich sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach acht.

»Meine Kinder haben Hunger.«

Niemand antwortete mir.

»Folgen.« Ich folgte.

Die beiden Beamten führten mich in einen Raum mit einer kleinen Kammer. Dort wartete ein Mann in einem weißen Kittel. Seine Befehle waren knapp. Kleid, Strümpfe, Unterwäsche. Wieder sollte ich mich ausziehen. Als störten organische Fasern die Wellen. Schuhe, Uhr, Schmuck. Hineinstellen sollte ich mich, in die winzige Kammer, mit den Fersen an die rote Linie. Die Tür wurde geschlossen. Sehen konnte ich nichts, keine Strahlen, keine Bilder. Vielleicht wollten sie prüfen, ob der Handwerker alles richtig gemacht hatte. Ich dachte an die geheimen Berichte von den großen Strahlenmengen, die in solchen Kammern verwendet wurden. Aber ich spürte nichts als den Plasteboden unter den nackten Sohlen. Die Tür wurde geöffnet. Auf dem Arm der Beamtin lagen meine Kleider. Ich stellte keine Fragen mehr. Ich folgte den Anweisungen, bis man mir ein weiteres Mal sagte, ich solle folgen. Wir traten an die Luft.

Es war merklich kühler geworden. Dunkel. Ich versuchte das Auto von Gerd zu erkennen. Das Wasser um meine Augen war lauwarm. Ich wischte es weg. Meine Schuhe drückten. Auch die Uhr spürte ich wieder, und den Ring. Alles schien an seinem Platz. Gerd saß im Auto, hatte das Fenster runtergekurbelt und blies mir Rauch entgegen. Auf der Rückbank sah ich Katja und Aleksej, sie stritten sich. Beide seufzten theatralisch, als ich einstieg.

»Na endlich, Mama, immer müssen wir auf dich warten.«

»Jetzt aber Pommes«, sagte Gerd.

Ich drehte mich zu meinen Kindern um und hätte sie am liebsten fest umarmt, aber der Abstand zwischen uns war zu groß.

»Seid ihr in Ordnung?«

»Ja, jetzt aber Pommes«, sagte Katja, sie imitierte Gerds Tonfall ganz gut, nur klang ein Stolz mit, wie ich ihn in den letzten Tagen oft an Katja bemerkt hatte, vermutlich wusste sie nicht einmal, was Pommes waren, benutzte aber gerne das Wort.

»Mama, die haben echt lauter komische Fragen gestellt, die wollten wissen, ob wir Gerds Nachnamen bekommen.« Katja zeigte einen Vogel.

»Und?«

»Ich hab nichts gesagt, du?«

Aleksej schüttelte den Kopf, »Nee.« Mit dem Zeigefinger drückte er die Brille wieder fest auf die Nase. Da kann man wenig machen, hatte der Optiker bedauert, die Modelle sind in den letzten Jahren so, und von den Modellen sei seines noch das passendste, früher gab es mal ein Modell, das hätte vielleicht gepasst, die Friedenstaube, aber die gibt’s schon seit Jahren nicht mehr, wirklich schade, und mit einer so kleinen Nase. Nein, das Gestell für Mädchen habe keine schmalere Öffnung, nur rosa sei es, ansonsten unterscheide es sich nicht.